Die Gottespartitur - Edgar Rai - E-Book

Die Gottespartitur E-Book

Edgar Rai

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Beschreibung

Zuerst nimmt Gabriel Pfeiffer den schüchternen Geistlichen nicht ernst, der ihn auf der Buchmesse anspricht: »Es geht um Gott!" – möglicherweise habe er eine bedeutende Entdeckung gemacht. Was soll der erfahrene Literaturagent damit anfangen? Erst als er Tage später in einer Zeitungsnotiz liest, dass ebenjener Seminarist Matthias tot in einer bayerischen Dorfkirche gefunden wurde, zieht ihn die Geschichte in den Bann: in ihrem Zentrum ein geheimnisvolles Manuskript, das schon um 1780 den Wissenschaftler Charles Burney elektrisierte. Auf seiner Suche bereiste der Gelehrte halb Europa, bis ihm das kostbare Stück in Bologna endlich in die Hände fiel. Das Aufsehenerregende ist: Es zog eine Spur des Todes hinter sich her, ein jeder Besitzer verstarb auf mysteriöse Weise. Diese Geschichte lässt Gabriel nicht mehr los. Er recherchiert in den Archiven von London und in dem bayerischen Dorf. Was er findet, ist mehr als eine gute Story: Es geht um Gott, wie prophezeit. Es geht um den Glauben, um Gewissheit und Liebe - und am Ende um Leben und Tod.

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www.berlinverlag.de

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Berlin Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2014

ISBN 978-3-8270-7730-1

© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin 2014

Umschlaggestaltung:

ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: © Glenn Ferguson/Arcangel Images

Datenkonvertierung: Greiner & Reichel, Köln

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

1.

Der junge Mann, der, kaum dass Gabriel sein Jackett über die Lehne gehängt und sich gesetzt hat, an seinen Tisch herantritt, nimmt all seinen Mut zusammen.

»Es geht um Gott.«

Glückwunsch, denkt Gabriel. Mittwochmorgen, kurz vor neun. Tag zwei nach der Vergabe des Deutschen Buchpreises und zudem erster offizieller Messetag. Ein nichtswürdiger Tag, vielleicht noch nichtswürdiger als all die anderen. Und dieser Milchbart kommt ihm mit Gott.

Das Agent’s Center hat die Leinen losgemacht und Fahrt aufgenommen. Ein nervöses Grundrauschen erfüllt die Luft. Die Harpunen sind abschussbereit, die Jagd auf die dicksten Fische ist eröffnet, auf die Stars der kommenden Saison.

Gabriels erster Blick fällt auf die lederne Aktentasche, die der junge Mann am Griff hält. Ein langer Schlaks, der seine Arme zu weit durch die Ärmel seiner Jacke gesteckt hat. Die Haltung hat etwas Geducktes – wie ein Hund in Erwartung von Schlägen. Kleinkariertes Hemd, steif gebügelt und zugeknöpft bis zum Hals. Wenn der versucht, sich hinzusetzen, bricht es ihm das Genick.

Bevor er dem jungen Mann antwortet, tut Gabriel etwas, das er sich sonst höchst selten gestattet: Er berührt Leonore, die neben ihm steht und die Rechtekataloge bereitlegt, am Arm. Die hält inne, sucht seinen Blick.

»Ich kümmere mich darum«, sagt sie.

Gemeint ist ein doppelter Espresso.

Er blickt seiner Assistentin nach, beobachtet, wie sich ihr der Raum unterwirft, während sie lautlos über den Teppichboden schreitet. Sie glaubt an Reinkarnation, sagt, sie sei bereits in diesem Leben einmal wiedergeboren worden. Gabriel fragt sich, in welcher Gestalt eine wie Leonore wohl beim nächsten Mal wiederkehrt. Als Liebeslied vermutlich. Unsterblich und unantastbar zugleich. Er wird es nicht mehr erleben. Vieles wird ihm erspart bleiben. Denn er wird unter Garantie nicht wiedergeboren werden. Hat er sich geschworen.

