Die Glasperlenmädchen - Lisa Wingate - E-Book
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Die Glasperlenmädchen E-Book

Lisa Wingate

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Beschreibung

Eine Familie getrennt durch die Wirren des Kriegs und eine mitreißende Suche, die ein ganzes Jahrhundert umspannt.

1987: Als die Lehrerin Benedetta das erste Mal die Schule in Augustine, Louisiana, betritt, ist nichts wie erwartet – schon gar nicht ihre Schüler. Erst als sie die Klasse für ihre eigene Vergangenheit begeistert, beginnen die Kinder ihr zu vertrauen. Gemeinsam erforschen sie die Geschichte des Ortes und stoßen dabei auf eine alte Vermisstenanzeige.
1875: Nachdem der Bürgerkrieg das Land verwüstet hat, werden drei Frauen auf ihrer Reise zu Weggefährtinnen: Lavinia, die Tochter weißer Plantagenbesitzer, ihre Halbschwester Juneau Jane sowie Hannie, eine ehemalige Sklavin. Während Lavinia und Juneau um ihr Erbe kämpfen, sucht Hannie nach ihrer Familie, die einst von Sklavenhändlern verschleppt wurde. Nur drei blaue Glasperlen und eine Zeitungsannonce sind ihr als Mittel geblieben, um ihre Liebsten wiederzufinden …

Nach »Libellenschwestern« endlich der neue bewegende Roman von SPIEGEL-Bestsellerautorin Lisa Wingate – inspiriert von einer wahren Begebenheit!

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Seitenzahl: 669

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Buch

1875: Nachdem der Amerikanische Bürgerkrieg das Land in Chaos und Verwüstung gestürzt hat, werden drei Frauen auf ihrer Reise nach Texas zu unfreiwilligen Weggefährtinnen: Lavinia, die verhätschelte Tochter weißer Plantagenbesitzer, ihre Halbschwester Juneau Jane sowie Hannie, eine ehemalige Sklavin. Jede der drei ist in ganz eigener Mission unterwegs – während es Lavinia und Juneau jedoch vor allem um ihr Erbe geht, sehnt sich Hannie nach ihren Eltern und Geschwistern, die vor Jahren von Sklavenhändlern verschleppt wurden. Einzig drei blaue Glasperlen sind Hannie als Andenken an ihre Familie geblieben – und als Erkennungsmerkmal, sollten sie sich jemals wiedersehen …

1987: Als die frischgebackene Lehrerin Benedetta Silva das erste Mal die Schule in Augustine, Louisiana, betritt, ist nichts wie erwartet: Statt moderner Klassenzimmer und lernfreudiger Schüler begegnen ihr Armut sowie Skepsis gegenüber Fremden und jeder Art von Fortschritt. Eines Tages kommt ihr eine Idee: Wenn die Schüler Neuem gegenüber so unaufgeschlossen sind, wie verhält es sich dann mit der Vergangenheit? Kurz darauf ruft sie ein Ahnenforschungsprojekt ins Leben – und stößt dabei auf eine alte Geschichte, die alles – auch die Zukunft des Ortes – verändert …

Autorin

Lisa Wingate ist Journalistin und Autorin mehrerer preisgekrönter Romane. Ihren großen Durchbruch feierte sie mit »Die Libellenschwestern«. Der Roman führte nicht nur die »New York Times«-Bestsellerliste über ein Jahr hinweg an, er eroberte auch Tausende Leserherzen weltweit im Sturm. Die Autorin lebt in den Ouachita Mountains in Arkansas, USA.

Von Lisa Wingate bereits erschienen

LibellenschwesternBesuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvalet und www.twitter.com/BlanvaletVerlag

Lisa Wingate

DieGlasperlen-mädchen

Roman

Deutsch von Andrea Brandl

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »The Book of Lost Friends« bei Ballantine Books, einem Imprint von Random House, Penguin Random House LLC, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2020 by Wingate Media, LLC

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2021 by Limes in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Susann Rehlein

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de Umschlagmotiv: Trevillion Images (© Sandra Cunningham; © Rekha Garton); Rekha Arcangel/Arcangel Images; www.buerosued.de

DN · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-26891-6V004www.limes-verlag.de

Für Gloria Close, die die Familien heute bei der Suche nach einem sicheren Zuhause unterstützt.

Für Andy und Diane und die engagierten Mitarbeiter der Historic New Orleans Collection. Danke, dass ihr die Geschichte am Leben erhaltet.

Für die Vermissten und Verlorenen, wo auch immer ihr gerade seid. Möge niemals der Zeitpunkt kommen, an dem eure Namen nicht länger ausgesprochen werden, und mögen uns eure Geschichten für alle Zeiten begleiten.

PROLOG

Mit fedriger Leichtigkeit landet ein einzelner Marienkäfer auf dem Finger der Lehrerin und klammert sich daran fest, ein lebendiger, satt schimmernder Rubin mit schwarzen Punkten und Beinchen. Bevor eine leichte Brise den Besucher verscheucht, kommt ihr ein alter Kinderreim in den Sinn.

Marienkäferchen, Marienkäferchen, fliege weg!

Dein Häuschen brennt, dein Mütterchen flennt,

du stehst ganz alleine dort,

denn deine Kinder sind fort.

Wie ein düsterer Schatten schweben die Worte über der Lehrerin, als sie die Schülerin an der Schulter berührt, die feuchte Wärme des groben Baumwollkleids unter ihren Fingern spürt. Der handgenähte Saum wellt sich leicht auf der glatten hellbraunen Haut des Mädchens, weil ihm das Kleid etwas zu groß ist. Unter der lose zugeknöpften Ärmelmanschette ragt eine wulstige Narbe hervor. Kurz fragt sich die Lehrerin, woher sie sie wohl haben mag.

Was bringt es mir, das zu wissen?, denkt sie. Wir alle haben unsere Narben.

Sie lässt den Blick über den behelfsmäßigen Sammelplatz unter den Bäumen schweifen, über die grob gezimmerten Holzbänke, auf denen sich die jungen Menschen zusammengefunden haben, Mädchen an der Schwelle zur Frau, Jungs, die es kaum erwarten können, endlich Teil der Männerwelt zu werden. Sie alle sitzen über die windschiefen Tische gebeugt, mit Füllfederhaltern, Löschpapier und Tintengläsern, lesen ihre Notizen, formen lautlos die Worte, fest entschlossen, die vor ihnen liegende wichtige Aufgabe in Angriff zu nehmen.

Alle bis auf ein Mädchen.

»Bereit?«, fragt die Lehrerin und deutet mit dem Kopf auf die Arbeit des Mädchens. »Hast du geübt, es laut vorzulesen?«

»Ich kann das nicht«, sagt das Mädchen. »Nicht … wenn diese Leute zuschauen.« Verzweifelt schweift ihr Blick zu den Besuchern, die sich rings um das Freiluft-Klassenzimmer versammelt haben – wohlhabende Männer in gut geschnittenen Anzügen und Damen in teuren Kleidern, die sich mit Handzetteln von der hitzigen politischen Debatte am Morgen Luft zufächeln.

»Man weiß erst, was man schaffen kann, wenn man es ausprobiert hat«, erwidert die Lehrerin. Oh, wie gut sie diese für Mädchen so typische Verunsicherung kennt. Vor nicht allzu vielen Jahren war sie selbst dieses Mädchen – nicht wissend, wo ihr Platz war, geradezu gelähmt vor Angst.

»Aber ich kann nicht«, stöhnt das Mädchen und presst sich die Hände auf den Bauch.

Die Lehrerin rafft die unhandlichen Stoffmassen ihres Kleids und Unterrocks und geht in die Hocke, um dem Mädchen ins Gesicht zu sehen. »Aber von wem sollen sie die Geschichte erfahren, wenn nicht von dir? Wie es ist, seiner eigenen Familie entrissen und einfach gestohlen zu werden? Wie es sich anfühlt, wenn man sich an die Zeitung wendet, weil man so sehr darauf hofft, etwas über die Angehörigen zu erfahren. Wie man sich sehnlichst wünscht, irgendwie die fünfzig Cent zusammenzubekommen, damit der Aufruf im Southwestern veröffentlicht und vielleicht in den angrenzenden Bundesstaaten und Landesteilen verbreitet wird. Wie sollen unsere Gäste sonst diese drängende Sehnsucht all jener verstehen können, die nur einen Gedanken haben: Ist meine Familie irgendwo da draußen?«

Das Mädchen hebt die mageren Schultern, sackt jedoch sofort wieder in sich zusammen. »Aber die Leute wollen doch überhaupt nicht wissen, was ich zu sagen habe. Es würde rein gar nichts ändern.«

»Vielleicht aber doch. Wirklich wichtige Dinge lassen sich nicht ohne ein gewisses Risiko erreichen.« Die Lehrerin weiß nur allzu genau, wovon sie spricht. Eines Tages wird sie sich auf eine ganz ähnliche Reise begeben müssen … und auch die ihre wird mit einem Risiko verbunden sein.

