Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Lucy Walker kämpft im 19. Jahrhundert für ihren Traum, die Alpen zu erklimmen - damenhaft im langen Rock. Trotz gesellschaftlicher Hindernisse und einer unmöglichen Liebe zu ihrem Bergführer entdeckt Lucy in den Schweizer Bergen eine nie gekannte Freiheit. Ihre größte Sehnsucht ist das schauderhaft schöne Matterhorn, das im Schatten eines tödlichen Unglücks steht. Sie begibt sich in den gefährlichen Wettkampf, die erste Frau auf dem Gipfel zu sein. Ein mitreißender historischer Roman über die Frage, was wahre Stärke ist.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 436
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Andrea Günther
Die Gipfelstürmerin
Lucy Walker, die erste Frau auf dem Matterhorn
Roman
Bei Fragen zur Produktsicherheit gemäß der Verordnung über die allgemeine Produktsicherheit (GPSR) wenden Sie sich bitte an den Verlag.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
Immer informiert
Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie
regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.
Gefällt mir!
Facebook: @Gmeiner.Verlag
Instagram: @gmeinerverlag
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-verlag.de
© 2025 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Susanne Tachlinski
Satz/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung der Fotos von: © Kathy / stock.adobe.com und Chromolithographie des Matterhorns um 1900, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:2022-09-17_GLAM_on_Tour_Zentralbibliothek_Z%C3%BCrich_(Martin_Rulsch)_035.jpg
ISBN 978-3-7349-3418-6
Für einen Schmetterling ist es physisch unmöglich, die eigenen Flügel zu sehen.
(Autor unbekannt)
South Lodge, Liverpool, Mai 1858
Lucy lief. Ihre Schritte klackten laut auf dem geharkten Kiesweg. Sie lief ein wenig zögerlich, wandte sich um, warf einen ängstlichen Blick zurück auf die im Morgenlicht blinkenden Fenster des Herrenhauses, bereit, bei der geringsten Bewegung sofort in einen unverfänglichen Spazierschritt zu fallen. Flanieren war schließlich nicht verboten, auch um fünf Uhr morgens nicht. Doch niemand war zu sehen. Sie lief im prächtigen weiten Reifrock, der von der Krinoline, dem Käfig aus feinen stählernen Ringen, gestützt wurde. Angekleidet wie für einen unschuldigen, wenn auch etwas frühen Spaziergang. Damit sie nicht auf den Saum trat, hielt sie den langen weißen Rock mit beiden Händen gerafft. Auch von der Krinoline ließ sie sich nicht behindern; das Gestell, das ihren Körper umgab, war unpraktisch, aber wenigstens nicht besonders schwer.
Sie lief, trotz ihres Rheumas; erstaunlicherweise störte der geschwollene linke Knöchel sie kaum. Doch das Gefühl, dass sie beobachtet wurde, lag ihr wie eine kalte Hand im Nacken. Mit zusammengekniffenen Augen wandte sie sich erneut um. Nein, keine Gestalt war hinter den hohen Fenstern ihres Elternhauses zu sehen. Auch der Weg vor ihr war menschenleer. Der Zeitungsjunge drehte erst später seine Runde, und der Vater würde nicht vor dem Frühstück die Kutsche in die Stadt anspannen lassen, um dort seinen Geschäften als Kaufmann nachzugehen. Und das Wichtigste: Tante Harriet schlief um diese Zeit noch, ermüdet von einem ihrer französischen Romane. Hoffentlich. Die unverheiratete Schwester der Mutter war gerade zu Besuch. Lucy fühlte sich ständig von ihr beobachtet und kritisiert. »Es wird Zeit, dass Lucy sich an die Regeln hält. Sie ist kein kleines Mädchen mehr und sollte sich wie eine Dame benehmen.« Lucy machte einen wütenden kleinen Satz. Natürlich, die Tante meinte es nur gut, aber die dauernden an die Eltern gerichteten Vorwürfe kreisten selbst jetzt in ihrem Kopf. »Klettern und laufen mit dem Bruder – ihr müsst das unterbinden. Was gibt das für ein Bild ab! Am besten wäre eine standesgemäße Ehe.« Angetrieben von der Sorge um den guten Ruf der Familie, verteidigte die Tante diesen wie eine Bulldogge einen alten Knochen.
Lucy schüttelte sich; schneller laufen, fort von diesen Stimmen. Auch wenn die Tante recht hatte. Sie verstand den geheimen Bewegungsdrang, der sie am frühen Morgen in den Park trieb, ja selbst nicht. Keine begüterte junge Dame stand ohne Grund so früh am Morgen auf, noch viel weniger, um durch den Park zu traben. Kein Mensch rannte überhaupt, wenn es nicht unbedingt notwendig war – bei einem Feuersbrand, zum Beispiel.
Sie lief, an den zu Skulpturen geschnittenen letzten Bäumen des Gartens vorbei, hinaus in den Park. Jeden Baum kannte sie hier; sehnsüchtig blickte sie kurz an der alten Eiche hinauf, auf der ihr Bruder Horace und sie oft gesessen hatten. Aber im Reifrock zu klettern, war nun wirklich nicht möglich. Auch die Baumklettereien hatte Tante Harriet unterbunden. Anscheinend war alles, was Lucy gerne tat, seltsam oder unpassend.
Die Bewegung tat ihr wohl, strömte als Glücksgefühl durch ihre Adern; es war eine Erleichterung, die Anstrengung zu spüren, mit der ihre Muskeln sich spannten und lösten.
Noch war es kühl, und sie fröstelte leicht trotz der Bewegung. Bald würde sie undamenhaft zu schwitzen beginnen, doch so wenig wie der Reifrock oder die Angst vor Entdeckung konnte dies sie aufhalten.
Ein leichter Wind bewegte die Blätter der Platanen. Der Gesang einer Amsel drang hinter einem Busch hervor.
Sie lief jetzt noch rascher, befreiter. Die letzten Bedenken hatte sie irgendwo hinter sich zurückgelassen. Sie genoss den sanften Wind auf ihren Wangen und das Gefühl, aus eigener Kraft mit ihrem Körper etwas zu erreichen. Jeder Schritt trieb sie vorwärts, und sie lächelte über die kleinen Momente, in denen sie wolkig schwerelos schwebte. Die blasse Morgensonne fiel in Streifen durch die alten Platanen und wärmte ihr Gesicht immer, wenn sie eines dieser warmen Felder durchquerte. Unter ihren Füßen knirschte die Erde bei jedem Schritt. Eine Blaumeise flatterte vor ihr auf.
Lucy blieb stehen, ihr Atem ging schnell und stoßweise. Im Nacken hatten sich Haare aus den aufgedrehten Locken gelöst und klebten feucht an ihrem Hals. Sie schnürte die Stiefel aus weichem Leder auf, streifte sie ab und ließ sie achtlos liegen. Verließ den Pfad und rannte barfuß über die weiche Wiese, so wie sie es als kleines Mädchen getan hatte. Unter ihren Fußsohlen den feuchten Tau, im Gesicht die wärmer werdenden Sonnenstrahlen, stieß sie einen Jauchzer aus. Sie breitete die Arme aus, drehte sich um sich selbst, schneller und schneller, Baum, Strauch, Baum, Strau…, Bau…, grüneeeer Streifeeeen. Lucy fiel lachend ins nasse Gras. Der Himmel kreiste. Sie wusste, dass sie es wieder tun würde.
»Du bist was? Heimlich im Park gelaufen wie ein gehetztes Reh? Statt anmutig zu schreiten? Zum Vergnügen?« Emma beugte sich vor. Sensationslust blitzte in ihren wasserblauen Augen. Ihr rötliches Haar schimmerte in der Sonne.
Sie saßen in einer versteckten Ecke des Gartens der South Lodge im Schatten zweier alter Linden beim Fünfuhrtee. Ein leichter Wind bewegte das Gras.
Lucy drehte einen Biskuit in den Händen und sah die beste Freundin an, die nur wenige Meilen entfernt wohnte. »Ich weiß nicht … An dem Morgen konnte ich es im Bett nicht mehr aushalten. Durchs Fenster drang ein Duft nach Flieder und frisch geschnittenem Gras. Die Sonnenstrahlen haben mich im Gesicht gekitzelt. Ich wollte laufen. Vielleicht wollte ich mich einfach wieder wie ein kleines Mädchen fühlen.« Lucy zuckte die Schultern.