Seine Uhr sagt ihm, dass in fünf Minuten der erste Verleger vor ihm sitzen und aus teigigen Wangen auf ihn einreden wird.

»Um Gott also.«

»Ja.«

»Eine Komödie, hoffe ich.«

Brüllerwitz. Eher friert die Hölle zu – um im Bild zu bleiben –, als dass dieser Typ eine Komödie schreibt.

Der junge Mann versucht, nicht vom Pfad abzukommen. Ironie ist für den wie Serbokroatisch.

»Möglicherweise habe ich eine … bedeutende Entdeckung gemacht.«

»Möglicherweise?«

»Ich weiß es noch nicht genau.«

Gabriel lehnt sich zurück.

»Spricht etwas dagegen, wiederzukommen, wenn du es weißt?«

»Das wird möglicherweise nicht möglich sein.«

Möglicherweise nicht möglich. Gabriel spürt die Müdigkeit in sich einsickern, als hinge er an einem Tropf. Wenn Leonore nicht innerhalb der nächsten drei Minuten zurückkommt, wird sie ihn schlafend vorfinden. Oder im Koma liegend.

Erneut blickt er auf die Uhr. Dieser Tag hätte gute Chancen, der längste seines Lebens zu werden. Doch es gibt immer ein Morgen, immer einen neuen längsten Tag.

Das Rauschen ist zu einem Surren angeschwollen. Die Reihen füllen sich. Die Harpuniere haben sich in Stellung gebracht. Und kein Kollege, der nicht wenigstens zu Gabriel herübersehen würde. Er kann den Blick nicht heben, ohne einem anderen zu begegnen. Alle sind sie da, wie jedes Jahr. Die Orientierungslosen, die Emsigen, die Drohnen. Zurück im Bienenstock der Eitelkeiten. Und Gabriel, einer der Stars in ihrer Mitte, trägt seit vorgestern Abend einen Streifen mehr auf den Schulterklappen.

Er verschränkt die Arme vor der Brust.

»Setz dich.«

Der junge Mann zieht den Stuhl mit der stoffbespannten Lehne zurück, setzt sich, legt die Aktentasche auf seine Oberschenkel und die Hände auf die Tasche.

»Wie heißt du?«

»Matthias.«

»Und wie alt bist du?«

»Siebzehn.«

»Also schön, Matthias. Du hast drei volle Minuten, um mich neugierig zu machen.«

Der Junge blickt auf seine abgekauten Nägel. Wo anfangen?

»Kennen Sie Charles Burney?«

Gabriel geht im Schnelldurchlauf das Namensregister in seinem Kopf durch. Da ist sicher eine vierstellige Zahl von Namen gespeichert, zu Charles Burney allerdings gibt es keinen Eintrag.

»Nie gehört.«

»Also, das war ein Engländer, der hat im achtzehnten Jahrhundert gelebt und ist viel herumgereist. Er hat Reisen auf den Kontinent unternommen, meine ich, nach Deutschland und Frankreich und Italien und so …«

»Zwei Minuten.«

»Und er hat … Also, er hat Tagebuch über diese Reisen geführt. Die gibt’s auch noch – in einem Archiv …« Der junge Mann unterbricht sich selbst. Diese Ich-gebe-dir-drei-Minuten-Disziplin überfordert ihn. »Ich kann das nicht so schnell«, entschuldigt er sich, »aber ich habe … Also, ich habe etwas für Sie aufgeschrieben, damit Sie wissen, worum es geht.«

Er drückt den Messingverschluss seiner Aktenmappe auf, schlägt die Klappe zurück, fingert an der Rückseite herum und zieht einen versteckten Reißverschluss auf. Großpapas Tasche verfügt allen Ernstes über ein Geheimfach.

