Die Gezeiten gehören uns - Vendela Vida - E-Book

Die Gezeiten gehören uns E-Book

Vendela Vida

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Beschreibung

Vendela Vida erzählt ein subtiles Drama über Freundschaft und Verrat, Sexualität und Lügen im San Francisco der 80er Jahre. "Scharfsinnig, traurig, überraschend und fesselnd. Und außerdem lustig." Nick Hornby

Eulabee und ihrer charismatischen Freundin Maria Fabiola gehören die Straßen von Sea Cliff, wo die Häuser prachtvoll und die Strände wild sind. Morgens gehen sie im Faltenrock zur Mädchenschule, nachmittags spüren sie ihre Macht, wenn sie frei und furchtlos über die Klippen rennen. Eines Morgens werden sie von einem Mann in einem weißen Auto angehalten. Er fragt nach der Uhrzeit, Eulabee schaut auf ihre Swatch. Doch was danach passiert, darin sind sich die Mädchen uneinig. Angefasst habe der Mann sich, erzählt Maria Fabiola der Polizei. Eulabee widerspricht ihr – und wird plötzlich zur Ausgestoßenen.
Vor der Kulisse der sich verändernden Landschaft von San Francisco erzählt Vendela Vida von der Grausamkeit der Jugend, von verlorener Unschuld, Lügen und Verrat.

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Über das Buch

Eulabee und ihrer charismatischen Freundin Maria Fabiola gehören die Straßen von Sea Cliff, wo die Häuser prachtvoll und die Strände wild sind. Morgens gehen sie im Faltenrock zur Mädchenschule, nachmittags spüren sie ihre Macht, wenn sie frei und furchtlos über die Klippen rennen. Eines Morgens werden sie von einem Mann in einem weißen Auto angehalten. Er fragt nach der Uhrzeit, Eulabee schaut auf ihre Swatch. Doch was danach passiert, darin sind sich die Mädchen uneinig. Angefasst habe der Mann sich, erzählt Maria Fabiola der Polizei. Eulabee widerspricht ihr — und wird plötzlich zur Ausgestoßenen.Vor der Kulisse der sich verändernden Landschaft von San Francisco erzählt Vendela Vida von der Grausamkeit der Jugend, von verlorener Unschuld, Lügen und Verrat.

Vendela Vida

Die Gezeiten gehören uns

Roman

Aus dem Englischen von Monika Baark

Hanser Berlin

Dieses Buch widme ich meinen Freunden und Lehrern aus der Kindheit, die sofort erkennen werden, dass es sich um ein fiktionales Werk handelt.

Warum musste man als Mädchen so teuer das geringste Abweichen von der Normalität bezahlen? Warum konnte man nie etwas ganz Natürliches tun, ohne es hinter einem kunstvollen Gebäude kleiner Listen verbergen zu müssen?

Edith Wharton, Haus Bellomont

1984—1985

1

Wir sind dreizehn, fast vierzehn, und die Straßen von Sea Cliff gehören uns. Wir gehen durch diese Straßen zu unserer Schule, die hoch über dem Pazifik liegt, und wir rennen durch diese Straßen zu den Stränden, die kalt sind, windgepeitscht, bevölkert von Anglern und Freaks. Wir kennen diese breiten Straßen und wie sie bergab führen, eine Kurve beschreiben in Richtung Ufer, und wir kennen die Häuser. Wir kennen das aufragende Backsteinhaus, wo der Zauberer Carter the Great wohnte; er hatte eine Bühne im Haus, und sein Esstisch wurde durch eine Falltür nach oben gefahren. Wir wissen, dass Paul Kantner von Jefferson Starship in dem Haus gewohnt hat oder immer noch wohnt, da, wo die lange Schaukel über dem Meer hängt. Wir wissen, dass die Schaukel für China gedacht war, die Tochter, die er mit Grace Slick hatte. China wurde im selben Jahr geboren wie wir, und wann immer wir an dem Haus vorbeikommen, halten wir Ausschau nach China auf der Schaukel. Wir kennen das imposante lachsfarbene Haus, wo mal eine Party stattfand, bei der maskierte Einbrecher aufgetaucht sind; als ein weiblicher Gast ihren Ring nicht hergeben wollte, haben sie ihr den Finger abgeschnitten. Wir wissen, wo die Tennislehrerin von unserer Schule wohnt (dunkelblaues Tudorhaus, wird jedes Jahr zu Halloween mit Spinnweben geschmückt), wo die Dekanin der Zulassungsstelle wohnt (weißes Haus mit schwarzem Tor) — beides Frauen, beides Ehefrauen. Wir wissen, wo die Ärzte und Anwälte wohnen und wo die alteingesessenen San Fransciscoer wohnen, Leute, deren Familienname mit Villen und Hotels in anderen Teilen der Stadt in Verbindung gebracht werden können. Und da wir dreizehn sind und auf eine Mädchenschule gehen, wissen wir vor allem, wo die Jungen wohnen.

Wir wissen, wo der große, schlacksige Junge mit Schwimmhäuten an den Füßen wohnt. Manchmal gucken wir mit ihm und seinen Freunden bei ihm zu Hause auf der Sea View Terrace Bill-Murray-Filme und staunen darüber, dass die Jungs ganze Passagen mitsprechen können, so wie wir jedes Wort von The Outsiders auswendig kennen. Wir wissen, wo der Junge wohnt, der mir eines Tages am Strand meine Halskette zerreißt — eine silberne Kette, die mir meine Mutter geschenkt hat, er zerrt daran, und ich laufe vor ihm weg. Wir wissen, wo der Junge wohnt, der mich an dem Tag zu Hause besucht, als ich mein Himmelbett bekomme, und da er es für ein Etagenbett hält, klettert er hinauf und macht es kaputt. Es wird nie richtig repariert, und von da an neigen sich die Pfosten nach Westen. Wir haben den Verdacht, dass es dieser Junge und sein Freund gewesen sind, die vor unserer Schule, der Spragg School for Girls, einen Spruch in den feuchten Zement geschrieben haben. »Mädchen auf Spragg — Maden im Spegg«, stand im Zement. Schwer zu sagen, ob der Spruch mit dem Finger oder einem Stock geschrieben wurde, aber der Eindruck ist tief. Ha!, sagen wir. Zu doof, um »Speck« zu schreiben.

