Die grässliche Bescherung in der  Via Merulana - Carlo Emilio Gadda - E-Book

Die grässliche Bescherung in der Via Merulana E-Book

Carlo Emilio Gadda

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Beschreibung

Mord im Goldpalast: Mit diesem Buch hat sich Carlo Emilio Gadda in die Reihe der großen modernen Romanautoren von Weltrang geschrieben. In der Übersetzung von Toni Kienlechner, die kongenial zu nennen keine Übertreibung ist. »Fangen Sie mit dem Lesen an einem Tag an, an dem Sie nichts anderes mehr vorhaben«, schrieb Michael Schweizer in der »Kommune«. Was den Kriminalroman von Carlo Emilio Gadda so knatternd vorantreibt, ist nicht nur die berühmte Frage: Wer war's. Ebenso aufregend wie die Jagd selbst ist der verschlungene Weg zur Auflösung des Schlamassels. Zunächst scheint es nur um einen eher biederen Juwelendiebstahl bei der alten Signora Menegazzi zu gehen. Dann aber geschieht im Goldpalast der Via Merulana 219 ein schrecklicher Mord – in der Wohnung genau gegenüber. Diesmal trifft es die schöne und reiche Signora Liliana. Hinter der Grimasse der Schläfrigkeit ist Kommissar Ingravallo höchst alarmiert: Das Kuddelmuddel muss auseinandergeklaubt werden. Gadda verschafft dem Leser die köstlichsten Divertimenti, nimmt ihn mit in großbürgerliche Wohnungen, in die umliegenden Straßen und Palazzi, ins Kloster und aufs Land. Zur feinen Gesellschaft ebenso wie zu Galgenvögeln, Schiebern, Hundsfotten und Spinatwachteln. Ein reiches Gesellschaftsbild Roms zur Zeit Mussolinis, ein intellektuelles und sprachliches Feuerwerk – üppig, barock, ausschweifend.

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Mord im Goldpalast: Mit diesem Buch hat sich Carlo Emilio Gadda in die Reihe der großen modernen Romanautoren

Carlo Emilio Gadda

Die grässliche Bescherung in der Via Merulana

Roman

Aus dem Italienischen von Toni Kienlechner Mit einem Nachwort von Anna Vollmer

Verlag Klaus Wagenbach Berlin

1

Mit der Zeit nannten ihn alle »Don Ciccio«. Er war der Doktor Francesco Ingravallo, abkommandiert zur Bereitschaftspolizei: einer der jüngsten und, wer weiß warum, am meisten beneideten Beamten des Untersuchungsdienstes: allgegenwärtig, allwissend in den dunklen Affären und finsteren Fällen. Von mittlerer Statur, eher rundlich in der Gestalt, ein wenig untersetzt vielleicht; die Haare, schwarz, dicht und gekraust, wuchsen ihm bis halb in die Stirn herunter, als wollten sie ihm quasi die beiden metaphysischen Stirnbuckel vor der schönen Sonne Italiens schützen. Er wirkte ein wenig verschlafen, bewegte sich schwerfällig und achtlos, ein wenig stumpf und unbeholfen, wie jemand, dem die Verdauung zu schaffen macht: gekleidet, wie eben das magere Beamtengehalt sich zu kleiden verstattete, ein oder zwei winzige Fettflecken am Rockaufschlag, kaum wahrnehmbar zwar, fast wie eine Erinnerung an die molisischen Hügel von zu Hause. Eine gewisse Weltkenntnis musste er wohl haben, obschon er noch jung war (fünfunddreißig): eine gewisse Menschenkenntnis: und schließlich auch der Frauen. Seine Hauswirtin vergötterte ihn, um nicht zu sagen: betete ihn an: wegen und trotz des seltsamen Durcheinanders von Türgeklingel und unvorhergesehenen gelben Dienstkuverts, von nächtlichen Anrufen und ruhelosen Stunden, die den gehetzten Ablauf seiner Tage bildeten. »Er kennt kein Ende, er kennt kein Ende! Gestern ist er mir nach Hause gekommen, als es schon Tag wurde!« Für sie war er jener langerträumte »distinguierte Staatsbeamte«, dessen Suchinserat im ›Messaggero‹ mit fünf Sternen ausgezeichnet war, den sie herbeigesehnt, heraufgepumpt hatte aus dem unbegrenzten Reservoir der Staatsbeamten, herbeigelockt mit dem Angelköder eines »Sonnige Lage – zu vermieten« und trotz der strengen, einschüchternden Schlussklausel »Frauen ausgeschlossen«, die, wie man weiß, im Inseratsjargon des ›Messaggero‹ eine zwiefache Ausdeutung zulässt. Und dann war es ihm gelungen, dass man bei der Quästur ein Auge zudrückte in jener lächerlichen Angelegenheit, jawohl, jenem Strafmandat wegen Unterlassung eines Antrags auf Untervermietungslizenz … die sie sich ja bekanntlich miteinander teilen, diese Strafzahlungen, die Stadtverwaltung und die Quästur. »Eine Dame wie ich! Witwe des Commendatore Antonini! Den schließlich ganz Rom gekannt hat: und jeder, der ihn kannte, hat ihn in den Himmel gehoben, und ich sage das nicht etwa, weil er mein Gatte war! Aber dass sie mich jetzt wie eine Zimmervermieterin behandeln! Ich, eine Zimmervermieterin? Heilige Muttergottes! Lieber ging ich ins Wasser!«