Der heutige Tag jedoch gehört ihren Schülern und der Vermissten-Rubrik im Southwestern Christian Advocate. »Wir müssen unsere Geschichten unbedingt erzählen, findest du nicht auch? Die Namen laut aussprechen. Es gibt ein altes Sprichwort. Jeder Mensch stirbt zweimal, heißt es: Das erste Mal, wenn wir unseren letzten Atemzug tun, und dann endgültig, wenn jemand zum letzten Mal unseren Namen ausspricht. Auf Ersteres haben wir keinen Einfluss, das Zweite jedoch können wir versuchen zu verhindern.«

»Wenn Sie es sagen …« Das Mädchen holt tief und zittrig Luft. »Aber wenn, dann will ich es lieber gleich hinter mich bringen. Darf ich als Erste vorlesen, vor den anderen?«

Die Lehrerin nickt. »Wenn du den Anfang machst, ist es für die anderen bestimmt viel leichter.« Sie erhebt sich, tritt zurück und lässt den Blick über ihre Schüler schweifen. All die Geschichten, denkt sie, all die Menschen, auseinandergerissen und voneinander getrennt durch schwere Fehler oder gar reinste Grausamkeit, und dann erleiden sie für den Rest ihres Lebens die schlimmste Qual überhaupt: Ungewissheit.

Sie denkt an den geliebten Menschen, den sie selbst verloren hat, der irgendwo da draußen ist. Wer weiß, wo genau?

Ungeduld regt sich unter den Zuhörern. Das Mädchen steht auf und schreitet mit seltsam majestätischer Würde zwischen den Bankreihen nach vorn. Das hektische Wedeln der Handzettel verebbt, als es sich umdreht und zu sprechen beginnt, ohne nach links oder rechts zu blicken.

»Ich …« Kurz versagt ihr die Stimme. Sie lässt den Blick über die Anwesenden schweifen, ballt die Fäuste und krallt die Finger in die üppigen Falten ihres blau-weißen Baumwollkleids. Für einen Moment scheint die Zeit stillzustehen, wie der Marienkäfer bei seiner Entscheidung verharrt, ob er sich niederlassen oder weiterfliegen soll.

Schließlich reckt das Mädchen mit fester Entschlossenheit das Kinn. Ihre Stimme erhebt sich über die Köpfe der anderen Schüler hinweg zum Publikum, fordert ihre Aufmerksamkeit ein, als sie einen Namen sagt, der an diesem Tag nicht unausgesprochen bleiben soll. »Ich bin Hannie Gossett.«

VERMISST

Briefe von Abonnenten werden kostenfrei abgedruckt, für alle anderen fällt eine Gebühr in Höhe von 50 Cent an. Pastoren werden gebeten, die Gesuche im Zuge ihrer Predigten zu verlesen und uns über alle Fälle in Kenntnis zu setzen, in denen Freunde und Familien einander über im SOUTHWESTERN veröffentlichte Briefe gefunden haben.

Sehr geehrter Herr Chefredakteur – ich wende mich an Sie, weil ich auf der Suche nach meiner Familie bin. Meine Mutter hieß Mittie. Mein Name ist Hannie Gossett, und ich bin das mittlere von neun Kindern. Meine Geschwister hießen Hardy, Het, Pratt, Epheme, Addie, Easter, Ike und Rose. Wir waren alles, was meine Mutter hatte, als wir voneinander getrennt wurden. Meine Großmutter hieß Caroline, mein Großvater Pap Ollie. Meine Tante Jenny war mit meinem Onkel Clem verheiratet, der jedoch im Krieg gefallen ist. Sie hatten vier Mädchen, Azelle, Louisa, Martha und Mary. Unser erster Besitzer war William Gossett, Eigentümer der Goswood Grove Plantation, wo wir aufgewachsen sind und gehalten wurden, bis unser Marse den Entschluss fasste, uns im Krieg von Louisiana nach Texas zu bringen, damit wir dort als Flüchtlinge auf der neu gegründeten Plantage bleiben können. Allerdings wurden wir auf besagter Flucht durch Jeptha Loach, einen Neffen der Missus, den Gossetts gestohlen. Er brachte uns von der Old River Road, südlich von Baton Rouge, in Richtung Norden und Westen quer durch Louisiana und nach Texas. Meine Geschwister, Cousinen und meine Tante wurden unterwegs in Big Creek, Jatt, Winfield, Saline, Kimballs, Greenwood, Bethany verkauft und von ihren neuen Besitzern mitgenommen. In Powell, Texas, haben sie meine Mutter mitgenommen, die ich seitdem nicht wiedergesehen habe. Inzwischen bin ich erwachsen und die Einzige, die der Käufer in Marshall, Texas, nicht haben wollte und die stattdessen zurück zu den Gossetts geschickt wurde, nachdem herauskam, wem ich in Wahrheit gehöre. Ich bin wohlauf, aber meine Mutter fehlt mir sehr, deshalb wäre ich für jede Auskunft über sie oder meine restliche Familie mehr als dankbar.

Ich bete, dass all die Pastoren und Freunde, die diesen Aufruf lesen, die Stimme eines verzweifelten Herzens hören und mir postlagernd schreiben, Goswood Grove Store, Augustine, Louisiana. Ich freue mich über jeden Hinweis.

KAPITEL 1

Hannie Gossett

LOUISIANA, 1875

Der Traum kommt mitten im seelenruhigen Schlaf, wie so viele Male zuvor, erfasst mich wie ein Staubwedel die Flusen in vergessenen Ecken. Schon schwebe ich dahin, zwölf Jahre in die Vergangenheit, aus dem Körper einer fast erwachsenen Frau in den einer Sechsjährigen, sehe das Bild, das sich in meine Augen damals eingebrannt hat.

Käufer versammeln sich auf dem Hof des Sklavenmarkts, als ich durch die Lücken im Staketenzaun des Verschlags spähe. Der Boden unter mir ist eiskalt, festgetrampelt von zahllosen Füßen, die vor mir hier gestanden haben – große Füße wie die von meiner Mama, aber auch kleine wie meine eigenen und die von Mary Angel. Zehen und Hacken, die tiefe Dellen und Furchen im Matsch hinterlassen haben.

Wie viele haben hier schon vor mir gestanden?, überlege ich. Wie viele Menschen, mit hämmernden Herzen und angespannten Muskeln, aber ohne die Chance zu entkommen?

Hundert könnten es gewesen sein, vielleicht sogar noch mal hundert oder Hunderte mehr. Überall Fußabdrücke, paarweise Fersen, zehnerweise Zehen. So weit kann ich noch gar nicht zählen. Erst vor wenigen Monaten bin ich sechs geworden. Jetzt ist Feb-Feb-u-bah-bah, ein Wort, das ich nicht richtig aussprechen kann, deshalb hört es sich an wie das Blöken eines Schafs. Meine Geschwister ärgern mich ständig damit, alle acht, sogar die jüngeren. Meistens haben wir miteinander gerangelt, wenn Mama bei der Arbeit auf dem Feld oder im Spinnhaus war, wo sie die Wolle verzwirnen und weben. Dann hat jedes Mal unsere ganze Holzhütte gewackelt und gebebt, bis einer durchs Fenster oder zur Tür rausgefallen ist und zu weinen angefangen hat. Worauf natürlich Ol’Tati mit dem Rohrstock angelaufen gekommen ist und geschimpft hat: »Wenn ihr elenden Bälger nicht gleich Ruhe gebt, setzt es ’ne anständige Tracht Prügel.« Sie hat uns spielerisch Klapse auf den Hintern und die Beine verpasst, und wir sind weggerannt und dabei übereinander drüber gefallen wie eine Horde kleiner Ziegen, die durchs Tor drängeln. Wir haben uns unter den Betten versteckt, aber es hat nichts genützt, weil hier ein Ellbogen, da ein Knie vorgelugt hat.

Aber damit ist längst Schluss. Alle von Mamas Kindern wurden fortgebracht, einzeln oder zu zweit. Jenny Angel und drei ihrer vier Mädchen sind auch weg, verkauft auf Sklavenmärkten wie diesem hier, von Süd-Louisiana bis fast rüber nach Texas. Ich muss mich anstrengen, um mich zu erinnern, wohin es uns alle verschlagen hat. Jeden Tag ist unsere Familie weiter geschrumpft, während wir hinter Jep Loachs Karren herschlurfen mussten – die erwachsenen Sklaven mit Ketten um die Handgelenke, während uns Kindern nichts anderes übrig blieb, als ihnen zu folgen.

Am schlimmsten sind die Nächte. Wir können bloß hoffen, dass Jep Loach schnell einschläft, weil er müde vom Whiskey und der langen Reise ist. Denn dann passieren die schlimmen Sachen nicht, anfangs Mama und Tante Jenny, aber jetzt nur noch Mama allein, weil Jenny weg ist. Bloß Mama und ich sind übrig. Und Aunt Jennys Jüngste, die kleine Mary Angel.

Wann immer sie kann, flüstert Mama mir die Worte ins Ohr – wem sie uns weggenommen haben, wie die Männer heißen, die sie vom Versteigerungspodest heruntergekauft und wohin sie sie gebracht haben – zuerst Aunt Jenny und ihre drei älteren Mädchen, dann meine Brüder und Schwestern, dem Alter nach sortiert. Hardy in Big Creek verkauft an einen Mann namens LeBas aus Woodville. Het in Jatt gekauft von einem Mann namens Palmer aus Big Woods …

Prat, Epheme, Addie, Easter, Ike und Baby Rose. Sie alle wurden meiner Mutter in einer Stadt namens Bethany aus den Armen gerissen. Baby Rose hat geweint, und Mama hat sich aus Leibeskräften dagegen gewehrt. »Wir müssen zusammenbleiben. Das Baby ist noch nicht entwöhnt. Es braucht noch seine Mama …«, hat sie gefleht und gebettelt.

Sosehr ich mich heute auch dafür schäme, aber ich habe an Mamas Rockzipfel gehangen und geschrien: »Mama, nein! Mama, nein! Mama! Nicht!« Am ganzen Leib hab ich gezittert und war völlig durcheinander, halb verrückt vor Angst, die könnten mir meine Mama wegnehmen, und dann würde ich ganz allein zurückbleiben, nur mit meiner kleinen Cousine Mary, wenn der Karren davonfährt.

