Die Glocke von Marbach. Antonio Ligabue - Renato Martinoni - E-Book

Die Glocke von Marbach. Antonio Ligabue E-Book

Renato Martinoni

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Beschreibung

Der kleine Antonio spricht kaum. Wenn, dann flucht er. Er sieht seltsam aus mit seinem unförmigen Kopf auf dem krumm wachsenden Körper. Die anderen Kinder lachen ihn aus, nennen ihn «Tschingg». Dabei spricht der Junge, der den Namen eines ihm unbekannten Stiefvaters trägt, kein Wort Italienisch. Zuflucht findet Antonio bei den Kaninchen, in den bunten Bildern mit exotischen Tieren auf den Lebensmittelverpackungen und bald auch in der Malerei. Renato Martinoni geht von historischen Dokumenten und den künstlerischen Werken Antonio Ligabues (1899–1965) aus, um die Geschichte der ersten zwanzig Lebensjahre des «italienischen van Gogh» in der Schweiz zu erzählen. So verschmelzen bittere Realität und geheimnisvolle Magie zu einem Roman, der dem Weg von Antonios Mutter aus den dolomitischen Tälern in die Ostschweiz folgt, wo ihr Sohn, bei allen als «der Verrückte» bekannt, zwischen einer Pflegefamilie, einer Erziehungsanstalt und der psychiatrischen Klinik aufwächst, bis er mit zwanzig Jahren nach Italien ausgewiesen wird. Dabei werden die Erinnerungen an die Landschaften der Ostschweiz, ihre Farben und Stimmungen und der sehnsuchtsvolle Klang der Glocken lebendig – wie in den Bildern Ligabues.

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Seitenzahl: 474

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

ERSTER TEIL

Zürich (1899)

Frauenfeld (1900)

Amriswil (1901)

Egnach (1904)

Hagenbuchwald (1904)

Tablat (1907)

St.Gallen (1908)

Sie nennen mich Antonio

ZWEITER TEIL

Veltheim (1902)

Walensee (1902)

Sargans (1904)

Walenstadt (1906)

Werdenberg (1909)

DRITTER TEIL

Villagrande (1877)

Neumarkt (1888)

Roveré della Luna (1892)

Martincelli (1898)

San Michele all’Adige (1898)

Cencenighe (1899)

Monte Pelsa (1899)

Es ist ein Geheimnis

Nave San Rocco (1899)

Rheintal (1899)

VIERTER TEIL

Tablat (1910)

Heerbrugg (1910)

Buchwald (1911)

Tablat (1912)

Widnau (1913)

Tablat (1913)

Rheintal (1913)

Marbach (1913)

Oberfeld (1913)

Gäbris (1913)

Vor einiger Zeit habe ich ein Bild gemalt

St.Gallen (1913)

Tablat (1914)

Marbach (1914)

Oberfeld (1914)

Marbach (1915)

FÜNFTER TEIL

Häggenschwil (1915)

Wer ist jener Mann?

Thal (1916)

Pfäfers (1917)

St.Pirminsberg (1917)

Gesichter wie meines flößen Angst ein

Romanshorn (1917)

Urnäsch (1919)

Herisau (1919)

Como (1919)

ANHANG

Anmerkung des Autors

Glossar

Lieder und Sprichwörter

Impressum

Seitenliste

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Titel

Inhalt

Zürich (1899)

Der kleine Antonio spricht kaum. Wenn, dann flucht er. Er sieht seltsam aus mit seinem unförmigen Kopf auf dem krumm wachsenden Körper. Die anderen Kinder lachen ihn aus, nennen ihn «Tschingg». Dabei spricht der Junge, der den Namen eines ihm unbekannten Stiefvaters trägt, kein Wort Italienisch. Zuflucht findet Antonio bei den Kaninchen, in den bunten Bildern mit exo tischen Tieren auf den Lebensmittelverpackungen und bald auch in der Malerei.

Renato Martinoni geht von histo rischen Dokumenten und den künstlerischen Werken Antonio Ligabues (1899– 1965) aus, um die Geschichte der ersten zwanzig Lebens­ jahre des «italienischen van Gogh» in der Schweiz zu erzählen. So verschmelzen bittere Realität und geheimnis­ volle Magie zu einem Roman, der dem Weg von Antonios Mutter aus den dolomitischen Tälern in die Ostschweiz folgt, wo ihr Sohn, bei allen als «der Verrückte» bekannt, zwischen einer Pflegefamilie, einer Erziehungsanstalt und der psychiatrischen Klinik aufwächst, bis er mit zwanzig Jahren nach Italien ausgewie sen wird. Dabei werden die Erinne rungen an die Landschaften der Ostschweiz, ihre Farben und Stimmungen und der sehnsuchtsvolle Klang der Glocken lebendig – wie in den Bildern Ligabues.

Foto Paolo Di Falco

Renato Martinoni, geboren 1952 in Muralto, emeritierter Professor für italienische Sprache und Literatur an der Uni­versität St.Gallen, hat neben zahlreichen literaturwissen­schaftlichen Publikationen auch belletristische Werke ver­öffentlicht. Renato Martinoni lebt in Minusio.

Foto Lautenschlager GmbH

Die Übersetzerin Diana Bischoferger, geboren 1966 in Zü­rich, wuchs zweisprachig in Appenzell auf und studierte Phil. i in Fribourg. Heute unterrichtet sie Sprachen (Italie­nisch, Englisch, Latein) an der Oberstufe Flade St. Gallen und engagiert sich im Verein Società Dante Alighieri St. Gal­len. Sie lebt in Niederteufen.

Renato Martinoni

Die Glocke von MarbachAntonio Ligabue

Roman

Aus dem Italienischen von Diana Bischofberger

Limmat VerlagZürich

Manchmal summte er vor sich hin und ahmtedas Läuten der Glocken nach, das er inseinen Kindheitserinnerungen mit sich trug.

Antonio Ligabues Fahrer

Was ich denke, Glocken rufens, Wagen knarrens,Hunde bellens, Vögel singens.

Eugen Bleuler, Dementia praecox oder

Gruppe der Schizophrenien

And if you hear as the warm night fallsThe silver sound from a time so strange.

Pink Floyd, Fat Old Sun

Für Celeste,und für seine hellblauen Augen,wie die Himmel von Ligabue

ERSTER TEIL

Zürich (1899)

Frauenfeld (1900)

Amriswil (1901)

Egnach (1904)

Hagenbuchwald (1904)

Tablat (1907)

St.Gallen (1908)

Sie nennen mich Antonio

ZWEITER TEIL

Veltheim (1902)

Walensee (1902)

Sargans (1904)

Walenstadt (1906)

Werdenberg (1909)

DRITTER TEIL

Villagrande (1877)

Neumarkt (1888)

Roveré della Luna (1892)

Martincelli (1898)

San Michele all’Adige (1898)

Cencenighe (1899)

Monte Pelsa (1899)

Es ist ein Geheimnis

Nave San Rocco (1899)

Rheintal (1899)

VIERTER TEIL

Tablat (1910)

Heerbrugg (1910)

Buchwald (1911)

Tablat (1912)

Widnau (1913)

Tablat (1913)

Rheintal (1913)

Marbach (1913)

Oberfeld (1913)

Gäbris (1913)

Vor einiger Zeit habe ich ein Bild gemalt

St.Gallen (1913)

Tablat (1914)

Marbach (1914)

Oberfeld (1914)

Marbach (1915)

FÜNFTER TEIL

Häggenschwil (1915)

Wer ist jener Mann?

Thal (1916)

Pfäfers (1917)

St.Pirminsberg (1917)

Gesichter wie meines flößen Angst ein

Romanshorn (1917)

Urnäsch (1919)

Herisau (1919)

Como (1919)

ANHANG

Anmerkung des Autors

Glossar

Lieder und Sprichwörter

ERSTER TEIL

Zürich(1899)

Antonio Ligabue. Oder besser gesagt: Antonio Laccabue, wie wir ihn nennen werden, denn dies ist sein richtiger Name, und Namen sind heilig, wird am 18. Dezember 1899 in Zürich geboren. Es ist Montag und die Stadt atmet Weihnachtsluft. In den Schaufenstern der Bahnhofstraße. Entlang der Ufer der Limmat. Auf dem Hügel von Fluntern, in Villen und Gärten. In den verrufenen Gassen des Niederdorfs. Im Stadtkreis Außersihl, jenem der Gastarbeiter, der italienischen, deutschen, österreichischen und polnischen Immigranten, wo der Gestank von frittiertem Essen und von Schweiß unerträglich ist. Überall liegt Weihnachtsstimmung in der Luft. In den Häusern der Reichen und in den armseligen Unterkünften.

