Die Glücksprinzessin - Ich schenk dir Monte Carlo - Rolf Palm - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Glücksprinzessin - Ich schenk dir Monte Carlo E-Book

Rolf Palm

0,0
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 2,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine mitreißende Frauensaga: „Die Glücksprinzessin“ von Rolf Palm als eBook bei dotbooks. Bad Homburg um 1840: Maries Familie ist bettelarm. Vor der jungen Frau liegt eine karge und entbehrungsreiche Zukunft. Doch damit will sich Marie nicht abfinden. Sie nimmt ihr Glück selbst in die Hand und tritt als Dienstmädchen in den Haushalt des geheimnisvollen Spielbankpächters François Blanc ein. Bald schon ist der verschlossene Mann beeindruckt von der beherzten jungen Frau und auch Marie kann ihre Gefühle nicht mehr verleugnen. Durch ihn wagt sie es, von etwas Größerem zu träumen. Und so reist Marie eines Tages in ein kleines verschlafenes Fürstentum an der glitzernden Côte d’Azur: Monte Carlo … Bestsellerautor Rolf Palm erzählt die wahre Geschichte der Marie Hensel, deren kometenhafter Aufstieg aus einfachsten Verhältnissen sogar das Schicksal des Hauses Grimaldi prägte. Jetzt als eBook kaufen und genießen: Die große Familiensaga „Die Glücksprinzessin“ von Rolf Palm wird Fans von Charlotte Jacobi und Anne Jacobs begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 471

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch:

Bad Homburg um 1840: Maries Familie ist bettelarm. Vor der jungen Frau liegt eine karge und entbehrungsreiche Zukunft. Doch damit will sich Marie nicht abfinden. Sie nimmt ihr Glück selbst in die Hand und tritt als Dienstmädchen in den Haushalt des geheimnisvollen Spielbankpächters François Blanc ein. Bald schon ist der verschlossene Mann beeindruckt von der beherzten jungen Frau und auch Marie kann ihre Gefühle nicht mehr verleugnen. An seiner Seite lernt sie eine glanzvolle Welt kennen – und beginnt von einem eigenen Casino zu träumen. So reist Marie eines Tages in ein kleines verschlafenes Fürstentum an der glitzernden Côte d’Azur: Monte Carlo …

Bestsellerautor Rolf Palm erzählt die wahre Geschichte der Marie Hensel, deren Aufstieg aus einfachsten Verhältnissen zur Casino-Königin von Monte Carlo auch das Schicksal des Hauses Grimaldi entschied.

Über den Autor:

Rolf Palm wurde 1932 in Köln geboren und arbeitete als Journalist auf allen Kontinenten. Nach einer Recherche im Fürstentum verliebte er sich in die Märchenstadt an der Côte d`Azur: Seit 1973 lebt er dort als freier Autor und kennt alle Geheimnisse der Schönen, der Reichen und der ganz schön Reichen.

Rolf Palm veröffentlichte bei dotbooks bereits den Roman »Ein fast perfektes Spiel«

Der Autor im Internet: www.facebook.com/rolf.palm1

***

eBook-Neuausgabe März 2017

Dieses Buch erschien bereits 1974 unter dem Titel »Ich schenk dir Monte Carlo« bei C. Bertelsmann Verlag

Copyright © 1974 by Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH, C. Bertelsmann Verlag, München, Gütersloh, Wien

Copyright © der Neuausgabe 2017 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung eines Bildmotivs von shutterstock/carol.anne, Serg Zastavkin

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ER)

ISBN 978-3-95824-978-3

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Die Glücksprinzessin« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

www.instagram.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Rolf Palm

Die Glücksprinzessin

Roman

dotbooks.

Vorspiel DER SCHIRM DER KAISERIN MARIE ANTOINETTE

Der Kutscher sprang vom Bock, nahm den Zylinder ab und verbeugte sich vor der Karossentür.

Die Tür blieb geschlossen, der Kutscher wartete gesenkten Hauptes. Schneeflocken fielen ihm auf die Stirnglatze, schmolzen, puderten ihm Augenbrauen, Schnurrbart und die rote Livree.

Die Kutschenfedern quietschten. Sanft wiegte sich die Karosse.

Der Kutscher wartete, dann klopfte er mit frostklammen Knöcheln gegen die Eisblumenfenster des Wagens.

Keine Antwort.

Leute schritten die Freitreppe vor dem Spielcasino, diesem großen Zuckerbäckerpalast, herunter, verharrten, beobachteten den servil frierenden Kutscher, nahmen in distinguiertem Abstand paarweise Aufstellung. Eine Szene?

Die beiden Braunen an der Deichsel stampften die Hufe auf das frostklirrende Kopfsteinpflaster. Der Rechte riß den Kopf hoch und wieherte sich Eiskristalle aus der Mähne. Der Livrierte sah sich jetzt verlegen seine Stiefelspitzen an. Durfte er abermals klopfen?

Die flüsternde Stimme seines Herrn aus dem Wageninnern. Kleidergeraschel hinter dem Eisblumenfenster. Das enttäuschte Seufzen eines Mädchens.

Endlich senkte sich die Klinke an der Kutschentür. Der Kutscher riß den Wagenschlag ganz auf und sagte, als hätte es diese endlose Minute nicht gegeben: »Monsieur, wir sind vorgefahren.«

Der Herr im pelzbesetzten Mantel, etwas außer Atem, stieg über den Wagentritt in den Schnee, reichte seine Hände in den Wagen zurück. Die schlanke Gestalt eines jungen Mädchens – sehr jung, sehr schlank in ihrem Pelzmantel – erschien im Viereck der Tür. Das gerötete Gesicht schamhaft gesenkt, sprang sie in die dargebotenen Arme, schmiegte sich an ihren Begleiter.

Verbeugung des Kutschers, nun durfte er seinen Zylinder wieder auf setzen auf den schneefeuchten Schädel.

Das ungleiche Paar schritt die Freitreppe hoch, den Arkaden entgegen, die unter der Säulengalerie das Portal des Spielpalastes schmückten: der Herr, in seinen besten Jahren, Trotz im Blick angesichts der Zuschauer auf dem Treppenhügel; das Mädchen, eng an den Mantel ihres Begleiters gekuschelt.

Vater und Tochter bummeln zu einem kleinen Nervenkitzel in die Spielbank, hätten unbefangene Beobachter meinen können. Aber die Beobachter waren nicht unbefangen, denn wer im Casino verkehrte, kannte längst das Gerücht: François Blanc, der Abenteurer, der Millionär, hat sich in die hübsche junge Dorfschusterstochter Marie Hensel verliebt. Herren auf der Treppe lüfteten Zylinder, grüßten formvollendet und dachten: beneidenswert, dieser Bursche, verdammt jung, die Geliebte – aber ob die Liebe echt ist?

Die Garderobendiener, eilfertig, beflissen, halfen den Herrschaften aus Pelzen und Hüten, diensteifrige Hände griffen nach Maries kokettem Schirm.

»Nein, den Schirm … bitte nicht!« Marie preßte den Schirm, schimmernde Seide, goldener Knauf, fest an ihre kleine Brust. Ein Kind, das seine Puppe nicht hergeben will, dachte Blanc amüsiert.

»Ich bitte um Verzeihung, Mademoiselle.« Der Garderobendiener nahm seine Amtspflichten ernst: »Aber das Reglement … Schirme sind in den Spielsälen …«

›Nicht erlaubt‹ wollte er sagen. Er stockte, darf man der Geliebten des Generaldirektors sagen: ›Nicht erlaubt?‹

François Blanc kam dem Ratlosen zu Hilfe: »Sie haben recht, guter Mann, aber lassen Sie’s gut sein für diesmal, wir bleiben nicht lange.«

»Selbstverständlich, gnädiger Herr, wenn Sie es sagen, gnädiger Herr.«

»Ich sage es.«

Blanc bot Marie seinen Arm. Marie hängte sich fröhlich ein und umfaßte mit der linken Hand den goldenen Knauf ihres Schirms. Ich habe Gold in der Hand, dachte sie, Gold, das mir gehört, zum erstenmal in meinem Leben. Ich habe Gold und einen Mann, dem alles gehorcht und der auch mir gehört. Ich liebe François. Ich liebe mein Leben mit François. Ich liebe unsere Liebe.

So betrat sie den Spielsaal.

Der Direktor des Spielsaals, durch Bedienstete offenbar von der Ankunft seines Chefs informiert, kam ihnen entgegen.