Jep Loach hatte von Anfang an geplant, uns loszuwerden und das Geld einzusacken, jetzt allerdings verkauft er in jedem Ort nur einen oder zwei, damit es nicht auffällt. Sein Onkel hätte ihm die Erlaubnis dafür gegeben, behauptet er, aber das stimmt nicht. Old Marse und Old Missus wollten, dass er tut, was alle gerade im Süden von Louisiana tun, seit die Yankees in ihren Kanonenbooten den Fluss von New Orleans heraufgekommen sind – ihre Sklaven nach Westen schaffen, damit die Federals uns nicht befreien können. Wir sollen auf dem Gossett-Anwesen in Texas bleiben, bis der Krieg vorbei ist. Deshalb haben sie uns mit Jep Loach losgeschickt, aber der hat uns stattdessen gestohlen.

»Wenn Marse Gossett herausfindet, dass Jep Loach ihn übern Tisch gezogen hat, kommt er uns holen«, hat Mama wieder und wieder versprochen. »Und dann spielt es auch keine Rolle mehr, dass er der Neffe von Old Missus ist. Marse schickt Jep geradewegs zur Armee, und dann muss er in den Krieg ziehen. Jep trägt die graue Uniform bloß noch nicht, weil Marse dafür zahlt, dass er nicht eingezogen wird. Aber damit ist dann Schluss, und Jep ist für immer weg. Wart’s nur ab. Und deshalb sagen wir uns immer wieder die Namen der Käufer laut vor, damit wir wissen, wo wir suchen müssen, wenn Old Marse uns holen kommt. Merk’s dir gut, damit du es sagen kannst, wenn du als Erste gefunden wirst.«

Doch die Hoffnung ist so schwach wie die fahle Wintersonne, die durch die Planken unseres Verschlags auf dem Sklavenmarkt fällt. Nur Mama, ich und Mary Angel sind noch da, und eine von uns wird auch heute verkauft werden. Mindestens. Damit hat Jep Loach noch mehr Geld in der Tasche, und alle Übrigen müssen mit ihm weiterziehen. Er wird sich sowieso als Erstes Schnaps davon kaufen, ohne sich darum zu scheren, dass er sein eigen Fleisch und Blut bestiehlt. Die ganze Familie von Old Missus – die Loaches – sind faule Äpfel, verrottet bis ins Mark, und Jep ist der Schlimmste von allen, schlimmer noch als Old Missus selbst, die der Teufel ist.

»Komm her, Hannie«, sagt Mama. »Komm her zu mir.«

Plötzlich geht die Tür auf. Ein Mann packt Mary Angel an ihrem dünnen Ärmchen, während Mama sie fest umklammert hält. Tränen strömen ihr übers Gesicht, als sie dem Kerl, einem Baum von einem Mann und so dunkel wie die Augen eines Hirschs, zuflüstert: »Wir gehören gar nicht ihm. Er hat uns Marse William Gossett gestohlen, dem Besitzer der Goswood Grove Plantage, unten an der River Road, südlich von Baton Rouge. Wir sind verschleppt worden. Wir …«

Sie fällt auf die Knie, schlingt schützend die Arme um Mary Angel. »Bitte. Bitte! Meine Schwester Jenny hat dieser Kerl schon verkauft. Und all ihre Kinder, bis auf die Kleine hier, und meine Kinder auch, nur Hannie ist noch hier. Lasst doch wenigstens uns drei zusammenbleiben. Nimm uns mit, alle drei. Sag deinem Master, die Kleine hier ist zu schwach, um allein zu bleiben. Sag ihnen, wir können nur zu dritt verkauft werden. Sag ihm, wir wurden Marse William Gossett von Goswood Grove gestohlen, unten an der River Road. Man hat uns gestohlen. Gestohlen!«

Der Mann stöhnt bloß. »Ich kann da nichts machen. Keiner kann da was machen. Du machst es bloß noch schwerer für die Kleine, es nützt alles nix. Zwei werden heute weggebracht, aber nicht zusammen, sondern jede für sich. Zuerst die eine, dann die andere.«

»Nein!« Mama kneift die Augen zusammen, schlägt sie wieder auf und sieht dem Mann ins Gesicht. »Sag meinem Master William Gossett wenigstens, wo man uns hingebracht hat, wenn er uns holen kommt«, stößt sie hervor, wobei ihr die Tränen übers Gesicht laufen. »Sag ihm die Namen von denen, die uns mitgenommen haben, und wohin sie uns bringen. Old Marse Gossett wird uns dann schon finden und uns nach Texas bringen, wo wir bleiben können, bis der Krieg vorbei ist.«

Der Mann gibt keine Antwort. Mama wendet sich Mary Angel zu und zieht ein handgewebtes braunes Stoffstück heraus, das sie unterwegs aus dem Saum von Jenny Angels schwerem Winterunterrock getrennt hat. Eigenhändig haben Mama und sie fünfzehn kleine Halsbänder gebastelt, mit Fäden, die sie aus den Jutesäcken auf dem Karren stibitzt haben.

An jedem hängen drei blaue Glasperlen von der Kette, die Grandma immer wie ihren Augapfel gehütet hat. Sie waren ihre größte Kostbarkeit, mitgebracht aus dem fernen Afrika. Dorther kamen meine Großeltern. An langen Winterabenden hat sie uns davon erzählt, wenn wir uns im Schein der Talgkerze zu ihren Füßen geschart haben – von Afrika, wo all unsere Vorfahren gelebt hatten, als Königinnen und Prinzen.

Blau ist die Farbe der Treue. Diese Perlen bedeuten, dass die Familie immer zusammenhält, egal, wo wir sind, sagte sie dann und lächelte, ehe sie die Perlenschnur hervorzog und herumgehen ließ. Ehrfürchtig haben wir sie berührt, ihr Gewicht in den Händen gewogen und dabei einen Hauch dieser Heimat in der Ferne erfühlt … und die Bedeutung der Farbe Blau.

Und nun hat sie die Schnur mit den drei Perlen in der Hand, die meine kleine Cousine mitbekommen soll.

Mama umfasst Mary Angels Kinn. »Das hier ist ein Versprechen.« Sie schiebt ihr die Perlen in den Ausschnitt und bindet ihr die Schnur um den Hals, der immer noch viel zu dünn wirkt, um ihren Kopf zu halten. »Du musst gut drauf aufpassen, kleiner Schatz. Sieh zu, dass sie dir keiner wegnimmt, egal, was passiert. Sie sind das Erkennungszeichen deiner Familie. Eines Tages werden wir uns wiedersehen, ganz egal, wie lange es dauern mag, und dann werden wir uns daran erkennen. Sollten viele Jahre vergehen, und du bist dann schon groß, werden wir trotzdem wissen, dass du eine von uns bist. Hör genau zu. Hast du verstanden, was deine Tante Mittie sagt?« Sie macht eine Handbewegung, als würde sie nähen. Perlen an einer Schnur. »Eines Tages werden wir alle wieder vereint sein. Mit Gottes Willen. Entweder in dieser Welt oder im Jenseits.«

Die kleine Mary Angel sagt nichts, zuckt nicht einmal mit der Wimper. Früher hat sie einem ununterbrochen die Ohren vollgequasselt, aber jetzt kommt kein Wort mehr über ihre Lippen. Nur eine dicke Träne kullert ihr über die braune Wange, als der Mann sie hochhebt und hinausträgt, und ihre Arme und Beine sind stocksteif wie bei einer Holzpuppe.

Ich stelle mich an die Wand, spähe zwischen den Latten hindurch und sehe zu, wie Mary Angel über den Hof geschleppt wird. Ihre kleinen braunen Schuhe baumeln in der Luft, feste Schnürer, wie wir sie alle vor zwei Monaten zu Weihnachten bekommen haben, eigens angefertigt von Uncle Ira, der die Sattlerei auf der Plantage betrieben und sich um die Zügel und Geschirre für die Pferde in Goswood gekümmert hat.

An ihn muss ich denken, als ich Mary Angels Schühchen sehe. Der kalte Wind bläst um ihre dürren Beine, als der Mann auf der Plattform ihren Rock hochhebt und sagt, sie habe gute Beine, schön gerade. Mama weint bloß. Aber einer muss schließlich zuhören, damit wir wissen, wohin sie sie bringen, damit wir ihren Namen in unsere Liste aufnehmen können.

Also tue ich es.

Kaum eine Minute später, so kommt es mir vor, packt eine riesige Pranke meinen Arm, und ich werde über den Boden geschleift. Mit einem Ploppen springt meine Schulter aus dem Gelenk, und die Absätze meiner Weihnachtsschuhe ziehen Furchen in den Matsch wie die Klingen eines Pflugs.

»Nein! Mama! Hilf mir!« Panisch beginne ich, mich zu wehren, schreie, schlage wild um mich, bekomme Mamas Arm zu fassen und sie meinen.

Lass nicht los, sagen ihre Augen. Plötzlich verstehe ich, was der Riese vorhin gemeint hat, und wieso Mama danach so verzweifelt war. Zwei werden heute weggebracht, aber nicht zusammen, sondern jede für sich. Zuerst die eine, dann die andere.