Die Hand des jungen Mannes ist zur Hälfte verschwunden, als ihm etwas einfällt.

»Ich sollte das nicht tun.«

Sein Kragen sitzt wie eine eigens für ihn geschmiedete Halskrause.

Zweifel, denkt Gabriel. Immerhin etwas.

»Eine Minute.«

Als die Hand wieder hervorkommt, hält sie einen DIN-A4-Umschlag zwischen den Fingern.

»Ich sollte das wirklich nicht tun«, wiederholt er.

Er klammert sich an den Umschlag, mit beiden Händen, gefangen im Zwiespalt. Es zerrt an ihm, eine Gravitation, dass der Tisch sich neigt.

»Ohne Konflikt«, erwidert Gabriel, »keine Story.«

Kann der junge Mann nichts mit anfangen. Weiß anscheinend nicht, wo er sich befindet: auf dem größten Literaturmarkt der Welt. Hier geht es nicht um Befindlichkeiten, hier geht es um funktionierende Storys und funktionierende Autoren. Um Verkäuflichkeit. Alles andere ist romantisch verklärtes Hollywood oder ZDF am Vorabend. Widerstrebend legt er den Umschlag auf den Tisch. Bis er die Finger davon lösen kann, haben sie Schweißabdrücke auf dem Papier hinterlassen. Doch es ist auch Erleichterung dabei. Wie beim Arzt: als habe er die Verantwortung für alles, was von nun an geschieht, in Gabriels Hände gelegt.

»Es ist«, setzt er an, »also diese Entdeckung ist wirklich …«

»… bedeutend. Möglicherweise.« Gabriel blickt auf die Uhr: Die Zeit ist um. »Wenn sie so groß ist, deine Entdeckung, warum gehst du damit nicht zum Fernsehen?«

An der Veränderung im Gesicht seines Gegenübers erkennt er, dass diese Idee für Matthias undenkbar ist.

»Ich glaube an das geschriebene Wort, Herr Pfeiffer«, sagt der junge Mann mit fester Stimme. »Und ich weiß, dass auch Sie daran glauben.«

Der Mittwoch nach der Preisvergabe. Und noch vor dem ersten Messetermin wird Gabriel mit seinem Glauben konfrontiert. Er wusste es gleich: ein nichtswürdiger Tag.

Der junge Mann lässt sich nicht entmutigen. Gabriel muss einfach der Richtige sein.

»Sonst wären Sie nicht so ein berühmter Literaturagent geworden«, fährt er fort. »Ich weiß noch mehr, nämlich dass Sie auch auf einem Internat waren und dass wir dieselbe Leidenschaft teilen.«

Leidenschaft, auch das noch.

Aus dem Augenwinkel sieht er seine Assistentin zurückkommen, eine schwebende Espressotasse vor sich. Rettung in höchster Not. Der Rand der Untertasse liegt auf ihrem gebogenen Zeigefinger und wird soeben von der Daumenkuppe gehalten. Als trage sie die Tasse nicht, sondern gebe ihr lediglich die Richtung vor. Einmal Gastro, immer Gastro, hat sie ihm mal erklärt.

Gabriel beugt sich vor, stützt die Unterarme auf dem Tisch ab. Unbequemere Stühle als diese gibt es höchstens in taiwanesischen Computerfabriken. Bereits nach fünf Minuten ringt man um eine erträgliche Sitzposition. Auf dem Umschlag steht, mit Füller geschrieben und in einer Schrift, als hätte sich der Schreibende jeden Buchstaben einzeln abgerungen: Für Herrn Gabriel Pfeiffer. Und in einer zweite Zeile: persönlich!

»Wir prüfen das und melden uns.«

»Nein«, platzt es aus Matthias heraus, »lieber nicht. Ich rufe Sie an, nächste Woche. Oder, wenn ich mich nicht melde …«

Er bleibt in seinen Überlegungen stecken, als Leonore um den Tisch kommt und die Tasse vor Gabriel abstellt. Sie duftet wie eine unentdeckte Blume.