In seiner molisischen Weisheit und seiner molisischen Armut unterbrach der Doktor Ingravallo, der von Schweigen und Schlaf sich zu nähren schien unter dem schwarzen Dschungel seiner Mähne, die wie Pech glänzte und gekräuselt war wie ein Astrachanlämmchen, – in dieser seiner Weisheit unterbrach er bisweilen jenen Schlaf und jenes Schweigen, um irgendeine theoretische Idee auszusprechen (eine allgemeine Idee selbstverständlich) über die Lebensfälle und Zustände der Menschen: und die der Frauen. Auf den ersten Blick, das heißt, beim ersten Anhören, schienen es Gemeinplätze. Es waren keine Gemeinplätze. Daher lebten diese flüchtigen Aussprüche, die auf seinem Mund wie das plötzlich erhellende Aufflammen eines Schwefelhölzchens knisterten, in den Gehörgängen der Leute nach Stunden oder nach Monaten wieder auf: wie nach einer geheimnisvollen Inkubationszeit. »Stimmt«, sagte dann der Betroffene, »der Doktor Ingravallo hatte es mir ja gesagt!« So behauptete er unter anderem, dass die unvorhersehbaren Katastrophenfälle nie die Folge oder die Auswirkung, wie man es nennen möchte, eines einzigen Motives, einer einzigen Ursache seien: sie seien vielmehr ein Strudel, ein zyklonischer Depressionspunkt im Weltgewissen, auf welchen eine Vielzahl von konvergierenden Ursachen hingearbeitet hätte. Er sprach auch von einem Knoten oder einem Wirrwarr, von einem Verhau, einem Knuddel, was soviel bedeutete wie Knäuel. Vor allem aber entschlüpfte ihm immer wieder der juristische Ausdruck »Ursachen, ursächlich«, als ob er ihm gegen seinen Willen über die Lippen käme. Die Ansicht, dass es nottäte, »in uns den Sinn für die Kategorie der Ursachen zu erneuern«, den Begriff, wie wir ihn von den Philosophen übernommen haben, von Aristoteles bis Kant, und anstelle der Ursache die Ursachen zu setzen, das war ihm ein zentrales und hartnäckiges Anliegen: war beinahe eine fixe Idee: und sie wölkte ihm immer wieder von den fleischigen, aber ziemlich farblosen Lippen, wo ein verloschener Zigarettenstummel, vom Mundwinkel hängend, die Schläfrigkeit des Blickes zu begleiten schien, und jene Quasi-Grimasse, gemischt aus Bitterkeit und Skepsis, hinter der er aus »alter« Gewohnheit die untere Hälfte seines Gesichts verbarg, unter dem Dämmerschlaf der Stirn und der Lider und der Pechschwärze seiner Mähne.