Dies ist der Tag, an dem das Allerschlimmste passieren wird. Der letzte Tag, an dem ich mit meiner Mama zusammen bin. Zwei werden hier verkauft, die dritte geht mit Jep Loach und wird in der nächsten Stadt verkauft. Mir dreht sich der Magen um, Galle brennt in meiner Kehle, aber ich habe nichts im Magen, das ich herauswürgen könnte. Ich spüre, wie sich meine Blase entleert, mir die warme Flüssigkeit an den Beinen runterläuft, direkt in meine Schuhe, ehe sie im Schmutz versickert.

»Bitte! Bitte! Wir beide, zusammen«, bettelt Mama.

Der Mann verpasst ihr einen Tritt, so fest, dass sie loslassen muss. Mama schlägt mit dem Kopf auf dem Boden auf, ihr Gesicht ist plötzlich so still und reglos, als würde sie schlafen. In der Hand hält sie das kleine braune Band, von dem drei blaue Glasperlen in den Staub kullern.

»Wenn du Ärger machst, knall ich sie ab, gleich hier.« Die Stimme lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Es ist nicht der Sklavenhändler, der mich gepackt hat, sondern Jep Loach. Und ich werde auch nicht zum Podest getragen, sondern zum Karren. Ich bin also diejenige, die erst später verkauft werden soll.

Ich reiße mich los, um zu Mama zu rennen, aber meine Knie sind auf einmal so weich wie nasses Gras. Ich falle der Länge nach hin, strecke die Finger nach den Glasperlen aus, nach meiner Mama.

»Mama!«, schreie ich. »Mama! Mama!« Wieder und wieder und wieder …

Es ist meine eigene Stimme, die mich an aus meinem Traum von jenem grauenvollen Tag reißt, wie immer. Ich höre mich schreien, komme zu mir, versuche mich aus Jep Loachs Pranken zu befreien, während ich nach meiner Mama schreie. Zwölf Jahre sind vergangen, seit ich sie zuletzt gesehen habe. Damals war ich gerade einmal sechs Jahre alt.

»Mama! Mama! Mama!« Noch drei weitere Male dringt das Wort über meine Lippen und wird über die nächtlich stillen Felder von Goswood Grove getragen, ehe ich schnell den Mund zumache und über die Schulter zur Pachtarbeiterhütte rübersehe, in der Hoffnung, dass sie nichts mitbekommen haben. Schließlich will ich nicht die ganze Plantage aufwecken. Ein harter Arbeitstag liegt vor mir, Ol’Tati und den anderen kleinen Streunern, die sie großgezogen hat, seit der Krieg vorbei war und keine Mamas oder Papas uns abgeholt haben.

Von all meinen Geschwistern, meiner ganzen Familie, die Jep Loach gestohlen hat, war ich die Einzige, die Marse Gossett wiederbekam, und auch nur aus purem Glück, weil die Leute bei der nächsten Sklavenauktion rausbekamen, dass ich gestohlen worden war, und den Sheriff gerufen haben, damit er mich dabehält, bis Marse mich holen kommt. Weil Krieg war und jeder sich nur in Sicherheit bringen wollte und wir verzweifelt versucht haben, der rauen texanischen Landschaft irgendetwas Essbares abzutrotzen, haben die meisten Familien nicht wieder zusammengefunden. Ich war bloß irgendein Kind ohne Familie, als die Soldaten der Federals zu uns nach Texas gekommen sind, die Gossetts gezwungen haben, uns offiziell die Freiheit zu geben, und ihnen gesagt haben, dass der Krieg vorbei ist, selbst in Texas, und dass wir jetzt immer gehen dürfen, wohin wir wollen.

Old Missus hat uns gewarnt, wir würden nicht mal fünf Meilen weit kommen, ohne zu verhungern, von Wegelagerern überfallen oder von Indianern skalpiert zu werden, was sie uns auch wünschen würde zur Strafe, weil wir undankbar und dumm genug seien, es auch bloß in Erwägung zu ziehen. Nun, da der Krieg vorbei sei, gäbe es keinen Grund mehr, in Texas zu bleiben, daher könnten wir ebenso gut mit ihr und Marse Gossett nach Louisiana zurückkehren – den wir ab sofort mit Mister und nicht länger als Master, also Marse, ansprechen sollten, damit sie sich nicht den Unmut der Federal-Soldaten zuzögen, die in nächster Zeit noch wie die Läuse herumwuseln würden. Zu Hause, in Goswood Grove, hätten wir ja unseren Old Mister und Old Missus, die auf uns aufpassten, uns zu essen und Kleider gäben, damit wir elenden Nigger nicht nackt herumlaufen müssten.

»Ihr Kleinen habt sowieso nichts zu sagen«, erklärte sie den familienlosen Kindern. »Ihr gehört in unsere Obhut, und natürlich nehmen wir es auf uns, euch aus dieser gottverlassenen texanischen Wildnis zurück nach Goswood Grove zu bringen, wo ihr bleiben werdet, bis ihr alt genug seid, um auf eigenen Füßen zu stehen, oder eure Eltern euch abholen kommen.«

Sosehr ich Old Missus und die Tatsache hasste, als Dienstmädchen in ihrem Haus zu arbeiten und nebenbei als lebendes Spielzeug für Little Missy Lavinia herhalten zu müssen, glaubte ich immer noch an das, was Mama mir zwei Jahre zuvor auf der Auktion gesagt hatte: Sie würde mich so schnell holen kommen, wie es nur ginge. Sie würde uns alle wiederfinden, und dann würden wir Grandmas Perlen wieder zu einer Kette auffädeln.

Daher hab ich mich gefügt, aber seither lässt meine Rastlosigkeit mich nachts schlafwandeln, beschwört abscheuliche Träume von Jep Loach und den Momenten herauf, als ich hilflos zusehen musste, wie meine Liebsten fortgebracht worden sind, und von Mama, die reglos auf dem Boden der Hütte des Auktionators gelegen hat – tot, wie es damals für mich aussah.

Bis heute liegt sie in meinen Träumen so da.

Ich blicke zu Boden und erkenne, dass ich wieder einmal geschlafwandelt bin: Ich stehe direkt vor dem Stumpf des alten Pekannussbaums. Vor mir erstreckt sich das Feld mit den frisch gesteckten Maispflanzen, die noch zu mickrig und dünn sind, um das Erdreich zu bedecken. Das Mondlicht fällt in schmalen Streifen auf die Reihen, sodass das Feld wie ein gewaltiger Webrahmen aussieht, auf dem die Kettfäden gespannt sind und nur darauf warten, dass die Weberin das Schiffchen hin und her schiebt, hin und her, hin und her, so wie die Sklavinnen es vor dem Krieg immer getan haben. Aber heute nicht mehr. Stattdessen stehen die Spinnhäuser leer, weil der billige Stoff fertig gewebt aus den Fabriken im Norden kommt. Aber damals, als ich noch ein kleines Mädchen war, hat es zur täglichen Arbeit gehört, Baumwolle und Wolle zu kardieren, jeden Abend nach der Rückkehr von der Feldarbeit eine Spindel zu spinnen. Das war Mamas Leben in Goswood Grove, so musste es gemacht werden, sonst machte Old Missus Kleinholz aus ihr.

Auf diesem Baumstumpf hat der Sklaventreiber gestanden und den Überblick über die Arbeiter auf dem Feld gehabt, mit der Neunschwänzigen, die von seinem Gürtel herabhing wie eine Schlange, die jederzeit vorschnellen und zubeißen konnte. Sobald einer hinterhergehinkt ist oder versucht hat, eine Pause einzulegen, gab’s Schläge. Wenn Old Marse Gossett zu Hause war, blieb es bei einem kurzen Peitschenhieb, doch wann immer er sich in New Orleans aufhielt, wo seine zweite Familie lebte – etwas, wovon jeder wusste, was aber niemand jemals zu erwähnen wagte –, wurde es schlimm, weil dann Old Missus das Heft in der Hand hatte. Der Missus passte es gar nicht, dass ihr Mann sich eine Mätresse in New Orleans hielt und aus der Verbindung sogar ein Mischlingskind hervorgegangen war. Wie viele reiche Plantagenbesitzer unterhielt auch er eine plaçage. Schöne Viertel- oder Achtelmulattinnen mit zarten Gliedern und olivbrauner Haut, die mit den gemeinsamen Kindern in eleganten Häusern in Vierteln wie Faubourg Marigny und Tremé lebten, mit eigenen Sklaven, die sich um ihr Wohlergehen kümmerten.

Was früher auf einer Plantage gang und gäbe war, existiert seit Mr. Lincolns Krieg so gut wie gar nicht mehr: Der Sklaventreiber mit der Peitsche, Mama und die Arbeiter, die sich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf den Feldern abrackern, Fußeisen und Sklavenmärkte wie der, bei dem meine ganze Familie verkauft worden ist – all das sind Dinge, an die ich mich nur dunkel erinnern kann.

Manchmal denke ich beim Aufwachen, meine Familie habe es nie gegeben, sondern sie sei bloß Einbildung. Aber dann berühre ich die drei Glasperlen auf der Schnur an meinem Hals und sage mir ihre Namen leise vor. Hardy in Big Creek, verkauft an einen Mann namens LeBas aus Woodville. Het in Jatt, gekauft von einem Mann namens Palmer aus Big Woods … Die ganze Reihe, bis runter zu Baby Rose und Mary Angel. Und Mama.

All das war real. Wir waren real.

Ich blicke in die Ferne, denke an mich, an die Sechsjährige von damals und dann an die Frau, die ich heute bin, mit achtzehn. Eigentlich ist der Unterschied gar nicht allzu groß. Bis heute bin ich spindeldürr.