Emma rümpfte die kleine Nase, sodass ihre Sommersprossen tanzten. »Ein kleines Mädchen sein? Und wieder eine Gouvernante haben, die dich nach Belieben herumkommandiert? Auf keinen Fall!«
Lucy musste lachen. »Das stimmt. Nein, ich meine: Ich habe es geliebt, mit Horace um die Wette zu schwimmen, zu klettern und zu rennen.«
»Rennen! Ich bin froh, wenn ich in einer Kutsche sitze. Deinen wilden Spielen hat deine Tante Harriet ja vor zwei Jahren ein Ende gemacht. Du warst da aber auch schon den Kinderschuhen entwachsen, Lucy! Bei einem Jungen wie deinem Bruder mag so ein unzivilisiertes Verhalten noch angehen, besonders, da er zwei Jahre jünger ist, aber du warst bereits zwanzig! Und unbegleitet!«
»Du klingst schon wie Tante Harriet. Ich habe mich jetzt lange an alle Regeln gehalten«, sagte Lucy und zerbröselte wütend den Biskuit in ihrer Hand. »Beinahe alle. Ich verberge schon mühsam, dass ich nicht nur Liebesromane lese und meine Gouvernante überredet habe, mir alles über Biologie und Geologie beizubringen, was sie weiß.«
»Und hast dich nun bei so etwas Dummem wie einem morgendlichen Rennen im Park erwischen lassen?« Emma hob die Augenbrauen.
Lucy verbarg das Gesicht in den Händen. »Das war so töricht von mir. Sie haben meine Schuhe im Garten gefunden. Jetzt darf ich ohne Geleit nicht einmal mehr in den Park. Sie glauben, dass ich etwas Unaussprechliches getan habe, weil Damen sich nur in gewissen Situationen ihrer Schuhe entledigen.« Lucy verzog das Gesicht.
Emma blickte die Freundin gespannt an. »Um Himmels willen, niemand wird mehr um deine Hand anhalten. – Die Erklärung ist aber einleuchtend. Du hast nicht …?«
»Natürlich nicht! Wie ich schon sagte: Ich wollte einfach nur … rennen wie früher als junges Mädchen«, sagte Lucy und spürte, dass sie rot wurde. Sie zuckte mit den Achseln.
Emma strich sich ungeduldig eine Strähne ihres roten Haares hinters Ohr, die sich aus ihrem nur locker hochgesteckten Haarknoten befreit hatte. Sie nahm ein Stück Gebäck von der Etagere. »Ich verstehe es immer noch nicht. Das Laufen?«
»Es ist …« Lucy suchte nach den richtigen Worten und blickte sich hilfesuchend um. Ihr Blick fiel auf einen winzigen Marienkäfer, der eben einen Grashalm emporkroch. »Schau, von der Erde aus sieht die Welt ganz anders aus als von der obersten Spitze des Grashalms. Ich will keine begrenzte Welt, die nur aus Erde besteht. Ich will etwas anderes.«
Emma sagte: »Etwas anderes? Du hast all dies …« Sie machte mit dem Buttergebäck in der Hand eine Geste, die die Wiese, auf der sie saßen, das Herrenhaus und das gesamte Anwesen einschloss. »Was ist daran verkehrt?«
Mit diesen Worten biss sie in die Süßigkeit, aus der Honig heraustropfte und über ihren mit Sommersprossen gesprenkelten Handrücken lief.
Lucy zog die Stirn kraus. »Ich weiß, es ist nicht zu begreifen. Ich verstehe mich ja selbst nicht. Ich helfe Mutter gern bei den gesellschaftlichen Verpflichtungen …«
»Du bist eine wunderbare Gastgeberin!«, warf Emma ein und leckte sich den Honig von der Hand.
»Freundlich lächelnde Stichwortgeberin für Herren, die auf die denkbar umständlichste Art unsäglich langweilige Episoden aus ihrem Leben erzählen! Und ich darf nichts von meinem preisgeben. Mir wird ganz schwindlig bei diesem Balanceakt.«
»Das verstehe ich. Oder das Hammerklavier spielen zum Amüsement der Herren.« Emma verdrehte die Augen.
»Ich … ich werde noch verrückt! Emma, du darfst es niemandem erzählen …« Lucy senkte die Stimme und Emma beugte sich vor. »Mir ist sterbenslangweilig. Wäre ich ein armes Mädchen, könnte ich wenigstens allein zur Fabrik gehen. Ich kann einfach gar nichts tun, ohne dass Mutter oder die Tante dabei sind! Manchmal fühle ich einen kreischenden Schlund, der mich zu verschlingen droht.«
Emma starrte die Freundin mit weit aufgerissenen Augen an. »So schlimm? Das behalte ich wirklich besser für mich. Sonst weist dich deine Familie noch ins Rainhill Hospital ein.«
Bei dem Gedanken an die Nervenheilanstalt schlug Lucy entsetzt die Hände vors Gesicht. »Was soll ich denn nur tun? Ich habe Mutter gefragt, und alles, was sie vorschlägt, ist, ein Aquarell zu malen oder ein weiteres Zierkissen zu besticken.«
Emma lächelte. »Das genügt wohl kaum?«
»Ich sticke gern, aber langsam fühle ich mich selbst wie eine auf links gedrehte Stickerei, Emma.« Lucy schlug mit der flachen Hand auf den Gartentisch aus Metall. Die Tassen hüpften klirrend auf den Untertassen.
Emma schwieg kurz, dann erhellte sich ihr Gesicht. »Eine kleine Liebschaft würde dir vielleicht helfen?«
Lucy ignorierte die Frage. Nachdenklich fuhr sie mit dem Zeigefinger am Rand ihrer Tasse entlang und sagte: »Männer haben so viel mehr Möglichkeiten.«
Emma nickte. Das hatten sie bereits oft gemeinsam bedauert. Sie schwieg kurz, dann sagte sie: »Eine Lösung gibt es: Vielleicht solltest du heiraten? Einen eigenen Haushalt führen, Kinder bekommen? Dein eigenes Reich verwalten?« Sie sah in die gemächlich ziehenden Wolken hinauf.
Lucy folgte ihrem Blick. »Fängst du auch noch damit an? Du wolltest doch nie heiraten.«
»Dieser Henry Pernick, der neue Geschäftspartner deines Vaters, ist ein sehr stattlicher junger Mann, wie man hört.« Emma wandte die Augen nicht vom Himmel ab, und Lucy hatte den Verdacht, dass sie ihrem Blick auswich.
»So, hört man das, Emma?«
»Ein eleganter Mann und nicht unvermögend.« Ihre Freundin schaute träumerisch einer kleinen weißen Wolke hinterher.
»Meine Mutter machte mich in der Stadt auf ihn aufmerksam. Blond und hochgewachsen. Er trug einen modischen sandfarbenen Anzug mit passendem Hut und Koteletten.«
»Ich hatte noch nicht die Ehre, und ich werde nicht heiraten.« Lucy biss in ihren Biskuit. »Ich käme mir vor wie ein Besitz. Weitergereicht vom Vater. Ich möchte meinen eigenen Weg gehen, nicht einen vorgezeichneten.« Lucy rührte in ihrem Tee. Ihr Blick fiel auf den Boden. Der Marienkäfer hatte die Spitze des Grashalms erreicht und öffnete die winzigen Flügel.
Einige Tage später hatte die Familie Walker Gäste zu einem Krocketspiel mit leichten Erfrischungen geladen. Die wärmende Maisonne sprenkelte helles Licht auf den Rasen, in dem die Krocket-Tore steckten. Lucy begrüßte lächelnd weiß gekleidete Damen mit hellen Sonnenschirmchen am Arm von schnurrbärtigen Herren in Leinenanzügen und Zylindern. Sie kümmerte sich darum, dass alle mit kühlen Getränken versorgt wurden. Dabei erkundigte sie sich liebenswürdig nach dem Befinden, den Geschäften und den Dienstboten.
Ihren Vater sah sie in ein ernstes Gespräch mit einem bekannten Kaufmann vertieft. Aus der Ecke, in der das Büfett mit den Getränken und Gurkensandwiches aufgebaut war, ertönte der schottische Akzent von Jane Walker, Lucys Mutter. Sie unterhielt sich dort mit ihrer einen Kopf kleineren Schwester Harriet. Dennoch ließ sie immer wieder einen prüfenden Blick über die Gästeschar und das umherschwirrende Personal schweifen, und Lucy wusste, dass die Mutter jederzeit sagen konnte, wann die Gurkensandwiches ausgingen oder frischer Tee gereicht werden musste.
Einige Gäste versammelten sich bereits am ersten Tor des Spiels. Lucy eilte über den Rasen dorthin. Sie humpelte leicht; ihr Rheuma machte ihr wieder zu schaffen. Trotzdem war sie viel zu schnell, am liebsten wäre sie erneut gerannt. Sie spürte den Blick der Mutter auf sich ruhen und bremste ihren Lauf, um einen gemesseneren Schritt bemüht.