»Womit kann ich dienen, Monsieur Blanc?«

»Vielen Dank, es ist nur ein privater Besuch.«

»Wünschen Sie einen Stuhl an einem Spieltisch?«

»Aber ich bitte Sie!« sagte Blanc. »Sie wissen doch, ich spiele nie. Schon gar nicht in meinem eigenen Casino. Soll ich gegen mich selbst setzen?«

»Natürlich nicht, Monsieur Blanc.«

In den gigantischen Lüstern, die von der mit Gemälden überladenen Stuckdecke hingen, brannten Hunderte von Wachskerzen. Spiegel an den mit Seidentapeten bespannten Wänden, von goldenen Arabesken umrahmt, multiplizierten den Glanz. Als Blanc sein Casino erbaute, hatte er an nichts gespart, was elegant und teuer war: französische Architekten, italienische Maler und Stuckateure, flandrische Teppichleger und Tapetenspanner, türkische Gold- und Silberschmiede. Blanc hatte den Geschmack der Verschwendergesellschaft genau studiert.

Marie spürte eine Hand auf ihrer Schulter. »Komm«, flüsterte François. »Ich lade dich zu einem Glas Champagner ein.«

Er führte sie zu einem niedrigen Tischchen vor einem schweren roten Vorhang, der von der Decke bis zum Teppich reichte. Ein Kellner kam, im schwarzen Frack, mit einem Tablett, einer Flasche und zwei langstieligen, schmalen Gläsern.

»Wie immer?« fragte der Frack.

»Wie immer«, sagte Blanc. »Zwei Gläser.«

Marie legte den Schirm mit dem goldenen Knauf auf den Tisch. Sie streichelte über den schimmernden Knauf. Dann griff sie behutsam nach dem Glas.

»O François, ich habe noch nie so einen schönen Schirm gesehen. Aber es ist Wahnsinn. Er ist viel zu kostbar. Ich werde ihn nie bei Regen benutzen.«

Blanc lächelte. »Für viele mag er teuer gewesen sein. Aber schau dir die Spieler an. Was dieser Schirm gekostet hat, verlieren und gewinnen sie von einer Minute zur anderen, ohne mit der Wimper zu zucken.«

»Ich weiß es«, sagte Marie. »Aber es scheint mir doch immer wieder unglaublich. Wenn ich mir überlege, daß man sich für jedes Goldstück, das hier auf das grüne Tuch geworfen wird, fünfzig Brote kaufen kann, das Stück für zehn Kreuzer … daß mein Vater für jedes dieser Fünfguldenstücke ein Paar Schuhe machen muß …«

»Aber Marie, hier herrschen andere Gesetze. Und was den Schirm betrifft, ich könnte dir zeigen, wie leicht sich hier so ein Schirmchen herbeizaubern läßt.«

»Du hast doch gesagt, du spielst nie?« Sie blickte ihn über den Rand ihres Sektglases an.

»Allenfalls, um es dir einmal zu zeigen.« Er wies auf den Schirm. »Und damit du wegen meines Geschenkes keine Gewissensbisse hast.«

Er winkte einem Saaldiener, gab ihm vierzig Gulden und sagte: »Setzen Sie das für mich auf …«

Er blickte Marie an.

»Rot«, sagte sie.

»Rot«, sagte Blanc zu dem Saaldiener. »Und lassen Sie den Gewinn dann einmal stehen.«

»Rot«, sagte Marie, als der Diener gegangen war, »weil es die Farbe der Liebe ist.«

Blanc legte seine Hand auf ihre Hand.

»François«, sagte sie. »Habe ich dir heute schon gesagt, daß ich dich liebe?«

»Nein«, sagte er und sah ihr in die Augen, auf den Mund.

»Du lügst!« rief sie lachend. »Vorhin in der Kutsche noch!«

Er schüttelte den Kopf und spielte ganz ernst Nachdenken. »Ich kann mich nicht erinnern. Ich erinnere mich nur an deine Hände. Aber daß du dabei etwas gesagt hättest …«

»Du bist gemein, François!«

»Du kannst gar nichts gesagt haben, wo du doch mit deinem Mund …«

»Was war mit meinem Mund?« Sie beugte sich über Tisch und Schirm ganz nah an ihn heran. Ihre Stimme war heiser.

»Sag es mir! Sag es mir! Du weißt doch, wie gern ich es höre!«

»Ich kann doch nicht hier …«

»Aber in der Kutsche konntest du!«

»Daran warst du schuld. Du hast angefangen. Mit diesen verdammten Händen.« Er schloß langsam und fest seine Hand um ihren Zeigefinger.

»Du machst mich verrückt, François!« flüsterte sie.

»Monsieur!« Der Saaldiener stand vor ihnen. Sie fuhren auseinander. »Verzeihung, Monsieur le directeur, aber die vierzig Gulden …«

»Verloren?« lachte Blanc.

Der Diener nickte verlegen, als sei es sein Mißgeschick. »Beim erstenmal ist Rot gekommen. Da waren es achtzig. Ich habe dann die achtzig auf Rot stehenlassen, wie Sie befohlen hatten. Aber dann kam Schwarz.«

Blanc griff in die Tasche, fand einen Hunderter, reichte ihn dem Diener. »Noch einmal«, sagte er. »Wie vorhin.«

Der Diener verbeugte sich und ging.

»Schade«, sagte Blanc.

»Du trauerst den vierzig Gulden doch nach?« sagte Marie. »Aber du hast vorhin gesagt …«

»Das nicht.« Er nahm wieder ihre Hand. »Ich meine, es ist schade, daß du mir angeblich heute schon gesagt haben willst, daß du mich liebst.«

»Habe ich auch.« Sie fuhr ihm mit einem Fingernagel über den Handrücken, streichelte sein Handgelenk unter der Manschette.

Er beugte sein Gesicht zu ihr über den Tisch. »Marie«, begann er. »Ich …«

»Verzeihung, Monsieur le directeur.« Das Gesicht des Dieners drückte fast schon Verzweiflung aus.

»Schon wieder?« fragte Blanc.

Der Diener nickte. »Genau wie vorhin. Ich bin untröstlich.«

Blanc erhob sich. »Machen Sie sich keine Sorgen. Ich hol’s mir wieder. Komm, Marie.«

Er drückte dem Diener ein Goldstück in die Hand, nahm Marie beim Arm und zog sie zum Spieltisch.

Dort nahm er abermals einen Hunderter aus der Tasche und warf ihn auf Rot. Die Kugel rollte, Marie sah ihn an, nun hatte er das gleiche, angespannte Gesicht wie die anderen Spieler. Er spürte Maries Blick und lächelte sie an. »Das Spiel ist schnell gewonnen.«

Die Kugel fiel auf 16.

»Sechzehn. Rouge. Pair. Manque«, verkündete der Croupier.

»Da siehst du’s!« sagte Blanc selbstgefällig. Der Croupier schob ihm einen zweiten Hunderter auf seinen Einsatz. »Den verlorenen Hunderter von vorhin habe ich schon zurück. Beim nächsten Spiel hole ich mir die verlorenen vierzig dazu, und den Schirm, und dann behalte ich sogar noch genug übrig, um dich zum Abendessen einladen zu können.«

»Du läßt auf Rot stehen?« fragte Marie ängstlich.

»Natürlich. Man muß immer mit der Bank gehen. Wer sollte das besser wissen als der Bankhalter.«

»Mesdames, Messieurs, faites votre jeu! Bitte das Spiel zu machen!« rief der Croupier.

»Ich weiß nicht«, sagte Marie leise. Sie blickte auf die beiden Hunderter Blancs, die auf Rot lagen. Zweihundert Gulden, dafür hatte sie vier Monate lang arbeiten müssen, als sie noch ein Dienstmädchen war.

Die Kugel lief. »Rien ne va plus! Nichts geht mehr!« rief der Croupier.

Es kam Schwarz.

»Verdammt!« sagte Blanc.

»Hör auf!« flüsterte Marie.

Er zog zwei Hunderter aus der Tasche. »Ein einziges Mal noch. Mehr Geld habe ich sowieso nicht bei mir. Außerdem ist eben Schwarz gekommen. Nun muß einfach Rot fallen. Paß auf.«

Einige Spieler hatten Blanc erkannt. Andere hatten es hinter vorgehaltenen Händen erfahren. Die Einsätze auf Rot häuften sich. Der Bankhalter mußte sein eigenes Roulette kennen, meinten sie. Also mußte es richtig sein, mitzugehen.

»Zéro!« rief der Croupier.

Die Rechen der Croupiers fuhren über die Zahlenfelder, trieben die Scheine, die Gold- und Silberstücke zusammen.

»Nun gehen wir«, sagte Marie.

»Unmöglich«, sagte Blanc. »Wenn Zéro fällt, muß der Einsatz auf den Farben stehenbleiben. Er wird en prison genommen, so nennt man das. Wenn dann beim nächsten Coup Rot fällt, bekomme ich meinen Einsatz wieder.«

»Aber dann gehen wir!«

»Nein, dann fängt das Spiel doch erst wieder richtig an.«

Beim nächsten Spiel kam Rot. Blanc ließ seine zweihundert Gulden stehen. Spieler, die von anderen Tischen herüberkamen, setzten ebenfalls auf Rot. Erwartungsvoll sahen sie auf Blanc. Die Bank gehörte ihm. Die Bank hatte ihn zum vielfachen Millionär gemacht. Die Kugel mußte ihm gehorchen.