Du kannst dich sogar hinter einem Besenstiel verstecken, Hannie, hat Mama immer gesagt, gelächelt und mir die Wange gestreichelt. Aber ein wunderschönes Mädchen bist du, immer schon gewesen. Ich höre die Worte klar und deutlich, als stünde sie in diesem Moment neben mir, mit einem Weidenkorb auf der Hüfte, um die Wäsche hinter unserer Hütte aufzuhängen, der letzten in der Reihe der alten Sklavenquartiere.

Wieso bist du nicht gekommen, Mama? Wieso bist du in all den Jahren dein Kind nicht holen gekommen? Ich lasse mich auf den Baumstumpf sinken und blicke zu den Bäumen an der Straße hinüber, um deren dicke Stämme der mondbeschienene Nebel wabert.

Ich glaube, in den Schatten etwas auszumachen. Vielleicht ist es ein Geist. Zu viele Leute liegen in der Goswood-Erde begraben, sagt Ol’Tati immer, wenn sie uns abends in der Pächterhütte Geschichten erzählt. Zu viel Blut und Leid sind noch hier, deshalb wird die Plantage für immer von Geistern heimgesucht werden.

Ein Pferd wiehert leise. Auf der Straße erkenne ich einen Reiter, eingehüllt in einen dunklen Umhang, der auch seinen Kopf bedeckt, sodass man sein Gesicht nicht erkennen kann. Ist es meine Mama, die mich holen kommt? Die zu mir sagen wird: Du bist fast achtzehn, Hannie, wieso sitzt du immer noch auf diesem alten Baumstumpf herum? Wie gern würde ich mit ihr weggehen. Oder ist es Old Mister, der seinem missratenen Sohn wieder mal aus der Patsche helfen muss? Oder ist es ein richtiger Geist, der mich packen und im Fluss ertränken will?

Ich schließe die Augen, schüttle den Kopf, um die wirren Gedanken zu verscheuchen, und sehe noch mal hin. Nichts. Bloß Nebelschwaden.

»Kind?« Tatis flüsternde Stimme weht herüber. Besorgt und vorsichtig. »Kind?« Sie nennt alle so, ganz egal, wie alt man ist, selbst die Streuner, die eine Weile hiergeblieben und dann weitergezogen sind, nennt sie immer noch Kind, wenn sie zu Besuch kommen.

Ich horche auf und will antworten, aber die Worte bleiben mir im Halse stecken. Es ist tatsächlich jemand hier – eine Frau, hoch oben bei den schlanken weißen Säulen am Tor zur Plantage. Etwas bewegt sich. Die Eichen über mir ächzen und raunen, als wollten sie nicht, dass sie näher kommt. Ein tief hängender Ast erfasst ihre Kapuze, sodass sie herunterrutscht und den Blick auf ihr langes dunkles Haar freigibt.

»M-mama?«

»Kind?«, flüstert Tati wieder. »Bist du da?« Ich höre sie herbeieilen, das Klappern ihres Stocks, das immer schneller wird, bis sie neben mir steht.

»Da ist Mama. Sie kommt.«

»Du träumst, Herzchen.« Tatis knorrige Finger schließen sich sanft um mein Handgelenk, während sie selbst auf Abstand bleibt, weil sie weiß, dass ich mich im Traum manchmal wehre. Es ist schon vorgekommen, dass ich in solchen Nächten gebissen und wild um mich getreten habe, um mich aus Jep Loachs brutalem Griff zu befreien. »Es ist alles in Ordnung, Kind. Du schlafwandelst wieder mal. Wach auf. Deine Mama ist nicht hier, nur Ol’Tati. Sie ist hier. Du bist in Sicherheit.«

Ich sehe zu der Stelle hinüber, wo die Frau gerade noch war, doch sie ist weg. Verschwunden, auch wenn ich noch so angestrengt ins Dunkel spähe.

»Wach auf, Kind.« Im Mondschein hat Tatis Gesicht das rötliche Braun eines Zypressenastes, der aus dem Wasser gezogen wird. Dunkel hebt es sich vom Nesselstoff ihrer Haube auf dem silbergrauen Haar ab. Sie legt mir eine Stola um die Schultern. »Hier draußen am Feld ist es ja ganz klamm! Du holst dir noch eine Rippenfellentzündung. Und was dann? Was soll dann aus Jason werden?«

Behutsam stößt Tati mich mit ihrem Gehstock an. Dass Jason und ich heiraten, ist ein Herzenswunsch von ihr. Sobald der Zehnjahresvertrag über die Pacht mit Old Mister ausläuft und das Stück Land ihr gehört, braucht sie jemanden, dem sie es übereignen kann. Ich und die Zwillinge Jason und John sind die letzten ihrer Streunerkinder. Ihr Vertrag umfasst lediglich noch eine Saison, dann endet er, aber Jason und ich? Wir sind wie Geschwister in ihrem Haus aufgewachsen, deshalb ist es schwer, ihn als etwas anderes zu sehen. Gleichzeitig ist Jason ein anständiger Junge, ein ehrlicher Arbeiter, auch wenn er und sein Bruder von Geburt an ein klein bisschen langsamer im Kopf sind als alle anderen.

»Ich träume nicht«, sage ich, während Tati mich von dem Baumstumpf herunterzieht.

»Und ob du träumst. Komm jetzt. Morgen früh wartet jede Menge Arbeit auf uns. Wenn du diese Wandereien nicht bald bleiben lässt, fessle ich dich abends ans Bett. Es wird immer schlimmer … Als du noch klein warst, habe ich dich nicht so oft erwischt wie jetzt.«

Ich zucke zusammen, als es mir wieder einfällt: die vielen Male, als ich im Schlaf von meinem Lager neben Missy Lavinias Gitterbettchen aufgestanden und erst wieder aufgewacht bin, als Old Missus mir mit dem Kochlöffel, der Reitgerte oder dem Schürhaken den Hintern versohlt hat, je nachdem, was sie gerade zur Hand hatte.

»Egal jetzt. Du kannst ja nichts dafür.« Sie bückt sich, hebt ein wenig Erde auf und schleudert sie sich über die Schulter. »Reden wir nicht mehr drüber. Morgen ist ein neuer Tag, mit jeder Menge Arbeit. Komm schon, wirf selbst eine Prise, nur zur Sicherheit.«

Ich gehorche und bekreuzige mich dann, ebenso wie Tati. »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes«, flüstern wir wie aus einem Munde. »Möge er uns leiten und beschützen, auf all unseren Wegen. Amen.«

Obwohl ich es nicht tun sollte – sich nach einem Geist umzudrehen, sobald man Staub zwischen sich und ihn gestreut hat, bringt bekanntermaßen Unglück –, wende ich mich um und sehe zur Straße.

Auf einmal ist mir eiskalt.

»Was machst du da?« Ich bleibe so abrupt stehen, dass Tati um ein Haar ins Stolpern gerät.

»Ich hab nicht geträumt«, flüstere ich, ohne noch einmal hinzusehen. Stattdessen zeige ich mit dem Finger. Meine Hand zittert. »Ich hab sie gesehen.«

VERMISST

Briefe von Abonnenten werden kostenfrei abgedruckt, für alle anderen fällt eine Gebühr in Höhe von 50 Cent an. Pastoren werden gebeten, die Gesuche im Zuge ihrer Predigten zu verlesen und uns über alle Fälle in Kenntnis zu setzen, in denen Freunde und Familien einander über im SOUTHWESTERN veröffentlichte Briefe gefunden haben.

Sehr geehrter Herr Chefredakteur – ich suche nach einer Frau namens Caroline, die einst einem Mann namens John Hawkins gehörte, Glotzaugen-Smith, wie die Leute ihn genannt haben. Smith hat sie von den Cherokee im Indianergebiet nach Texas mitgenommen, dann aber weiterverkauft. Die ganze Familie gehörte den Delanos, bevor sie in alle Winde verstreut und verkauft wurden. Der Name ihrer Mutter war Letta, der ihres Vaters Samuel Melton, die Kinder hießen Amerietta, Susan, Esau, Angeline, Jacob, Oliver, Ermeline und Isaac. Sollte einer Ihrer Leser von ihr hören, täte derjenige Amerietta Gibson einen großen Gefallen, indem er an folgende Adresse schreibt: Independence, Kansas, P. O.Box 94

WM. B. AVERY, PASTOR

»Vermisst«-Rubrik im Southwestern, 24. August 1880

KAPITEL 2

Benedetta Silva

AUGUSTINE, LOUISIANA, 1987

Der Lasterfahrer drückt auf die Hupe. Bremsen quietschen. Die Reifen hinterlassen schwarze Streifen auf dem Asphalt. Wie in Zeitlupe kippen die aufgeschichteten Stahlrohre zur Seite, sodass die ölverschmierten Nylongurte zum Zerreißen gespannt werden. Einer der Spanngurte, die die Ladung halten, löst sich und schlackert in der Luft, als der Lastwagen auf die Kreuzung zuschlittert.

Sämtliche Muskeln in meinem Körper spannen sich an. Ich wappne mich für den Aufprall, wobei mir der Gedanke durch den Kopf schießt, was nach der Kollision von meinem rostigen VW Käfer wohl noch übrig sein wird.

Vor einer Sekunde war der Lastwagen noch nicht da, ich schwöre.

Wen habe ich eigentlich als Notfallkontakt in meiner Personalakte angegeben?

Ich weiß noch, wie mein Stift in diesem schmerzlich-ironischen Moment der Unentschlossenheit über dem leeren Feld verharrte. Vielleicht habe ich es am Ende dann überhaupt nicht ausgefüllt.