Auf diese Weise, genau auf diese Weise nämlich begegnete er »seinen« Kriminalfällen. »Wenn man mich holt …! Ja, mich wenn man holt … da kann man sicher sein, dass es stinkt, dass irgendein Sauhaufen, irgendein Kuddelmuddel daliegt zum Auseinanderklauben …«, sagte er und verwob in seiner Sprache Neapolitanisch, Molisisch und Italienisch.

Die treibende Ursache, die prinzipielle Ursache, das war eine einzige. Aber das Verbrechen war die Auswirkung einer ganzen Windrose von Ursachen, die wie ein Mühlrädchen in Schwung gesetzt worden war (genau wie die sechzehn Winde der Windrose sich zur zyklonischen Depression einer Windhose verdichten und schließlich, im Wirbelsturm des Deliktes, die geschwächte »Weltraison« abwürgen. Wie man einem Huhn den Hals umdreht.) Und dann pflegte er hinzuzufügen, ein wenig lahm jedoch: »Weiber findet man hinter jedem Dreck, man kann suchen, wo man will.« Eine späte italische Version des Gebotes cherchez la femme. Und dann schien ihn der Ausspruch zu reuen, als täte es ihm leid, das weibliche Geschlecht beleidigt zu haben, als ob er schon wieder anders dächte. Aber damit wäre der Diskurs in schwierige Bahnen geraten. So schwieg er nachdenklich, als fürchte er, zu viel gesagt zu haben. Er wollte andeuten, dass ein gewisses Gefühlsmoment, bis zu einem gewissen Grad, würde man heute sagen, ein Affektgehalt, ein »Quantum Erotica« sich auch in die »Geldverbrechen« mische, in jene Fälle also, die dem Anschein nach weitab liegen von den Stürmen der Liebe. Einige seiner Kollegen, die ihm seine Scharfsinnigkeiten neideten, einige Pfarrer, die etwas aufgeklärter waren über die vielen Schäden des Weltlichen, ein paar Untergebene, gewisse Türsteher und Amtsdiener, die Vorgesetzten schließlich, behaupteten, dass er seltsame Bücher läse: aus denen sauge er alle jene Ausdrücke, die gar keinen Sinn hätten, oder fast keinen, die aber wie nichts anderes geeignet seien, die Ungebildeten mundtot zu machen. Das waren Probleme fast wie fürs Irrenhaus: eine Terminologie wie die der Irrenhausärzte. In der Praxis war damit nichts anzufangen. Diesen Gehirnrauch und diese Philosophistereien sollte man lieber dem Gelehrten überlassen. Die Praxis der Kommissariate und der Bereitschaftspolizei bewegt sich auf einer anderen Ebene: da braucht man vor allem einen Haufen Geduld, viel Erbarmen und außerdem einen guten Magen, der was verträgt: und, damit nicht die ganze Italiener-Bude gleich ins Wackeln kommt, Verantwortungsgefühl und sichere Entschlusskraft, ein gesetztes Wesen, ja, ja – man braucht ruhiges Blut. Diesen ganzen sehr berechtigten Einwänden lieh er, Don Ciccio, sozusagen kein Ohr: er fuhr fort, im Stehen zu schlafen, auf leeren Magen zu philosophieren und so zu tun, als ob er seine halbe Zigarette weiterrauche, die regelmäßig ausgegangen war.