Es ist spätnachts und Schnee fällt auf die Fensterbank. Maria Elisabetta Costa hält ihren neugeborenen Antonio im Arm, mit einem Kloß im Hals und einem bitteren Geschmack auf der Zunge. Sie ist eine italienische Auswanderin. Eine von vielen, die ihre Heimat mit einem Wunsch im Herzen und einem Traum im Geist verlassen haben. Ihr Wunsch ist es, sich aus den Fesseln der Familie zu lösen. Und ihr Traum, genug zu sparen, um das Leben selbst in die Hand nehmen zu können, was auch immer kommen möge. Maria Elisabetta hatte die Beata Vergine della Salute in der Kirche von Caviola darum gebeten. Dann war sie auf den Kirchhof hinausgegangen, um im Licht des Sonnenuntergangs die rosafarbenen Gipfel der Dolomiten, die braunen, vom Wind gestreichelten Wälder, die tiefgrünen Almen und die gelben und violetten Blumenfelder zu grüßen. Manchmal geschieht, was nicht geschehen darf. So hatte sie beschlossen, wegzugehen. Zunächst aus Verwirrung. Dann aus Scham. Und schließlich aus Angst.

«Schlafen Sie jetzt!», befiehlt die Krankenschwester. «Wie kann man schlafen», denkt die junge Mutter, «wenn man an das Geschehene denkt, wie ausruhen, wenn man sich die Zukunft vorstellt?» Bald wird das Jesuskind wieder geboren. Auch im Biois-Tal, auf den Bergen, in der nach Harz duftenden Wärme der Häuser und in den kalten, rauchigen Höhlen, in die sich die Hirten manchmal nachts zurückziehen. Dort oben ist die Welt seit Jahrtausenden stehen geblieben. Als ob alles, vielleicht durch den Willen Gottes oder durch die Bosheit eines hinterlistigen Wesens, vielleicht des Matharól, plötzlich zum Stillstand gekommen wäre. Die Dorfbewohner werden das Kind in der geschnitzten Holzkrippe neben dem Altar von Sant’Antone besuchen. Sie werden alte, frohe oder von Trauer erfüllte Lieder singen. In der Weihnachtsnacht dann, wenn sie nach Hause zurückkehren, werden sie vor der Nachtruhe in Sahne gekochte Polenta essen.

Martino Soppelsa wird in seinem Heuschuppen, der tabià, am Feuer schlafen, während draußen in der Lichtung das Buchenholz unter dem feuchten Mantel der Erde glimmt. Er wird die Schaufel fassen und ein Kreuzzeichen in die Erde machen. Dann wird er eine Lunte anzünden, das Feuer freilegen und feststellen, dass der Holzhaufen zu Kohle verbrannt ist. Oder vielleicht ist Martino ins Dorf hinabgestiegen. Auch für ihn ist es Weihnachten. Jemand wird gehört haben, wie er mit seinen scarpe da fèr, den beschlagenen Schuhen, die steinigen Wege des Monte Pelsa heruntergestiegen ist. «Es ist der Sohn der Witwe.» – «Der carbonèr kommt. Der Köhler.»

«Ob Martino wohl bereits im Dorf unten angekommen ist?»

«Der carbonèr.»

Draußen fällt dichter Schnee. Maria Elisabetta möchte ihren schlafenden Sohn streicheln. Doch eine geheimnisvolle Hand hält sie zurück. Tausend Gedanken gehen ihr durch den Kopf. Er ist armseliger als das Jesuskind. Wird sie ihn lieben können? Und wird sie eine gute oder eine schlechte Mutter sein? Sie sorgt für sich selbst und arbeitet in einer Fabrik. Aber sie hat keine eigene Familie. Und noch schlimmer ist, dass sie die Zügel ihres Schicksals nicht mehr in eigenen Händen hält. Wer weiß, ob die Madonna della Salute ihr helfen wird? Sie ist achtundzwanzig Jahre alt. Und sie ist nicht verheiratet. Sie werden das Neugeborene unter ihrem Namen registrieren. Der Sachbearbeiter des Einwohneramtes wird, ohne ihr ins Gesicht zu schauen, schreiben: «Am achtzehnten Dezember des Jahres eintausendachthundertneunundneunzig, um einundzwanzig Uhr vierzig, wurde in Zürich Costa Antonio geboren, Sohn der Costa Elisabetta, italienische Staatsangehörige, Bürgerin von Vallada Agordina (Belluno), wohnhaft in Frauenfeld (Kanton Thurgau), Tochter des Costa Matteo und der Maria geborene Bogo.» Costa Antonio von Costa Elisabetta. Den Namen des Vaters kennt man nicht. Eines richtigen Vaters, der ihn an die Hand nimmt, ihm den Weg zeigt und ihm hilft, erwachsen zu werden, ins Leben zu treten. «Es gibt keinen Vater und es wird auch nie einen geben», denkt die junge Auswanderin und fühlt sich sehr einsam.

Maria Elisabetta trägt neben dem Namen ihrer Großmutter auch die Namen von zwei Müttern, jener von Jesus und jener des Täufers. Sie lebt im Nordosten der Schweiz. «Jenseits des Sees», erzählen ihre Arbeitskolleginnen, «liegt links Deutschland und rechts Österreich.» – «Eines Sonntags werden wir mit dem Boot hinausfahren.» – «Geranien blühen auf den Fensterbänken in Meersburg.» – «Es gibt dort viele hübsche Burschen.» – «Wie groß doch die Welt ist!», denkt die junge Frau. «Früher glaubte ich, die Welt und meine Heimat seien ein und dasselbe. Stattdessen ist das Biois-Tal vom San-Pellegrino-Pass bis nach Agordo nur so klein wie ein Taschentuch!» Eigentlich gibt es auch in Frauenfeld, dem Hauptort des Kantons Thurgau, ein Spital. Warum begibt sich Maria Elisabetta zur Entbindung in die etwa fünfzig Kilometer entfernte Frauenklinik in einem anderen Kanton? In der Frauenklinik in Zürich werden Wöchnerinnen, auch ausländische Frauen, sogar arme Frauen wie sie, die ihre Ersparnisse unter die Matratze legen, mit Diskretion aufgenommen. «Ich werde es verstecken», denkt Maria Elisabetta. «Ich wollte dieses Kind nicht.»

Lange weint sie still im bescheidenen Zimmer, das sie mit anderen Auswanderinnen teilt. Wie oft flüstert sie vor dem Foto ihrer Eltern: «Mariavèrgine! Jungfraumaria! Was wird aus mir werden?» – «Ich habe keine Wünsche und auch keine Träume mehr.» – «Was werden sie in Villagrande sagen?» – «Dass ich eine Hure bin!» Die beiden Augen von Maria Bogo schauen sie lieblos an. Es war immer die Mutter, die im Leben litt. Matteo, der Vater, zeigte keine Gefühle. Elisabetta hat sich entschieden. Wenn sie nach Cencenighe zurückkehrt, wird Antonio einer Hirtenfamilie anvertraut. Vielleicht in Zoldo. Oder im hohen Cadore. Oder in einem noch weiter abgelegenen Tal der Dolomiten. Er wird verschwinden müssen. Für immer. Im Haushalt der Costas darf es keine Schande geben. Sein Leben wird dasjenige eines Dieners sein. Maria Elisabetta wird als ciòda, weggehen. Als Saisonarbeiterin. Aber nicht im Trentino. Fort von zu Hause, unter Männern, würde sie wieder in Schwierigkeiten geraten. «Sie ist so arglos!», hatten die Frauen des Dorfes gesagt. Sie werden sie nach Belluno schicken. Der Pfarrer von Cencenighe, Pater Battista De Martin, wird einen Platz im Kloster Santi Gervasio e Protasio für sie finden. Die Küche, der Gemüsegarten und eine Zelle werden ihr Zuhause sein. Bis sie stirbt. Bald wird die Erinnerung an Antonio ausgelöscht sein. Maria Elisabetta denkt entschlossen: «Ich werde nicht dorthin zurückkehren, wo ich geboren wurde.» Doch dann fragt sie sich: «Was geschieht mit ihm, wenn ich hier in der Fremde bleibe?» – «Wer kann sich um ihn kümmern, während ich in der Fabrik arbeite?» – «Jetzt muss ich zwei Münder stopfen.»

Die junge Mutter kennt die Geschichte der heiligen Elisabeth, der unfruchtbaren Frau, die in hohem Alter ein Kind empfing, und jene ihres Mannes, des Priesters Zacharias, der seine Stimme verlor, weil er den Worten eines Engels nicht geglaubt hatte. Er erlangte sie wieder, als Aarons Tochter den Täufer gebar. «Keine Nachkommen zu haben, ist eine Unehre», pflegt Elisabeth im Evangelium zu sagen. «Aber Nachkommen zu haben, ohne verheiratet zu sein, ist eine noch größere Schande», denkt Elisabetta in unserer Geschichte. Auch sie spürte ihren Sohn im Schoß hüpfen wie jene Heilige, als Maria, die Mutter Jesu, sie in ihrem Haus in den Bergen besuchte. Aber Elisabettas Sohn regte sich jeweils versteckt unter der Schürze, wenn sie in der Fabrik die Spulen aus der Maschine entfernte. Auch sonntags, wenn sie in Frauenfeld im Innenhof ihre Wäsche machte, bewegte er sich, und sie träumte von einer Reise nach Meersburg, um die Schweiz von Deutschland aus zu sehen und vielleicht einem hübschen jungen Burschen zu begegnen.