Mit erschreckender Klarheit zieht das Geschehen an mir vorüber – die stämmige Schülerlotsin mit ihrem bläulich grauen Haar und den gebeugten Schultern, die gebieterisch das Stoppschild reckt; die Schulkinder, die alles mit weit aufgerissenen Augen verfolgen. Einem Grundschüler rutschen die Bücher aus dem mageren Arm, fallen auf den Boden, aufgeschlagen, wild verstreut. Er gerät ins Straucheln, fällt beinahe hin, die Hände vorgestreckt, dann verschwindet er hinter dem LKW.

Nein. Nein, nein, nein! Bitte nicht. Ich beiße die Zähne zusammen, schließe die Augen, wende das Gesicht ab, während ich das Steuer herumreiße und noch entschlossener in die Eisen steige, doch mein Käfer schlittert immer weiter.

Metall kollidiert mit Metall, gibt nach, wird zerbeult und zusammengefaltet. Der Käfer rumpelt über etwas hinweg, zuerst mit den Vorder-, dann mit den Hinterreifen. Mein Kopf knallt gegen das Seitenfenster, dann gegen den Wagenhimmel.

Das darf nicht passieren. Nein, das darf nicht sein.

Nein, nein, nein.

Der Käfer prallt gegen den Bordstein, hoppelt darüber hinweg, ehe er zum Stehen kommt. Der Motor läuft noch, penetranter Gummigestank füllt das Wageninnere.

Beweg dich, sage ich mir. Tu etwas.

Vor meinem geistigen Auge sehe ich den kleinen Körper, die rote Jogginghose, die eigentlich viel zu warm für das Wetter ist, das blaue Oversize-Shirt, dunkelbraune Haut, große braune Augen, leblos. Er ist mir gestern schon auf dem leeren Schulhof aufgefallen, dieser Junge mit den unfassbar langen Wimpern und dem frisch mit der Maschine getrimmten Haar, der ganz allein auf der halb zerbröckelten Betonmauer des Schulgeländes saß, als die größeren Kinder längst ihre neuen Stundenpläne abgeholt hatten und verschwunden waren, um ihren letzten Ferientag in Augusta, Louisiana, zu verbringen, woraus so ein Tag hier auch immer bestehen mag.

»Ist mit dem Kleinen alles in Ordnung?«, hatte ich eine meiner neuen Lehrerkolleginnen gefragt, die Käsige mit dem sauertöpfischen Gesicht, die mir zuvor auf dem Flur konsequent aus dem Weg gegangen war, als würde ich stinken. »Wartet er auf jemanden?«

»Was weiß ich«, hatte sie erwidert. »Der wird schon verschwinden.«

Ich werde ins Hier und Jetzt zurückkatapultiert. Der metallische Geschmack von Blut breitet sich in meiner Mundhöhle aus. Vermutlich habe ich mir auf die Zunge gebissen.

Keine Schreie. Keine Sirene. Keine Stimme, die ruft, jemand solle die Polizei und einen Krankenwagen rufen.

Ich lege den Leerlauf ein, ziehe die Handbremse an und vergewissere mich, dass sie eingerastet ist, ehe ich den Gurt löse, den Türgriff packe und mich mit der Schulter gegen die Tür stemme, bis sie aufgeht und ich hinauskippe. Meine Hände und Beine fühlen sich taub an, als ich auf dem Asphalt lande.

»Was habe ich dir gesagt?« Die Stimme der Schülerlotsin ist tonlos, beinahe gelangweilt im Vergleich zu meinem hämmernden Herzen, das mir aus der Brust zu springen droht. »Was habe ich dir gesagt?«, wiederholt sie, während sie, die Arme in die Hüften gestemmt, über den Zebrastreifen stapft.

Als Erstes schweift mein Blick zur Kreuzung. Bücher, eine plattgefahrene Lunchbox, eine Thermoskanne mit Karomuster. Sonst nichts.

Sonst nichts.

Keine Leiche. Kein kleiner Junge. Stattdessen steht er am Straßenrand. Ein Mädchen von dreizehn oder vierzehn, vielleicht seine Schwester, hat ihn am Kragen gepackt, sodass er beinahe auf Zehenspitzen steht, was den Blick auf seinen ungewöhnlich stark gewölbten Bauch darunter freigibt.

»Welches Schild habe ich gerade hochgehalten?« Mit der flachen Hand schlägt die Schülerlotsin auf die fünf Buchstaben, S-T-O-P-P, ehe sie ihm das Schild direkt vor die Nase hält.

Der kleine Junge, der eher verwirrt als verängstigt wirkt, zuckt nur stumm die Achseln. Ist ihm klar, was hier gerade um ein Haar passiert wäre? Das Mädchen, das ihm wohl das Leben gerettet hat, scheint hingegen stocksauer zu sein.

»Du Blödmann. Pass gefälligst auf, wenn ein Laster kommt.« Sie schubst ihn ein Stück auf den Bürgersteig, ehe sie ihn loslässt und sich die Hand an ihrer Jeans abwischt. Dann wirft sie ihre langen, dunkel glänzenden Zöpfe mit den roten Perlen an den Enden zurück, sieht sich um und starrt verblüfft auf die Stoßstange des Käfers, die mitten auf der Kreuzung liegt – das Einzige, was bei der Beinahekollision zu Schaden gekommen ist. Das ist es also, worüber ich hinweggerumpelt bin. Nicht der kleine Junge, sondern bloß ein Stück Blech mit Schrauben, Nieten und Bolzen. Ein kleines Wunder.

Der LKW-Fahrer und ich werden jetzt kurz unsere Daten für die Versicherung austauschen – ich hoffe, es macht nichts, dass meine immer noch von einer Agentur in einem anderen Bundesstaat betreut wird –, ehe sich jeder wieder seinem Tagwerk widmen kann. Wahrscheinlich ist er genauso erleichtert wie ich … oder sogar mehr, weil er derjenige ist, der in die Kreuzung gefahren ist. Seine Versicherung müsste den Schaden eigentlich übernehmen, zum Glück, weil ich noch nicht mal meine Selbstbeteiligung aufbringen könnte. Die Miete für eines der wenigen Häuser in meiner Preisklasse und mein Anteil für den Umzugswagen, den ich zusammen mit einer Freundin gemietet habe, haben meine gesamten Ersparnisse aufgefressen, deshalb bin ich pleite, bis der erste Gehaltsscheck eingeht.

Das harsche Knirschen eines Getriebes reißt mich aus meiner Trance. Ich drehe mich um, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie der Laster in Richtung Highway davonfährt.

»He!«, rufe ich und renne los. »Kommen Sie zurück!«

Die Jagd entpuppt sich als sinnlos. Der Fahrer macht keine Anstalten, noch einmal stehen zu bleiben, der Asphalt ist feucht vom Tau eines Hochsommermorgens in Louisiana, und ich trage Sandalen und einen ausgestellten Rock. Die Bluse, die ich auf einem Umzugskarton sorgfältig gebügelt habe, klebt mir am Leib, als ich zum Stehen komme.

Ein schicker SUV fährt vorbei. Beim Anblick der Fahrerin, einer aufgedonnerten Blondine, die mich anstarrt, dreht sich mir der Magen um. Ich kenne sie vom Willkommenstreffen des Lehrköpers vor zwei Tagen. Sie gehört dem Schulbeirat an, und angesichts der kurzfristigen Zusage und des bislang eher frostigen Empfangs liegt der Verdacht nahe, dass ich nicht ihre erste Wahl für die Stelle war … und auch sonst war ich niemandes erste Wahl. Wenn man hinzurechnet, dass wir alle den Grund dafür kennen, weshalb es mich in dieses Kaff verschlagen hat, stehen die Chancen wohl nicht allzu gut, dass ich die Probezeit überstehen werde.

»You never know until you try.« Ich versuche, Mut aus der Zeile von Lonely People, einem Song aus meiner Kindheit in den 1970ern, zu ziehen und drücke den Rücken durch. Seltsamerweise geht inzwischen alles weiter, als wäre nichts passiert: Autos fahren an mir vorbei, die Lotsin macht ihre Arbeit, meidet jedoch jeden Blickkontakt, als der Schulbus um die Ecke biegt.

Irgendjemand – keine Ahnung, wer – hat die amputierte Gliedmaße meines Käfers zur Seite geräumt, und die Leute umrunden höflich meinen liegen gebliebenen Wagen, um auf die hufeisenförmige Zufahrt vor der Schule zu gelangen, wo sie ihre Kinder absetzen können.

Das Mädchen, das vom Alter her in der achten oder neunten Klasse sein könnte – auch jetzt bin ich noch nicht wirklich gut darin, das Alter von Kindern zu schätzen –, hält den Jungen am Straßenrand immer noch fest. Die roten Perlen in ihren Zöpfen schlenkern über ihr buntes Streifenshirt, als sie ihn mit sich zieht. Ihre Haltung lässt keinen Zweifel daran, dass sie ihn zwar des Aufwands nicht für wert hält, es aber trotzdem klüger findet, wenn er nicht dort stehen bleibt. Sie hat sich seine Bücher und sein Thermoskännchen unter den Arm geklemmt, die plattgewalzte Lunchbox baumelt an ihrem Mittelfinger.

Ich drehe mich einmal um die eigene Achse, verblüfft, wie normal auf den ersten Blick alles wirkt, ehe ich mich entschließe zu tun, was alle tun – ihrem Alltag nachgehen. Überleg bloß, wie viel schlimmer es hätte kommen können. Im Geiste liste ich die Szenarien auf, immer wieder.

Und so beginnt offiziell meine Laufbahn als Lehrerin.