Für Sonntag, den 20. Februar, Kalendertag St. Eleuterius, war er bei den Balduccis zum Mittagessen eingeladen: »Um halb zwei Uhr, wenn es Ihnen recht ist.« Es war, so sagte die Signora, »Remos Namenstag«: und in der Tat war Remo auf dem Standesamt mit dem Namen Remo Eleuterio eingetragen und auch als solcher in der Kirche von San Martino ai Monti getauft, um auf diese Weise den Heiligen seines Geburtstages zu feiern. »Zwei Namen, die gewissen Ohren gar nicht angenehm sind, weder der eine noch der andere«, dachte Don Ciccio. Aber für einen von dem Kaliber, der sich über alles hinwegsetzt, war’s geradezu verschwendete Finesse. Die Einladung war auch diesmal per Telefon erfolgt, zwei Tage vorher, per Anruf »von außerhalb« im Polizeikommissariat von Santo Stefano del Cacco. Zuerst eine melodische Stimme, die Signora: »Hier spricht Liliana Balducci«: aber gleich hatte sich der Geißbock eingeschaltet, er, Balducci, der Mann. Don Ciccio, nachdem er den Festtag zuerst durch einen Besuch beim Barbier gefeiert hatte, brachte der Signora eine Flasche Olivenöl mit. Das Sonntagsmahl war heiter, im Licht eines wundervollen Frühnachmittags, der auf den Bürgersteigen noch die Spuren von Faschingskonfetti vorfand, ein paar freundliche Samtvisiere, einige Trompetchen, hier und dort ein hellblaues Aschenbrödel oder schwarzsamtenes Teufelchen. Bei Tisch sprach man von der Jagd: von Treibjagden und von Hunden: von Gewehren: dann vom Komiker Petrolini: dann von den verschiedenen Namen, mit denen man die Meeräsche entlang der tyrrhenischen Küste, von Ventimiglia bis Cap Lilibeo, benennt: dann vom Skandal des Tages, der kleinen Gräfin Pappalodoli: die von zu Hause durchgebrannt war mit einem Violinisten: einem Polen natürlich. Siebzehn war sie. Man konnte endlos darüber reden.

Bei seinem Eintritt hatte Lulu, das Pekinesenhündchen, ein Wollknäuel, gebellt, sehr wütend sogar: na, dann hatte es das Gekläff gelassen und lange an seinen Schuhen geschnüffelt. Unglaublich, die Vitalität dieser kleinen Scheusäler! Zuerst will man sie streicheln, dann möchte man sie am liebsten zertreten. Bei Tisch war man zu viert: er, Don Ciccio, das Ehepaar und die Nichte. Die Nichte war aber nicht dieselbe wie beim vorigen Mal, das heißt von damals, am St. Franziskus-Tag. Die war nur eine Nenn-Nichte gewesen, hatte ausgesehen wie eine Hochzeiterin vom Land, mit einem Kranz von schwarzen Zöpfen, kräftig, breit – die würde für sich allein das ganze Bett in Anspruch nehmen: und diese Augen dazu! diese Vorderfront! diese Hinterfront! Konnte einen bis in die Träume verfolgen. Die von heute war nur ein Mädelchen mit Hängezöpfen, das bei den Klosterschwestern in die Schule ging.