Wenn auch der Name derselbe ist, so ist doch alles Übrige verschieden von dem, was das Evangelium erzählt. Maria Elisabetta Costa erkennt dies, während sie den Schneefall des anbrechenden Tages beobachtet. Während der Nachwehen erinnert sie sich, dass in Cencenighe die Kinder zwischen August und September geboren werden. Die Auswanderer kehren an Weihnachten zurück. Sie nehmen ihre Frauen wieder in die Arme und «erkennen» sie, wie es in der Bibel heißt. Was soll man an den langen Abenden bei Schneetreiben, Frost und Nordwind anderes tun, als gemeinsam abends in der Wärme der Ställe zum filò zusammenzukommen, alten Geschichten zu lauschen oder den Rosenkranz zu beten? Oder die Nusskörbe in der stua, der Stube, wieder auszubessern? Oder Holzschuhe, sogenannte galòze, aus dem Holz zu schnitzen? Oder ins Bett zu gehen, um sich aufzuwärmen? Wer an Weihnachten geboren wird, kann nur der Sohn einer Schandtat sein. Er ist zu Beginn des Frühlings gezeugt worden, wenn doch alle Ehemänner und Brüder bereits abgereist waren. Dies alles geht Maria Elisabetta durch den Kopf. Zudem ist Antonio weit weg von zu Hause zur Welt gekommen. Weit entfernt von der Krippe, die nach Harz und Moos duftet. Entfernt von dem bald sanften, bald bedrohlichen Tosen des Wildbachs Biois. Und ohne einen Vater, der ihn in die Arme nehmen würde. «Wie ein verstoßener Hund auf der Straße.»

Von irgendwoher unten am See kündet ein Glockengeläut den Tagesanbruch an. Die durch den Schnee gedämpften Glockenschläge ertönen und verstummen. Damals, zur Zeit der Novene, als die Menschen an neun aufeinanderfolgenden Tagen ein Gebet verrichteten, riefen die Glocken der Kirche Sant’Antone eine seltsame Wehmut hervor. Nun aber ist die junge Mutter müde und entmutigt. Die Stadt wacht unter einer kalten Decke auf. Wer weiß, ob auch die Dächer in Cencenighe weiß sind? Wo ist Matteo Costa und stapft mit seinen galòze durch den eisigen Schnee? Wehklagt Maria Bogo, seine Frau, in der stua ihrer Schwester in Forno di Canale? Liegt eine Chrysantheme auf Nonna Giovannas Grab? Und steigt Martino Soppelsa bereits wieder hinauf in die Wälder, um Kohlenvorräte anzulegen?

Viele Fragen gehen der jungen Frau durch den Kopf. «Ich will vergessen», denkt sie. Neben ihr atmet kaum hörbar der kleine Antonio. Möchte er dieses Tal der Tränen verlassen, bevor er seine Augen öffnet und es in seiner ganzen Hässlichkeit sieht? Schließlich überwältigt der Schlaf Maria Elisabetta. So wie immer. Ohne sie zu warnen. Weiche Flocken fallen. In ihrer Erinnerung erklingt von weit her das Lied einer Reisegefährtin, während am Horizont der Bodensee erste Lichtstrahlen widerspiegelt: «E l’eva l’alba e scomenza a s’ciarire/E le campane se sente a sonare/Togo partenza e no vòi pu cantar» – «Und es erhebt sich der Tag und es beginnt hell zu werden/Und man hört die Glocken läuten/Ich aber reise ab und mag nicht mehr singen.»

Frauenfeld(1900)

Maria Elisabetta Costa wurde am 5. November 1871 in Vila, genauer gesagt in Villagrande, dem alten Kern von Cencenighe, in der Provinz Belluno geboren. Sie wohnt in Frauenfeld, wo sie in einer Fabrik arbeitet. Sie verdient zwei Franken zwanzig pro Tag und legt jeden Monat sechzehn beiseite. Sie musste sich immer um Haus, Hühnerstall und Gemüsegarten kümmern. In ihrer Heimat sagt man: «A chi non ama le fatiche il terreno regala le ortiche» – «Wer die Mühen scheut, dem beschert der Acker Brennnesseln.» Zweimal am Tag ging sie mit dem Eimer zur Quelle in Veronetta, wo das reinste Wasser des Dorfes fließt. Wenn sie im Winter in der holzverkleideten stua im Bett neben der Nonna Giovanna Carli schlief, lauschte sie deren rasselnden Atemgeräuschen. Im Sommer stieg sie allein zur Alp Ai Lach oberhalb von Falcade hoch, um Salz dorthin zu bringen und Ricotta mitzunehmen. Von dort oben, wo sich die Gipfel der Dolomiten mit Morgenglanz schmücken, folgte sie mit ihren Augen dem Verlauf des Biois.

«Eines Tages werde ich fortgehen», sagte sie sich oft und spürte dabei ein Schaudern, während im Talboden die Glocken der Kirche San Simon zum Angelus läuteten. «Ich will ein anderes Leben.» – «Ein besseres Dasein.» – «Eine Zukunft ganz für mich.» Und während sich die Berggipfel im Widerschein des Sonnenuntergangs rosa färbten, fühlte sie beim Hinuntersteigen etwas Seltsames: einerseits Wärme, aber auch Schmerz. «Eines Tages werde ich fortgehen», wiederholte sie oft. Dann begann sie zu rennen, denn wenn es dunkel wird, verlassen die Hexen ihre Verstecke. Jeden Frühling säte sie Gerste. Im August erntete sie. Im Herbst dreschte und röstete sie die Gerste mit der bala, einer Röstkugel für Kaffee und Getreide, auf dem Feuer. Schließlich brachte sie die Gerste zur Mühle, um daraus Pulver für «Kaffee» mahlen zu lassen.

Matteo Costa hatte recht. Er kannte sich aus, denn er hatte schon unzählige Berufe ausgeübt: Maurer, taiapiére, Grubenarbeiter, Holzfäller. Er sagte gerne: «Wer als Glückspilz geboren wird, dem regnet es auf den Hintern, auch wenn er sitzt.» – «Die anderen benetzt es nicht einmal, wenn sie den Hintern hochstrecken.» Er war nicht zu Hause, als Maria Elisabetta geboren wurde. Die Hebamme, Antonia Fontanive, setzte die Mutter auf einen Handwagen und brachte sie nach Vila, um bei der Großmutter zu gebären. Als persönliches Zeichen setzte der taiapiére einen aus Gestein von Mesaròz gehauenen Brunnen vor das Haus. «Warum beschließt man überhaupt, auszuwandern», wiederholte Matteo immer wieder, «wenn nicht, um ein wenig Freiheit zu erlangen und Kleingeld zu sparen?» – «Wenn man alt genug ist, gründet man eine Familie», schloss er.

In den Frauenfelder Archiven finden sich keine Spuren von Maria Elisabetta. Man benötigte keinen Reisepass, wenn man als Gruppe zusammen mit dem Patron der Fabrik reiste. Viele Saisonarbeiter aus den Dolomiten, die den San-Pellegrino-Pass überquert hatten und der Etsch aufwärts folgend durch das österreichisch-ungarische Kaiserreich reisten, erreichten die Schweiz, um zu arbeiten. Menschen, die ihre Wurzeln verloren hatten. An einem Tag hier und am nächsten Tag dort. «Albero che no gh’ha raìse mor presto …» – «Ein Baum ohne Wurzeln stirbt schnell …» Aus den Dokumenten geht jedoch hervor, dass die Tochter von Matteo Costa, Maurer, und von Maria Bogo, Bäuerin, während zehn langen Jahren als ciòda, im Trentino gearbeitet hatte, vielleicht nach der Geburt von Antonio ihren Beruf aufgeben musste und seit dem Sommer 1900 in Amriswil lebt, einem Dorf nördlich von Frauenfeld. Am 20. August, erst acht Monate nach der Entbindung, wird die Geburt des «unehelichen Kindes» auch in der Gemeinde Vallada registriert. Jetzt ist das Geheimnis bekannt, und die Schande der Familie Costa ist in aller Munde.