Am Tor angekommen, reichte sie Lady Windermere und Colonel Brixton Schläger und Ball. Ausgerechnet. Diese voluminöse Frau mit ihrer extravaganten Bekleidung fand sie immer ein wenig einschüchternd. Heute rauschte die Dame in einem prächtigen rosafarbenen Kleid mit vielen Volants auf sie zu. Dazu trug sie einen ausladenden Hut mit riesigen blutroten Federn.
Während Colonel Brixton stracks zum Spiel davonschritt, fragte Lady Windermere freundlich: »Lucy, my dear, was macht Ihr Rheuma?«
Lucy seufzte. »Mein linker Knöchel ist schon wieder angeschwollen. Ich nenne ihn Eyesore.«
»Einen Namen für ein Körperteil?« Lady Windermere runzelte die Stirn.
Lucy lächelte sie an und zuckte entschuldigend die Schultern. Schon fürchtete sie eine Zurechtweisung. Lady Windermere erinnerte sie auf einmal an Tante Harriet. Doch die Frau rückte plötzlich näher, so nah, wie es die Reifröcke eben zuließen, legte ihr die weiß behandschuhte Hand auf den Arm und fragte: »Lucy, Sie werden doch bald in die Alpen reisen. Haben Sie die Show von diesem Albert Smith gesehen? Ich bin noch ganz ergriffen. Ganz London, ach, was sage ich, ganz England und vermutlich der halbe Kontinent spricht davon.«
»Ich habe davon gehört. Die Besteigung des höchsten Berges Europas, nicht wahr, Lady Windermere?«
»Des Montblanc, richtig.«
»War Mr. Smith wirklich oben oder ist die Show reine Imagination?«
»Oh, er war tatsächlich auf dem Gipfel. Man munkelt allerdings, dass dies nicht ganz so heldenhaft geschah, wie er uns glauben machen will.« Lady Windermere beugte sich vertraulich vor und wisperte hinter ihrem Fächer, auf dem Bergpanoramen abgebildet waren: »Verstehen Sie, Lucy, er verkauft winzige Montblanc-Modelle, Malbücher für Kinder, ein Brettspiel, das alle Stationen seiner Reise nachstellt, und schwenkt angeberisch seine Montblanc-Urkunde. In seiner Show zeigt er ein kalkulierbares Abenteuer für jedermann, gibt praktische Hinweise, doch in Wahrheit …« Lady Windermere legte eine Hand auf ihr ausladendes Dekolleté.
»In Wahrheit, Lady Windermere?« Lucy hielt den Atem an.
»… mussten ihn seine Bergführer hochschleppen, am Seil hinaufziehen wie einen Sack Kartoffeln! Er wurde am Gipfel mit Champagner wiederbelebt – lachhaft. Stellen Sie sich das vor, Lucy! Wie unmännlich. Absurd, dass sie ihn im Tal mit Kanonen begrüßt haben wie einen Helden, der Neuland entdeckt hat.« Lady Windermere schüttelte missbilligend den Kopf.
Lucy lächelte. »Wirklich eine komische Geschichte, Lady Windermere. Das bedeutet dann aber wohl, dass die Eroberung des Montblanc doch nicht ganz so harmlos ist.«
»Ich habe seinen Reisebericht erstanden: ›The Story of Mont Blanc‹.«
»Sie sind also auch auf seine Werbung und Kommerzialisierung der Berge hereingefallen?«
Lady Windermere musterte Lucy mit zusammengezogenen Augenbrauen tadelnd. »Hereingefallen? Ich muss schon bitten. Meine Motivation entsprang einzig meinem Informationsbedürfnis.«
»Verzeihung, Lady Windermere, natürlich. Und?«
»Auch im Buch stellt er die Besteigung als planbar dar. Er spricht zwar von schauderhaften Abgründen und markerschütternder Kälte, doch seien dies Bedingungen, die jedermann überwinden könne. Jedermann!«
Lucy schwieg, dann sagte sie langsam: »Wussten Sie, dass mein Bruder und Vater Mitglieder des Alpine Club sind? Sie lieben das Bergsteigen. Vater geht schon lange in die Berge und Horace seit drei Jahren. Sie sprechen von den Gipfeln wie von endlich kartografiertem Terrain, eingereiht in ihre persönliche Landkarte. Aber ihre Erzählungen klingen dabei ganz anders als Mr. Smiths Darstellung. Besteigungen sind mental und körperlich anstrengend und sehr riskant. Überhaupt nichts für jedermann.«
»Was dafür spricht, dass es stimmt, und Albert Smith den Gipfel nicht aus eigener Kraft und mehr tot als lebendig erreichte.« Lady Windermere sah eigenartig zufrieden aus. »Sie müssen die Show besuchen. In der Egyptian Hall am Piccadilly Circus, Lucy. Mit bühnengroßen Alpenpanoramen. Jeden Abend um acht, außer samstags.«
»Ja, das muss ich. Kleine papierne Modelle des Montblanc, sagten Sie?«
Lady Windermere nickte. »Nehmen Sie Bruder und Vater mit – ich bin sicher, beide haben einiges zu dem affigen Klamauk zu sagen.«
»Nun, auf dem Montblanc waren sie noch nicht …«
Lady Windermere unterbrach sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. Dann zog sie Lucy am Ärmel noch näher zu sich, und die junge Frau fühlte sich halb betäubt von der Mischung aus schwerem Parfüm und Schweiß.
»Miss Walker, ich war kürzlich sehr früh wach. In meinem Alter ist man nicht mehr mit einem so langen Schlaf gesegnet. Und da …«, sie senkte die Stimme und rückte noch näher heran, »… sah ich eine junge Dame im Park. Laufen.« Lady Windermere hatte die Augen starr auf Lucy geheftet.
Unter ihrem Blick fühlte sich diese kleiner werden. Worauf wollte die Frau hinaus, sollte das eine Erpressung werden? Sie spürte, wie ihr Mund trocken wurde und ihr Herz schneller schlug. Verzweifelt suchte sie nach einer plausiblen Erklärung, weshalb sie sich so früh im Park aufgehalten hatte, laufend obendrein, doch es fiel ihr nichts ein, absolut nichts. Ihr Geist war eine Wüste. »Das … also, das …«
Die beleibte Dame beobachtete sie genau, wie ein seltenes Insekt unter dem Vergrößerungsglas, doch dann schmunzelte Lady Windermere plötzlich und winkte ab. »Ich werde Sie nicht verraten, meine Liebe. Doch als ich in Albert Smiths Show saß und seinen Albernheiten applaudierte, dachte ich, warum Sie es eigentlich nicht Ihrem Bruder und Vater gleichtun … Bei Ihrem Bewegungsdrang. Und Sie sind geschickt. Sie lieben die Berge doch auch. Es ist das Blut. Es liegt in Ihrer Familie.«
Lucy warf einen alarmierten Blick zu Horace und dem Vater hinüber. Glücklicherweise standen beide zu weit entfernt, um etwas von dieser Unterhaltung zu vernehmen. Die Stimme der Mutter drang vom Haus herüber. Sie war offensichtlich damit beschäftigt, den Dienstboten Aufträge zu erteilen; hier drohte also gleichfalls keine Gefahr. Sie konnte offen sprechen. »Sie meinen, ich könnte … ebenfalls auf Berge steigen?«, flüsterte sie. Ihr Herz klopfte bei der Vorstellung.
»Meine Liebe, Sie laufen fast so geschwind wie mein schnellstes Pferd. Offenbar bewegen Sie sich gerne. Wenn ein Albert Smith sich kartoffelsackartig am Seil von Bergführern und Trägern hochziehen und nachher als Held feiern lassen kann, dann können Sie das schon lange. Wir Frauen sind zu vielem in der Lage, glauben Sie es mir.«
»Das wäre doch völlig unschicklich für eine Frau«, wandte Lucy ein. »Ich kann ja nicht wie eine gewöhnliche Bäuerin, die ein hoch gelegenes Feld zu bestellen hat …«
Ihr Gegenüber winkte ab. »Ich habe den Fehler begangen, in meiner Jugend viel zu sehr auf diese ganzen Konventionen zu achten, und fühlte mich ständig gegängelt. Sie können allein schon über der Frage verrückt werden, ob Ihr Kleid der neuesten Mode entspricht oder Anlass zu Gerede gibt oder ob Ihr Hut die richtige Größe hat.«
Lucy sah zu dem Ungetüm auf Lady Windermeres Kopf hinauf, auf dem neben den viel zu großen Federn auch mehrere üppige rote Blumen prangten, und war das nicht sogar ein kleines ausgestopftes Tier neben den Federn?