Don Ciccio hatte trotz seiner Verschlafenheit ein höchst waches, ja ein geradezu unfehlbares Gedächtnis: ein pragmatisches Gedächtnis, wie er sagte. Auch das Dienstmädchen war neu, obwohl es eine vage Ähnlichkeit mit der früheren Nichte aufwies. Sie wurde Tina gerufen. Während sie servierte, entgleiste ihr ein Klätzchen Spinat von der ovalen Platte auf das Blütenweiß des Tischtuchs: »Assunta!«, rief die Signora. Assuntina blickte sie an. In diesem Augenblick wollte es Don Ciccio scheinen, als seien sie beide von höchster Schönheit, die Frau und die Dienerin; die Dienerin herb, mit einem Ausdruck der Strenge, der Sicherheit in den festen, ungeheuer leuchtenden Augen, wie zwei Gemmen, der geraden Nase unter der flächigen Stirn: eine römische »virgo« aus der Epoche Clelias; die Herrin von solcher Herzenswärme, von solcher Vornehmheit in den Zügen, solch noblem Feuer und solcher Schwermut! und ihre wunderbare Haut! Wenn sie den Gast anblickte, so schienen die dunklen Augen mit dem Licht antiker Grazie hinter der armen Person des »Herrn Doktors« die ganze ärmliche Würde seines Daseins zu erfassen. Sie war reich: ungeheuer reich, sagte man. Ihr Mann machte gute Geschäfte, er reiste, dreizehn Monate im Jahr, hatte immer einen Mordsbetrieb mit gewissen Leuten aus Vicenza. Sie aber war von Haus aus noch viel reicher. Nun wohnten ja in dem großen Mietspalast auf Nummer zwohundertneunzehn überhaupt nur stinkreiche Leute, ein paar Familien vom eingesessenen römischen Bürgerstand, sonst aber nur Schwerverdiener von der Sorte, die man bis vor kurzem noch »Schieber« nannte.

Den Mietspalast selbst, den hießen die kleinen Leute hier im Viertel nur den »Goldpalast«. Das ganze Haus, so kam’s ihnen vor, war bis unters Dach vollgestopft mit diesem schönen Metall. Drinnen gab’s zwei Treppenaufgänge, A und B, sechs Stockwerke mit zwölf Mietparteien, zwei pro Stockwerk. Das Paradestück war auf Treppe A, dritter Stock, wo auf der einen Seite die Balduccis wohnten, piekfeine Leute – und gegenüber von den Balduccis wohnte eine Dame, die hatte ebenfalls einen Sack voll Geld, eine Witwe: eine gewisse Signora Menecacci: eine Gräfin vielmehr: wo immer man bei der ein wenig herumgräfelte, da fand man Gold, Perlen, Diamanten: alles, was gut und teuer ist. Und Tausendlirescheine wie die Schmetterlinge: denn wenn man das Geld auf die Bank legt, ist man nie sicher: plötzlich brennt die Bank ab, wenn man’s am wenigsten erwartet. Drum hatte diese Dame eine Kommode mit doppeltem Boden.

So – oder so ähnlich – lautete der Mythos. Die Ohren des Doktor Ingravallo, die sich unter der schwarzen und kraushaarigen Perücke einer frühlinghaften Frische erfreuten, hatten ihn so eingefangen, aus der Luft geschnappt sozusagen, wie das Zirpen von Staren oder das Schwirren von Ast zu Ast nach jedem ihrer Triller im Frühling. Der Mythos war auf aller Lippen übrigens, in aller Leute Gehirn, war eine jener Ideen, die mit der Zeit durch die kollektive Phantasie zu Zwangsvorstellungen werden.

Während des Essens hatte er, Balducci, der Nichte gegenüber eine väterliche Haltung eingenommen: »Ginetta, sei so gut, ein bisschen Wein … Gina, bitte, schenk dem Herrn Doktor nach … Gina, einen Aschenbecher, bitte …«, genau wie ein guter Papa: und sie darauf pünktlichst: »Ja, Onkel.« Die Signora Liliana blickte sie dann wohlgefällig an, mit Zärtlichkeit beinah: als blicke sie auf eine noch knospende und fröstelnde Blüte, die sich in der Morgenröte erschließt und unter ihren Augen im Wunderlicht des Tages zu erglänzen beginnt. Das Licht dieses Tages, das war die männliche, baritonale Stimme des Balducci, die Stimme des »Vaters«: sie, Frau und Gattin dieses Vaters, war also die Mutter. Mit großer Sorgfalt und mit einer gewissen Ängstlichkeit des Herzens verfolgte sie die zarte Hand ihrer Schülerin, die noch ein wenig unsicher war im Geschäft des Ausschenkens: gluck, gluck, gluck, Gold von Frascati, dem Farbton nach zu urteilen; die Kristallkaraffe wog schwer, der schmächtige Arm schien sie kaum halten zu können. Der Doktor lngravallo aß und trank mit Maß, wie gewöhnlich: mit gutem Appetit jedoch und mit freudigem Zug.