Mit wem lebt Maria Elisabetta zusammen? Und ist Antonio noch bei ihr? Oder kümmert sich tagsüber, während sie arbeitet, jemand anders um ihn? Die Frau eines Auswanderers? Die Kinderkrippe der Fabrik? Oder haben sie ihn, eine Weisung erwartend, bereits irgendwo untergebracht? Bei einer Amme? Bei den Nonnen? In einem Erziehungsheim? Was kann denn eine alleinerziehende, ganz auf sich selbst gestellte Mutter tun? Eine «sittenlose Frau», wie man sie in einem solchen Fall nennt. Oder, offen gesagt, eine «Hure». Viele Sorgen lasten seit der Rückkehr aus der Frauenklinik auf ihren Schultern. Nun ist Maria Elisabetta Costa verpflichtet, sich um die Kreatur zu kümmern, die sie zur Welt gebracht hat. Sie wird ihren Sohn nicht für lange Zeit in andere Arme übergeben können. Und vor allem weiß sie, dass sie den Zorn ihres Vaters fürchten muss. Wenn die Saisonarbeit zu Ende geht, ist es an der Zeit, ins Bellunese heimzukehren, falls sie überhaupt je zurückkehren wird. Und dann wird Matteo Costa schon an alles gedacht haben: Er wird die Hure als Dienstmagd in das Kloster der Benediktinerinnen wegschicken. Den Bastard wird er einer Familie im Cadore-Tal überlassen.

Tatsächlich hat die Fabrikarbeiterin einen Mann. Er heißt Bonfiglio Antonio Domenico Laccabue und wurde 1867 in Pieve Saliceto geboren, einem Ortsteil von Gualtieri in der Provinz Reggio Emilia. Er ist demnach zweiunddreißig Jahre alt, als der kleine Antonio zur Welt kommt, und wohnt in Horgenbach, einem Stadtteil von Frauenfeld. Dort begegnete er der vier Jahre jüngeren Maria Elisabetta Costa. Unter der weißen Schürze mit den roten Streifen, ihrer Arbeiterinnenkleidung, könnte ein aufmerksames Auge bereits eine gewisse Wölbung erkennen …

Trotz seines Namens ist Bonfiglio, der «anständige Sohn», bei weitem kein Heiliger. Im Gegenteil, er ist ein Tunichtgut. Bevor er auf die Baustelle geht, unterlässt er es nie, einen Kafi Träsch mit viel Schnaps zu trinken. Nach der Arbeit kehrt er im Wirtshaus ein, um sauren Most und Bier zu zechen. Wenn er zu tief ins Glas geschaut hat, wird er geschwätzig. Dann beginnt er mit seiner rauen Stimme zu singen. Immer das gleiche Lied: «Si sente una tromba suonar/sono gli scariolanti lerì lerà/che vanno a lavorar» – «Man hört eine Trompete spielen/Es sind die Schubkarrenfahrer lerì lerà/die zur Arbeit gehen.» Bis ihm die Tränen in die Augen steigen. Schließlich wird er immer lauter gegenüber den anderen Italienern, die man überall «Tschingg» nennt, denn wenn sie das Fingerspiel Morra spielen, rufen sie immer «Tschingg». Und in abgehackten deutschen Wortbrocken legt er sich auch mit den Schweizern an. Zu seinen Landsleuten sagt er: «Italien ist besser als dieser verfluchte Ort.» Den Einheimischen gegenüber beteuert er: «In meinem Land sind alle arm, abgesehen von einigen wenigen, die fett sind wie Schweine.» – «Aber da gibt es diese Herzlichkeit unter den Menschen, eine Großzügigkeit, von der ihr nicht einmal träumen könnt!»

Er ist beileibe kein Heiliger, trotz des Namens, den er trägt: Bonfiglio Laccabue. Heilige, wenn es sie gibt, leben im Paradies, wenn dieses denn existiert. Die Menschen auf der Erde hingegen tragen alle ihre Bürde. In der Tat stellt Maria Elisabetta im Dezember 1900 fest, dass sie erneut schwanger ist. Antonio ist inzwischen ein Jahr alt. Dieses Mal kann sie es sich nicht erlauben, ein weiteres Kind ohne Heirat zu gebären. Schlimmer als eine «sittenlose Frau»! Schlimmer als eine Dirne! Schlimmer als die Küche, der Garten und die Zelle des Klosters Santi Gervasio e Protasio in Belluno! Der Zorn von Matteo Costa und die Tränen von Maria Bogo würden sich in ewigen Hass verwandeln. Und die Tür des Hauses in Vila, die bereits zu drei Vierteln zugeschoben ist, würde für immer verschlossen bleiben. Verriegelt wären auch die Tore der Fabrik. «Was kann ich tun?», fragt sich die junge Mutter verzweifelt, während sich das erste Jahr des neuen Jahrhunderts dem Ende zuneigt. Was kümmert es sie, wenn es wieder Konflikte gibt? Oder wenn der Materialismus nicht durch eine Sehnsucht nach Spiritualität aufgehoben wird? Was sollen die Revolutionen, von denen die Sozialisten träumen? Und die Höhenflüge der Idealisten? Und die Kriege, die diejenigen wollen, die Waffen und Kanonen herstellen? Die Menschen im Elend, weiß man, müssen sich mit anderen Fragen auseinandersetzen …

Plötzlich sieht Maria Elisabetta das Zimmer der Zürcher Klinik und den Schnee, der auf die Fensterbank fällt, wieder vor sich. Nochmals hört sie die Worte der Krankenschwester: «Schlafen Sie jetzt!» – «Wie kann man schlafen?» Wenn bereits Antonio ein Hindernis ist, auch weil sie nicht weiß, wie sie ihn ernähren soll, so ist das Kind, das sie in ihrem Leib trägt, eine gnadenlose Verurteilung. Niemand wird je wieder Erbarmen mit ihr haben. «Ich kann nur noch zwei Dinge tun», denkt sie entsetzt, «Bonfiglio Laccabue, der mich geschwängert hat, zum Ehemann nehmen und ihn davon überzeugen, Antonio zu legitimieren.» – «Wenn er nicht einwilligt, muss ich Antonio weggeben.» – «Mariavèrgine!», flüstert sie. Wo sind die Träume geblieben, die sie der Madonna della Salute in der Kirche von Caviola anvertraut hat? In Momenten der Entmutigung muss Maria Elisabetta an ihre Heimat denken. Es gibt keinen Abend, an dem sie nicht im Stillen weint. Mühsam ist die Arbeit für eine Frau, die gerade erst ein Kind geboren hat und bereits ein weiteres im Schoß trägt. Bonfiglio kommt nach Hause, wenn die Suppe kalt ist. Entweder redet er zu viel oder er sagt gar nichts. Antonio ist verwahrlost. Er ist blass, dünn und erschreckend schwach. Wer weiß, ob der Herr in seiner unendlichen Güte nicht kommen und ihn mitnehmen wird. Um ihn aus einem Leben wegzuholen, das nur Leiden verspricht.

«Nimm ihn mit, Mariavèrgine!»

Um die Gegenwart zu verdrängen, denkt Maria Elisabetta immer wieder an die schönen Dinge, wenn sie allein ist und einen weiteren kleinen Körper in ihrem Bauch hüpfen fühlt. Und, um sich zu trösten, auch an die schlimmen Dinge, die sie in Cencenighe erlebt hat. Wie in einem Traum sieht sie die Gipfel, die ihre Kindheit umrahmten: den Monte delle Anime, den Spiz de Mezodì, den Sanson, den Monte Pelsa. Sie hört die Schreie und aufgeregten Rufe der menadàs, der Flößer, die bei Hochwasser das Holz aus den Wäldern entlang des Cordevole und des Biois zu den Sägewerken hinunter in die Ebene und zu den Eisenminen in Agordo bringen. Sie erinnert sich an die brentana, die große Überschwemmung, die nach tagelangem Regen und begleitet von Schreien und Weinen mehrere Häuser, viele Ställe, Tiere, alte Menschen und Kinder mit sich riss. Wo war damals Sant’Antone, der Schutzpatron der Menschen und Tiere? Wo war seine Güte? Warum hatte er die Hexen nicht daran gehindert, den Sturm anzuzetteln? Jemand hatte in einem Hagelkorn ein Haar bemerkt … Sie erinnert sich an die Freuden am Flackern der pavarùi. Die Scheiterhaufen wurden bei Dämmerung am Vorabend des Dreikönigstages entzündet, in der Hoffnung auf eine reiche Ernte. Sie denkt an den Genuss des rauchigen Geschmacks der gnocch con la puìna. Sie stellt sich das Getümmel auf den kleinen Plätzen und in den Gasthäusern von Cencenighe vor, am Sonntagmorgen nach der Messe und besonders im Winter. Diese waren immer von Auswanderern, Bauern, Hirten, taiapiére und menadàs bevölkert. Von alten Grubenarbeitern, die wegen des Quecksilbers, das sie in den Stollen einatmeten, das Licht der Vernunft verloren hatten. Und auch von Köhlern, zumindest wenn sie von den Bergen herunterkamen. Ganz schwarz vor Ruß und nach Wald riechend. Wie Martino Soppelsa.