»Heute trage ich Rosa, die Farbe der Männer, und freue mich, wenn die Leute ein dummes Gesicht machen. Warum? Weil ich Rosa liebe. Solange Sie noch die meisten anderen Sitten beachten, können Sie durchaus …« Sie ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen. »Kümmern Sie sich bloß nicht so sehr um die Etikette. Verdammte Etikette.«
Lucy zuckte bei dem undamenhaften Fluch zusammen.
Lady Windermere nickte heftig, um ihre Aussage zu bekräftigen, sodass die Federn auf ihrem Hut wippten. Sie winkte Lucy noch einmal aufmunternd zu und ließ sie dann ratlos stehen. Mit rauschenden Röcken wallte sie entschlossen dem ersten Krocket-Tor zu und begann energisch, mit ihrem hammerförmigen Holzschläger auf den kleinen Ball einzudreschen.
Der Nachmittag zog sich in die Länge. Das Gespräch mit Lady Windermere war entschieden das Aufregendste gewesen. Die Langeweile, nur durchlöchert von Bonmots und freundlichen Lügen, drohte Lucy zu erdrücken. Die Gesprächspartner ermüdeten sie zunehmend. Erschöpfung breitete sich in ihrem Körper aus. Eyesore pochte unangenehm. Auch ihre Handgelenke schienen mit dem Ausmaß des Überdrusses anzuschwellen. Sie sah sich um. Die weißen Sonnenschirme flatterten weiche Wellen in den blauen Frühlingshimmel.
Ein gutaussehender dunkelhaariger Mann kam auf sie zu. Das musste dieser Foxley sein, der neue Geschäftspartner des Vaters. Er trug zum burgunderroten Leinenanzug ein weißes Hemd und einen dazu passenden flachen Strohhut mit rotem Band. Er verneigte sich vor ihr. »Miss Walker, gestatten, Foxley. Ihre Mutter und Sie haben sich mit diesem Fest selbst übertroffen.«
Lucy reichte ihm die Hand, und er beugte sich zum Handkuss darüber.
»Freut mich, Mr. Foxley, Sie kennenzulernen, und danke für das Kompliment. Möchten Sie noch einen Drink?« Sie wies auf das leere Glas, das er in der Hand hielt.
»Danke, für den Moment nicht. Haben Sie von William Usherwood gehört?«
Lucy sah ihn fragend an.
»Ein Porträtfotograf. Hat einen Kometen entdeckt, der auf ihn eine solche Anziehungskraft ausübte, dass er eine Kollodiumplatte mit einer Linse mit sieben Sekunden Brennweite belichtete …«
Lucy blinzelte. Sie hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Der Fuß fühlte sich prall an, und der Schuh schnitt schmerzend in ihr Fleisch. Eine Biene schwirrte summend um sie herum.
»… aber Kometen bedeuten nichts Gutes. Viele Menschen fürchten sich. Sind Sie nicht auch verängstigt vor dem, was kommen mag?«
Lucy schüttelte den Kopf.
»Nun, Damen sind vielleicht nicht immer ganz informiert. Ich persönlich erkenne auf jeden Fall einen Zusammenhang mit dem großen Gestank …«
Mit jedem Wort, das dieser Mann sprach, konnte sie ihren linken Knöchel weiter anschwellen fühlen. Ein Drang zu schreien erfüllte ihre Brust, und sie biss die Zähne so fest zusammen, dass ihr Kiefer schmerzte. Gleichzeitig zwang sie sich zu einem erwartungsvollen Lächeln.
»Haben Sie denn nicht von dem sich ausbreitenden Gestank in London gehört? Wir hier in Liverpool sind ja verschont, aber mich führen häufig Geschäfte dorthin, und ich kann Ihnen sagen, mit den steigenden Temperaturen wird der Geruch absolut unerträglich. Je näher man der Themse kommt, umso schlimmer wird es. Die Luft ist in ganz London verpestet. Die neuen Wasserklosetts könnten Teil des Problems sein. Haben Sie noch einen Nachttopf?«
Lucy nickte. Sie sah sich unauffällig nach einer Bediensteten um. Sie brauchte dringend ein Glas Champagner. Am liebsten hätte sie auch eine Klammer für ihre Nase bestellt, denn was dieser Mann so lebensecht an üblen Gerüchen schilderte, konnte sie jetzt und hier geradezu intensiv riechen.
Foxley tobte sich weiter an seinem Lieblingsthema aus. »Sie haben sogar die Vorhänge im Westminsterpalast in Chlorkalk getränkt, um den Geruch zu überdecken. Erfolglos. Die Regierung denkt über einen Domizilwechsel nach. Die Themse stinkt nach unaussprechlichen Schrecken. Ein richtiger Fluss Styx, wie in der Unterwelt. Die Bürger haben ihre Fenster verhängt, voller Angst vor jedem Lufthauch. Wenn möglich, verlassen sie ihre Behausungen nicht. Der Blaue Tod ist in der Stadt.« Mister Foxley sah Lucy gespannt an.
»Cholera?«, krächzte Lucy. Die beschriebenen Gerüche hatten merkwürdigerweise auch ihre Ohren betäubt und ihre Stimme belegt. »Das ist … sehr interessant, Mr. Foxley.«
Der Diener mit dem Champagner hatte ihren Wink offenbar nicht gesehen. Übelkeit erfasst ihren Magen. Ein schwarzer Tunnel hatte sich um Mr. Foxley gelegt. Ihr Sichtfeld wurde kleiner und kleiner. Gleich würde die wachsende Schwärze alles auffressen. Ihr Riechsalz stand in ihrem Zimmer auf der Kommode. Nicht umkippen, nicht umkippen. Als ein Dienstmädchen mit einem Tablett voller Gebäck vorbeikam, griff sie nach einem Biskuit.
»Ist Ihnen nicht wohl?«
Sicher hatte sich ihre Gesichtsfarbe dem Weiß ihres Kleides angenähert. Statt zu antworten, biss sie in das Gebäck, Ingwer zum Glück, und fühlte, wie ihr Magen sich etwas beruhigte. »Nur eine kleine … Schwäche. Es geht schon wieder«, brachte sie stoßweise hervor. Konversation, Lucy, Konversation, ermahnte sie sich selbst. Etikette. Gastgeberin. Höflichkeit. Ein anderes, ein leichtes Thema. Schnell. »Wann … wann waren Sie zuletzt in London?«
»Vergangene Woche. Am Donnerstag war der Gestank besonders schlimm. Ein verpesteter Gifthauch, der sich sogar in die Ritzen meiner Herberge einschlich. Bekannte erzählten mir, dass die Abwasserkanäle überlaufen und auf der Themse stinkende braune Hinterlassenschaften treiben. Der Fluss ist ja auch das Trinkwasser …«
Lucy wusste, dass sie etwas Mitfühlendes sagen sollte, doch der beschriebene Geruch kroch ihr in die Nase und schien jede ihrer Zellen auszufüllen. Dieser Foxley war ein gutaussehender Mann mit den Manieren eines zweijährigen Kleinkinds und der Einfühlsamkeit eines Kartoffelkäfers. Sie ertrug es keine Sekunde länger, ihm freundlich lächelnd zuzuhören. Lucy schmetterte ihren hölzernen Krocketschläger auf den gepflegten Rasen, dass die Erdbrocken flogen.
Mr. Foxley starrte sie mit offenem Mund an. »Miss Walker …?«
»Mr. Foxley, Sie sind ein Idiot. Ihre Themenwahl ist schwer verdaulich.« Nun war es gesagt, und Lucy fühlte sich unendlich erleichtert. Sie hörte die Damen und Herren im Umkreis scharf die Luft einziehen. Registrierte, dass die Gespräche abbrachen und alle Blicke sich ihnen zuwandten. Hinter ihr erklang eine weibliche Stimme. Die Mutter, Jane Walker, am weichen schottischen Akzent überall sofort zu erkennen; ihr Ton besorgt. Von der einen Seite des Spielfelds eilte ihr Vater herbei, von der anderen Tante Harriet, ein runder Körper unter den gerafften Röcken, sodass sie Ähnlichkeit mit einem aufgeplusterten Huhn hatte.
Lucy dreht sich abrupt um und lief von ihnen weg, zum Haus. Nur fort von dem hinter ihr aufbrausenden Stimmengewirr.