Blanc fingerte in seinen Taschen nach losen Münzen, legte sie dazu.

»Marie«, er beugte sich zu ihr herunter. »Hast du noch Geld in deinem Täschchen?«

»Zehn Gulden, aber …«

»Gib her.«

Sie gab ihm die Münzen, er warf sie auf den Tisch, sie verschwanden in der Menge der höheren Einsätze.

Rot.

Ein Aufatmen ging durch die Reihen der Spieler.

Triumphierend blickte Blanc zu ihr herunter. »Jetzt geht’s erst richtig los«, sagte er.

Die Croupiers schoben die Gewinne auf das Feld mit dem roten Rhombus. Marie wagte nicht, um ihren Gewinn zu bitten.

»Rien ne va plus!«

Die Kugel stolperte über die Zahlenfächer.

Rot.

»Wieviel haben wir jetzt?« fragte Marie.

»Vierhundert. Dazu das Kleingeld. Wahrscheinlich fünfhundert«, sagte Blanc atemlos.

»Bitte!« flehte Marie.

Blanc schüttelte den Kopf. »Das ist eine Serie«, sagte er. »Eine ununterbrochene Aufeinanderfolge ein und derselben Farbe. Wer jetzt auf Rot bleibt, wird reich.«

Marie schüttelte den Kopf. »Aber François, du bist doch längst reich. Dir gehört doch das ganze Casino.«

Blanc legte ihr seine heiße Hand auf den Mund. »Sag nichts, Liebstes. Jetzt nicht.«

Rot.

Blanc drückte Marie fest an sich. Die Spieler redeten wild aufeinander ein. Der Haufen Gold und Silber, der auf Rot stand, wuchs ums Doppelte. Geldscheine flatterten über den Tisch. An den anderen Roulettes wurde kaum noch gespielt.

»Mesdames, Messieurs, faites votre jeu!«

Die Kugel lief. Marie spürte heftige Bewegungen neben sich. Blanc gab einem der Croupiers ein Zeichen. Der Croupier fischte mit seinem Rechen Blancs Einsatz aus dem Haufen, schob schnell und geschickt Scheine und Stücke auf Schwarz hinüber. Enttäuschung, Angst, Protest bei den Spielern – Hände flogen auf den Haufen zu, der auf Rot verblieben war, Herren warfen sich fast über den Spieltisch, Damen schlugen entsetzt die Hände vors Gesicht. Aber der Chefcroupier rief: »Rien ne va plus!« Es war zu spät.

Blanc blickte triumphierend um sich. Marie sah ringsum nur feindselige Gesichter, die auf Blanc starrten. Offener Haß blitzte in manchen Augen.

Die Kugel nahm sich endlos Zeit für die Entscheidung. Sie fiel in ein Fach. Spitze Schreie. Die Kugel sprang wieder heraus. Irrte mit quälender Unentschlossenheit herum, blieb endlich und endgültig liegen.

Gelächter. Die 13. Und die 13 war rot.

Marie sah Schadenfreude auf den Gesichtern, und sie haßte jedes einzelne. Befriedigt ließen sich die Spieler ihre Gewinne auszahlen. Selten war Gewinnen schöner gewesen. Blanc winkte dem Direktor zu, der sich in seiner Nähe aufgestellt hatte. Der Direktor nickte, verschwand und kam Sekunden später mit einem elfenbeinernen Kästchen wieder. Blanc streckte ungeduldig eine Hand danach aus. Marie sah, daß es bis zum Rand mit Scheinen und Goldstücken gefüllt war.

»François«, begann Marie.

»Zehntausend«, sagte Blanc. »Ich hatte ja nichts mehr in der Tasche.«

»Das ist nicht recht«, sagte Marie.

»Es ist doch sozusagen mein eigenes Geld. Schließlich ist das hier mein Casino. Und ich laß mir doch nicht in meinem eigenen Casino die Taschen ausleeren.«

Marie sagte nichts. Stumm stand sie neben Blanc, sah zu, wie er setzte, wie er gewann, wie er verlor. Als das Kästchen leer war, ließ er sich ein zweites bringen. Ein größeres.

»Und einen Stuhl, bitte«, sagte er. »Zwei Stühle.«

Wenigstens vergißt er nicht ganz, daß ich auch noch da bin, dachte Marie bitter.

Nun saß sie neben ihm am Spieltisch, den Schirm auf dem Schoß, mit Herzklopfen bis zum Hals.

»Von jetzt an«, sagte er, »spielen wir mit System. Schluß mit den albernen Einsätzen auf die einfachen Chancen. Nur Rot und Schwarz – das ist für Anfänger. Jetzt werde ich dir zeigen, wie man sich seine Verluste zurückkämpft, Stück um Stück, Schein um Schein. Und am Schluß doch noch mit einem Gewinn nach Hause geht.«

»François, ich habe Hunger.«

»Gleich, gleich, Liebstes, höchstens eine halbe Stunde noch, dann werden wir fürstlich speisen. Meine Küche hier ist dafür berühmt, daß sie über die besten Köche außerhalb von Paris verfügt.«

Sie sagte nichts, aber er wartete auch gar nicht auf eine Antwort. Er hatte seine Einsätze zu machen.

»Schau mir zu«, sagte er. »Ich habe ein System, das ebenso genial wie simpel ist. Es basiert auf der Tatsache, daß eine Reihe von Zahlen beim Roulette zur gleichen Zeit Noir und Pair sind – also Schwarz und gerade Zahlen. Setze ich nun also gleichzeitig 500 Gulden auf Noir, 500 auf Pair, 500 auf das erste Dutzend – das sind die Zahlen von 1 bis 12, setze 500 auf die Transversale 19 bis 24, das heißt, die sechs Zahlen zwischen 19 und 24 –, dann kann mir eigentlich nichts mehr passieren. Ich gewinne, wenn Schwarz kommt. Ich gewinne, wenn eine gerade Zahl fällt. Und ich gewinne auch da, wo die Zahlen vielleicht nicht Pair oder Noir sind, nämlich im ersten Dutzend oder zwischen 19 und 24. Hast du das verstanden?«

»Nicht ganz«, sagte Marie. »Das ist zuviel auf einmal. Rot, Schwarz, Dutzend, Gerade, Ungerade …«

»Das macht nichts«, sagte Blanc lachend. »Es gibt auch noch Manque und Passe. Das sind einmal alle Zahlen von 1 bis 18 und zum Zweiten alle Zahlen von 19 bis 36. Man kann auch noch Cheval und Carrée und Kolonnen setzen, aber das spielt im Augenblick keine Rolle. Du wirst es schon noch lernen.«

Marie schüttelte den Kopf. »Das lerne ich nie. Und ich will es auch gar nicht lernen«, sagte sie trotzig.

»Rien ne va plus!« rief der Croupier, wieder lief das Rad, wieder surrte die Kugel.

»Ich gebe zu«, Blanc flüsterte, um die gespannte Aufmerksamkeit der anderen Spieler nicht zu stören, »daß dieses System zwei Nachteile hat. Einen kleinen und einen großen. Einerseits sind hier bei manchen Zahlen, die fallen können, die Gewinne nicht ganz so hoch, daß sie den gesamten Einsatz decken – aber immerhin verliert man in einem solch ungünstigen Fall nicht alles. Andererseits bleiben zwei Zahlen übrig, bei denen man leider überhaupt nicht gedeckt ist: Das sind die 25 und die 27. Und Zéro natürlich. Aber das müßte dann doch mit dem Teufel zugehen, wenn ausgerechnet eine von diesen beiden Zahlen fällt.«

Es ging mit dem Teufel zu.

»Fünfundzwanzig, Rouge, Passe, Impair«, rief der Croupier.

Wieder zweitausend Gulden verloren. Marie stützte den Kopf in die Hände, sah das Gold und das Silber vor ihren Augen flimmern, die Scheine flattern, das Rad wirbeln, die Kugel kreisen – und verstand doch nichts. Blanc verdoppelte seine Einsätze, ließ sich neue Kästchen mit neuem Geld bringen, wechselte die Systeme, häufte Gewinne vor sich auf, riesige Gewinne, verlor wieder, gewann weniger, verlor erneut. Mein Gott, dachte Marie, was ist nur aus diesem Tag geworden. Er hatte so schön begonnen, so heiter, so verliebt…

Sie waren spät aufgestanden, erst gegen Mittag, sie hatten sich nicht aus ihren Umarmungen befreien, nicht aus ihren Küssen lösen können, und dann hatten sie die herrliche Fahrt in der Kutsche durch die winterweiße Landschaft erlebt, eng aneinandergeschmiegt in den Polstern der Karosse.