«Nimm ihn mit, Mariavèrgine!»

Amriswil(1901)

Amriswil ist ein kleines Dorf, hat einen Kirchturm mit hohem, schlankem und spitzem Dach (die Kirchtürme in der Nordostschweiz sehen alle gleich aus), eine kahle und helle Kirche, einen Rathausplatz, bescheidene und gepflegte Häuser, einen Bahnhof, einen kleinen, von Schilf umgebenen Teich, saftig grüne und mit gelben Blumen übersäte Wiesen und Obstgärten. Der Horizont ist weit und licht. Da gibt es keine Berge oder Ebenen, nur Hügel und Felder. Weiter hinten erkennt man das Städtchen Romanshorn und im Hintergrund den Bodensee. «Wie war mein Dorf doch abgeschottet», denkt die Frau oft. «Die alten Behausungen von Villagrande sind dicht aneinandergedrängt.» – «Der dichte Rauchgestank durchdringt alles.» – «Die beiden Wildbäche schließen es im Tal ein wie die Mauern eines Gefängnisses.» – «Die Berge beschatten es und verdecken das Licht am Himmel.» – «Hier kannst du in die Weite schauen.» – «Es ist ein Gefühl, das ich als Mädchen nie verspürt habe.»

«Wie war mein Dorf doch abgeschottet.»

«Hier kannst du in die Weite schauen.»

Bonfiglio und Maria Elisabetta wohnen zusammen. Wer kann schon etwas einwenden, wenn ein Mann und eine Frau im gleichen Raum wohnen, am gleichen Tisch essen, im gleichen Bett schlafen? Einwanderer sind keine gewöhnlichen Menschen. Sie müssen sich allem fügen: dem Elend, der Promiskuität, dem Schmutz, den Streitereien am Tag und dem Geschrei in der Nacht. Wie wir bereits wissen, bemerkte Maria Elisabetta im Dezember, dass sie erneut schwanger war. «Mariavèrgine!», hatte sie im Vorjahr gefleht, «was wird aus mir werden, nun, da ich keine Wünsche und auch keine Träume mehr habe?» – «Was werden sie in Vila denken?» Diesmal flüsterte sie angsterfüllt: «Mariavèrgine!» – «Ich habe mich in weitere Schwierigkeiten gebracht!» – «Es ist schrecklich, eine alleinerziehende Mutter zu sein, einsam in der Welt.» – «Alle können Fehler machen.» – «Aber zwei Kinder von zwei verschiedenen Männern zu bekommen, ist nicht eine Laune des Schicksals.» – «Alle werden sagen, dass ich eine Hure bin!»

Am Abend des 2. Juli 1900, es ist Montag, kommt eine große, nie zuvor gesehene Menschenmenge an den Ufern des Sees zusammen. Unter dem klaren Sommerhimmel gibt es das erste Ereignis des neuen Jahrhunderts zu bestaunen. Den Flug einer «schwebenden Maschine». Manche bleiben aus Vorsicht hinten und decken den Tisch mit Wurst, Käse und saurem Most. Andere bringen Liegestühle mit, um sich in der warmen Abendsonne auszustrecken. Noch nie war es so angenehm, von der Brise gestreichelt zu werden. Andere drängen sich auf den hölzernen Stegen oder rudern mit ihren Booten hin und her. Die Bessergestellten haben auf den Dampfern «Bregenz» und «Caroline» Platz genommen, von welchen festliche Klänge der Tanzorchester zu hören sind, und erforschen den Horizont mit ihren Fernrohren.

«Wann wird das fliegende Wunderding herankommen?», wundern sich viele. «Wird alles gut gehen oder etwas Tragisches passieren?», fragen sich einige. «Dieser Tag wird für immer in Erinnerung bleiben», denken andere zuversichtlich. «Wir werden sagen können: Wir waren dabei!» Alle blicken zum Horizont, über den in Erwartung ruhenden, spiegelglatten See auf die deutsche Seite hinüber. Die Spannung steigt. Die Stimmen werden immer aufgeregter. Die Kinder lassen ihrer Ungeduld freien Lauf, indem sie die Hänge hinunterrollen. Die Frauen packen die Reste ihres Abendessens in Weidenkörbe ein. Die Männer gießen einen weiteren Schluck Apfelwein ins Glas. Alle schauen zum Horizont.

Das Luftschiff LZ 1 erscheint wie von Geisterhand, während die Kirchenglocken in den Dörfern an den Seeufern zu läuten beginnen. Es sieht aus wie der Kopf eines Streichholzes. Der seltsame Ball nähert sich zaghaft und wird größer und größer. Schließlich zeigt das Luftschiff seine Seiten und offenbart seine gesamte Länge. Nun sieht es aus wie ein Fisch mit Flügeln. Alle heben ihre Arme zur «Flugmaschine». Alle fragen sich: «Wie kann sie in der Luft bleiben?» Tausende Zuschauer bestaunen den riesigen, spitz zulaufenden Ballon, der sie von oben beobachtet. Ein hundert Meter langes, langsam schwankendes Schiff. «Es ist ein Wunder», sagt ein Mann und erwidert den Gruß einiger mutiger Menschen in den zwei kleinen Gondeln, die an dem schwebenden Objekt hängen. «Worauf müssen wir uns noch gefasst machen?», fügt ein anderer hinzu und schaut verstört um sich. «Ich habe Angst vor diesen neuen Erfindungen.» – «Heute winken dir diese Leute zu», mischt sich Bonfiglio ein, der mit Maria Elisabetta, ihrem Sohn und anderen Auswanderern einen Platz an einem kleinen Ufer gefunden hat. «Morgen lassen sie Bomben auf dich fallen.» In ein Tuch gewickelt folgt Antonio dem auf das Wunderding zeigenden Finger seiner Mutter. Er scheint aber vielmehr vom intensiven Blau der Luft fasziniert zu sein. «Keiner», denkt die junge Auswanderin, «keiner von all den Bauern, den Hirten, den taiapiére, den menadàs und den carbonèr, die sich sonntags in den Wirtshäusern von Cencenighe treffen, um über die Arbeit zu sprechen, über den Kaiser und die Kaiserin, über die Krisen und die Streiks, über einen Krieg, der kommen könnte, den die einen wollen und die anderen nicht, keiner hat je so etwas gesehen oder wird es je sehen.»

Eine Viertelstunde lang schwebt der Zeppelin schwerelos über den Köpfen Tausender Menschen. Dann sinkt er langsam herab und landet auf dem Wasser. Wer weiß, was Martino Soppelsa dazu sagen würde? Kann man es je glauben, ohne es mit den eigenen Augen gesehen zu haben, dass ein paar Wagemutige in einem Ballon fliegen können, der beinahe so hoch ist wie der Monte Pelsa und länger als ganz Villagrande? Ohne zu riskieren, sich das Genick zu brechen? Matteo Costa würde ausrufen: «Das muss eine Täuschung sein!» Die Bäuerin Maria Bogo würde sich die Augen verdecken, um das Teufelswerk nicht zu sehen. «Die modernen Dinge sind mir nicht geheuer», würde sie sagen und sich bekreuzigen. Nonna Giovanna, möge sie in Frieden ruhen, würde ergänzen: «Heute steigen sie zum Himmel hinauf. Morgen, wer weiß …» Maria Elisabetta hingegen wird von einem noch nie empfundenen Gefühl überwältigt. Es ist eine Mischung aus Aufregung und Traurigkeit. Der kleine Antonio kann seine Augen nicht vom riesigen Vogel lösen, der am blauen Abendhimmel schwebt. Bonfiglio steht neben ihr und findet keine Worte. Anders als der Mann, der jeden Abend benebelt nach Hause kommt. Also wagt sie zu fragen: «Wann werden wir unser Zusammenleben regeln?»

Am 18. Januar 1901, dem Tag der heiligen Liberata, heiraten Bonfiglio Laccabue und Maria Elisabetta Costa im Rathaus von Amriswil. Die Frau, Analphabetin, unterzeichnet das Eheregister mit zwei Kreuzen. Sie ist festlich gekleidet: mit einer Spitzenbluse, einem grün-schwarzen Samtrock und einem Wollmantel. Bonfiglio scheint ein anderer zu sein. Er ist zum Friseur gegangen und hat sich eine Weste und eine Krawatte geliehen. Unsere Helden sind keine Augenweide. Die Braut ist nicht hübsch. Sie ist noch keine dreißig Jahre alt und bereits von der Zeit und von Entbehrungen gezeichnet. Wäre ihr Haar nicht so lockig und üppig, sähe sie bereits alt aus. Auch Bonfiglio wirkt erbärmlich. Er geht schwerfällig, er ist klein, es fehlen ihm einige Zähne. Elend gepaart mit Elend kann nur Elend hervorbringen.