Der junge Mann springt auf wie bei etwas Sündhaftem ertappt. Leonore macht ihn noch nervöser. Überhaupt, der ganze Typ: Schuld und Sühne und vergebliches Unterdrücken. Brauchst mich gar nicht so anzusehen, denkt Gabriel. Für die Absolution sind andere zuständig. Und wenn du mich fragst: Die stecken bis zum Hals in der Scheiße.

»Ich muss jetzt gehen«, bringt Matthias hervor.

Gabriel nickt.

Abrupt macht der Junge kehrt, eilt mit ungelenken Bewegungen dem Ausgang zu und verschwindet hinter der Säule mit dem Übersichtsplan.

Über jede der vierzig Tischreihen spannt sich ein Metallskelett, von dem die Strom- und Netzwerkkabel herabhängen. Sechshundert Plätze, die alle künstlich beatmet werden wollen. Das Herz des internationalen Literaturbetriebs.

Leonore schließt das Laptop an, klappt es auf, wartet. Gabriel starrt ins Leere. Schließlich gibt sie das Passwort ein: Bovary.

Er hört sie etwas sagen, versucht, ihren Worten einen Sinn zu geben.

»Hm?«

»Wer das war?«, wiederholt sie ihre Frage.

»Der?« Er erinnert sich an den Umschlag und nimmt ihn in die Hand. »Irgendein Möchtegern-Autor.«

»Und was wollte er?«

Tja, was wollte er? Gabriel blickt zur Säule hinüber und stellt sich vor, wie dieser Matthias, den Rücken gegen die Verkleidung gepresst, auf der anderen Seite lauert.

»Was alle Autoren wollen, nehme ich an.«

»Und das wäre?«

»Ruhm natürlich, grenzenlose Bewunderung, einen Wellnesspark für die eigene Eitelkeit …«

Der Computer ist einsatzbereit. Leonore ruft die Mails ab.

»So sah der gar nicht aus.«

Gabriel hält den Umschlag in die Höhe. Dem Gewicht nach zu urteilen können da nicht mehr als drei oder vier Seiten drin sein.

»Eine literarische Entdeckung! Irgendwas mit Gott. Ein Engländer, der im achtzehnten Jahrhundert Europa bereist und darüber Tagebuch geführt hat.« Er lässt den Umschlag geräuschvoll auf Leonores Tisch fallen. »Viel Spaß damit. Was ist?«

Leonore bedenkt ihn mit einem sorgenvollen Blick.

»Halte durch, okay? Bis Sonntag. Fünf Tage.«

Er seufzt kaum hörbar. Fünf Tage. Unvorstellbar.

»Ich bin müde, Leonore.«

»Weiß ich, Gabriel. Aber bis Sonntag musst du durchhalten. Danach setze ich dich in einen Flieger nach ganz weit weg und du bleibst so lange dort, bis du es nicht mehr aushältst. Um alles andere kümmere ich mich.«

Er lässt seine Stirn in die Handflächen sinken, reibt sich die Augen.

»Sieh dich um, Leonore. Vierhundert literarische Agenturen aus aller Welt. Und nicht eine darunter, die dich nicht mit Kusshand einstellen würde.«

»Diese Diskussion hatten wir schon.«

»Dann übernimm meine Agentur. Ohne dich läuft hier doch schon lange nichts mehr.«

»Trink deinen Kaffee«, erwidert sie. »Da vorne kommt Betzenberg.«

2.

Gabriel war nicht immer so. Destruktiv. Nicht dass er je besonders freundlich oder umgänglich oder rücksichtsvoll gewesen wäre. Ist nicht seine Art. Hat sich stattdessen gerne als Misanthrop gegeben, der er tief in seinem Inneren aber nicht ist. Zumindest nicht war – bis vor sechs Wochen. Inzwischen ist sich Leonore da nicht mehr so sicher.