»Eigentlich eine entzückende Gastgeberin, nahezu perfekt, wenn nicht …«
»Charmant, aber ein ungezügeltes Wesen …«
»… eine Bürde für den Vater, noch immer ledig. Aber wer würde auch einen Antrag machen, wenn …«
»… muss widersprechen, es ist gewiss nur das Rheuma, das sie so unleidlich macht …«
Die kühle Stille des Hauses umfing sie wie ein schützender Mantel. Lucy lehnte sich im Flur an die Wand, soweit es der bauschige Reifrock zuließ, schloss die Augen und versuchte, ihren Atem zu beruhigen. Plötzlich spürte sie eine Bewegung. Sie öffnete die Augen wieder.
Ein Hausmädchen, Mary oder Ann oder Janet, wollte sich mit einem Tablett voller Champagnergläser an ihr vorbeischieben. Es blickte sie erstaunt an. »Ist alles in Ordnung, Ma’am?«
»Ja. Danke, Mary.« Entschlossen nahm sie eines der schweren Kristallgläser mit der fein perlenden Flüssigkeit vom Tablett.
Das brachte die fragile Balance aus dem Gleichgewicht und die Gläser drohten die schiefe Ebene hinunterzugleiten. Die Bedienstete musste blitzschnell die Hand unter dem Tablett korrigieren.
Lucy kümmerte sich nicht darum. Sie leerte das Glas in einem Zug, nahm ein zweites und lehnte die erhitzte Wange an die Wand.
Das Mädchen sah sie einen Augenblick mit weit aufgerissenen Augen an, dann entschied es sich, den ursprünglichen Auftrag zu verfolgen und im Garten Champagner zu servieren. Es verschwand durch die Eingangstür nach draußen.
Der Alkohol erreichte Lucys Magen, und die Übelkeit, die Mr. Foxleys plastische Darstellungen ausgelöst hatten, begann sich zu verflüchtigen. Gott sei Dank war sie nicht mit diesem Nervtöter verheiratet und musste jeden Tag solche Kaskaden über sich ergehen lassen. Sie holte tief Luft und schritt, mit dem Champagnerkelch in der Hand, leicht hinkend weiter ins Haus hinein. Sie nahm noch einen Schluck Champagner. Ihr Kopf wurde leichter, und sie spürte, wie ihr Herzschlag sich allmählich beruhigte. Dieser Foxley mochte ein ansehnlicher Mann sein, aber gesellschaftlich war er unmöglich. Wie kam es, dass jetzt sie die Aussätzige war?
Doch die Eltern würden die Gäste schon mit neuen Aktivitäten im Garten unterhalten. Sicher wäre ihr Auftritt bald vergessen, wenn weiter Champagner und Gurkensandwiches gereicht würden. Die Gesellschaft würde sich anderen Themen und Skandalen zuwenden. Jedenfalls hoffte sie es.
Kopfschüttelnd betrat sie das Studierzimmer des Vaters, eigentlich nur, weil die Tür einen Spaltbreit offen stand.
Sie begab sich so gut wie nie in diesen Raum. Die Hauptbücher ihres Vaters hielten nur Pflichten für ihn und seit Kurzem auch für Horace bereit. Nach dem Unterricht bei einem Privatlehrer in der Schweiz und einer Ausbildung in Deutschland war ihr damals neunzehnjähriger Bruder nach Liverpool zurückgekehrt und sollte langsam die Geschäfte übernehmen.
Alles hier war dunkelbraun und rechtwinklig. Es roch nach Tinte und staubigem Papier. In der Bibliothek des Vaters schmiegte sich ein schlafender Band an den nächsten. Wenn sie ein Buch entleihen wollte, fragte sie für gewöhnlich.
Unruhig blickte sie über die Schulter, doch sie war allein mit den schlummernden Büchern. Auf dem Pult lag aufgeschlagen ein in Leder gebundenes Werk. Lucy trat näher und hob es vorsichtig an, um den Titel zu lesen: »Summer Months Among the Alps: With the Ascent of Monte Rosa«. Von einem Thomas Woodbine Hinchliff. Den Verfasser kannte sie nicht, doch kam ihr der Name des Berges bekannt vor. Hatten der Vater und Horace schon einmal darüber gesprochen?
Sie fuhr über die dünnen Seiten, die unter ihren Fingern knisterten. Auf Seite dreißig entdeckte sie eine grobkörnige Fotografie: Sonnenaufgang über dem Schweizer Faulhorn. Rasch blätterte sie durch den Band, auf der Suche nach weiteren Bildern. Auf Seite neunzig fesselte ein pyramidenförmiger Berg ihre Aufmerksamkeit, der sich in geradezu unwahrscheinlicher Form in sehr spitzem Winkel in den Himmel bohrte. Darunter stand »The Matterhorn«. Sie wusste, dieser gewaltige Gipfel war von niemandem bestiegen worden.
Kalte weißgraue Wände, ein eisiger Haifischzahn gegen den blauen Rachen des Himmels. Ein feines Zittern lief ihren Rücken hinab. Plötzlich verstand sie, dass Menschen glauben konnten, dort oben wohnten Drachen und Dämonen. Es war ein unwirtlicher Ort. So voller Unwägbarkeiten, dass man sich die Todesart wohl praktisch aussuchen konnte: Lawine, Gletscherspalte, Steinschlag, Blitz, Kälte oder ein Sturz von tausend Fuß die steilen Felswände hinab. Gruselig.
Sie schüttelte sich, schlug das Buch an anderer Stelle auf und las ein paar Zeilen. Während ihre Augen rasch den Text erfassten, lauschte sie aufmerksam in den Flur vor dem Studierzimmer. Eine Passage fesselte ihre Aufmerksamkeit. Dieser Thomas Hinchliff war auf die Dufourspitze gestiegen, den höchsten Schweizer Gipfel. Gespannt blätterte Lucy um. Er hatte sich beinahe die Finger abgefroren. Schuld daran war anscheinend sein Zermatter Bergführer gewesen, der ihm nicht gesagt hatte, dass er Handschuhe benötigte. Sie war fasziniert.
Plötzlich knarzte eine Bodendiele hinter Lucy. Schuldbewusst, das Buch in der einen, das halb geleerte Champagnerglas in der anderen Hand, wandte sie sich um.
Hinter ihr stand Tante Harriet, klein und rundlich. Auf dem Gesicht der Tante spiegelten sich widerstreitende Gefühle zwischen Fürsorge und Missbilligung. »Lucy, meine Liebe, hier versteckst du dich also.«
Zermatt, Juli 1858
Als die Familie Walker wenige Wochen später in die Sommerfrische reiste, war Lucy glücklich, den täglichen Unannehmlichkeiten für eine Weile zu entfliehen, und gespannt auf Zermatt. Natürlich hatte die Tante nicht nur ihr Verhalten auf der Gartenparty missbilligt, sondern war auch wenig davon erbaut gewesen, dass sie im Studierzimmer des Vaters herumstöbern schien. Doch die Patin war bereits vorausgereist, und Lucy atmete auf. Sie wusste, dass sie ungerecht war. Die Tante wollte nur den Ruf der Familie schützen. Und doch fühlte es sich befreiend an, nur mit den Eltern und Horace unterwegs zu sein, auch wenn Lucy sich für dieses Gefühl schämte.
Die Reise führte drei Tage von Liverpool mit dem Zug bis ans Meer, weiter mit dem Dampfschiff von Folkestone nach Boulogne-sur-Mer, erneut mit der Bahn über Paris nach Genf und endlich mit der Postkutsche über die alpinen Pässe und in die Bergtäler. Die Fahrt war lang, beschwerlich und mühsam.
Vom Örtchen Visp aus folgte der Zweispänner erst dem einen Ufer, dann dem anderen des gleichnamigen gletschergespeisten Baches. Zu beiden Seiten ragten schwindelerregende Felswände auf, baumbewachsen und von Felsen gespickt. Vor der Kutsche wuchsen nach und nach die Hänge der Mischabelgruppe empor. Die Straße war schmal, jedoch glücklicherweise mit der Kutsche passierbar, wenn auch an einigen Stellen noch sichtbar in Mitleidenschaft gezogen durch Winterstürme und ein Erdbeben.
Beim Pferdewechsel in St. Nikolaus entstiegen die Walkers der Kutsche, streckten die steifen Glieder und dinierten in einem Gasthaus. Das Essen bestand aus Hammelsuppe, gekochtem Hammelfleisch, gefolgt von gebratenem Hammelfleisch und gegrilltem Hammelfleisch.
Lucy zog die Augenbrauen hoch und sagte: »Das Mahl kommt mir ein wenig eintönig vor. Das arme Schaf!«
Der Vater lachte und strich sich über den buschigen Vollbart, bei seinem kahler werdenden Haupt sein ganzer Stolz. Er war eine imposante Erscheinung, groß gewachsen und trotz seiner fünfzig Jahre kräftig.