Es ist Freitag, es schneit heftig und der Wind zerrt an Schals und Mützen. Da stehen keine geschmückten Kutschen, da wartet kein Gefolge mit Brautjungfern, keine Gästeversammlung oder Schaulustige, keine Musikkapelle. Nicht einmal die Heilsarmee hat sich die Mühe gemacht, ein Musikstück anzustimmen. Die Laccabue sind bitterarm. Und sie sind Ausländer. Schlimmer noch, sie sind nur «Tschinggen». Auf dem Platz beim Uhrturm warten ein paar Saufkumpane des Bräutigams und einige tratschende Freundinnen der Braut. Die Männer haben eine Handvoll Reis dabei. Die Frauen einen kleinen Strauß getrockneter Blumen. Schließlich gehen alle zusammen ins Gasthaus Bären, um anzustoßen.

Wer weiß, vielleicht findet Maria Elisabetta ein paar Tage nach der Feier Zeit, die Nachricht nach Hause zu telegrafieren. «Ich habe geheiratet», wird sie Matteo Costa und Maria Bogo mitteilen. Nicht ein Wort weniger und kein Komma mehr. Der Telegraf kostet Geld und zudem genügt diese Nachricht. «Je weniger man sagt, desto besser.» Wer weiß, vielleicht wird Frau Laccabue später, wenn sich die Wut in Vila ein wenig gelegt hat, jemanden bitten, einen Brief zu schreiben. Sie wird von sich berichten, ihrem Ehemann, der Arbeit in der Fabrik, ihrer Gesundheit, dem Kind, das sie in Zürich zur Welt gebracht hat, und, diesmal gibt es nichts zu verbergen, von jenem Kind, das sie im Spital Frauenfeld zur Welt bringen wird. Überlassen wir den Dingen vorerst ihren Lauf. Um alles Weitere möge sich Gott kümmern. Es gibt eine Zeit zum Leben. Und eine Zeit zum Sterben.

Das Paar lebt in einem bescheidenen Häuschen in Hemmerswil. Nur je einen Steinwurf von Amriswil und von Egnach entfernt. Von den Fenstern aus kann man im Spätwinter den kobaltblauen See bewundern. Und jenseits der glatten Wasseroberfläche erkennt man die Ufer und Dörfer Deutschlands. Dort drüben auf der linken Seite liegt Konstanz, gegenüber ist Meersburg und auf der anderen Seite Lindau. Ob der kleine Antonio wohl bei der Familie Laccabue lebt? Oder wurde er bereits weggegeben? In ein Waisenhaus oder in ein Heim für arme Kinder? Nun, da sie ihn geheiratet hat und ihren Bauch wachsen sieht, bittet Maria Elisabetta ihren Ehemann: «Legitimiere Antonio!» – «So erleichterst du mein Gewissen.» – «Soll ich diese Missgeburt als Sohn anerkennen?», denkt Bonfiglio. «Nicht ein Tropfen meines Blutes fließt in seinen Adern!» Daher antwortet er: «Hast du jemals daran gedacht, ihn zur Adoption freizugeben? Er wird immer zu essen haben.» – «Er ist so mager, dass er Angst einflößt», wendet seine Mutter ein. «Seine Haut ist gelblich und sein Blick ist ausdruckslos.» Bonfiglio bleibt hartnäckig und wiederholt: «Hast du jemals daran gedacht, ihn zur Adoption freizugeben?» – «Diese Missgeburt.»

Zum Zeitpunkt unserer Geschichte sind Adoptionen in der Schweiz jedoch sehr selten. Sie betreffen hauptsächlich Schweizer Kinder, die verwaist sind oder die von ihren Familien verstoßen wurden. In unserem Fall gibt es jedoch eine leibliche Mutter, und die Geburt wurde ordnungsgemäß registriert. Das Kind hat einen Namen, Antonio, einen Nachnamen, Costa, und eine Nationalität, die italienische. Die Familie Laccabue könnte jederzeit in ihr Heimatland zurückkehren. Die Gemeinde, Gualtieri oder Cencenighe, würde sich um das Kind kümmern. Maria Elisabetta will ihren Sohn nicht weggeben. «Was kostet es dich denn?», drängt sie ihren Ehemann. «Wir haben ein Leben vor uns.» – «Übertrag ihm deinen Namen.» – «Er ist jetzt auch meiner.» – «Wir können nur gewinnen.» – «Eine Familie mit gutem Ruf erhält die Aufenthaltsbewilligung auf einfachere Weise.» – «Wir sind Saisonarbeiter.»

«Übertrag ihm deinen Namen.»

«Er ist jetzt auch meiner.»

Maria Elisabetta hat nicht die Absicht, nach Cencenighe zurückzukehren. Sie würde mit zu vielen Unannehmlichkeiten konfrontiert werden. Mit Geschwätz. Nie verheilten Wunden. Verlorenen Träumen. Ängsten. Groll. Leiden. Was würde sie denn tun, wenn sie Martino Soppelsa am Sonntag auf dem Kirchhof von Sant’Antone begegnen würde? Was würde sie dem carbonèr erzählen, während sie ihm in die Augen sähe? «Würde dir etwas zustoßen, könnte hier in der Schweiz niemand der alleinerziehenden Mutter von zwei Kindern die Hilfe verweigern», sagt sie zu ihrem Ehemann. «Der Mutter von Antonio und jenem Kind, das bald geboren wird.» – «Die Behörden werden deine Entscheidung schätzen.» – «Bonfiglio Laccabue ist ein anständiger Mensch.» – «Anders als die Italiener, die sich betrinken und Frauen belästigen.» – «Er ist ein ehrbarer Arbeiter.» – «Ein wahrer Familienvater.» – «Ein Mann, der fähig ist, Verantwortung zu übernehmen.»

So unterzeichnet am 10. März 1901, weniger als zwei Monate nach der Trauung, der Zivilstandsbeamte in Amriswil auch die Adoptionsurkunde des «Monsters». Der fünfzehn Monate alte Antonio Costa wird offiziell von Bonfiglio Laccabue legitimiert. Von nun an und bis zu seinem Tod wird in seinem Pass ein Nachname stehen, den er schon bald hassen wird. Jener des Stiefvaters. In der Schweiz und in Italien, in den Urkunden, Schulen, Krankenhäusern, psychiatrischen Kliniken und auf den Polizeistationen, für alle wird er Antonio Laccabue sein.

Egnach(1904)

Bescheiden, aber würdevoll ist das Haus der Göbels. Ganz weiß, mit rot gestrichenen Fensterläden. Geranien und Begonien schmücken die Fensterbänke. Auch der Garten ist gut gepflegt. In den Beeten blühen je nach Jahreszeit Astern, Tulpen, Dahlien, Pfingstrosen, Passionsblumen, Hortensien, Gänseblümchen, Gladiolen und Kletterrosen. Das Haus ist von grünen Wiesen umgeben, die von den Hügeln zum See hin abfallen. Hier und da erstrecken sich kleine Wälder, tauchen Bauernhöfe mit ihren Ställen und Scheunen auf, heben sich Obstgärten mit Apfel-, Birnen-, Zwetschgen- und Kirschbäumen ab, ragen weitere eingezäunte Häuschen hervor, die alle jenem ähneln, welches Elise und ihr Mann Johannes Valentin in Egnach, nicht weit von Amriswil entfernt, gemietet haben. Die Felder sind durchzogen von engen Sträßchen und Feldwegen, von denen sich einige am Horizont verlieren, während andere zu einem Platz mit Gasthäusern führen, auf deren Schildern Tiernamen stehen: «zum Rössli» – «zum Ochsen» – «zum Löwen» – «zum Schäfli».

Aloysia Elisabeth Hanselmann, von allen Elise genannt, wurde in Sennwald geboren, im St.Galler Rheintal, das sich über etwa siebzig Kilometer von Bad Ragaz bis zum Bodensee erstreckt. Ihr Dorf unterscheidet sich nicht sehr von Cencenighe, wo Maria Elisabetta Costa aufgewachsen ist. Dieses liegt ebenfalls an den Füßen von Bergen wie hier die Nachbardörfer Altstätten, Marbach, Balgach, Heerbrugg, St. Margrethen. Die grünen Wiesenböschungen und braunen Waldabhänge sehen gleich aus. Ebenso die Holz- und Steinhäuser mit den blumengeschmückten Fenstern. Aber der Himmel und der Horizont sind in Sennwald weiter und heller. Denn das Tal ist breit und flach. Der Rhein entspringt in den Bergen und erreicht nach einer langen, ruhigen Reise das Meer. Der Cordevole und der Biois sind an einem Tag friedliche Bäche und am nächsten Tag reißende Wildwasser. Sie fließen unterhalb der Kirche Sant’Antone zusammen und münden dann in die Piave. Am Horizont, jenseits der bewirtschafteten Felder, Weiden und Baumreihen, die den Wind abhalten, liegt Österreich. Auch jenseits des San-Pellegrino-Passes liegt Österreich an der Grenze zu Italien.