Wir wissen, wo der süße Junge wohnt, dessen Vater bei der Army ist. Er ist gerade nach San Francisco gezogen und trägt kurzärmlige Karohemden, wie sie wohl in der Great-Lakes-Stadt angesagt waren, aus der er kommt. Wir wissen, dass sein Vater ein ziemlich hohes Tier sein muss, denn wieso sonst wohnt er nicht im Presidio wie die meisten von der Army? Wir denken nur selten über Army-Hierarchien nach, ihre Frisuren sind so deprimierend. Wir wissen, wo der einarmige Junge wohnt, wobei wir nicht wissen, wie er den Arm verloren hat. Er spielt oft im Park auf der 25th Avenue Tennis oder in der kleinen Gasse hinter dem Haus seiner Eltern Badminton, derselben kleinen Gasse, die zum Haus meiner Eltern führt. Viele Häuserblocks in Sea Cliff haben kleine Gassen, damit die Autos hinten in den Garagen parken können und nicht den Blick aufs Meer, auf die Golden Gate Bridge, versperren. In Sea Cliff dreht sich alles um den Blick auf die Brücke. Es war eines der ersten Viertel von San Francisco mit unterirdischen Stromleitungen, weil oberirdische Leitungen die Aussicht gestört hätten. Alles Hässliche ist versteckt.

Wir kennen den Highschool-Jungen, der bei mir nebenan wohnt. Er kommt aus einer Familie, die im Goldrausch Bekanntheit erlangte — das weiß ich aus meinen Geschichtsbüchern über Kalifornien. Man sieht seine Eltern oft auf Fotos in den Gesellschaftsspalten der Nob Hill Gazette, die uns jeden Monat frei Haus geliefert wird. Der Junge ist blond und hat oft eine Gruppe Schulfreunde zu Besuch, dann gucken sie im Wohnzimmer zusammen Football. Von unserem Garten aus kann ich sehen, wenn sie sich ein Spiel anschauen. Zwischen unserem Grundstück und dem Haus seiner Eltern ist eine Lücke von einem Meter, und manchmal springe ich durchs offene Fenster und lande drüben im Wohnzimmer auf dem Fußboden. Ja, so kühn bin ich. Ich bin ein Rätsel an Kühnheit. Ich male mir aus, dass mich einer von ihnen auf den Schulball einlädt. Und dann eines Nachmittags schnappt mich einer der Jungen am Bund meiner Guess!-Jeans. Ich will entwischen und laufe einen Moment lang auf der Stelle wie eine Zeichentrickfigur. Die Jungen lachen; ich bin tagelang frustriert. Ich weiß, diese Geste und das Gelächter bedeuten, dass ich für sie ein kleines Mädchen bin und keine mögliche Begleitung für den Schulball. Danach ist das Fenster drüben immer geschlossen.

Dann sind da noch die Prospero-Jungs, die Arztsöhne, die in unserem Haus gewohnt haben, bevor es von meiner Familie gekauft wurde. Sie sind legendär. Sie sind ein abschreckendes Beispiel. Als meine Eltern sich das Haus ansahen, war der Boden meines künftigen Zimmers mit Bierflaschen und Spritzen übersät. Die Fensterscheiben waren eingeschlagen. Wenn ich mich mit älteren Jungen unterhalte und erzähle, dass ich im Haus der Prospero-Jungs wohne, bekomme ich Aufmerksamkeit und, wie ich mir einbilde, kurzzeitig Respekt. Es ist unfassbar, wie gestört diese Jungen waren. Mütter schütteln die Köpfe und sagen, so traurig mit diesen Jungs, wo ihr Vater doch Arzt war und alles.

Die Prospero-Jungs sind der Grund, weshalb meine Eltern das Haus für den Preis überhaupt bekommen haben. Die Jungs hatten es zugrunde gerichtet. Niemand sonst konnte die Vorstellung ertragen, ihre Kinder könnten so aufwachsen und Partys feiern und Spritzen benutzen und an die eigenen Wände obszöne Sachen sprühen. Mein Vater ist immer in der Lage gewesen, über die verkrachten Existenzen hinwegzusehen, deren Zeuge ein Haus geworden ist. Das ist seine geheime Macht. Er ist im dritten Stock einer Mietwohnung in einer kleinen Straße im Mission District aufgewachsen, und wie viele seiner Freunde hatte er schon mit fünfzehn alle möglichen Jobs gehabt. Er hat Zeitungen ausgetragen, war angestellt in einem Lebensmittelmarkt und Türsteher im Haight Theatre. Sechs Abende die Woche war er Kartenabreißer, und an seinem freien Tag sah er sich selber Filme an. Als Schüler ist er mit dem Fahrrad bis nach Sea Cliff zum Strand gefahren, er sah die prachtvollen Häuser und meinte zu seinen Freunden: »Eines Tages wohne ich in dieser Gegend.« Und so kam’s. Auch meine Mutter ist mittellos aufgewachsen (auf einem Bauernhof in Schweden in einer großen glücklichen Familie), und zusammen sind sie ein sparsames Paar — wir gehen nie essen, wir heizen nicht, außer wir haben Besuch, und manchmal zieht nicht mal dann etwas Wärme durchs Haus, nur starker Fischgeruch. Meine Schwester Svea, die zehn ist, isst als Einzige in unserer Familie gern Fisch, aber er kommt trotzdem jede Woche auf den Tisch, weil wir Schweden sind.

Unser Wohnzimmer hat fünf große Fenster, die auf die Golden Gate Bridge gehen. An nebligen Tagen ist die Brücke ganz in Weiß gehüllt, man sieht nicht die Spur davon. An diesen Tagen erzählte mir mein Vater früher immer, Diebe hätten die Brücke gestohlen. »Keine Sorge, Eulabee«, sagte er dann zu mir, »die Polizei ist ihnen auf den Fersen — sie haben die ganze Nacht gearbeitet.« Am frühen Vormittag, wenn der Nebel sich langsam auflöste, sagte er dann: »Da, man hat sie gefasst! Die Brücke wird wieder aufgebaut.« Ich konnte mich nicht satthören an dieser Geschichte, und sie bestätigte die beiden Weisheiten, die meine Kindheit prägten:

Harte Arbeit bezwingt alle Hindernisse.