Sie waren durch die eleganten Geschäfte geschlendert, hatten sich Köstlichkeiten aus Samt, Seide, Spitzen und Brokat angeschaut, ohne freilich viel zu kaufen – wenn François etwas kaufen wollte, ließ er die Händler mit der Auswahl vom Besten ins Haus kommen –, aber nur das Schauen, das Anfassen, das Anprobieren war ja allein schon ein Vergnügen gewesen. Und dann waren sie in das kleine Geschäft geraten, wo sie den Schirm gefunden hatten.

Ein Traum von einem Schirm. Klein und zierlich, ganz wie für Marie, für ein schlankes, zartes Mädchen gemacht. Sie hatte sich auf der Stelle in dieses Schmuckstück verliebt. Diese schimmernde Seide, dieser goldglänzende, kunstvoll ziselierte Griff- und François hatte es ihren Augen angesehen: Sie wollte diesen Schirm haben. Marie war erschrocken, als sie den Preis hörte. Achtzig Gulden! Sie hatte sich geweigert und gewehrt, hatte sich geschämt, daß sie ihre Begeisterung so deutlich gezeigt hatte, kam sich gemein vor, hatte Fehler über Fehler an diesem Schirm gefunden … François hatte nur gelächelt, dem Verkäufer verschwörerisch zugezwinkert und ihr den Schirm unter den Arm gesteckt. Ach ja, er kannte sie schon gut! Oft schien ihr, daß er schon mehr von ihr wußte, als sie selbst.

In den drei Monaten ihrer Liebe hatte er Empfindungen, Wünsche und Sehnsüchte in ihr geweckt, die ihr heute noch unfaßbar schienen. Oft hatte sie das Gefühl, mit staunenden Augen neben sich selbst zu stehen und einem fremden, unbegreiflichen Mädchen bei unglaublichen Dingen zuzuschauen.

»Nun machst du wieder deine großen braunen Traumaugen!« sagte er, als sie in den Wagen stiegen. »Komm zurück in unsere Welt. Unsere Welt, die wir miteinander erleben werden, ist schöner, als du es dir träumen kannst. Du mußt nur immer bei mir bleiben. Du darfst mich nie verlassen …«

»Ich? Ach, François …!« Sie war in den Wagenpolstern aufgesprungen und hatte sich über ihn geworfen. »So etwas darfst du nicht sagen. Ich wache doch jeden Morgen mit der Angst auf: Liebt er mich denn noch? Wird er nicht heute sagen: ›Dieses Spiel war ganz hübsch, aber nun ist es vorbei. Du bist eben doch nur ein kleines, dummes Mädchen …‹.« Da hatte er sie ganz fest in seine Arme genommen, die Kutsche war durch die verschneiten Straßen gerumpelt, und er hatte sie auf seinen Schoß gezogen.

»So darfst du nie wieder sprechen, Marie. Ich sehe uns in den großen Städten, in Paris, in Rom, in London, und wir werden durch die breiten Straßen gehen, Hand in Hand, Arm in Arm, und alle Menschen werden uns anschauen und neidisch sein auf unser Glück, und sie werden sich trotzdem freuen, daß es so eine Liebe wie unsere Liebe gibt.«

Sie hatte ihren kleinen, fast noch kindlichen Mund auf seine Lippen gepreßt, sie hatte ihre Hände unter seinen Mantel, unter seine Jacke geschoben, um seine Wärme zu spüren, seine Wärme, in der sie sich, seitdem sie sich liebten, so geborgen fühlte und die sie gleichzeitig so erregte.

»Und die Prinzessinnen?« hatte sie geflüstert. »Die Millionärinnen und die Fürstinnen? Ich habe gesehen, wie sie dasitzen im Casino, wie sie aufschauen vom Spieltisch und keinen Blick mehr haben für das Roulette und ihr Geld, wie sie dich mit ihren Augen verschlingen. Ich weiß auch, daß sie dir auflauern, im Park vorm Casino, unter dem Vorwand, sie müßten mit dir über ihre Spielsysteme reden oder über ihre Verluste. Und ich weiß, daß sie dir Briefe schreiben, in denen sie ihr Hotel und die Nummer ihres Zimmers …«

Sie hatte nicht mehr gehört, was er darauf geantwortet hatte. Sie hatte nur noch seine Hände gespürt. Diese Hände, die ihren Körper elektrisierten, wo immer sie ihn berührten. Diese Hände, auf die sie nicht mehr verzichten konnte. Diese Küsse, ohne die sie sich keinen Tag, keine Nacht mehr vorstellen konnte. Dieser Mann, dem sie sich mit der ganzen unschuldigen neugierigen Leidenschaft ihrer fünfzehn Jahre hingab, dem sie gehörte, der ihr gehörte – er hätte ihr Vater sein können, doch er lag oft in ihren Armen wie ein Kind…

Von ganz weit weg hatte sie das Klopfen am Fenster der Kutsche gehört.

»Wir müssen aussteigen«, hatte er mit seiner sanften Stimme gesagt. »Ich glaube, wir stehen schon seit Stunden vor dem Casino.«

»Muß das sein, jetzt, das Casino?« hatte sie gefragt. »Können wir nicht weiterfahren, so weiterfahren wie vorhin, bis wir zu Hause sind, und dann …«

»Es geht nicht«, hatte er gesagt, während er ihr den Rock wieder bis zu den Stiefeln herunterstrich und sich den Mantel zuknöpfte. »Ich muß einmal durch den Spielsaal gehen, mich sehen lassen. Du weißt ja, wenn die Katze nicht im Hause ist, dann tanzen die Mäuse …«

Nun saß er am Spieltisch, spielte wahnwitzig wie irgendeiner von den tausend Spielern, über die er sonst nur mit Verachtung sprach, spielte und spielte, gewann längst nicht mehr, das elfenbeinerne Kästchen vor ihm war leer – zum wievielten Mal schon? – und vor ihm lag nur noch ein Gulden.

»Noch einmal auf Rot«, sagte er mit einem verschämten Lächeln. »So wie es angefangen hat.«

»Mesdames, Messieurs! Faites votre jeu!« Empfindungslos wie ein Automat tönte die Stimme des Croupiers in Maries Ohren, wohl zum hundertstenmal an diesem Abend.

Marie nahm François’ Hand, hielt sie fest, während die Kugel kreiste.

»36, Rouge, Pair, Passe!« gab der Automat bekannt.

»Ha!« sagte François. »Du hättest mir von Anfang an die Hand halten sollen.« Und fröhlich, als hätte er nicht den ganzen Abend lang verloren, kassierte er seine zwei Gulden.

»Jetzt können wir wenigstens in einem gemütlichen, billigen Gasthof essen gehen«, lachte er. »Du mußt einen wahnsinnigen Hunger haben. Es ist fast Mitternacht. Verzeih mir!«

»Nur unter einer Bedingung, François. Du mußt mir versprechen, daß du nie wieder spielst.«

»Spielen?« sagte er. »Wer behauptet denn, ich hätte gespielt? Ich habe nur die Verläßlichkeit unserer Spielanlage geprüft. Jetzt weiß ich genau, daß die Rouletteschüssel unbestechlich läuft und keinen Fehler hat. Vor allem weiß ich, daß auf die Dauer kein Spieler eine Chance gegen die Bank hat. Nun kann ich wieder beruhigt schlafen.«

Sie saßen schon in der Kutsche, als der Saaldiener atemlos herankam und noch einmal die Tür aufriß. »Verzeihung, Mademoiselle«, keuchte er. »Ihr Schirm!«

Sie lachten noch, als sie an den weißgescheuerten Holztischen einer Handwerkerkneipe saßen und die dampfende Schüssel mit Kartoffelsuppe und Speck vor sich hatten.

»Dieser schreckliche Schirm«, sagte Marie. »Was hat er denn nun letzten Endes gekostet?«

François Blanc zog einen Zettel aus der Tasche, auf dem sein Direktor die aus dem eigenen Casino entliehenen Summen notiert hatte.

»Du besitzt wahrscheinlich den teuersten Schirm der Welt«, sagte er. »Du darfst ihn nie verlieren. Er ist fast so wertvoll wie das berühmte Halsband der Kaiserin Marie Antoinette.«

»Aber du traust dich nicht, mir zu sagen, was er nun wirklich gekostet hat!«

»Ich muß wohl«, lächelte er wie ein auf frischer Tat ertappter Schuljunge. »Aber ich sag’s dir nur ins Ohr.«

Sie neigte sich zu ihm. Dann schloß sie die Augen vor Schreck und schrie laut auf: »Zweiundneunzigtausend Gulden!«

Die Handwerker und die Kleinbürger, die an den Nebentischen um Zehntelkreuzer Karten spielten oder würfelten, schauten kurz zu ihnen hinüber, dann spielten sie weiter. Diese Summe überstieg ihre Vorstellungskraft.