»In diesen hoch gelegenen Tälern gibt es Versorgungsprobleme. Wenn überraschend Gäste kommen, schlachtet man eben ein Schwein oder Schaf.«
Nach St. Nikolaus wurde die Straße deutlich besser, aber die Sonne brannte heiß auf die Kutsche herab, und Lucy musste sich den Schweiß von der Stirn tupfen. Auch auf Horaces langem, schönem Gesicht hatten sich Schweißperlen gebildet und liefen seine Schläfen hinab in die sorgsam mit Pomade geglätteten Locken über den Ohren. Er trug den gleichen Vollbart wie der Vater, nur dass seiner noch pechschwarz war. Lucy musste lächeln über die Ähnlichkeit der beiden.
Ein schneebedeckter Grat nach dem anderen kam in Sicht, und Lucy konnte ihre Augen gar nicht mehr von dem Anblick der gleißenden Hänge lösen. Doch als sie sich bereits Zermatt näherten, schreckte sie plötzlich ein Anblick aus der angenehmen Kutschenmüdigkeit, der alles übertraf: ein allein stehender Riese, der sich als fürchterlich steile Zinne aus einer dunstigen Wolkenwand am Horizont löste. Sie hielt den Atem an, starrte gebannt hinaus.
Der Vater lächelte. »Wenn man das Matterhorn das erste Mal sieht, ist es unglaublich, oder, Lucy?«
»Es ist …«
»… anders, als nur eine Zeichnung zu sehen, was?«
»Ja. Es ist …«
»Genau.«
Vater und Bruder lachten, aber die Mutter legte Lucy die Hand auf die Schulter und wandte ihr das Gesicht zu. Ihre braunen Augen sahen sie warm an. »Lass sie lachen. Sie überspielen nur ihre eigene Ehrfurcht.«
»Es war noch niemand oben, oder?«, fragte Lucy, obwohl sie die Antwort bereits kannte.
»Es ist unbesteigbar«, sagte der Vater bestimmt. »Sieh nur, diese Nordwand! Es wäre ein schreckliches Unterfangen, selbst bei den besten Bedingungen.«
»Es ist …« Sie suchte immer noch nach Worten, die dieser gewaltigen Pracht auch nur annähernd nahekamen.
»Schön schrecklich?«, versuchte es Horace.
»Ja, und ich weiß nicht, was von beiden überwiegt. Dieser Berg hat die herrlichsten Abgründe und bezauberndsten Grate. Er ist grandios. Und majestätisch. Doch furchterregend. Wie eine … Gottheit«, sagte sie zögernd.
Bruder und Vater lachten nicht mehr, sondern pflichteten ihr bei.
Lucy sah zu, wie die untergehende Sonne die grauen Felswände des Matterhorns in einen rötlichen Schimmer tauchte. Sie genoss die Aussicht von der Polsterbank der Kutsche auf das weiße Band der schneebedeckten Berge, das im Abendlicht schimmerte.
Als die ungefederte Kutsche sich rumpelnd auf den löchrigen Straßen Zermatt näherte, besprachen der Vater und Horace die neueste Ausgabe des Alpine Journal.
Sie wurde unterdessen müde, so matt, dass sie sogar die Schmerzen im Fußgelenk vergaß; immer wieder fielen ihr die Augen zu. Sie lehnte den Kopf an die Schulter ihrer Mutter. Einzelne Sätze der Unterhaltung drangen an ihr Ohr und mischten sich mit Traumfetzen.
»Das Kräftemessen mit den wildesten Launen der Natur bringt die besten Freuden hervor, sagt Edward Shirley Kennedy über das Bergsteigen.«
Der Vater klang begeistert, aber Lucy hörte ihren Bruder lachen. »Bei aller Leidenschaft für das Erobern der Berge, Vater – hast du gelesen, was die Times dazu schreibt? Sie spotten, der erste Vorsitzende des Alpine Club müsse wohl nachschauen, ob der Globus doch irgendwo ein Ende hat.«
Sie hörte ihren Vater unwillig etwas knurren und lächelte in sich hinein. Er hatte bereits in den Zwanzigerjahren Gipfel erklommen und ließ nicht zu, dass irgendjemand seine alpinistischen Erfolge ins Lächerliche zog. Nicht einmal die Times durfte das!
Doch dann umfing sie der Schlaf vollständig wie ein weicher Mantel. Ein besonders großer, von einem Schlagloch verursachter Rumpler der Kutsche holte sie halb ins Bewusstsein zurück.
»Welcher Kletterer kann sich dem Charme eines unbestiegenen Gipfels entziehen? Er ist wie ein Magnet.« Horace, der seit drei Jahren von der Leidenschaft des Vaters angesteckt war, sprach hell begeistert.
Lucy lächelte mit geschlossenen Augen. Wie ähnlich Horace dem Vater war, äußerlich wie innerlich. Die beiden hatte eine Art Rausch erfasst, sich immer neuen Herausforderungen zu stellen, waren doch nicht einmal die Hälfte aller alpinen Gipfel um Zermatt, Grindelwald und den Montblanc erobert. Neuland, Terra incognita. Vater und Bruder reihten Erfolg an Erfolg, erstürmten Berg für Berg, errichteten persönliche Kolonien des Geistes. Plötzlich schlich sich ein Einfall in ihr Bewusstsein. Ein Einfall, an den sie später noch oft denken würde, weil er ihr Leben verändern und zu einer schicksalhaften Begegnung führen sollte. Doch sie dämmerte wieder weg, nur Satzfetzen drangen an ihr Ohr, während ein Teil von ihr verzweifelt versuchte, sich an die Eingebung, die sie eben gehabt hatte, zu erinnern. Es war wichtig. Sie musste … Doch ehe sie den Geistesblitz festhalten konnte, nahm der Schlaf sie erneut in seine weichen Arme.
»Neue Regelungen für Bergführer in Chamonix …«
»Hundert Francs für eine Montblanc-Besteigung … ungeheuerliche Preise. … In Zermatt zwischen sechs und fünfzehn Franken je Berg und Bergführer.«
Lucy spürte den rauen Stoff von Mutters Reisekleid, der bei jedem Rumpler der Kutsche gegen ihre Wange rieb, dann döste sie erneut weg und sank in eine weiße weiche Wolke.
»… englische Reisende zunehmend in Verruf … man hört immer öfter Cockney-Akzent in den Alpen … nicht mehr aus den besten Kreisen … grässliche Kleidung, dem Alpenstil nachempfunden … Beleidigung für das Auge … Königin Victoria würde … man muss sich schämen, der Nation anzugehören.«
Als Lucy erneut wachgerüttelt wurde, hörte sie die Mutter sagen: »Zermatt ist das junge Chamonix. Ich freue mich darauf. Es hat den natürlichen Alpencharme.«
»Wir haben eine gute Entscheidung getroffen«, sagte der Vater. »Es ist auch für unsere Bergfahrten ein exzellenter Ausgangspunkt. Erinnerst du dich, Jane, wie ich von hier den Theodulpass erklomm? Die Aussicht nach Italien war atemberaubend.«
Lucy rieb sich die Augen und streckte sich. Sie blinzelte und versuchte, sich an ihren guten Einfall von vorhin zu erinnern. Etwas, das sie unbedingt in die Tat umsetzen musste. Doch sie bekam den flüchtigen Gedanken nicht mehr zu fassen, und die Gelegenheit, sich darauf zu konzentrieren, verstrich, denn Horace sprach sie an. »Wir sind fast da! Sieh nur, dort ist schon die Kirche von Zermatt.«
Sie nickte und blickte aus dem Fenster. Lange konnte sie nicht gedöst haben, denn noch immer lag ein roter Abendschimmer über den Bergen und den von der Sonne geschwärzten Holzhäusern, die jetzt sichtbar wurden.
Die Kutsche fuhr ins Dorf ein und kam mit einem Ruck vor einem fünfstöckigen quaderförmigen Haus mit elf Fenstern Länge und acht Fenstern Breite zum Stehen. Das große steinerne Gebäude machte sich seltsam aus neben den ärmlich wirkenden, unter Steinplatten geduckten Arvenholzhäusern der Zermatter. Die Fenster trugen elegante runde Bögen darüber. Schwarze Buchstaben auf weißem Grund verkündeten: »Hotel Monte Rosa Zermatt«. Auf der Mauer vor dem Gebäude lungerte ein Dutzend abenteuerlich aussehender Männer. Sie mochten zwischen zwanzig und sechzig Jahre alt sein, waren in absurd hohe Stiefel gekleidet, angetan mit merkwürdigen Schlapphüten und Melonen, die Gesichter sonnenversengt, von Blasen überzogen, in allen Farbschattierungen zwischen Rötelrot und Dungbraun. Einer mit einem Antlitz in der Farbe eines Kupferkessels hatte offenbar sogar seinen Sessel mitgebracht, ein altersschwaches Ding aus schäbigem Holz und verblichenem gelbem Stoff, das aussah, als würde es unter seinem Gewicht jeden Moment zusammenbrechen.