Das Gute siegt über das Böse (und Letzteres lauert überall).

Es gibt natürlich Alarmrufe und Warnungen, und in Sea Cliff haben diese Warnungen die Gestalt von Nebelhörnern. Erst ein Nebelhorn, und dann aus der Ferne das nächste. Die tief dröhnenden Nebelhörner sind der Soundtrack meiner Kindheit. Wenn wir an den Strand gehen, was oft vorkommt, in dicken Pullovern und mit Nebel im Gesicht, sind die Nebelhörner noch lauter als in unseren Häusern. Sie durchdringen unsere Beichten, unser Gelächter. Wir lachen viel.

Wenn ich »wir« sage, meine ich manchmal uns vier Mädchen aus Sea Cliff, die an der Spragg School for Girls in die achte Klasse gehen. Aber wenn ich »wir« sage, meine ich immer Maria Fabiola und mich. Maria Fabiola ist das älteste von drei Kindern — ihre kleinen Brüder sind Zwillinge. Ihre Familie ist in dem Jahr nach Sea Cliff gezogen, als wir in den Kindergarten kamen. Niemand wusste viel über sie. Manchmal sagt Maria Fabiola, sie sei Halbitalienerin. Dann sagt sie, nein, bin ich nicht, wie kommst du darauf? Dann wiederum sagt sie, ihr Großvater sei der Premierminister von Italien. Oder hätte Premierminister werden können. Oder sie sei verwandt mit dem Bürgermeister von Florenz, oder zumindest fast. Sie hat langes dunkelbraunes Haar und hellgrüne Augen — sogar auf Schwarz-Weiß-Fotos sieht man die ätherische Farbe ihrer Augen. Es gibt Dutzende von Fotos bei ihr zu Hause von ihr und ihren Cousins und Cousinen auf Pferden oder am Rand von Swimmingpools inmitten von Rasenflächen. Die Fotos sind von professionellen Fotografen aufgenommen worden und stecken in identischen silbernen Rahmen.

Maria Fabiola ist eine Bemerkerin, aber auch eine Lacherin. Sie hat ein Lachen, das in ihrem Brustkorb anfängt und wie Flötentöne aus ihrem Mund kommt. Sie ist bekannt für ihr Lachen, weil es das ist, was Leute ein ansteckendes Lachen nennen, aber ihres funktioniert anders. Ihr Lachen ist ein Lachen, das einen deswegen zum Mitlachen zwingt, weil man nicht will, dass sie alleine lacht. Und sie ist schön. Ein älterer Junge in Ocean-Pacific-Cordshorts in der Nähe vom Kezar Stadium hat mal gesagt, sie sei scharf, und bei jedem anderen Mädchen hätten wir abgewunken, aber in ihrem Fall glauben wir’s — dem Kompliment, dem Jungen, den Cordshorts.

Sie trägt massenhaft dünne Silberarmreifen. Wir alle tragen diese Armreifen, die wir in der Haight Street (drei für einen Dollar) oder in der Clement Street (fünf für einen Dollar) kaufen, aber sie trägt die meisten. Wenn sie lacht, fallen ihr die Haare in die Stirn, und sie streicht sie sich mit den Fingern aus den Augen, dass die ganze Silberkaskade den Arm rauf- und runterrutscht. Das Klimpern ihrer Armreifen ist wie ihr Lachen: hoch und zart, ein Wasserfall aus Noten. Sie hat die perfekten Haare, und das wird auch so bleiben.

Als wir in der Vorschule waren, begannen Maria Fabiola und ich, unseren Schulweg gemeinsam mit ein paar älteren Mädchen von der Spragg zu gehen. Diese Mädchen holten erst Maria Fabiola ab, die hoch über China Beach wohnt, und dann liefen sie den kurvigen El Camino del Mar hinauf, um mich einzusammeln. Zusammen liefen wir auf dem breiten glatten Asphalt, um ein weiteres Mädchen abzuholen, das in dem Haus wohnt, das wie ein Schloss aussieht (es hat ein Türmchen), und dann ging es weiter zur Schule. Die älteren Mädchen gaben uns ihr Häuserwissen weiter, und das kombinieren wir mit den Informationen, die wir von unseren Eltern haben: Als wir dann die älteren Mädchen auf der Spragg werden, bringen wir den jüngeren Mädchen bei, wer wo wohnt, welche der Gärtner pervers sind. Von der Vorschule bis zur Vierten tragen wir grüne Karopullover über weißen Blusen mit Bubikragen. Von der Fünften bis zur Achten tragen wir exakt knielange blaue Faltenröcke und weiße Matrosenblusen. Es sind die durchsichtigen weißen Blusen, die den Gärtnern Bemerkungen entlocken. »Ihr seid gar nicht mehr so klein«, sagen sie und starren uns auf die Brust.

Seit wir dreizehn sind, laufen Maria Fabiola und ich mit zwei anderen Mädchen zur Schule: Julia und Faith. Julia wohnte früher ein paar Häuser weiter in meiner Straße in einem Haus, das aussah, als könnte es ins Meer stürzen. Ihre Mutter war professionelle Eiskunstläuferin und hat eine Wand voller Medaillen, deshalb macht Julia auch Eiskunstlauf. Julia hat schulterlange hellbraune Haare, die in der Sonne blond aussehen, und blaue Augen, die man unbedingt »kobaltblau« nennen muss. Sie war kurz mit einem Jungen aus Pacific Heights zusammen, bis sie ihn eines Abends am Telefon fragte, welche Augenfarbe sie hätte, und er »Blau« sagte, und dann konnte er einpacken. Julias Halbschwester Gentle ist siebzehn. Sie ist die Tochter von Julias Vater und seiner ersten Frau, die ein Hippie war. Dann wurde Julias Vater reich, und die erste Frau konnte die Heuchelei nicht ertragen, also verließ sie ihn und Gentle und zog nach Indien. Da heiratete Gentles Vater dann die Eiskunstläuferin.