Fragt man sich natürlich, warum so einer ausgerechnet Literaturagent wird – das Bindeglied zwischen Autor auf der einen und Verlag auf der anderen Seite –, umzingelt von Befindlichkeiten. Frage ich mich auch, würde Gabriel wahrscheinlich antworten. Wer ihn besser kennt, kann leicht den Eindruck gewinnen, dass dieser Job sich Gabriel gesucht hat, nicht umgekehrt.

Er hätte auch auf ein Konservatorium gehen und Musiker werden können, mit Leichtigkeit. Landesmeister bei Jugend musiziert 1976. Das jedoch hätte bedeutet, sich beruflich an seine Vergangenheit zu binden. Ein langsamer Tod durch ein schleichendes Gift. Zum Glück für ihn fand er rechtzeitig heraus, dass er nicht nur zu Musik einen besonderen Zugang hatte, sondern auch zu Literatur.

Soweit Leonore das beurteilen kann, ist er, unabhängig von seinem Erfolg, der Beste. Sie kennt keinen, der auf »der Eingeweideebene«, wie sie das nennt, Literatur so klar sezieren kann wie er. Auch Intuition will gelernt sein, ist harte Arbeit. Verstehen die wenigsten. Gabriel schon. Ein Meister seines Fachs.

In letzter Zeit jedoch birgt jedes Autoren- oder Verlegergespräch die Gefahr in sich, zu havarieren. Seit sechs Wochen. Um genau zu sein, seit Freitag, dem 30. August, kurz vor halb vier. Da ist er zusammengebrochen. Schicksalsblitz aus einem wolkenlosen Spätsommerhimmel. Er hatte sich ein zu prüfendes Manuskript unter den Arm geklemmt, beim türkischen Bäcker an der Ecke einen Espresso getrunken und wollte sich am Kanal auf eine Bank setzen und lesen, als er mitten auf der Straße der Länge nach hinschlug.

Ventrikuläre Fibrillation, besser bekannt als plötzlicher Herzstillstand oder Kammerflimmern. Das Letzte, woran er sich erinnern kann oder glaubt, sich zu erinnern, ist ein entflogener Papagei mit grauem Gefieder, den er gesehen haben will, wie er am Ufer auf einem Baum saß und täuschend echt ein Handyklingeln imitierte.

Leonore hatte gerade Reginald Clarke an der Strippe, einen englischen Kollegen, als sie durch ihr Bürofenster sah, wie Gabriel zusammensackte. Eine vollkommen absurde Bewegung. »I will call you back«, sagte sie geistesabwesend, unterbrach das Gespräch, rief den Notruf an und rannte die Treppe hinunter. Meryem, die sich um die Buchhaltung kümmert, lief ihr hinterher.

Als sie bei Gabriel ankamen, war bereits der untersetzte Apotheker mit der Schuppenflechte von der anderen Uferseite herangewackelt, eine gelbe Plastikkiste unter dem Arm. Im ersten Moment dachte Leonore, es sei ein Verbandskasten, doch es war ein mobiler Defibrillator. »Letzte Woche erst angeschafft«, keuchte er, »bitte öffnen Sie sein Hemd!«

Der Kasten konnte sprechen, gab Anweisungen: »Ziehen Sie die Folie von der Elektrode ab …« Es schien ewig zu dauern, bis es endlich hieß: »Bitte von der Person zurücktreten«, und ein Stromstoß durch Gabriels Körper fuhr, der Wellen über seine Haut schickte. Und dann waren plötzlich Menschen mit Leuchtwesten da – überall Reflektorstreifen –, die ihn in einen Einsatzwagen luden und davonfuhren.