»Ist das viel für dich, François?« fragte sie, während sie ihre Kartoffelsuppe löffelte.

»Es war einmal viel für mich.« Er schnitt sich eine Scheibe Speck ab und legte sie auf einen Kanten trockenen Brotes. »Im ersten Jahr des Casinos war der gesamte Jahresgewinn nur wenig höher. Aber heute …« Er hob den Bierkrug an den Mund und trank in langen, durstigen Schlucken.

Marie sah den Mann an, der ihr gegenüber saß, der ihr Mann war, auch wenn sie noch nie vom Heiraten gesprochen hatten, und ihre Gedanken wanderten zurück zu dem Tag, an dem sie zum erstenmal vor ihm gestanden hatte. Es war der Tag der Grundsteinlegung für das Casino gewesen. Sie war acht Jahre alt, und sie hielt ihn für einen Zauberer. Oder für den Teufel…

Erstes Buch DAS FEST

Kapitel I

Mittagshitze. Der Geruch von Kochfleisch und Kohl, vom Sonntagsessen. Der feine, scharfe Duft des unbearbeiteten Leders aus der Werkstatt. Die Luft schien schwer und dumpf auf der Treppe zu stehen.

Das Mädchen horchte ins Haus hinein. Warum machen sie kein Fenster auf? Sie stand an der Schlafzimmertür, die einen Spaltbreit offen war.

Durch die geschlossenen Läden fielen bunte Sonnenstreifen ins Schlafzimmer, auf die Bodendielen, auf das Bett, in dem die Frau schlief.

Die fremde Frau. Vater wollte, daß sie Mutter zu ihr sagte. Aber für sie war es noch immer eine fremde Frau. Und seit drei Wochen durfte niemand mehr ein Fenster aufmachen.

»Du wirst bald ein Schwesterchen bekommen«, hatte Vater gesagt. »Vielleicht auch ein Brüderchen. Und wenn wir die Fenster aufmachen, gibt es Zugluft, und das kann dem Schwesterchen schaden. Oder dem Brüderchen. Und das willst du doch nicht?«

»Ich habe schon eine Schwester. Und ich kann keine mehr kriegen, denn Mutter ist tot«, hatte Marie gesagt.

Die fremde Frau hatte geseufzt und den Vater lange angeschaut.

»Das verstehst du noch nicht«, hatte Vater gesagt. »Wir haben doch eine neue Mutter, und jetzt bekommen wir neue Schwesterchen und neue Brüderchen. Und nun sei lieb und gib deiner Mutter einen Kuß.«

Da hatte sie sich umgedreht und war aus dem Haus gelaufen, die Straße hoch, zum Friedhof hinauf, und sie hatte gesehen, daß die Blumen auf dem Grab ihrer Mutter welk waren, ein trauriges Gestrüpp von toten Stengeln und vertrockneten Blüten.

Marie versuchte angestrengt, sich zu erinnern. Hatte sie auch damals kein Fenster aufmachen dürfen? Damals, als ihre Mutter gesagt hatte, daß bald Sophie kommen würde? Und damals, als Mutter gesagt hatte, daß bald Marguerite kommen würde?

Bei Sophie – nein, da konnte sie sich nicht erinnern, da war sie selbst noch zu klein gewesen. Aber bei Marguerite, das wußte sie genau, damals waren die Fenster immer offen gewesen. Damals war immer der Duft von den Blumen im Garten hereingekommen.

Totengasse hieß die Straße, sie führte zum Friedhof, ein häßlicher Name, und die Kinder in der Schule ärgerten sie damit.

In manchen Nächten hatte sie sich vor die Haustür geschlichen und gewartet, ob die Toten vom Friedhof kamen. Wenn die Toten wirklich nachts auf der Totengasse spazierengingen, dann würde vielleicht auch ihre Mutter kommen. Vielleicht sogar mit der kleinen Marguerite an der Hand. Marguerite war erst neun Monate alt gewesen, als sie starb. Das war nun zwei Jahre her. Sie hätte ihre Mutter fragen können, ob Marguerite wirklich daran gestorben war, daß immer das Fenster offen war. Und sie hätte fragen können, ob es recht war, daß Vater die fremde Frau aus dem anderen Dorf geholt hat. Und ob es recht war, daß Vater die fremde Frau geheiratet hat. Und ob sie wirklich zu der fremden Frau »Mutter« sagen soll…

Sie lag nun in Mutters Bett, die fremde Frau, und es roch nach Leder und Essen im Haus.

Auf Zehenspitzen drehte sich Marie um, auf Zehenspitzen stieg sie leise die Treppe hinab, preßte sich gegen die rauhe Wand, um die dritte und die achte Stufe, die immer knarrten, leichter übersteigen zu können, und unten legte sie das Ohr an die Tür zur Werkstatt ihres Vaters.

Früher, als Mutter noch lebte, war Vater sonntags nach dem Essen nie in die Werkstatt gegangen. Früher hatte Vater seinen Mittagsschlaf immer mit ihnen zusammen gehalten.

Ja, das war schön gewesen, aus dem Garten hatten die Blumen geduftet, und sie hatte geträumt, daß ihr kleines Haus ein großes Schloß wäre, so groß wie das Schloß vom Landgrafen in Homburg, und daß der kleine Garten ein großer Park wäre, so groß wie der Englische Garten in Homburg, mit genauso vielen riesigen Bäumen und Teichen und Schwänen und Blumenbeeten. Genau wie der Park von der Gräfin Elisabeth, die aus England gekommen war und sich ihren Garten mitgebracht hatte, ihre Blumen und Teiche und Schwäne. Sie hatte zu ihrer Mutter gesagt: »Wenn ich groß bin, nehme ich auch überall unseren Garten mit und unsere Rosen und unseren Rhododendron und …«

»Aber Marie«, hatte Mutter da gelacht, »wo willst du denn überhaupt hin?«

»Überallhin«, hatte Marie gesagt. »Einfach überallhin. Nach Homburg und nach Frankfurt und … und … und …« Sie hatte nicht mehr weiter gewußt, denn da war für sie die Welt zu Ende.

Das war eine schöne Zeit gewesen, und Vater hatte auch noch nicht so viel getrunken wie seit dem Tod der Mutter. Der Duft des Leders war rein gewesen und klar. Nicht von Essensdünsten überlagert und vom Geruch des billigen Weins.

Marie drückte die Türklinke herunter und machte einen Schritt in die Werkstatt hinein.

Vater saß zusammengesunken auf seinem Schusterschemel, neben ihm lag die Weinflasche auf dem Boden, der Wein war ausgelaufen, und die Lache reichte bis unter den Lederhaufen in der Ecke. Vor ihm lagen Pfrieme und Ahle, und halb fertig die Schuhe, die er vorige Woche schon abliefern wollte.

Alles schlief im Haus – und dabei würde doch jeden Augenblick der Bauer Laporte mit seinem Pferdewagen kommen und die Familie abholen. Ganz Friedrichsdorf ging heute nach Homburg, zum großen Fest. Das ganze Dorf sprach seit Wochen von nichts anderem als dem Fest.

Kapitel II

Marie trat leise neben ihren Vater und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Vater«, sagte sie, aber er schnaufte weiter mit halboffenem Mund. »Vater«, sagte sie noch einmal und strich ihm zärtlich über den kahlen Kopf. Aber er rührte sich nicht.

Marie ging in die Wohnküche. Sophie, die Kleine, hatte sich im Sessel zwischen Kachelofen und Herd zusammengerollt und hielt ihre Puppe im Arm. Auch Sophie schlief.

Marie nahm den Eimer, der neben dem Herd stand, und den Putzlumpen, der an der Herdstange hing.

In der Werkstatt schürzte sie ihren langen Rock auf und kniete sich neben die Weinflasche vor ihrem Vater. Mit flinken Händen wischte sie den Wein auf, putzte den Boden bis unter den Lederhaufen, sortierte die Lederlappen aus, die der Wein dunkel gefärbt hatte, um sie später zum Trocknen in die Sonne zu legen.

Als sie sich wieder aufrichtete, sah sie ihrem Vater in die Augen.

»Was machst du denn da, Kind?« fragte er leise.

»Ich mach’ sauber, Vater. Die Weinflasche …«, sagte sie ohne Vorwurf.

»Sie ist mir eben um gefallen, als ich nach den Nägeln greifen wollte«, sagte er, umständlich nach einer Entschuldigung suchend.

»Diese Schuhe für Madame Dupont«, seufzte er. »Sie hat so merkwürdige Füße. Überhaupt nicht wie normale Leute. Hast du gewußt, daß ihr rechter Fuß größer ist als der linke?«

Er hob die Flasche vom Boden auf, blinzelte hinein und sah, daß doch noch ein Rest geblieben war.

»Weißt du«, sagte er, »das kommt, weil sie immer im Laden steht, den ganzen Tag. Wahrscheinlich steht sie die meiste Zeit auf einem Bein.«

Er hob die Flasche an den Mund und legte den Kopf weit in den Nacken.