Julia hat es schwer mit einer Halbschwester wie Gentle. Gentle war früher auf der Spragg School for Girls, bis sie von der Schule flog. Jetzt ist sie auf der Grant, der öffentlichen Highschool, womit sie die einzige unserer Bekannten ist, die auf diese Schule geht. Die Grant-Schüler sehen riesig aus, und ihre Mäntel sind enorm. Sie zeigen Polizisten und sogar Feuerwehrleuten den Finger. Früher hat sie mich und Svea manchmal gebabysittet, bis meine Eltern dahinterkamen, dass sie mir eines Abends, als ich elf und sie fünfzehn war, das Rauchen beibrachte.

Gentle hat lange, verfilzte, aschblonde Haare und trägt Schlaghosen. Früher hatte sie Hippiefreunde, aber jetzt sehen wir sie meistens allein. Sie ist oft betrunken, bekifft oder auf Acid. Einmal waren wir auf dem Spielplatz am Golfplatz neben der Spragg und sahen, wie sich eine Gruppe formte und über irgendwas lachte. Julia, Maria Fabiola und ich gingen hin, um zu gucken, und da war Gentle, die nackt am Klettergerüst hing. Julia war stinksauer. Sie rannte nach Hause, um ihrer Mutter Bescheid zu sagen, und kam am nächsten Tag nicht in die Schule.

Nach einem Firmenskandal, der sogar auf der Titelseite des Chronicle war, musste Julias Familie in ein kleines Haus am anderen Ende der California Street ziehen, jenseits der Grenze zu Sea Cliff. Angeblich sollten sie nur so lange dort wohnen, wie an ihrem eigentlichen Haus gebaut wurde, aber ich habe dort nie Bauleute gesehen und zufällig mitbekommen, wie mein Vater zu meiner Mutter sagte, er habe in einem Immobilienreport gelesen, das Haus sei verkauft worden. Jetzt haben sie keinen Meeresblick mehr. Jetzt benutzen sie die Garage als Gästezimmer und parken auf der Straße. Wegen des Skandals und der Umzieherei haben wir Mitleid mit Julia, aber vor allem haben wir Mitleid mit ihr, weil niemand gern jemanden wie Gentle als Halbschwester hätte. Meine Mutter sagt, sie habe großen Respekt vor Julias Mutter, denn es müsse unglaublich anstrengend sein als Stiefmutter eines so verstörten Mädchens. Die ganze Musik, die Gentle gut findet, handelt von Drogen. Oder die Bands nehmen Drogen oder sehen aus, als würden sie Drogen nehmen. Alles an Gentle ist schmuddelig und ungewaschen, aber das hier sind die Achtziger, und die Achtziger sind sauber, und die Farben sind leuchtend und klar voneinander abgetrennt.

Dann ist da noch Faith. Sie ist eine von uns. Faith ist letztes Jahr in der siebten Klasse nach San Francisco gezogen und wohnt auf der Sea View Terrace in einem Haus, das sich über den ganzen Block zieht. Sie hat lange rote Haare, und an manchen Tagen sieht sie damit aus wie Anne of Green Gables und an anderen wie Pippi Langstrumpf. Sie ist Torwart in der Fußballmannschaft, und wenn sie nach dem Ball hechtet, wallen ihre Haare hinter ihr her wie eine Flagge. Sie hat so etwas an sich, als wüsste sie, dass sie was Besonderes ist, vielleicht liegt’s aber auch daran, dass sie berühmten literarischen Figuren ähnelt, oder daran, dass sie adoptiert wurde. Ihr Vater ist viel jünger als ihre Mutter. Sie hatten mal eine Tochter, aber die Tochter starb, also haben sie ersatzweise Faith adoptiert. Die tote Tochter hieß auch Faith, was ich seltsam und Julia grauenerregend findet, weil »grauenerregend« ihr Lieblingswort ist. Aber Faith macht sich nichts draus, dass sie nach der toten Tochter benannt wurde. Sie sagt sogar, manchmal fühle sie sich wie zwanzig, weil die ursprüngliche Faith sieben wurde und Faith jetzt dreizehn ist. Ich weiß nicht, wie Faiths Mutter war, bevor die ursprüngliche Faith starb, aber jetzt tut sie, als wäre das Leben ein großes kaputtes Auto, das sie irgendwie die Straße entlangschieben muss. Sie geht, als stemmte sie sich einem Sturm entgegen, selbst bei schönstem Sonnenschein.

Diese Straßen von Sea Cliff gehören uns — Maria Fabiola, Faith, Julia und mir —, aber Maria Fabiola und ich kennen die Strände am besten. Vielleicht, weil unsere Häuser direkt am Meer liegen. Das Haus ihrer Eltern liegt über China Beach, und unseres liegt ein Stück weiter oben — vier Minuten zu Fuß.

Wir nehmen die Jungs von Sea View Terrace mit zum Strand und erkennen erst unter ihren Blicken, wie geschickt wir sind. Wir spüren unsere Macht, wenn wir auf Händen und Füßen über die Klippen hasten — wir kennen alle Spalten und Nischen, die glatten Gefälle und die schroffen Flächen. Gäbe es eine olympische Disziplin für das Erklimmen dieser Klippen, wären wir dabei; wir klettern, als wären wir im Training. Nach einem Nachmittag am Strand sind unsere Fingerkuppen rau, und unsere Handflächen riechen nach feuchtem Fels, und die Jungs sind hingerissen.