Im Krankenhaus sagten sie ihm, er habe Glück gehabt, großes Glück. Bei einer ventrikulären Fibrillation sinke mit jeder verstreichenden Minute die Wiederbelebungswahrscheinlichkeit um zehn Prozent. Es habe also ungefähr eine Fifty-fifty-Chance bestanden, als der Defibrillator sein Herz auf null zurücksetzte.

»Fühlt sich nicht so an, als hätte ich Glück gehabt«, erwiderte Gabriel.

Tatsächlich war er stinksauer, fühlte sich gedemütigt, aufs Äußerste. Das Leben eines jeden hängt am seidenen Faden, wie man weiß. Doch so sicher man das weiß, so sicher möchte man sich in der Illusion wiegen, er werde schon nicht reißen.

Warum geschieht so etwas: ventrikuläre Fibrillation? Die Hilflosigkeit der Ärzte bei der Suche nach einer Antwort war bemitleidenswert. Die Erklärungsversuche erschöpften sich im Betrachten von Aufnahmen, in Kittelzupfen und Stochern im Nebel.

»Nicht wenige Menschen, denen so etwas widerfährt, gehen danach glücklicher durchs Leben, bewusster«, hatte sich der Chefarzt bei der Entlassung an einer Sinngebung versucht.

Und für so was schloss man eine Privatversicherung ab und ließ jeden Monat sein Konto zur Ader.

Am Arsch, dachte Gabriel. »Wie vielen widerfährt denn so etwas?«

»Sie meinen, wie vielen wie Ihnen?«

Der Arzt hatte ihm ein Faltblatt gegeben, etwas, womit man überall auf der Welt die eigene Unwissenheit verdeckt: Plötzlicher Herzstillstand. Neben bonbonfarbenen Herzen waren dort unter anderem zehn Risikogruppen aufgeführt. Er gehörte zu keiner von ihnen.

»Ja, meine ich.«

»Ich muss zugeben«, der Chefarzt begann seine Brille zu putzen, »ein Fall wie Ihrer ist selten, ausgesprochen selten.«

Am Ende war es immer dasselbe, dachte Gabriel: Sobald man nach dem Warum fragte, gingen ihnen die Antworten aus.

Seit dem 30. August also ist er wie von einem Virus befallen. Als sei durch den Stromstoß des Defibrillators das selbstzerstörerische Element, das ihm schon immer innewohnte, aktiviert worden. Schalter umgelegt. Und das ist es, was Leonore zunehmend Sorgen macht, denn sie kennt diesen Schalter und weiß, wie schwer es ist, ihn nicht zu drücken, wenn der Finger erst draufliegt.

3.

Ungefähr zehn Tischreihen entfernt sieht Gabriel eine Gestalt herannahen. Noch ist das Gesicht unscharf, doch Ulrich Betzenberg ist unzweifelhaft an seinem dynamischen Gang zu erkennen: vital, kraftvoll, ein Macher. Die Arme schlagen aus wie Pendel. Gehört zu den Dingen, die man neuerdings auf Managerseminaren lernt. Im Geiste hört Gabriel die Stimme eines Personal Trainers mit abgebrochenem Psychologiestudium: Kommen Sie, Betzenberg, gehen Sie! Und zeigen Sie mir, was Sie sind! Offensichtlicher lässt sich Kompensation kaum in Bewegung umsetzen.

»Hilf mir, Leonore: Weshalb habe ich ausgerechnet mit Betzenberg den ersten Messetermin?«

Das Schmunzeln zieht ein Grübchen in ihre Wange.

»Damit du es hinter dir hast?«

Er nimmt die Tasse und kippt den Espresso hinunter.

Reihe für Reihe gewinnt die Gestalt an Kontur. Gabriel braucht eine Brille, will aber keine. Was soll das noch, hat er neulich gesagt, mit zweiundfünfzig. »Dein Selbstmitleid ist lächerlich«, hatte Leonore erwidert. Er nahm es als Steilvorlage: »Wenn es nur mein Selbstmitleid wäre!«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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