»Trink nicht soviel, Vater«, sagte Marie leise, ohne sich von seinem Gelächter ablenken zu lassen.

Er sah sie an und wischte sich mit dem Handrücken über die Bartstoppeln. »Hab’ ich nur gemacht, damit du die Flasche auch wegstellen kannst. Schade um den Wein. Das ist fast der einzige Schluck, den ich daraus gehabt habe. Sie ist mir gleich umgefallen, als ich sie aufgemacht habe. Dabei wollte ich die ganze Woche damit auskommen. Immer nur ein Schlückchen nach dem Essen.«

Marie nahm den Eimer auf, um ihn nach draußen zu tragen. Sie sagte nichts. Vater lügt, dachte sie. Früher hat er nie gelogen. Mutter hat auch nie gelogen.

Als sie in die Werkstatt zurückkam, um die nassen Lederlappen zu holen, sah sie ihren Vater mit stumpfem Blick auf den halbfertigen Schuh starren, den er in der Hand hielt.

»Habe ich gesagt, daß Madame Dupont den rechten Fuß größer hat?« fragte er. »Oder den linken?«

»Ich weiß nicht«, sagte Marie vorsichtig.

»Ach, zum Teufel!« schrie er und warf den Schuh in die Ecke.

»Vater!« rief Marie. Sie hatte nicht gemerkt, daß ihre Stiefmutter in die Tür getreten war.

»Was hat das dumme Ding wieder angestellt?« schrillte es von der Tür her. Ohne eine Antwort abzuwarten, schimpfte sie weiter. »Alle Türen im Haus stehen sperrangelweit offen! Ich soll mir wohl den Tod holen! Das Kind soll wohl als Krüppel zur Welt kommen! Oh, ich weiß genau, was dieses kleine Biest vorhat! Überall die nassen Fußstapfen in der Küche und im Flur! Gestern hab ich noch geputzt! Ich – in meinem Zustand!«

Sie legte die Hände auf den Bauch, und plötzlich hatte sie Tränen in den Augen. »Warum muß sie mir das Leben zur Hölle machen? Ich spüre genau, wie sie mich immer anstarrt, hinter meinem Rücken! Warum sagt sie nicht ein einziges Mal ›Mutter‹ zu mir!« Und, zu ihrem Mann hin: »Sag ihr, daß sie mich um Verzeihung bitten soll! Kaspar, wenn ich das gewußt hätte, als du mich angefleht hast, dich zu heiraten! ›Meine Kinder brauchen eine Mutter!‹ hast du gesagt. Aber sagt Marie auch nur ein einziges Mal ›Mutter‹ zu mir? Nur ein einziges Mal …?«

Marie sah ihren Vater an. Würde er das wirklich von ihr verlangen? Würde er es wirklich befehlen? Wie von weit her hörte sie die Stimme ihres Vaters, bittend und schwach.

»Marie …«, sagte er.

»Siehst du, wie verstockt sie ist? Sie will es nicht sagen! Sie will es ums Verrecken nicht sagen!«

»Marie …«, hörte sie den Vater sagen, seine Augen waren traurig, ganz klein sah er aus, wie er da auf seinem Schusterschemel saß, mit wirrem Haar, unrasiert, viel kleiner als sie. Marie blickte auf ihn herab.

Sie spürte, wie sich ihr Hals zusammenschnürte. Sie mußte sich quälen, die Worte herauszubringen, die gräßlichen Worte.

»Verzeih mir«, sagte sie so leise, daß sie es fast selbst kaum hören konnte. »Mutter …«

Dann rannte sie an ihr vorbei, durch die Küche, in den Garten, und preßte ihr Gesicht an die rauhe, warme Rinde des Apfelbaumes. Sie fühlte sich allein, ganz allein auf der Welt.

Kapitel III

Sie wußte nicht, wie lange sie so dagestanden hatte, die Arme um den Baumstamm gelegt, die Wange an die Rinde geschmiegt. Sie hob den Kopf, als sie auf der Straße das Geräusch eines Wagens hörte, das Mahlen der Räder im Sand und fröhliche Stimmen. Der Bauer Laporte mit seinem Heuwagen und die Nachbarn, dachte sie, aber sie freute sich nicht mehr.

Sie hörte die Stimme ihres Vaters, verstand aber nicht, was er sagte. Gelächter war die Antwort. Alle waren so fröhlich – warum konnte sie nicht auch so sein?

Sie stellte sich an die Traufe vor der Pumpe und warf sich mit beiden Händen das klare Wasser ins Gesicht, trocknete sich mit der Schürze ab und band sich die Schürze schon los, als sie ins Haus hineinlief.

Durch die offene Haustür sah sie den Heuwagen von Bauer Laporte auf der Straße stehen. Oben auf dem Wagen saßen die Frauen in ihrem Sonntagsstaat und kicherten.

»Ah, da kommt auch schon des Schusters Töchterlein!« rief der Färber Barrault.

»Eine feine Schusterstochter«, rief der Tuchwirker Matthieu, als sie die Treppe hinaufstürmte. »Auf nackten Füßen läuft sie herum. Sag, Schuster Hensel, hast du so viel zu tun, daß du nicht dazu kommst, deiner eigenen Tochter ein Paar Schuhe zu machen?«

Sie hörte das Gelächter bis in das Zimmer hinauf.

Sie hob den schweren Deckel ihrer Truhe hoch und griff nach den feinen roten Stiefelchen, die der Vater ihr zu Weihnachten gemacht hatte.

Sophie saß schon auf dem Wagen, als Marie vors Haus trat, Frau Godefroy hatte sie auf den Schoß genommen. Die Männer waren auch schon aufgestiegen, nur Vater stand noch mit Bauer Laporte am Wagenende. Die Stiefmutter stand vom am Wagen und tuschelte mit drei Frauen, die ihr mit verschämtem Lächeln zuhörten.

Laporte und ihr Vater packten Marie mit festen Händen unter den Achseln und hoben sie hoch. »Eins!« riefen sie. Bei »zwei« fielen alle im Chor mit ein, und sie fühlte, wie sie durch die Luft geschwungen wurde. Bei »drei« stand sie oben auf dem Wagen. Vater kletterte hinter ihr her, und Laporte ging nach vorne.

Die Männer lachten und die Frauen kicherten. Laporte knallte mit der Peitsche, und widerwillig begann Rodrigo, der Braune, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

»Kaspar, paß mit dem Trinken auf!« rief die Stiefmutter hinter dem Wagen her.

»Da braucht keiner aufzupassen, das schafft der Hensel ganz allein!« rief Bourgignon, der Färbergeselle. Da hatten sie wieder alle etwas zum Lachen.

Der Wagen rumpelte die Totengasse hinunter und bog dann in die lange Hauptstraße ein, wo links und rechts die Häuser der Tuchwirker und der Färber standen. Neben einem großen, einstöckigen Haus, dem Wohnhaus, war immer ein kleines, die Werkstatt – die Tuchwirkerei oder die Färberei.

Die meisten Leute in Friedrichsdorf waren Tuchwirker oder Färber. Ihre Vorfahren waren vor zweihundert Jahren aus Frankreich eingewandert, Hugenotten, stark in ihrem Glauben und tüchtig in ihrem Handwerk. Weil sie lieber leiden als ihrem Glauben abschwören wollten, hatten sie Haus, Hof und Werkstatt verlassen und waren aus der unduldsamen Heimat geflüchtet. Weil sie tüchtig in ihrem Handwerk waren, hatte der Landgraf von Hessen ihnen dieses Stückchen Land geschenkt. Sie hatten ihr neues Dorf erbaut, das sie Friedrichsdorf nannten, dem Landgrafen Friedrich zum Dank. Aber sie waren Franzosen geblieben, mitten in Deutschland. Sie hatten ihre französischen Namen behalten, sie sprachen französisch in ihren Familien, auch wenn sie mit den Deutschen in den Nachbardörfern deutsch zu sprechen gelernt hatten. Der Schulunterricht wurde französisch gehalten, die Messe wurde französisch gelesen. Ein Franzose war der Lehrer, und ein Franzose war der Pastor.

Weil ihre Vorfahren erlebt hatten, was religiöse Intoleranz bedeutet, bemühten sie sich um Toleranz, wenn Fremde sich im Dorf niederließen, und so hatten sie auch nichts gegen Caspar Hensel aus Oberstedten eingewendet. Einen Schuster hatten sie bislang nicht im Dorf gehabt, und Caspar Hensel hätte längst schon wohlhabend sein können wie die anderen, die auch alle Handwerker waren. Wenn nur der Schuster Hensel nicht so viel getrunken hätte. Aber das war eine andere Geschichte.