Lucy machte sich unwillkürlich klein in ihrem Polster, konnte aber den Blick nicht abwenden. Der Postkutscher öffnete den Schlag, und da sie am Fenster saß, musste sie als Erste aus der Kutsche klettern. Sie fing einen beruhigenden Blick aus den braunen Augen ihrer Mutter auf, reckte den Kopf in die Höhe und stieg aus, die Augen geradeaus auf den gläsernen Hoteleingang gerichtet. Sie hob die Röcke und versuchte, kein angeekeltes Gesicht zu machen – der Boden des Dorfes war in schrecklichem Zustand. Die Hauptstraße immerhin war noch vertretbar, doch was sie in den engen Gassen um die Ecke sehen und riechen konnte, verschlug ihr den Atem. Ein widerwärtiger Gestank nach Kuh- und Schafdung mischte sich mit Rauch.
Doch schon sprang einer der Männer auf – es handelte sich um jenen mit dem klapprigen Sessel –, zog den Hut und grüßte sie. Sein Englisch war ebenso wacklig wie seine Sitzgelegenheit.
Lucy verstand ihn trotzdem.
»Wie geht es Ihnen, Madam? Hatten Sie eine gute Reise? Und Ihre werten Mitreisenden? Good day, good day. Willkommen in Zermatt.«
Er machte einige eilige Schritte, postierte sich zwischen Lucy und dem Hoteleingang und zwang sie so, stehen zu bleiben. Sie lächelte höflich und sah ihn nun doch an. Auf seiner großen Nase schälte sich die sonnengeschundene Haut in weiß geschuppten Wellen. Lucy bemühte sich, stattdessen in seine grauen Augen zu blicken. Höflich bedankte sie sich mit einem Kopfnicken und einem kurzen »Danke schön. Die Reise war interessant«.
Glücklicherweise waren nun auch die übrigen Familienmitglieder der Kutsche entstiegen. Der Vater hakte Lucy unter und steuerte mit ihr entschlossen in einem großen Bogen um den Einheimischen herum auf das Hotel zu. Erleichtert fühlte sie seine große Gestalt an ihrer Seite wie einen schützenden Turm.
Von der anderen Seite stürmte plötzlich eine Schar Kinder herbei, die ihnen abscheulich schmutzige Händchen mit Früchten entgegenstreckten. »Kirschen, Kirschen!« »Schenken Sie uns etwas, Madam?« und »Bitte schenken Sie uns etwas!«, riefen sie durcheinander.
Lucy sandte einen hilfesuchenden Blick zum Vater.
Den Moment, da die Familie Walker abgelenkt war, nutzte das Individuum, um sich ihnen neuerlich in den Weg zu stellen. »Wünschen Madam eine Führung auf den Gletscher? Morgen?« Und an den Vater gewandt: »Für die ganze Familie ein Preis. Wunderschöne Blicke in Gletscherspalten.«
Die gesamte Mauergesellschaft sprang nun auf und rief Angebote durcheinander: »Oder eine Bergtour für die Herren?«
»Nur 20 Franken auf den Berg!«
»Ich bin der beste Führer für den Gletscher.«
»Ich zeige Ihnen den Theodulpass.«
»15 Franken!«
Einige der deutschen Sätze musste sie halb erraten, denn sie waren im guttural eingefärbten Zermatter Dialekt kaum verständlich.
Der Vater senkte den Kopf kurz, in einer angedeuteten Verneigung. »Meine Herren, wir danken für die Angebote. Wir haben eine lange Anreise hinter uns. Einstweilen möchten wir ausruhen.«
In diesem Moment trat ein gut gekleideter Herr, dessen weißer Schnurrbart in sonderbarem Kontrast zu den sorgsam glatt zurückgekämmten dunklen Haaren stand, aus dem Monte Rosa. Gefolgt von einem grün livrierten Bediensteten, der wie ein Käfer aussah, schritt er, ohne die Einheimischen zu beachten, würdevoll mit ausgebreiteten Armen auf die Reisenden zu. »Herzlich willkommen!«
»Alexander Seiler, es ist uns ein Vergnügen«, rief der Vater freudig, ließ Lucy los und ergriff mit beiden Händen die Rechte des Mannes.
Die bettelnden Kinder stoben beim Anblick des Hoteliers in alle Richtungen davon. Auch die Männer vor dem Hotel traten den Rückzug an. Sie verschwanden in verschiedene Gassen; einer schleppte seinen Sessel mit sich. Offenbar war der Abend schon zu weit fortgeschritten und die Hoffnung auf weitere Ankömmlinge gering.
Der Hotelier befahl dem Bediensteten, das Gepäck der Gäste zu holen, und geleitete die Familie Walker durch die geschwungene Doppeltür ins Innere des Hotels.
Er führte sie persönlich zu ihren Räumen. Lucys Zimmer lag nach Süden, und als sie aus dem Fenster blickte, hielt sie den Atem an. Vor ihr erhob sich das Matterhorn – durch einen Schleier aus Nebel von seinem Fuß getrennt –, als würde es frei im Himmel schweben. Stolz und anmutig ragte es empor, eine scharfe Silhouette vor dem tiefblauen Firmament, seine grauen Flanken steil und schwindelerregend. »Mont Cervin«, probierte Lucy die französische Bezeichnung, als müsste sie diesem Berg erst noch den passenden Namen suchen. Sie bewunderte den jäh abfallenden geraden Hang der Nordwand. Ein Monument aus Fels. Was für eine Schöpfung. Sie wollte gerade zum Skizzenblock greifen, da erinnerte sie der Anblick plötzlich an den Plan, der sich als vage Idee in der Postkutsche in ihr geformt hatte. Einen Plan, der Vorbereitung nötig machte. Sie lächelte. Als Erstes musste sie das schlichte beige Reisekleid gegen elegante Abendgarderobe tauschen.
Eilig spritzte sie sich am Waschtisch gletscherkaltes Bergwasser ins Gesicht. Ihr Vorhaben machte es erforderlich, dass sie ohne den Rest der Familie bereits mit dem einen oder anderen Hausgast bekannt wurde. Dies barg gewisse Risiken in sich. Aber unter den wachsamen Blicken des Hoteliers waren im Speisesaal die Gefahren für junge Damen wohl überschaubar. Sie ging davon aus, dass ein Bekanntwerden mit Personen ihres Standes ausnahmsweise ohne die förmliche Vorstellung durch ihre Eltern möglich war. So geschwind es ging, kleidete sie sich um. Das war nicht ganz einfach. Sie vermisste Claire, ihre französische Zofe. Doch da ihre Bedienstete in England geblieben war, hatte sie keine Wahl. Mit ungeübten Fingern öffnete sie die zahlreichen Haken, Ösen und Schleifen des Reisekleides und des Unterrocks. Als die Stoffmengen sich endlich um Lucys Knöchel türmten, begann die umgekehrte Aufgabe des Ankleidens. Sie beeilte sich, die Bewegungen so zügig wie möglich auszuführen. Zweimal lag ihr ein etwas undamenhafter Ausdruck auf der Zunge. Doch endlich schlüpfte Lucy leise aus ihrem Zimmer und schritt mit rauschendem Kleid entschlossen die breite Treppe zum Speisesaal im ersten Stock hinab. Sie vertraute auf ihre gesellschaftliche Gewandtheit, wenn sie sich unter ihresgleichen bewegte. Was sie jetzt brauchte, war ein Verbündeter.
Der Speisesaal war – nach den Zumutungen des Dorfes – eine luxuriöse Erleichterung. Die Gäste tafelten hier an mehreren mit feinem weißem Tuch gedeckten Tischen, auf denen Tafelsilber im Schein der Kerzen leuchtete. Man merkte, dass das Hotel noch neu, auf an Annehmlichkeiten gewöhnte Gäste ausgerichtet war und sorgsam gepflegt wurde.
Lucy saß bereits an der Table d’Hôte. Sie war in ein höfliches Gespräch mit ihrem Nachbarn vertieft, einem charmanten Herrn namens Colonel John Ross, in dessen dunklen Vollbart sich silberne Fäden mischten. Als Tante Harriet, die Eltern und der Bruder eintrafen, hob sie den Kopf und blickte ihnen fröhlich, jedoch innerlich angespannt entgegen.