China Beach grenzt an einen größeren Strand namens Baker Beach, und die beiden Strände sind durch einen Felsvorsprung voneinander getrennt, aber Maria Fabiola und ich wissen, wie man bei Ebbe zwischen den Stränden hin- und herwechselt. Wir können das Meer deuten, wissen, wie man die rutschigen Felsen überquert, sodass wir es bei richtigem Timing, wenn das Meer seine Wellen einzuatmen beginnt, mit einer Kombination aus Klettern und Rennen bis Baker Beach schaffen. Einmal, auf einem Schulausflug zu China Beach, sahen wir, dass der Wasserstand niedrig genug war, um loszusprinten und den Felsvorsprung zu umrunden und Baker Beach sicher zu erreichen. Ein paar Mitschülerinnen folgten uns. Als unsere Lehrerinnen uns zurückriefen, stimmten Maria Fabiola und ich uns mit den Wellen ab und rannten los. Unsere Mitschülerinnen aber kannten den Strand nicht so wie wir, zögerten zu lange und saßen dann auf der anderen Seite fest. Unter den Lehrern brach Panik aus. Wir beruhigten sie. Wir kletterten über die Klippe, nahmen unsere Mitschülerinnen an den Händen, beobachteten das Meer und führten sie zurück zu China Beach. Wir versuchten, bescheiden zu bleiben, aber wir waren Heldinnen.

2

Seit der Vorschule auf Spragg sind Maria Fabiola und ich beste Freundinnen, und fast jedes Jahr kommen wir in Parallelklassen. Getrennt voneinander sind wir brave Mädchen. Wir benehmen uns. Zusammen aber entsteht irgendeine seltsame Alchemie, und wir werden zur Gefahr. Das passiert, wenn wir in der Schule sind, und es passiert, wenn wir nicht in der Schule sind. Letztes Jahr gab es Ärger mit meinen Eltern und unseren Nachbarn, weil ich in einer Sache, die mit ihr zu tun hatte, gelogen habe. Maria Fabiola und ich verkauften Limonade. Bei mir vor dem Haus kamen nicht viele Kunden vorbei, also zogen wir mit dem Stand an eine Straßenecke vor ein größeres Haus. Da hielt ein Chevy voller Teenagerjungs, und der Junge im Beifahrersitz beugte sich aus dem Fenster und sprach uns an. »Wenn das euer Haus ist, können wir euch dann heiraten, wenn ihr älter seid?«

Maria Fabiola und ich tauschten einen Blick und lachten. Wir stellten ihre Vermutung nicht richtig.

»Das heißt also ja«, sagte der Junge. Während sie davonfuhren, brüllte er aus dem Fenster: »Wir kommen zurück!« Für manche mochte das wie eine Drohung klingen, aber für uns war es eine Verheißung.

Mrs Sheridan, eine Nachbarin, die ich schon fast mein ganzes Leben lang kannte, war unsere erste Kundin. »Na, was haben wir denn hier Schönes, Eulabee?«

»Limonade«, sagte ich und zeigte auf das Schild, auf dem »Limonade« stand.

Sie kaufte einen Becher, den sie auf der Stelle austrank, und dann kaufte sie einen zweiten. »Und wer bist du?«, fragte sie Maria Fabiola.

»Maria Fabiola.«

Eigentlich hätte Mrs Sheridan sie erkennen müssen, dachte ich, wo sie doch ständig bei uns zu Hause war, aber anscheinend nicht. Ihr Nichterkennen Maria Fabiolas brachte mich dazu, meine Freundin mit anderen Augen zu sehen. Und zum ersten Mal sah ich das, was offenbar alle anderen sahen: Sie war nicht mehr die, die sie mal gewesen war. Ihre einst glatten Haare waren wellig geworden. Ihr Körper war aufgegangen, der Stoff ihres Oberteils spannte, die Hintertaschen ihrer Jeans ebenso, sodass die Taschen jetzt in einem Winkel zueinander nach innen zeigten. Die Lüge flog mir aus dem Mund, eine Erfindung, um die wachsende Distanz zwischen uns zu überbrücken. »Maria Fabiola ist nicht nur meine Freundin«, sagte ich zu Mrs Sheridan. »Meine Eltern haben sie vor Kurzem adoptiert. Sie ist meine neue Schwester.«

Mrs Sheridan, die ein großes Kreuz an einer dünnen Kette um den Hals trug, hielt das für eine wunderbare Neuigkeit. Ich sowieso. Was Maria Fabiola von meiner Lüge hielt, war erst mal schwer zu sagen — ihre vollen Lippen hatten sich zu einem Schmollen zusammengezogen —, aber sie begann, meine Geschichte zu wiederholen und dann anzunehmen, und das machte mich froh. Wir gingen den Block auf und ab, klingelten und klopften mit den Türklopfern, und ich stellte Maria Fabiola sämtlichen Nachbarn als meine neue Adoptivschwester vor.

Wir klingelten noch hier und da, und fast überall ging jemand an die Tür. Musste in Sea Cliff denn kein Mensch arbeiten? Jeder Nachbar akzeptierte unsere Lüge als Wahrheit. Die Leichtigkeit der Täuschung machte das Lügen weniger lustig, also ließen wir es sein und gingen zurück zu mir nach Hause, um was zu essen. Wir machten uns Selleriestangen mit Erdnussbutter und Rosinen.

»Ich wusste gar nicht, dass du so gut lügen kannst«, sagte Maria Fabiola. Sie schien mich plötzlich anders einzuschätzen.

»Ich auch nicht«, sagte ich.

Schweigend aßen wir weiter, zu hören war nur das Knacken des Sellerie.

Maria Fabiolas Mutter kam in ihrem schwarzen Volvo, um Maria Fabiola abzuholen. Sie hatte dunkle Haare und trug eine große Sonnenbrille, die so lichtundurchlässig war, dass es manchmal schien, als hätte sie Schwierigkeiten, überhaupt was durch sie zu sehen. Immer wieder schob sie die Brille für eine bessere Sicht in die Stirn, nur um sie gleich wieder über die Augen fallen zu lassen, als wäre sie enttäuscht vom wahren Anblick der Dinge. Sie schnappte sich Maria Fabiola und fuhr mit ihr davon. Ich konnte nur hoffen, dass sie niemand hatte wegfahren sehen. Maria Fabiolas Abfahrt passte so gar nicht in meine frisch fingierte Familiengeschichte.