Caspar Hensel nannte sich auch bald Gaspard statt Caspar. Seinen Kindern hatte er schöne französische Namen gegeben, Marie für die Älteste, Sophie für die zweite und Marguerite für den kleinen Unglückswurm, der nur neun Monate alt geworden war, und das nächste Kind, das hatte er schon versprochen, das würde er Frederic nennen, wenn’s ein Junge würde – und er war überzeugt, daß es ein Junge würde –, um seinen Dank an Friedrichsdorf auszudrücken.

Marie, seine Älteste, mit ihren nun fast acht Jahren, war schon eine echte Friedrichsdorferin. Mit ihren roten Stiefeln, ihrem blauen Rock und der weißen Bluse unter ihrem roten Mieder sah sie wie eine richtige kleine Französin aus. In der Schule war sie eine der besten und sprach fast besser französisch als viele Alte, die es noch von ihren Eltern gelernt hatten. Die Weinflaschen kreisten, Madame Dupont, die Bäckerin – mit den ungleichen Füßen –, verteilte Brot, und Madame Lafargue, die Metzgersfrau, säbelte jedem eine dicke Scheibe von dem riesigen Schinken herunter, den ihr Mann als Wegzehrung auf den Wagen gewuchtet hatte. Alle waren schon in Festtagsstimmung, noch bevor sie die oberste Spitze vom Turm der Landgrafenburg in Homburg sehen konnten.

Kapitel IV

Als sie die letzte Anhöhe vor Homburg erreicht hatten, mußten sieanhalten. Die Straße stand voll mit Wagen, die aus den umliegenden Dörfern gekommen waren, Ochsenkarren, Pferdewagen, dazwischen ein paar Kutschen.

Laporte hing seinem Rodrigo noch den Hafersack um und sagte: »Wenn wir uns aus den Augen verlieren, treffen wir uns alle nach dem Feuerwerk hier am Wagen. Ich warte, bis wir alle zusammen sind.«

»Da kannst du lange warten«, lachte Bourgignon, der Färbergeselle. »Der Hensel kommt nicht eher, bis es in ganz Homburg keinen Tropfen mehr zu trinken gibt!«

Marie sah ihren Vater an. Sie erwartete, daß er dem frechen Burschen eine Antwort gab, vielleicht sogar eine Kopfnuß. Aber Hensel grinste nur verlegen.

»Sei nicht so frech, du!« drohte Marie dem Jungen. »Wenn du meinen Vater noch einmal …«

»Komm«, sagte Hensel und zog sie an der Hand. »Er macht ja nur Spaß.«

Die Nachmittagssonne brannte rot und heiß vom wolkenlos blauen Himmel herunter, die Pferde, die mit ihren Wagen am Straßenrand standen, wedelten sich mit ihren Schweifen vergebens die Fliegen vom Leib, und die Ochsen stampften unruhig in ihren Geschirren. Überall im Straßengraben saßen Männer und Frauen, paßten auf die Gespanne auf und spielten Karten oder dösten auch einfach nur vor sich hin und warteten, daß sie von ihren Freunden abgelöst würden, um sich dann auch in den Festtrubel zu stürzen.

Als sie die ersten Häuser von Homburg erreichten, wurde das Gedränge so stark, daß sie die meisten Nachbarn aus den Augen verloren. In den schmalen Gassen rings um die landgräfliche Burg kamen sie nur noch langsam voran.

Ungefähr hundert Schritte vor dem Gasthaus Rose gab es kein Vorankommen mehr. Dicht an dicht standen die Menschen in den engen Gassen zwischen den niedrigen Häusern. Marie bekam fast keine Luft mehr, und Sophie begann zu weinen. Zum Glück standen sie nah an einem Haus, und eine Frau, die am Fenster stand, hob Sophie hoch und stellte sie auf die Fensterbank. Aus anderen Fenstern reichten die Bewohner Kannen mit Wasser, und die Frau, die Sophie auf der Fensterbank festhielt, sagte, so schlimm sei es nicht einmal bei der Hochzeit des Landgrafen Joseph zugegangen.

Hensel bot dem Mann, der hinter ihr stand und eine Pfeife rauchte, seine Weinflasche an. Der Mann sagte, er sei Beamter im Schloß, und er habe vom landgräflichen Herrn Kommissar gehört, erst in der vergangenen Woche noch, daß mit dem heutigen Tag nun eine große Zeit des Reichtums und des Wohlstands anbrechen würde, und es sei auch höchste Zeit, denn die Landgrafschaft Homburg hätte anderthalb Millionen Schulden, und wenn nicht dieses Wunder des heutigen Tages geschehen wäre, dann hätte es noch ein schlimmes Ende mit Homburg genommen.

»Anderthalb Millionen«, sagte Hensel und kratzte sich am Kopf. »Wieviel Paar Schuhe das wohl sind, das Paar zu fünf Gulden?«

Der Mann und die Frau lachten, und die Frau gab Marie einen Becher Milch. Während Marie in kleinen Schlucken trank, hörte sie den Beamten zu ihrem Vater sagen: »Ja, das ist, als ob Ihr für alle Leute in Frankfurt und Darmstadt und Wiesbaden je ein Paar Schuhe schustern würdet.«

Vater Hensel nahm noch einen Schluck aus seiner Flasche, dann gab er zu bedenken: »Aber davon müßte ich ja auch erst noch das ganze Leder bezahlen!«

»Ja, ja, Meister«, sagte der Beamte, »kauft nur tüchtig viel Leder ein, denn von nun an werden viele Fremde in unser Ländchen kommen, und etliche werden sicher hin und wieder neue Schuhe haben wollen.«

Ein dicker Mann, der hinter Marie stand, begann heftig zu lachen. »Das wollen wir doch nicht hoffen«, prustete der Dicke, »daß die Fremden, die uns da versprochen werden, lauter Barfüßler sind. Dann wären es ja nicht die reichen Leute, von denen so viel erzählt wird.«

Vater Hensel reichte nun auch dem Dicken die Weinflasche. »Mir wär’s schon recht«, sagte er, »wenn sie alle barfuß kämen. Mit Kind und Kegel! Prost!«

»Nein, nein, lieber Meister«, ließ sich nun wieder der Beamte vernehmen, der seine Frau vom Fenster wegdrängte, um die Umstehenden, die ihm immer mehr ihre Köpfe zudrehten, besser belehren zu können. »Es geht doch darum«, sagte er, »daß wir nun hier eine große, elegante Spielbank bauen. Und die Fremden werden kommen und um große Summen spielen. Um Hunderte, Tausende von Gulden. Und um so viel Geld verlieren zu können, muß man schon sehr reich sein. Nicht wahr?«

»Wenn sie aber nun alle gewinnen?« fragte ein Mann höhnisch, den Marie nicht sehen konnte. »Dann steht der Landgraf aber schön da mit seiner Spielbank!« Einige lachten laut.

Der Beamte wurde ernst. »Der Landgraf weiß, was er tut!« rief er. »In einer Spielbank gewinnt niemand. Jedenfalls nicht auf die Dauer. Es ist immer die Bank, die gewinnt. Und das wird unser Segen sein.«

»Sind denn die Männer so blöd, daß sie dann trotzdem spielen?« sagte eine Frauenstimme.

»Nicht nur die Männer – die Frauen sind meistens noch viel schlimmer, wenn’s ums Glücksspiel geht«, gab der Beamte zurück. »Ich hatte kürzlich die Ehre, im Auftrag des Landgrafen in Amtsgeschäften nach Paris fahren zu dürfen«, fuhr er fort. In seiner Stimme war so viel Überheblichkeit, daß er Marie immer unsympathischer wurde, auch wenn er Sophie auf dem Fensterbrett festhielt und seine Frau ihr einen Becher Milch gegeben hatte.

»Sag schön danke zu dem Herrn gräflichen Beamten!« mahnte der Vater eifrig. Marie ließ den Korb fallen und bückte sich gleich hinterher, um nicht danke sagen zu müssen. Vater Hensel hob wieder die Flasche, und der Beamte stopfte sich seine Pfeife. »Also«, fuhr er fort, »ich habe in Paris im Auftrag des Herrn Landgrafen mehrere Spielhäuser aufgesucht – Cercles nennt man sie dort, sie sind privat –, und ich habe feststellen müssen, daß die Damen nicht minder stark vom Spielteufel besessen sind als die Männer. Natürlich handelt es sich stets um hohe Herrschaften, die nicht aufs Gewinnen angewiesen sind und die sich das Verlieren leisten können. Und diese hohen Herrschaften, aus aller Herren Länder, erwarten wir jetzt auch in Homburg. Das wird ein Segen für unsere Stadt, ja für die ganze Landgrafschaft sein. Und nicht nur des Geldes wegen, das in der Spielbank selber bleibt. Es wird ein Segen sein auch für Handel und Wandel …« Der Beamte hatte nun seine Stimme erhoben und sprach im Ton eines Volksredners aus seinem Fenster hinaus zu der Menge, die ihm aufmerksam lauschte, » … für Handel und Gewerbe. Unser Homburg wird aufblühen und gedeihen. Wir werden Hotels und Fremdenheime bauen, und jeder, der sein Handwerk versteht, wird für eine erhabene Kundschaft arbeiten dürfen, und unser guter Ruf wird in alle Ecken unseres Erdballs getragen werden.«

»Hurra!« dröhnte aus hundert Kehlen.