In der vierten Stunde verliert das Es hätte auch viel schlimmer kommen können zunehmend an Kraft. Ich bin müde und weiß nicht, was ich hier soll. Weil ich buchstäblich ins Leere hineinrede. Meine Schüler – ich unterrichte alle Klassen von der siebten bis zur zwölften – sind uninspiriert, unglücklich, verpennt, schlecht gelaunt, hungrig, grenzwertig aggressiv und, sofern ihre Körpersprache nicht täuscht, bereit, mich aus dem Stand fertigzumachen. Mit Lehrerinnen wie mir kennen die sich aus – naive Vorstadtpflanzen, frisch von der Uni, die sich auf fünf Jahre an einer drittklassigen Schule für Familien mit niedrigem Einkommen verpflichten, weil ihnen dadurch der Studienkredit erlassen wird.

Ich komme aus einem völlig anderen Universum, habe mein Referendariat an einer elitären Highschool unter einer Mentorin absolviert, die über den Luxus erstklassigen Unterrichtsmaterials verfügte. Als ich mitten während des Halbjahrs kam, lasen ihre Neuntklässler gerade Herz der Finsternis und schrieben sorgfältig gegliederte Abhandlungen in fünf Abschnitten über die gesellschaftliche Relevanz von Literatur. Sie saßen kerzengerade auf ihren Stühlen, folgten bereitwillig jeglichen Diskussionsanstößen und wussten genau, wie man solide Einleitungssätze formulierte.

Im Gegensatz zu ihnen beäugen die hiesigen Neuntklässler die Schulausgaben von Farm der Tiere mit dem Interesse von Kindern, die einen Ziegelstein als Geschenk unter dem Weihnachtsbaum vorfinden.

»Was sollen wir denn damit anfangen?«, fragt ein Mädchen mit einem regelrechten Vogelnest aus dauerwellengeschädigtem strohblondem Haar in der vierten Stunde. Sie ist eines von acht weißen Kids in einer völlig überfüllten Klasse aus 39 Schülern. Ihr Nachname lautet Fish; außerdem gibt es noch einen zweiten Fish in der Klasse, wohl einen Bruder oder Cousin von ihr. Über die Fishs habe ich bereits allerlei gehört: Sumpfratten lautete das Stichwort. Die weißen Kinder in dieser Schule teilen sich in drei Kategorien auf: Sumpfratten, Bauerntölpel oder Assis, was bedeutet, dass Drogen im Spiel sind, üblicherweise generationenübergreifend. Zwei meiner neuen Kollegen teilten ganz beiläufig die Kinder in diese Gruppen ein, als sie während der Lehrerkonferenz ihre Schülerlisten durchgingen. Kinder aus wohlhabenden Familien oder mit sportlichem Potenzial werden aussortiert und auf die feudale Lehranstalt des Bezirks »drüben am See«, sprich, im Villenviertel, geschickt, während wirklich schwierige Kinder aus Problemfamilien auf Schulen kommen, die man hauptsächlich von wirklich üblen Gerüchten kennt. Alle anderen landen hier.

Im Klassenzimmer sitzen die Sumpfratten und die Bauerntölpel vorne links, alle auf einem Haufen. Das ist eine Art ungeschriebenes Gesetz. Die schwarzen Kinder belegen die rechte Seite mit Beschlag, zumeist eher die hinteren Reihen, wohingegen die Nonkonformisten und diejenigen, die in keine Schublade passen – amerikanische Ureinwohner, Asiaten, Punks und ein, zwei aus der Streber/Freak-Fraktion – das Niemandsland in der Mitte bevölkern.

Diese Kids trennen sich absichtlich nach Rassen.

Ist ihnen bewusst, dass wir im Jahr 1987 leben?

»Ja, genau, wofür soll das sein?«, echot ein anderes Mädchen, dessen Nachname mit G anfängt … Gibson, glaube ich. Sie gehört in die Mitte-Fraktion, weil sie weder zur einen noch zur anderen Gruppe passt, nicht weiß, nicht schwarz, sondern multirassisch und vermutlich mit einem Schuss amerikanischem Ureinwohner im Blut.

»Das ist ein Buch, Miss Gibson.« Sowie die Worte über meine Lippen kommen, ist mir bewusst, wie patzig ich klinge. Unprofessionell, ja, andererseits bin ich erst seit vier Stunden hier und schon jetzt mit meinem Latein am Ende. »Wir schlagen es auf und lesen, was drinsteht.«

Allerdings bin ich nicht sicher, wie wir das bewerkstelligen sollen. Ich betreue eine riesige Horde Neunt- und Zehntklässler, es gibt aber nur dreißig Exemplare von Farm der Tiere, die zudem noch uralt zu sein scheinen, mit vergilbten Kanten, aber unversehrten Rücken, was darauf schließen lässt, dass keines davon jemals aufgeschlagen wurde. Ich habe sie gestern in meinem staubigen Lagerraum gefunden. Sie stinken. »Und dann finden wir heraus, was wir aus der Geschichte lernen können, was sie uns über die Zeit erzählt, in der sie geschrieben wurde, aber auch über uns, die wir heute in diesem Klassenzimmer sitzen.«

Die kleine Gibson fährt mit ihrem in Glitzerlila lackierten Nagel über die Seiten, blättert ein wenig herum, wirft sich das Haar über die Schulter. »Und wozu?«

Mein Puls beschleunigt sich. Immerhin hat einer meiner Schüler das Buch aufgeschlagen und redet … mit mir statt mit dem Banknachbarn. Vielleicht dauert es ja bloß ein bisschen, bis man den Dreh raushat, schließlich ist diese Schule alles andere als inspirierend: graue Betonwände, von denen die Farbe abblättert, durchhängende Bücherregale und streifig schwarz gestrichene Fenster … alles in allem fühlt sich das eher wie ein Gefängnis an als wie ein Ort für Kinder.

»Erstens weil ich wissen will, was ihr darüber denkt. Das Tolle an der Literatur ist, dass sie subjektiv ist. Jeder liest ein Buch anders, weil wir die Worte unterschiedlich wahrnehmen und eine Geschichte aufgrund unterschiedlicher Lebenserfahrung anders filtern.«

Ich registriere, dass sich mir weitere Köpfe zuwenden, hauptsächlich aus dem Mittelteil, dem Bereich der Streber, Außenseiter und Andersartigen. Ich nehme, was ich kriegen kann. Jede Revolution beginnt mit einem Funken, der auf trockenen Zunder überspringt.

Jemand aus der letzten Reihe gibt Schnarchlaute von sich, jemand anderes furzt. Gekicher. Alle anderen ringsum springen von ihren Stühlen auf und ergreifen die Flucht vor der Stinkwolke. Ein halbes Dutzend Jungs rottet sich bei den Kleiderhaken zusammen, schubst, rempelt und rangelt. Ich befehle ihnen, sich sofort wieder hinzusetzen, was sie natürlich ignorieren. Schreien hilft nichts. Das habe ich an anderer Stelle bereits ausprobiert.

»Es gibt keine richtigen oder falschen Antworten, wenn es um Literatur geht.« Ich habe Mühe, das Getöse zu übertönen.

»Na, dann ist es ja einfach.« Ich kann nicht ausmachen, aus wessen Mund die Bemerkung kam, von jemandem aus dem hinteren Teil des Raums. Ich recke den Hals.

»Natürlich nur, sofern ihr das Buch auch lest, versteht sich«, korrigiere ich. »Und euch Gedanken darüber macht.«

»Ich mache mir Gedanken übers Mittagessen«, wirft einer der Jungs aus dem Gerangel bei den Kleiderhaken ein. Er ist groß und stämmig, und ich weiß nur noch, dass ein R in seinem Namen vorkommt … sowohl im Vor- als auch im Nachnamen.

»Über was anderes denkst du doch sowieso nie nach, Lil’ Ray. Dein Gehirn ist direkt mit deinem Magen verbunden.«

Die Bemerkung wird augenblicklich mit einem kräftigen Schubser geahndet, woraufhin ein weiterer Junge einem anderen in den Rücken springt.

Mir bricht der Schweiß aus.

Blätter fliegen. Weitere Schüler stehen auf.

Jemand stolpert und fällt rücklings über eine Bank, streift dabei mit seinem knöchelhohen Tennisschuh den Kopf eines der Streber-Freaks. Das Opfer schreit auf.

Das Sumpfratten-Mädchen am Fenster knallt das Buch zu, stützt demonstrativ das Kinn in die Hand und starrt auf das geschwärzte Fenster, als wünschte es sich, es mittels Osmose zu durchdringen.

»Das reicht jetzt!«, brülle ich, aber es nützt nichts.

Plötzlich – keine Ahnung, wie das passiert ist – setzt Lil’Ray sich in Bewegung und walzt quer durch den Raum, geradewegs auf die Sumpfratten zu. Die Freaks verlassen das sinkende Schiff. Stuhlbeine scharren. Ein Tisch fällt um und landet mit einem ohrenbetäubenden Knall auf dem Fußboden.

Ich springe darüber hinweg, lande in der Mitte des Raums und schlitterte ein Stück über den gesprenkelten Industriefliesenboden, sodass ich unmittelbar vor Lil’Ray zum Stehen komme. »Ich habe gesagt, das reicht jetzt, junger Mann!« Die Stimme, die aus meinem Mund dringt, ist locker drei Oktaven tiefer als mein normales Organ und hat eine seltsam animalische Note. Es ist nicht ganz einfach, ernst genommen zu werden, wenn man gerade mal ein Meter sechzig groß und eher zart gebaut ist. Ich klinge wie Linda Blair in Der Exorzist. »Setz dich wieder hin, und zwar auf der Stelle.«

Lil’Rays Augen blitzen, seine Nasenlöcher blähen sich, seine Faust zuckt.