Es dauerte nicht lange, da begann das Telefon zu klingeln. Die Nachbarn riefen an, um meine Eltern zu unserem neuen Familienmitglied zu beglückwünschen und zu fragen, ob wir Hilfe bräuchten bei der Eingewöhnung. Abgelegte Kleidung, Essen, egal was.

Während der Telefonate waren meine Eltern sehr aufmerksam und fasziniert. Ich konnte ihre Gesichter nicht sehen, weil ich mich in der Flurgarderobe versteckt hatte, im langen Waschbärmantel meiner Mutter. Ich kannte jede Faser seines Innenlebens. Das Futter hatte ein kompliziertes Muster in Braun, Schwarz und Weiß, und an einer versteckten Stelle war das Monogramm meiner Mutter eingestickt — G. S. Würde der Mantel jemals gestohlen, wurde mir erklärt, wäre sie dank des Monogramms in der Lage, ihn als ihr Eigentum auszuweisen, wobei mir nie erklärt wurde, warum überhaupt jemand den Mantel stehlen wollen würde, zumal ich meine Mutter außerhalb des Hauses nie darin gesehen hatte — auch nicht innerhalb des Hauses. Nicht einmal der Waschbärmantel konnte die Stimmen meiner Eltern nicht dämpfen; ich hörte, dass sie verdattert waren und verärgert. Die Garderobentür ging auf. Seit meiner Kindheit versteckte ich mich in dem langen Waschbärmantel, also war es im Grunde kein sehr gutes Versteck. Fünf Minuten später nahm ich denselben Weg zurück durch unser Viertel, drückte kalte Klingelknöpfe und entschuldigte mich unter strengen Blicken.

3

Eines Tages im September kommt mein Vater nach Hause und erzählt, dass bei Joseph & Joseph eine Episode einer mir unbekannten Fernsehserie gedreht werden soll. Joseph & Joseph ist seine Kunst- und Antiquitätengalerie, sie liegt auf der anderen Seite der Stadt. Mein Vater heißt Joseph, und als er sich das Logo ausdachte, wollte er unbedingt ein Und-Zeichen haben, weil er fand, es mache mehr her. Einzige Erschwernis: Er hatte keinen Partner, also hat er einfach seinen Namen verdoppelt. Jetzt wird eine Episode einer nicht sonderlich bekannten Krimiserie in der Galerie gedreht, und mein Vater hat Svea, meine Freundinnen und mich gefragt, ob wir nicht Lust hätten, im Einspieler zu sein. Ich weiß nicht, was ein Einspieler ist, aber ich rufe Maria Fabiola, Faith und Julia an, und wir planen, was wir anziehen. Wir sind enttäuscht, als wir von der zuständigen Person erfahren, dass wir unsere Schuluniformen tragen sollen.

Die Galerie meines Vaters liegt in South of Market. Er fand dort einen kleinen Block, der ihm gefiel, und ging von Tür zu Tür und bot den Hauseigentümern Geld an. Ein paar der Eigentümer kannten meinen Vater von früher, als er noch ein Junge war und Zeitungen austrug. Sie nahmen das Angebot gern an; sie waren froh, da wegzukommen. Dann gründete mein Vater Joseph & Joseph. Die Galerie hat sich nicht sehr auf die Gegend ausgewirkt — draußen vor den großen Fenstertüren sitzen Männer und trinken aus der Flasche. Aber wenn man Joseph & ​Joseph erst mal betritt, hat man das Gefühl, in einem riesigen Puppenhaus zu sein.

Zwei Etagen des Gebäudes stehen voller Antiquitäten. Es gibt außerdem einen Auktionsraum, der oft für Partys angemietet wird. Mein Vater hat Fotos von sich mit O. J. Simpson, mit der Bürgermeisterin Dianne Feinstein. Auf dem Foto kann ich ihre schönen Beine sehen. Die Beine von Dianne Feinstein sind ziemlich oft Thema bei meinem Vater. Einmal beschrieb er sie und sagte danach »Junge, Junge«.

Mein liebster Gegenstand in der Galerie ist ein chinesischer Gewürzschrank. Er ist fast zwei Meter hoch und einen Meter breit und hat zweiundvierzig Schubladen, die tief und lang sind. Ich liebe es, eine Schublade aufzuziehen, einzuatmen und zu raten, welches Gewürz mal in der Schublade war. Dann schließe ich sie und mache die nächste auf. Es ist wie eine Bibliothek mit einem Zettelkasten für Gerüche.

Mein Vater hat eine Sekretärin namens Arlene. Arlene ist die Schwester vom besten Freund meines Vaters aus der Kindheit in der kleinen Straße. Mein Vater ist seinen Freunden aus der Gegend treu geblieben. Arlenes Haare sind so lang, dass sie ihr bis über den Gürtel fallen, und sie hat eine Vorliebe für Schluppenblusen und weinrote Hosen. Sie kann manchmal sehr schlecht gelaunt sein, und ich weiß, dass sie dann ihre Tage hat. Das erfuhr ich erstmals von meinem Vater, und ich finde es schrecklich, dass er es weiß. Ich finde es schrecklich, dass ich es weiß. Ich habe eine Tabelle in meinem Terminkalender, wo ich mir notiere, wann sie mir gegenüber in Person oder am Telefon schlecht gelaunt ist, und ja: Alle vier Wochen ist sie gereizt.

Ansonsten ist sie lieb und aufmerksam. Sie gibt mir Baby-Aspirin, wenn ich Kopfschmerzen habe, und ich darf all die Antiquitäten anfassen, sogar den marmornen Zimmerspringbrunnen mit dem nackten Engel, der gefährlich obenauf balanciert. Das Wasser schießt aus seinem Mund, als würde er sich übergeben.

Am Tag des Drehs fährt meine Mutter Svea, Maria Fabiola, Faith, Julia und mich nach der Schule zur Galerie. Sie hat mir eine neue, frisch gebügelte Uniform mitgebracht, doch das ist mir peinlich, also ziehe ich mich nicht um. Aber Maria Fabiola, die sich an dem Tag mittags die Uniform mit Senf bekleckert hat, meint, sie würde sie sich gerne ausborgen.