Tante Harriet betrat den Speisesaal als Erste, gewandet in ein reich verziertes mintgrünes Abendkleid, das über ihrem drallen kleinen Körper spannte. Die Tante, die bereits seit einigen Tagen im Hotel war, sah überrascht zwischen Lucy und dem Herrn hin und her, fasste sich dann, begrüßte den Colonel mit einem freundlichen Lächeln und nahm ihm gegenüber Platz.
Nach ihr begaben sich Horace und die Eltern an ihren Tisch. Der Bruder nahm an Lucys Seite Platz, während die Eltern sich neben die Tante setzten. Harriet lobte die Unterkunft und den aufmerksamen Gastgeber Alexander Seiler, der mit weißem Bart und elegant zurückgekämmten schwarzem Haar aufmerksamen Gastgeber, im Hintergrund ein Ballett an Kellnern dirigierte.
Schnell versanken sie in eine Unterhaltung über die touristischen Pläne der nächsten Tage.
Als die dampfende Suppe aufgetragen wurde, sagte der Colonel an den Vater gewandt: »Ich bin ja bereits seit Dienstag hier. Empfehlen kann ich Ihnen einen Ausflug zum Schwarzsee. Der ist mit dem Tragstuhl oder auf dem Maultier sehr gut zu machen. Oder den Seenspaziergang. Botanisch ist die Gegend hochinteressant. Seltene Blumen habe ich entdeckt – kennen Sie die stark duftenden Gletscher-Edelrauten? Ihr verführerisches Aroma wird die Damen entzücken. Und natürlich die Königin von allen, das Edelweiß. Es wird nur noch übertroffen vom Anblick der Kaiserin: dem Matterhorn. Es spiegelt sich prächtig im Stellisee. Falls eine der Damen zeichnet …?« Er blickte Lucy an – sie lächelte und nickte bestätigend – und fuhr dann fort: »Oder Sie machen eine Bergtour. Die meisten unserer Landsleute bestaunen die hohen Gipfel ja lieber vom Tal aus, aber wie ich höre, sind Sie, Frank, Alpinist?«
Die Mutter warf mit erhobenem Kopf ein: »Frank und Horace sind Mitglieder des Alpine Club. Frank hat früher schon den Theodulpass bestiegen.«
»1825«, ergänzte der Vater. »Damals waren Bergbesteigungen noch richtige abenteuerliche Expeditionen, und ich war ein junger Mann.« Er lachte dröhnend, doch Lucy wusste, wie stolz er auf seine Leistung war.
»In jenen Tagen war noch viel mehr in den Alpen unentdeckt, das Bergführerwesen nicht geregelt, und oft wurde man von einem Burschen in die Berge geführt, der sich als analphabetischer Hirtenjunge entpuppte und nicht einmal die Gipfel der umliegenden Berge benennen konnte.« Der Vater hob den Löffel aus der Suppe und blies vorsichtig auf die heiße Flüssigkeit. »Umso schwieriger und gefährlicher war es, einen Gipfel zu bezwingen. Wer an den falschen Führer geriet, landete nicht dort, wo er hinwollte. Sein Geld war er trotzdem los.«
Er probierte mit spitzen Lippen von der Suppe und drehte dann den Löffel, sodass die heiße Flüssigkeit zurück in den Teller tropfte. »Ich weiß noch, wie wir auf dem Theodul standen und auf das Aostatal hinabblickten. Ein erhebender Moment. Wir hatten schon nicht mehr daran geglaubt, den Gletscher lebend zu überqueren. Nach der kühnen Unternehmung war die Tatsache, schließlich doch auf dem Pass zu stehen, vollkommen umwerfend.«
»Ausgezeichnet, ganz ausgezeichnet.« John Ross schien beeindruckt. »Diese Bergfahrt möchte ich selbst noch unternehmen. Man hört, während der Tour sei der Ausblick aufs Matterhorn wundervoll, und von oben eröffne sich ein grandioses Panorama in Richtung Italien.«
Der Vater nickte geschmeichelt. Sein Löffel schwebte einen Lidschlag lang über der dampfenden Suppe, dann sagte er plötzlich: »Der Theodulpass! Ich möchte schon gern nochmals hinauf.«
Wenige Minuten später war es beschlossene Sache, dass der Vater, in alten Erinnerungen schwelgend und von Horace begleitet, den Pass erneut besteigen würde.
Der Colonel, über die Gegebenheiten in Zermatt und Umgebung bestens informiert, empfahl ihnen Christian Almer aus Grindelwald als Bergführer. »Ein junger Mann von zweiunddreißig Jahren, kühner Gemsjäger und bekannt als der ›Gletschermann‹, weil er am unteren Grindelwaldgletscher viel herumklettern musste, um verloren gegangene Ziegen und Schafe zu retten. Hat eine hervorragende Reputation als Bergführer, denn er verfügt über Hochgebirgserfahrung – er hat die Strahlegg bestiegen und erfolgreich englische Herren auf die Wetterhörner geführt.«
Der Vater nickte und strich sich über den Bart. »Danke. Ich werde mir den Namen merken.«
Beim Hauptgericht wandte sich John Ross an Lucy und fragte im unverfänglichen Plauderton: »Und was werden Sie tun, während Vater und Bruder den Theodul erobern?«
Lucy stach ihre Gabel in ein Stück Fleisch, sodass der dunkelrote Bratensaft heraustroff, ehe sie antwortete: »Mutter und ich sorgen im Tal für Proviant und saubere Kleidung, Colonel. Das tun wir jedes Jahr, um die Bergfahrten meines Vaters und Bruders zu unterstützen. Dazwischen machen wir natürlich selbst Spaziergänge. Der Hausarzt hat mir Bewegung verschrieben, etwas körperliche Ertüchtigung für die Gesundheit.«
Der Colonel hob sein Weinglas vor die Augen, schwenkte es leicht und betrachtete prüfend den im Licht der Kerzen rot schimmernden Wein, ehe er leichthin sagte: »Warum gehen Sie dann nicht einfach mit, Miss Walker? Ich bin zwar kein Mitglied des Alpine Club, aber ich traue mir das Urteil zu, dass der Theodul auch für Damen mit ein wenig Willenskraft ersteigbar ist. Wenn Ihnen der Arzt ohnehin Bewegung empfohlen hat …?« Er setzte das Weinglas an die Lippen und trank einen vorsichtigen Schluck. Dann schloss er die Augen und bewegte den Wein im Mund.
Lucy warf einen raschen Blick zu Tante Harriet hinüber und sah, dass diese die Lippen zusammenpresste.
Schnell wandte sie sich wieder ihrem Braten zu. Sie fühlte den Blick ihrer Mutter auf sich ruhen und gab vor, konzentriert damit beschäftigt zu sein, das Stück Rindfleisch nach allen Regeln der Kunst in kleine, damenhafte Bissen zu zerteilen. Einen Moment schwebte die Frage des Colonel in der Luft, und Lucy schien es, als wären alle anderen Gespräche der Table d’Hôte verstummt. Nun kam es darauf an.
Nach einem Augenblick so lang wie eine Ewigkeit hörte sie ihren Vater sagen: »Warum eigentlich nicht? Lucy, bei deinem feinen Gespür für faszinierende Wolkenbilder und Bergpanoramen wärst du sicher von dem Ausblick begeistert, der sich dem Auge hoch oben eröffnet. Es wäre einfach ein etwas höherer Berg als die Hügel, die du mit uns in Schottland erstiegen hast.«
Das Besteck des Vaters klapperte gegeneinander. Vorsichtig hob Lucy den Blick und bemühte sich, ganz unbeteiligt zu sagen: »Das wäre sicher ein besonderes Erlebnis, nicht?«
Die Mutter schaute sie noch immer stumm an.
Horace war begeistert. »Lucy, komm doch mit! Ich weiß, du liebst die Berge so wie wir.« Er lächelte sie an.
Lucy umklammerte unwillkürlich ihr Messer. Der Bruder wanderte und kletterte seit drei Jahren – würde sie da mithalten können?
Tante Harriet, die bisher geschwiegen hatte, mischte sich ein: »Ein besonderes Erlebnis mag es ja sein, aber dieser Pass ist auch besonders hoch. Etwa 3.300 Meter. Wie sollte eine Dame das bewältigen? Wohl kaum in Tweedhosen wie ein Mann.« Sie schüttelte sich.
Der Vater wiegte seinen Kopf von Seite zu Seite, als schiene er dieses Argument zu bedenken. Lucy blickte die Tante an, eine spitze Antwort auf der Zunge. Aber einer älteren Verwandten zu widersprechen, war undenkbar. Sie musste ihre ganze Selbstbeherrschung aufbieten, griff nach ihrem Glas und stürzte mit dem Rotwein auch die ungesagten Worte hinunter.