Zwei Dinge nehme ich gleichzeitig wahr. Im Klassenzimmer herrscht gespenstische Stille. Und Lil’Ray stinkt. Weder seine Klamotten noch er selbst haben in jüngster Vergangenheit Wasser und Seife gesehen.

»Setz dich hin, Mann«, sagt ein dürrer Junge mit einem hübschen Gesicht. »Spinnst du oder was? Coach Davis bringt dich um, wenn er das mitkriegt.«

Lil’Rays Wut fällt in sich zusammen wie ein Soufflé an der Luft. Seine Arme werden schlaff, seine Faust löst sich, und er reibt sich die Stirn. »Ich hab Hunger«, stöhnt er. »Mir geht’s gar nicht gut.« Einen Moment lang schwankt er gefährlich, sodass ich Angst kriege, er kippt gleich aus den Latschen.

»Setz dich hin.« Vorsichtshalber hebe ich die Hand, als wollte ich ihn auffangen. »Es sind noch … siebzehn Minuten bis zur Mittagspause.« Ich versuche, mich zu sammeln. Was soll ich jetzt tun? Kann ich so etwas durchgehen lassen? Oder muss ich ein Exempel an ihm statuieren? Ihm einen schriftlichen Verweis erteilen? Ihn zum Rektor schicken? Was für ein Strafpunktesystem gibt es hier überhaupt? Hat jemand den Lärm mitbekommen? Ich sehe zur Tür.

Die Kids nehmen meine Worte als Ausrede, um sich vom Acker zu machen. Sie schnappen ihre Rucksäcke und hasten unter Gerempel und Geschubse zur Tür, fallen halb über die umgekippten Stühle und Bänke. Einer hüpft sogar von Tischplatte zu Tischplatte.

Wenn sie jetzt abhauen, bin ich geliefert, denn: Keine unbeaufsichtigten Kinder während der Unterrichtszeit auf den Gängen. Punkt. Das war eine Regel, auf die ganz besonders gepocht wurde. Solange sie in deinem Klassenzimmer sind, bist du dafür verantwortlich, dass sie da auch bleiben.

Ich schließe mich der beginnenden Völkerwanderung an, allerdings bin ich näher an der Tür und zudem klein und wendig. Nur zweien gelingt die Flucht, ehe ich mich mit zur Seite ausgestreckten Armen vor der Tür postiere. Dies ist der Augenblick, in dem ich endgültig in Der Exorzist eingetaucht bin. Offenbar vollführt mein Kopf eine 360-Grad-Wendung, denn ich sehe zwei Jungs lachend und einander beglückwünschend den Gang hinunterstürmen, während ich zugleich mitbekomme, wie andere Schüler von hinten vor mir auflaufen. Lil’Ray ist ganz vorn, bewegt sich aber kaum. Immerhin macht er keine Anstalten, mich umzurennen.

»Ich sagte, hinsetzen. Los, zurück auf eure Plätze. Und zwar schnell. Wir haben immer noch …« Ich werfe einen Blick auf die Uhr. »Fünfzehn Minuten.« Fünfzehn? So lange kann ich diese wild gewordene Affenhorde keinesfalls in Schach halten.

Kein Geld der Welt wiegt all das hier auf, schon gar nicht das lächerliche Gehalt, das mir die hiesige Schulbehörde angeboten hat. Ich werde andere Mittel und Wege finden müssen, mein Studiendarlehen zurückzuzahlen.

»Ich hab aber Hunger«, mault Lil’Ray abermals.

»Zurück auf deinen Platz.«

»Aber ich hab Hunger.«

»Du solltest frühstücken, bevor du in die Schule gehst.«

»Nichts im E-Schrank.« Schweißperlen glänzen auf seiner kupferbraunen Stirn, und seine Augen sind seltsam glasig. Mir schwant, dass ich bald ein viel größeres Problem als die flüchtenden Schüler haben könnte. Vor mir steht ein sichtlich verzweifelter Fünfzehnjähriger, der von mir erwartet, dass ich die Sache regle.

»Los jetzt, zurück auf eure Plätze. Alle miteinander«, belle ich. »Stellt die Bänke wieder hin und setzt euch.«

Langsam löst sich die Menge hinter Lil’Ray auf. Sneakersohlen quietschen. Bänke poltern. Stuhlbeine scharren. Rucksäcke landen mit einem dumpfen Plumpsen auf dem Boden.

Aus dem Naturwissenschaftsraum gegenüber dringt Lärm. Auch dort erlebt eine neue Lehrerin ihren ersten Tag. Eine Basketballtrainerin, frisch vom College und gerade mal dreiundzwanzig, wenn ich mich recht entsinne. Immerhin bin ich ein paar Jahre älter, habe den Graduiertenstudiengang absolviert und meinen Master in Literatur in der Tasche.

»Von jedem, der nicht innerhalb von sechzig Sekunden wieder auf seinem Platz sitzt, kriege ich einen halbseitigen Aufsatz. Handgeschrieben. Mit Tinte. Auf Papier.« Das war der Standardsatz von Mrs. Hardy, meiner Mentorin, um ihre Schüler in die Schranken zu weisen, gewissermaßen die zivile Version von »Runter auf den Boden und zwanzig Liegestütze«. Die meisten Kinder würden alles tun, um nicht zu Stift und Papier greifen zu müssen.

Lil’Ray starrt mich ungläubig an, während seine Hamsterbäckchen heruntersacken. »Miz?« Das Wort ist kaum mehr als ein heiseres, unsicheres Krächzen.

»Miss Silva.« Schon jetzt kann ich dieses nichtssagende Miz nicht leiden, als wäre ich irgendeine Fremde, vielleicht verheiratet, vielleicht auch nicht, jedenfalls ohne Nachnamen, den man sich merken müsste. Dabei habe ich sehr wohl einen. Es mag der meines Vaters sein, noch dazu aufgrund unseres schwierigen Verhältnisses mit Ressentiments meinerseits verbunden, aber trotzdem …

Eine Pranke, groß wie die eines erwachsenen Mannes, hebt sich, greift ins Leere, ehe sie meinen Arm umklammert. »Miss … mir ist gar nicht …«

Ehe ich michs versehe, sackt Lil’Ray gegen den Türrahmen und reißt mich mit sich. Während ich alles daransetze, den Aufprall zu vermindern, schießen mir eine Million Gründe für seinen Schwächeanfall durch den Kopf: übermäßige Aufregung, Drogen, eine Krankheit, pures Theater …

»Was ist mit dir, Lil’Ray?« Keine Antwort. Ich wende mich um, der Klasse zu. »Ist er krank?«

Keine Antwort.

»Bist du krank?« Wir sind Nase an Nase.

»Ich hab … Hunger.«

»Hast du Medikamente dabei, die du einnehmen musst? Hat die Schulschwester dir etwas mitgegeben?« Gibt es hier so etwas überhaupt? »Warst du beim Arzt?«

»Ich … nein, ich kriege bloß Hunger.«

»Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?«

»Gestern. Mittagessen.«

»Wieso hast du nichts gefrühstückt?«

»Nichts im E-Schrank.«

»Und wieso hast du gestern nicht zu Abend gegessen?«

Tiefe Furchen graben sich in seine schweißnasse Stirn. Er blinzelt. Blinzelt noch einmal. »Nichts im E-Schrank.«

Mein Verstand knallt mit voller Wucht gegen die Betonwand der Realität, so schnell, dass mir noch nicht einmal Zeit bleibt, in die Eisen zu steigen und den Aufprall abzumildern. E-Schrank?

Eisschrank.

Der Kühlschrank bei ihm zu Hause war leer.

Bei dem Gedanken wird mir ganz elend.

Hinter mir wird es wieder laut. Ein Stift fliegt durch die Luft und knallt gegen die Wand, gefolgt von einem lauten Scheppern, als etwas gegen den Aktenschrank neben meinem Pult fliegt.

Ich ziehe die halb leere Tüte M&Ms, die noch von meinem Pausensnack übrig sind, aus der Tasche und drücke sie Lil’Ray in die Hand. »Hier, iss die solange.«

Ich stehe gerade rechtzeitig auf, um ein rotes Plastiklineal durch die halb geöffnete Tür schnellen zu sehen.

»Das war’s jetzt!« Diesen Satz habe ich heute bestimmt schon zwei Dutzend Mal gesagt, aber offenbar nicht so richtig ernst gemeint, weil ich immer noch hier bin, in diesem dantesken Höllenkreis. Dabei versuche ich doch bloß, Tag eins irgendwie zu überleben. Aus irgendeinem Grund – aus purem Trotz oder dem Drang, irgendetwas zu tun – sammle ich die herumliegenden Ausgaben von Farm der Tiere ein und knalle sie auf die Schulbänke.

»Und was sollen wir mit denen anfangen?«, ertönt eine nölige Stimme aus dem rechten Teil des Klassenzimmers.

»Aufschlagen. Lesen. Ein Blatt Papier nehmen. In einem Satz aufschreiben, worum es eurer Meinung nach in dem Buch geht.«

»Noch acht Minuten, bis es läutet«, sagt ein Punkrockermädchen mit einem blauen Irokesen.

»Dann gebt Gas.«

»Haben Sie ’nen Knall?«

»Das ist aber zu kurz.«

»Das ist nicht fair.«

»Ich schreib einen Scheißdreck.«