Als wir zur Galerie kommen, steht das halbe Mobiliar woanders, um Platz zu machen für Licht und Kamera. Mein Gewürzschrank wurde nicht angerührt. Arlene hat ihre Haare geglättet, sodass sie heute ungewöhnlich seidig sind, und mein Vater trägt seine silberne Krawatte, seine beste, obwohl er gar nicht gefilmt wird.

Maria Fabiola nimmt den Kleiderbügel mit meinem frisch gebügelten blauen Uniformrock und der weißen Matrosenbluse und zieht sich in der Toilette um. Als sie wieder auftaucht, kann ich nicht anders, als hinzustarren. Die Bluse, die bei mir locker sitzt, spannt bei ihr über der Brust. Meist trage ich ein weißes T-Shirt unter meiner Bluse, aber sie nicht. Und auch keinen BH.

Der Regisseur, der überhaupt nicht gut gekleidet ist und keinen Regiestuhl hat (sehr enttäuschend), sagt zu uns, es sei Zeit für den Einspieler. Wir gehen hinaus und sehen, dass draußen vor dem Gebäude eine Kamera aufgebaut worden ist. Faith, Julia, Svea, Maria Fabiola und ich sollen an der Galerie entlang vorbeihüpfen, als kämen wir gerade aus der Schule und wären auf dem Weg nach Hause. Ich begreife, dass wir deshalb unsere Uniformen tragen sollten, damit das Ganze so aussieht, als läge die Galerie in einem wohlhabenden Teil der Stadt, wo es Privatschulen gibt. Die Wirklichkeit sieht aber so aus, dass es im Umkreis von Joseph & Joseph keine Privatschulen gibt, die fußläufig zu erreichen wären.

Wir hüpfen vor dem Eingangsbereich in eine Richtung. Dann gehen wir zurück zum Ausgangspunkt und hüpfen noch mal los. Nach dem dritten Take sagt der Regisseur etwas zu einer Assistentin, und die Assistentin sagt etwas zu meinem Vater, und dann flüstert mein Vater meiner Mutter etwas zu. Ich beobachte, wie sich ihre Münder bewegen, kann aber nicht ausmachen, was sie sagen. Schließlich kommt meine Mutter rüber zu mir und meinen Freundinnen. »Diesmal, Mädchen, versuchen wir’s mal ohne Hüpfen. Ach, und Maria Fabiola, der Regisseur möchte nicht, dass alle so gleich aussehen. Kannst du dir deinen Uniformpullover überziehen?« Maria Fabiola folgt den Anweisungen, und dann gehen wir noch zwei Mal an der Galerie vorbei.

»Und … Cut!«, ruft der Regisseur. Er hat zwar kein Megafon, dennoch finden meine Freundinnen und ich es aufregend, dass er offizielle Filmausdrücke benutzt.

Man dankt uns, und wir erfahren, dass diese Episode der Sendung erst in ein paar Monaten ausgestrahlt werde, aber nicht mal diese Verzögerung kann uns die Laune verderben. Meine Mutter fährt uns nach Hause, und wir sind alle völlig aufgekratzt, einschließlich Svea, die glücklich ist, weil sie von all meinen Freundinnen beachtet wird und sogar von Faith ihre schönen Haare geflochten bekommt.

Abends in der Küche frage ich meine Mutter, was das Geflüster am Set zu bedeuten gehabt habe. »Ach, das«, sagt meine Mutter. »Weiß ich gar nicht mehr.«

»Weißt du wohl«, sage ich.

»Na ja, erzähl’s deinen Freundinnen nicht weiter, aber der Regisseur war der Meinung, dass Maria Fabiolas Erscheinung etwas abgelenkt hat.«

»Etwas abgelenkt?«

»Das war sein Wortlaut«, sagt meine Mutter.

»Ah«, sage ich und versuche, lässig zu tun.

Später am Abend halte ich mit Julia und Maria Fabiola eine Telefonkonferenz ab und teile ihnen mit, dass der Regisseur Maria Fabiola als »ablenkend« bezeichnet habe.

Maria Fabiola lacht los, und ich lache mit. Julia schweigt und versucht, so zu tun, als wäre sie nicht im Geringsten eifersüchtig.

»Tut mir leid, dass ich vorhin nicht mitgelacht habe«, sagt Julia, »aber ich war abgelenkt.«

Ich höre Maria Fabiolas Armreifen klimpern, und ich weiß, sie fährt sich gerade mit den Fingern durch ihre langen, langen Haare.

4

An dem Abend, als ihr Vater sich umbringt, bin ich bei Faith zu Hause. Alle vier waren wir da. Es ist Faiths Geburtstag, und wir gehen ins Alexandria Theatre auf dem Geary Boulevard, um uns The Breakfast Club anzusehen. Wir gucken den Film mit gespannter Aufmerksamkeit und Entzücken. Als wir aus dem Kino kommen, sind wir im Rausch. »Don’t you forget about me«, sagen wir immer wieder zueinander. Wir wollen von allen Jungs aus dem Film beachtet werden. Wir wollen verlangen. Wir wollen lieben. Wir wollen nach Liebe verlangen. Wir stehen an der Schwelle, richtige Freunde zu haben, mit ihnen rumzumachen. Wir wissen das. Wir spüren diesen Drang, der durch unsere Körper pulsiert, aber wir können ihn nicht benennen — wir werden nicht Begehren dazu sagen —, wir wissen nicht, wie man diese Sache in Worte fasst, uns selbst und den anderen gegenüber. Und so lachen wir und singen weiter »Don’t you forget about me«, bis Faiths Mutter vor dem Kino hält, in einem lächerlichen roten Regenmantel, der dadurch noch lächerlicher wirkt, dass es gar nicht regnet. Sie hält ihren Zeigefinger vor die Lippen und sagt: »Shhh.«