»Hurra!« schrie auch Vater Hensel und reckte die nun leere Flasche in die Luft, und der dicke Bauch stieß Marie gegen den Mann mit dem Stallgeruch, der vor ihr stand.

Der Beamte erhob abermals die Stimme: »Und ein dreifaches Hurra auch für die ehrenwerten Messieurs François und Louis Blanc, die auf Einladung unserer allerdurchlauchtigsten Landgrafen eigens aus Paris in unser kleines Homburg gereist sind, um am heutigen Tag den Grundstein für unser neues Kurhaus mit dem glanzvollen Casino zu legen! Hurra!«

Und wie auf Kommando tönte, vom Gasthaus Rose her, in das Hurra das Schmettern von Trompeten und Posaunen und das Tschingderassara der Trommeln und Becken hinein. Vorn flogen Hüte in die Luft, der Festzug setzte sich in Bewegung. Vater Hensel holte die kleine Sophie vom Fensterbrett des Beamten herunter, um sie sich auf die Schulter zu setzen, und Marie hob mit der rechten Hand den Korb vom Boden auf und hielt sich mit der linken an den Rockschößen ihres Vaters, um nicht von der drängenden Menge davongeschoben zu werden. Im Weggehen sah sie noch, daß sich der wichtigtuerische Beamte wieder die Pfeife zwischen die Zähne steckte und von seinem Fenster aus, wie ein Feldherr bei der Truppenparade, über die Menschen hinwegblickte, die sich durch die enge Gasse zwängten, um der Musik zu folgen.

Auf der Louisenstraße schlug der Festzug die Richtung stadtwärts nach den »Anhaltischen Häusern« ein. Dort lag das weitläufige Gelände, das der Landgraf – weil es sein Besitz war – zum Bau des neuen Kurhauses bestimmt hatte.

Marie sah und spürte vor und neben sich nur noch Beine – Beine in Tuch- und Lederhosen, Stiefel und Frauenröcke aus grobem und manchmal aus feinerem Tuch. Klobige Nagelschuhe traten ihr auf die längst schon mit Staub und Straßenschmutz bekrusteten feinen roten Schuhe. Hüften stießen ihr in die Schulter und drängten sie gegen dicke, pralle Hinterteile in verschwitzten, durchnäßten Kleidern. Die rote Schleife vom linken Zopf war verlorengegangen, das lange Haar hatte sich aufgelöst und hing ihr wirr vor den Augen. Und da sie sich mit der linken Hand in verzweifelter Angst an der Jacke ihres Vaters festhielt und mit der rechten Hand den Korb umkrampft hielt, der sich immer wieder zu verklemmen drohte, konnte sie sich nicht einmal mit der Hand die Haare aus dem Gesicht streichen. Und über allem tönte Lärm aus Hunderten von Kehlen, Singen, Schreien, Rufen, Lachen, Schimpfen – und die Musik, die wie aus weiter Ferne zu ihr drang; und hoch oben thronte Sophie auf Vaters Schultern und schwenkte ihre Lederpuppe über den Köpfen der Menge.

Eine Hand griff nach dem Korb. Marie riß erschreckt am Henkel und wollte um Hilfe rufen, aber dann sah sie das lachende Gesicht von Bauer Laporte mit tausend kleinen Schweißperlchen, das sich zu ihr niederbeugte. Erst als sie den Korb losgelassen hatte, merkte sie, wie weh ihr schon der Arm tat.

Sie standen an der Ecke einer Seitenstraße, Laporte zog sie neben sich. Endlich bekam sie auch wieder frische Luft zum Atmen, endlich konnte sie sich die Haare über die Schultern streichen. Sie hörte Laporte zu ihrem Vater sagen: »Hinter der Musik herzulaufen hat keinen Zweck. Wenn das Kind unter die Stiefel gerät, gibt es ein Unglück.«

»Hätt’ ich nie gedacht«, hörte sie ihren Vater sagen, »daß es so ein Gedränge wird. Ein Glück, daß meine Frau nicht mitgekommen ist, in ihrem Zustand.«

»Für die Kinder ist es auch gefährlich. Ein Wunder, wenn nichts passiert.«

»Das wäre ein schlechtes Zeichen für das Fest und für alles, was da jetzt neu anfangen soll«, sagte Vater Hensel.

Marie fragte ihren Vater, ob er eine Haarschleife in der Tasche hätte.

»Natürlich nicht«, sagte er. »Ich bind mir ja nichts ins Haar.«

Laporte lachte, kramte aber in seinen Taschen und brachte schließlich ein Stück Bindfaden zum Vorschein. »Nimm das«, sagte er. »Ist besser als gar nichts.«

Sophie schrie von ihrem Aussichtspunkt auf den Schultern ihres Vaters: »Warum gehen wir nicht weiter wie die anderen Leute? Von hier aus sieht man doch gar nichts.«

»Es geht ja gleich weiter«, sagte Vater Hensel. »Nur eine kleine Pause zum Verschnaufen.«

»Am besten«, ließ sich Laporte vernehmen, »gehen wir durch die Seitengassen zu den Anhaltischen Häusern. Vielleicht ist da nicht so viel Gedränge. Ich nehm die Marie und den Korb.«

»Bist ein guter Nachbar, Laporte«, sagte Vater Hensel.

»Nicht so gut, wie du meinst«, lachte Laporte. »Nachher mußt du mir aus deinem Korb was zu essen abgeben. Ich hab’ die Metzgerin mit ihrem Schinken im Gedränge verloren.«

Auch in den Nebenstraßen drängten sich die Menschen, aber hier konnte Marie wenigstens frei atmen und auch sehen, was ringsum vor sich ging. In manchen Häusern hatten die Leute kleine Fäßchen auf die Fensterbänke gestellt, und überall standen Nachbarn und Freunde zusammen und diskutierten laut und lachten. Es wankten auch schon die ersten Betrunkenen von Hauswand zu Hauswand und lallten singend vor sich hin.

So gingen sie weiter, an der Rentei vorbei, und hatten bald rechter Hand das freie Feld vor sich, wo das vielgepriesene neue Kurhaus erstehen sollte. Sie stapften über das Baugelände, und Marie ließ Laportes Hand los, um ihren Rock zu schürzen; bei jedem Schritt sah sie mit Schrecken, wie ihre roten Stiefel tief in den weichen Boden einsanken, der in diesem Jahr nicht bestellt worden war.

Das Grundstück sah traurig aus. Die großen alten Bäume waren in den letzten Wochen gefällt worden, von dem alten Salzmagazin standen nur noch ein paar Grundmauern. Lediglich die alten Anhaltischen Häuser, der Herrensitz auf dem Anwesen, leuchteten oben an der Louisenstraße noch in der Sonne – aber auch deren Tage waren bereits gezählt. Alles würde Platz machen müssen für den unvorstellbar riesigen Palast, der das ganze Areal einnehmen sollte. »Das Kurhaus«, hörte Marie den Bauern Laporte sagen, »soll sogar noch größer werden als das Schloß des Landgrafen.«

An der Stelle, wo gleich der Grundstein feierlich in den Boden gelegt werden sollte, standen die Neugierigen schon in einem dichten Kreis. Laporte stellte sich auf einen der frisch abgesägten Baumstümpfe und nahm Marie auf seine breiten Schultern. Nun hatte Marie eine noch bessere Aussicht als Sophie, denn Vater Hensel fand keinen Baumstumpf.

Kapitel V

Marie war die erste, die den Festzug sah. »Da kommen sie! Da kommen sie!« rief sie. Die Menge nahm den Ruf auf und die ersten »Bravo«-Rufe erschollen. Hüte flogen in die Luft.

Bunt leuchteten die Uniformen des Musikkorps, das mit klingendem Spiel hinter den Anhaltischen Häusern zum Vorschein kam, und die auf Hochglanz polierten Instrumente glitzerten in der grellen Sonne.

Marie lachte, als der Tambourmajor, der vor den Musikanten seinen langen, buntbebänderten Stab schwenkte, plötzlich auf der Stelle marschierte. Er warf seine Beine in die Luft und kam doch nicht weiter. »Wie im Kasperltheater!« rief sie.

Ein Kommandoruf ertönte, der Tambourmajor setzte jetzt wieder einen Fuß vor den anderen und stapfte mit seinem hölzernen Gang von der Louisenstraße herunter auf das freie Gelände, und Marie sah den Tambourmajor nun geradenwegs auf sich zukommen.