Elise wurde 1857 geboren und ist zur Zeit der Geschichte, die wir erzählen, eine erwachsene Frau. Sie verlässt als junges Mädchen ihre Familie, um in einer Stickereifabrik zu arbeiten. Im Alter von neunzehn Jahren heiratet sie einen Mann, der älter ist als sie. Kurz darauf lässt sie sich von ihm scheiden und zieht an die Ufer des Bodensees. Dort lernt sie ihren zweiten Ehemann kennen. Johannes Valentin Göbel, geboren 1854, ist deutscher Staatsbürger. Im Alter von dreiundzwanzig Jahren wandert er in die Schweiz aus und hinterlässt in seiner Heimat eine Schwester, der er einmal im Jahr, zu Weihnachten, eine Karte schreibt. Er arbeitet als Zimmermann und ist, wie viele seiner Landsleute, ein entschiedener Gegner des Dogmas der Unfehlbarkeit des Papstes («Das sind Verschwörungen des Vatikans, um die Welt zu beherrschen», wiederholt er) und ein nicht minder hartnäckiger Verfechter der Priesterehe («Auch sie sind aus Fleisch und Blut»). Deshalb bezeichnet er sich selbst als «Altkatholik». In Egnach, an der Grenze zu Amriswil, konvertiert am 10. September 1883 die protestantische Elise zum Katholizismus und nimmt unter Verzicht auf die Schweizer Staatsbürgerschaft das deutsche Bürgerrecht an. Zwei einschneidende Veränderungen auf einen Schlag geben ihrem Leben eine neue Ausrichtung. «Ich habe es für Johannes Valentin getan», erzählt die junge Frau ihren Nachbarinnen. «Er ist ein herzensguter Mensch.» – «Schuftet wie ein Maulesel.» – «Er freut sich wie ein Kind, wenn sie ihn im Wirtshaus ‹den guten deutschen Katholiken› nennen.»

In Wirklichkeit erschöpft sich die Idylle zwischen Elise und Johannes Valentin schnell, sobald die Haustür geschlossen und das Gerede verstummt ist. In einem Buch, das die Frau sorgsam in der Schublade ihrer Kommode aufbewahrt, einem Heilkundebuch, und in dem sie während ihres ganzen Lebens blättern wird, hat sie zu spät gelesen, dass «die frühe Heirat das Grab der Jugend und der weiblichen Schönheit ist». Die einzige Möglichkeit, ein gewisses Maß an Frische zu bewahren, ist die geistige Aktivität. Wie viele reife Künstlerinnen sehen aus wie ewig jung gebliebene Mädchen? Wie viele Frauen von Verstand werden fälschlicherweise für Vierzigjährige gehalten, auch wenn sie bereits über sechzig sind? Deshalb trinkt Frau Göbel keinen Alkohol, den ihr Mann so gerne mag. Auch keinen Kaffee, der ihren Bekannten zusagt. Sie macht jeden Tag ein wenig Gymnastik, und zwischen Juli und August verzichtet sie nicht auf ein Bad im See. Es vergeht zudem kein Nachmittag, an dem sie nicht ein paar Seiten in einem Liebesroman liest. Sich im Spiegel betrachtend wiederholt sie gerne: «Wenn ich fünfzig bin, werden sich die Männer immer noch nach mir umdrehen.» Zum Zeitpunkt dieser Geschichte ist Elise jedoch bereits eine mollige, schlaffe Frau. Sie versucht, sich gegen einen Körper aufzulehnen, der schon zeitig aus der Form geraten ist. Sie greift auf eine vegetarische Ernährung mit Weintrauben und Zitrone zurück. Sie trägt den Gürtel der Juno, der Bauch, Rücken und Brust einbindet. Vielleicht um sie zu trösten, weist jemand sie darauf hin, dass Männer Frauen mit breiten Hüften und vollen Brüsten mögen. Ein schönes Becken gebärt Kinder im Handumdrehen. Eine pralle Brust nährt die Neugeborenen und vor allem die Fantasien der Männer.

Frau Göbel liebt es, das Haus zu dekorieren. Es vergeht kein Tag, an dem sie nicht etwas Kleines und Neues hinzufügt. Eine frisch gepflückte Blume. Eine handbemalte Porzellanvase. Ein gehäkeltes Deckchen. Wehe, ihr Mann wagt es, etwas auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Von den vier Typen kranker Frauen, welche die damalige Medizin aufzählt, «die Nervöse», «die Blutarme», «die Ungesunde» und «die Skrofulöse», gehört Aloysia Elisabeth, genannt Elise, sicherlich zur ersten Gruppe. Wahrscheinlich wurde sie wegen ihrer Mutter, einer autoritären Frau, beim Heranwachsen «neurasthenisch», wie man damals zu sagen pflegte. Sehr empfindlich, oft reizbar, manchmal hypochondrisch, regelmäßig melancholisch, schwankt sie zwischen Momenten voller Energie und plötzlicher Erschöpfung, die sie zwingen, stundenlang still zu sitzen. Während dieser Phasen gehen ihr seltsame Einbildungen durch den Kopf (sie fühlt sich nacheinander «tuberkulös» – «herzkrank» –«von Zysten befallen» – «an Entzündungen leidend» – «von exotischen Krankheiten befallen» – «von bösartigen Tumoren betroffen»). Niemand, nicht einmal der Arzt, und nichts, nicht einmal Kräutertees, können sie davon befreien. In Momenten der «Neurasthenie» schließt sich die Frau in ihrem Zimmer ein. Sie schließt die Fensterläden, zieht sich aus und legt sich auf das Bett. Alles wird ihr lästig: die Kinderstimmen, das Brüllen des Viehs, das Quietschen eines Rades, das Rascheln des Windes, das Vogelgezwitscher. Wenn Johannes Valentin versucht anzuklopfen, antwortet sie nicht.

Bis 1907 leben Elise und ihr zweiter Ehemann in Egnach im Kanton Thurgau. An den Ufern des Bodensees, nur einen Steinwurf von Romanshorn entfernt. Im eigenen Garten pflanzt die Hausfrau Rhabarber, Zitronenmelisse, Hagebutten und Pfefferminze an. In den Wäldern sucht sie nach wildem Senf, Schachtelhalm, Wacholderbeeren, Holunderbeeren und Erlenrinde. Auf den Wiesen und in den Obstgärten sammelt sie Lindenblüten, Wegerich, Schafgarbe und Löwenzahn. Und in der Zwischenzeit kuriert sie ihren Magen mit Aufgüssen aus Aloe- und Tausendgüldenkraut. Sie ernährt sich von Kefir und Sauermolke. Wochenlang isst sie nur mit Zitronensaft übergossenen Sauerampfer und Vollkornbrot.

Was bleibt ihr von ihrem Leben, jetzt, da das neue Jahrhundert begonnen hat? Zu viele Hoffnungen und unzählige Enttäuschungen. Und das vergebliche Streben nach einer unerfüllten Mutterschaft. Darunter leidet sie, und manchmal ist sie sehr neidisch. Alle ihre Freundinnen sind Mütter. «Ich will auch eine sein», jammert Frau Göbel. Also nimmt sie eines schönen Tages, aus heiterem Himmel, ihren Mut zusammen. «Wir sind seit siebzehn Jahren verheiratet, Johannes Valentin», sagt sie. «Wir sind wie zwei Steine ohne Zement.» – «Hast du jemals über eine Adoption nachgedacht?» – «Wir sind jetzt alt», murrt ihr Mann, «wer will uns schon ein Kind anvertrauen?» – «Wir könnten es versuchen», beharrt die Frau, «unser Haus wäre voller Leben.» – «Zwei Steine ohne Zement.» – «Alles zu seiner Zeit», bricht der Zimmermann das Gespräch ab. «Die Arbeit ist anstrengend.» – «Mir fehlt die Geduld, mich auf ein solches Abenteuer einzulassen …»

Die Dokumente sagen wenig darüber aus, was zu diesem Teil der Geschichte von Antonio Laccabue noch zu erzählen bliebe. Doch an einem bestimmten Punkt kreuzen sich die Schicksale zweier Familien, wenn auch nur kurz. (Schicksal ist etwas anderes als Zufall. Schicksal ist Magie, und Magie, wenn auch schmerzhafte, wird sich in unserer Geschichte mehrmals wiederholen …) In einem Brief von 1919 bekennt Elise Göbel, dass sie das Kind in ihrer Obhut neunzehn Jahre lang und «immer wie ihren eigenen Sohn erzogen» habe. Dies bedeutet, dass der erstgeborene Sohn von Maria Elisabetta Costa um 1900 in das Haus der Pflegefamilie kam. Wahrscheinlich im Spätherbst. Als er noch kein Jahr alt war. Als Maria Elisabetta noch ihren Mädchennamen trug. Als der Sohn der «Hure» noch Antonio Costa hieß.