Faiths Geburtstagsessen findet bei Al’s Place in der Clement Street statt. Faiths Vater, der gut aussehend und mindestens ein Dutzend Jahre jünger als Faiths Mutter ist, kommt nach der Arbeit dazu. Er bestellt ein Steak und das, was man im Fernsehen einen harten Drink nennt. Faiths Mutter bestellt ein Light-Getränk und trinkt es mit einem Strohhalm, den sie nicht ganz erfolgreich aus seiner Papierhülle gelöst hat. Ein weißer Papierfetzen klebt über die halbe Mahlzeit hinweg an ihrer Lippe. Als sie sich kurz entschuldigt, um zur Toilette zu gehen, ordert Faiths Vater den nächsten harten Drink. Faiths Vater stellt uns ein paar Fragen und gibt sich große Mühe, meinen und Julias Namen nicht zu verwechseln. Maria Fabiolas Namen merkt er sich problemlos. Alle merken sich Maria Fabiola. Ihr Aussehen ist in letzter Zeit auf fast verstörende Art fesselnd. Ihr Körper ist noch mehr aufgeblüht, was ihrem Gesicht einen Ausdruck dauerhaften Staunens verliehen hat, als könne sie ihr Glück selbst kaum fassen.

Nach dem Essen und einem mickrigen Tortenstück fahren wir zurück zu Faith. Faith zeigt uns das Haus, das Maria Fabiola noch nicht von innen kennt. »Echt nicht?«, fragt Julia. »Ich hab sehr viele außerschulische Aktivitäten«, entgegnet Maria Fabiola. Sie und ich haben dieselbe Anzahl außerschulischer Aktivitäten. Wir fingen an, an der Ballettschule Olenska Ballettstunden zu nehmen, als die Pubertät von unseren Körpern Besitz ergriff, uns behäbig machte und unsere Kurven mit Fett beschichtete. Nicht dass unsere Lehrerin, Madame Sonya, große Hoffnungen für uns hat — sie zitiert gern Isadora Duncan, die gesagt hat, amerikanische Körper seien nicht für Ballett geschaffen. Während die Ballettstunden mir selbst nicht viel brachten, haben sie immerhin geholfen, Maria Fabiolas Figur zu formen. Zusätzlich zum Ballett gehen wir jeden zweiten Mittwoch in die Tanzschule. Alle auf der Spragg gehen in die Tanzschule, weil man da die Jungs von den Jungenschulen trifft.

Bei Faith zu Hause ist alles im Laura-Ashley-Stil — pastellfarbene Blümchen auf weißen Gardinen, pastellfarbene Blümchen auf Tischdecken, pastellfarbene Blümchen überall. Das Haus ist deutlich größer als ihr früheres in Connecticut, denn ihre Möbel füllen es nicht aus. Das heißt, es ist ein Haus, wo in einem Zimmer nur eine Couch steht und im nächsten nur ein Schreibtisch. Ich weiß, dass Maria Fabiola nicht die komplette Führung bekommt, weil Faiths Eltern zu Hause sind. Die komplette Führung umfasst den Stapel Playboys, den ihr Vater in einem Schuhkarton in seinem Kleiderschrank aufbewahrt, zusammen mit einer Pistole — die es laut Faith nur gibt, »um Einbrecher zu erschrecken«. Die komplette Führung umfasst den Haufen armseliger Tagebücher, die ihre Mutter auf ihrer Seite unter dem Bett versteckt. Auf jeder Seite wird aufgelistet, was sie an dem Tag gegessen hat und ob die Menge gut oder schlecht war. In den Tagebüchern steht nichts anderes über ihren Tag als ihr Essverhalten.

Ohne den längeren Aufenthalt im Elternschlafzimmer ist die Führung schnell vorbei. Nach fünf Minuten stehen wir wieder in der Küche und fangen an, Popcorn zu machen. Ich sehe mich um — plötzlich ist Maria Fabiola nicht mehr bei uns. Faiths Mutter bittet uns, schnell zum Eckladen zu laufen und ihr ein Päckchen Virginia Slims zu holen. Sie schickt Faith oft zum Laden, mit Geld und einem Zettel mit der Erlaubnis zum Zigarettenkaufen. »Nicht an meinem Geburtstag!«, ruft Faith. Ihre Mutter greift nach ihrer fleckigen Handtasche mit dem langen abgewetzten Riemen und geht selbst. Das Popcorn essen wir am Ende nicht, weil es angebrannt ist.

Eine kühle Salzwasserbrise weht ins Haus, und wir folgen ihr durch die offene Hintertür in den Garten. Draußen im trüben Licht sehen wir Faiths Vater mit einem Drink in der Hand. Er sitzt auf einer kurzen weißen Bank, von der ich jetzt erkenne, dass sie eine Schaukel ist. Es ist eine Schaukel, wie man sie aus Musicals oder Theaterstücken kennt, die in den Südstaaten spielen. Neben ihm auf der Schaukel sitzt Maria Fabiola.

»Komm, wir fahren Fahrstuhl«, ruft Faith ihr zu.

»Ich unterhalte mich gerade mit deiner Freundin, Faith«, sagt ihr Vater.

»Passen eh nur drei Leute rein«, sagt Faith mit einem vorwurfsvollen Blick auf Maria Fabiola. Julia und ich folgen Faith ins Haus. Die Innendeko des Fahrstuhls besteht aus langen festgetackerten Schleifen. Es sind Farben wie bei Baskin Robbins: Erdbeer, Pistazie, Banane und Mandarine. »Das ist noch vom Vorbesitzer«, erklärt Faith, wobei klar ist, dass die Frivolität flatternder Schleifen dem Naturell ihrer Mutter zutiefst widerspricht, was vielleicht auch der Grund ist, weshalb wir warten mussten, bis sie weg war, um Fahrstuhl zu fahren. Wir fahren die vier Etagen des Hauses rauf und runter, rauf und runter, bis ich klaustrophobisch werde. Als ich im Erdgeschoss aussteige, kommt Maria Fabiola gerade aus dem Garten ins Haus und hat einen Ausdruck im Gesicht, den ich nicht deuten kann.

»Wie war die Fahrstuhlfahrt?«, fragt sie in herablassendem Ton.

»Ehrlich gesagt«, sage ich und sehe sie an, »ist mir ein bisschen schlecht.«