Hölzli, der Weiler von Amriswil, wo die Familie Laccabue lebt, ist weniger als zehn Kilometer von Egnach entfernt, dem Dorf, in dem das kleine weiße Haus der Pflegefamilie Göbel steht. In einer ländlichen Umgebung, in der jeder alles über jeden weiß, ist anzunehmen, dass Elise gehört hat, wie von den Italienern geredet wurde, von jenem Sohn der Schande, von ihrem Elend. «Du solltest sehen, in welchem Zustand die Tschinggen-Familie lebt», sagen die Freundinnen. Vielleicht bleibt Elise vor dem Häuschen der Laccabue stehen, um hineinzuspähen. Der Mutterinstinkt und die Geschichte eines Neugeborenen finden wie von Zauberhand die Quadratur des Kreises. «Auch ich möchte Mutter sein», denkt die Frau mit einem Kloß im Hals. «Ich möchte jemanden haben, den ich in meinen Armen halten kann.» – «Nur für eine Weile», stimmt Johannes Valentin zu, «bis dir mit zunehmendem Alter die Begeisterung vergeht.» Die Göbels bieten klare Sicherheiten hinsichtlich Einkünften, Moral und Zuneigung. In der Zwischenzeit ist Maria Elisabetta Costa, wie wir wissen, wieder schwanger: Der kleine Bonfiglio Laccabue wird bald zur Welt kommen. Das Haus in Hölzli ist klein und die Familie ist bitterarm. «In Ordnung.» – «Die Missgeburt wird meinen Nachnamen tragen», stimmt Laccabue zu. «Aber wir müssen ihn denen anvertrauen, die sich besser um ihn kümmern können als wir.» – «Bitte nicht mich, den Wagen aus dem Dreck zu ziehen.» – «Wir haben nicht einmal das Geld, um ihm Milch zu kaufen.» An diesem Punkt ist das Schicksal von Antonio Laccabue besiegelt. Vielleicht wird er ein Nest finden, das ihn aufnimmt. Vielleicht nicht. Die Behörden entscheiden. Bis zum Alter von sechs Jahren werden Kinder aus zerrütteten Familien und jene, die niemanden haben, der sie aufnimmt, in Einrichtungen für Waisen und Verstoßene eingesperrt. Danach kommen sie entweder in ein «Jugendheim» oder enden auf einem Bauernhof, um wie Sklaven zu arbeiten. «Verdingkinder» werden sie genannt. Ein Verdingkind ist kein gewöhnliches Kind. Es ist ein Muskelbündel, wenn die Natur es ihm geschenkt hat. Es ist ein Körper ohne Seele, beinahe gänzlich seines Verstandes beraubt, wenn es überhaupt ein Fünkchen davon hat. Es ist eine Arbeitsmaschine: wie der Ochse, das Pferd, das Maultier, der Pflug, die Mähmaschine, die Hacke. Es hat nur einen Vornamen, das Verdingkind: Ulrich. Johann. Sebastian. Antonio. Niemand kennt oder wird jemals seinen Nachnamen kennen. Wenn überhaupt, bleibt ihm ein Spitzname. Ueli. Hans. Bastian. Toni. Wie ein Brandzeichen auf der Haut. Der Tod wird das Verdingkind für immer auslöschen.

Hagenbuchwald(1904)

Anfang Mai 1904 stolpert ein italienisches verlobtes Paar im sogenannten Hagenbuchwald bei St. Fiden in der Gemeinde Tablat während eines Spaziergangs über die Leiche eines Kleinkindes. Jemand hat es, nachdem er es getötet hatte, offenbar in aller Eile zu verstecken versucht, indem er es mit Erde, Blättern und Zweigen bedeckte. Doch ein heftiges Gewitter brachte die kleine Leiche wieder zum Vorschein. In wenigen Stunden erreicht die makabre Nachricht, die durch das Land eilt, über die Hügel, in Richtung des Kantons Appenzell Außerrhoden und an die Ufer des Sees, auch Egnach. «Mein Gott! Ein Kind!» Bestürzt stellt Elise fest: «Im Hagenbuchwald!» – «In welch schrecklicher Welt leben wir?», kommentiert ihr Mann. «Können unsere Kinder nicht mehr unbeschwert draußen spielen?» – «In Sennwald waren wir oft im Wald», ergänzt die Pflegemutter. «Mit all den Fremden, die uns in die Quere kommen», murmelt Johannes Valentin. Für ihn, der bekanntlich einen deutschen Pass hat, sind «die Fremden» die «Italiener» –«Franzosen» und «Polen». Menschen, die andere Sprachen sprechen und die Welt aus einer anderen Perspektive sehen. «Ist man nicht einmal mehr in seinem eigenen Land sicher?» – «Das arme Kind war auf einer Wiese und vergnügte sich mit einem Drachen.» – «Und da nimmt ihn der Wüstling mit.» – «Um es zu vergewaltigen und dann zu töten!» – «Und seinen Körper unter einen Erdhaufen zu verscharren.» – «Wie den Kadaver eines Tieres!» – «Ich habe Angst, Johannes.» – «Der Wüstling könnte unser Kind entführen, ihm Gewalt antun und es für immer verschwinden lassen!»

«Wie den Kadaver eines Tieres!»

«Ich habe Angst, Johannes.»

Am nächsten Tag, während ihr Mann auf dem Sofa ausgestreckt seine Siesta genießt und Antonio Laccabue allein in einer Ecke des Esszimmers sitzt, liest Elise die Berichterstattung in der Ostschweiz. «Auf dem Grund einer Mulde», erfährt sie und spürt, wie ihr das Blut in den Adern gefriert, «liegt die Leiche eines Kleinkindes. Es liegt auf dem Rücken. Dem Haupt fehlt die Kopfhaut, das Gesicht ist in einem fortgeschrittenen Stadium der Verwesung.» Während sie ihren Morgenmantel zurechtrückt, spürt die Frau eine Hitzewelle. «Der Gerichtsmediziner», so heißt es in dem Artikel weiter, «konnte feststellen, dass der Tod durch Erwürgen eintrat.» – «Durch Erwürgen.» Frau Göbel legt die Zeitung nieder und schaut sich um. Antonio versucht, ein weiteres buntes Stück eines Holzspiels einzusetzen. Aber jedes Mal, wenn er es versucht, fallen die Teile – ein Dreieck, ein Quadrat, ein Ring, ein Stern – auf den Boden. Dann wird er wütend und beginnt zu schreien.

Der ihnen anvertraute Junge weint immerfort. Mit viereinhalb Jahren spricht er nicht, lacht nicht, sagt kein Wort. Oder vielleicht mal ein einzelnes Wort: «Mama» – «Papa» –«Milch» – «Pipi» – «Kacke». Er lebt eingesperrt im Gefängnis seiner eigenen Welt. «Haben Sie Geduld», wiederholt der Kinderarzt. «Früher oder später wird sich alles lösen.» – «Alles wird gut werden», denkt Elise und beobachtet besorgt ihren «Sohn» Er unterscheidet sich sehr von den anderen Kindern. Der Körper ist klein, der Rücken krumm, der Kopf unförmig. Er hat ein hässliches Gesicht, mit wulstigen schwarzen Augen, welche die Welt mit einer Mischung aus Wut und Schrecken anstarren. Seit sie ihn im Haus haben, hat man nichts mehr von der Familie Laccabue gehört. «Sie haben sich in Luft aufgelöst», wiederholt Elise oft. «Wer weiß, ob sie nach Italien zurückgekehrt sind.» – «Italiener», kommentiert Johannes Valentin sarkastisch. «Leidenschaftliche Männer. Unzuverlässige Menschen.» – «Umso besser», denkt Frau Göbel. Antonio wird für immer ihr gehören. Niemand wird kommen, um ihn zurückzufordern. Schade, dass er anders ist als die anderen Kinder. Er spielt nicht mit ihnen, wenn sie zum Spielplatz gehen. Er interessiert sich für nichts, bleibt immer für sich allein und unterhält sich mit einem Gegenstand. Er kritzelt auf ein Blatt Papier, beobachtet und starrt den Himmel stundenlang an. Vor allem, wenn er blau ist. Er gestikuliert mit seinen Händchen und zeichnet Schnörkel in die Luft. «Ist er normal?», überlegt die Pflegemutter. Dann nimmt sie die Ostschweiz