Er dachte aber nicht daran, hätte es für unpassend gehalten, irgendwelche Fragen zu stellen: weder über die neue Nichte, noch über das neue Dienstmädchen. Er versuchte, die Bewunderung zu unterdrücken, die Assunta in ihm erweckte: ein wenig wie der seltsame Zauber, den auch die blendende Nichte vom letzten Mal auf ihn ausgeübt hatte: ein Zauber, ein ganz und gar lateinischer und sabellischer Zauber, für welchen sich von selbst die antiken Namen einstellten, die Namen antiker jungfräulicher Kriegerinnen oder nicht mehr widerstrebender Ehefrauen, die man gewaltsam am Fest der Wölfin geraubt hatte, und die Namen der düsteren Paläste, mitsamt den Jahrmärkten und dem Papst in seiner Kutsche, mitsamt den schönen Wachslichtern von Sant’Agnese in Agone und von Santa Maria in Porta Paradisi zur Lichtmess, zur Kerzenweihe: ein luftiges Gefühl von heiteren, fernen Tagen zwischen Frascati und Tivoli, welches die Mädchengestalten des Pinelli zwischen den Ruinen des Piranesi umweht, und, unter den Ephemeriden des Kirchenjahrs, im Glühen ihres Purpurs, auch alle seine hohen Kirchenfürsten. Wie lauter prangende Langusten. Die Fürsten der Heiligen Römisch-Apostolischen Kirche. Und im Mittelpunkt jene Augen der Assunta: jener Stolz, als sei es Herablassung von ihr, bei Tisch zu servieren. Im Mittelpunkt … dieses ganzen Systems … dieses ptolemäischen, ja, gewiss, ptolemäischen Systems. Im Zentrum, mit Verlaub zu sagen, dieses kleinmächtige Rund von einem Allerwertesten.

Das musste man unterdrücken, unterdrücken. In dieser grausamen Notwendigkeit war die noble Schwermut der Signora Balducci wie ein Beistand: unter ihrem Blick schienen sich auf rätselhafte Weise alle unsauberen Gespenster zu verflüchtigen und in die Seelen eine harmonische Disziplin einzukehren: fast eine Musik: ein Gewebe von traumhaften Architekturen über den zweideutigen Verstößen der Sinne.

So war also Ingravallo, so war er also besonders höflich, geradezu ein ritterlicher Onkel, gegenüber der kleinen Gina; aus deren Hals, der noch ziemlich langgestreckt war unter dem Zopf, ein Stimmchen kam, das nur aus »ja« und »nein« bestand, wie die wenigen, klagenden Töne einer Klarinette. Er ignorierte, er wollte Assunta ignorieren, von den Maccheroni an, durch die weitere Speisenfolge hindurch, wie es sich für einen wohlerzogenen Gast geziemt. Die Signora Liliana schien, so konnte man fast glauben, von Zeit zu Zeit zu seufzen. Ingravallo bemerkte, dass sie zwei- oder dreimal mit halber Stimme »ach« gesagt hatte. »Wer sagt ›ach‹, der hat im Herzen Ungemach.« Eine seltsame Trauer schien sich über ihr Gesicht zu legen, in den Augenblicken, da sie nicht sprach oder ihre Tischgenossen nicht anblickte. Bedrückte sie ein Gedanke, eine Sorge? versteckte sie sich hinter dem Vorhang ihres Lächelns, ihrer freundlichen Aufmerksamkeiten? hinter den Gesprächen, die zwar nicht gekünstelt, nicht einstudiert, aber doch betont höflich waren, und mit denen sie so gern ihren Gast umrankte? Allmählich waren dem Doktor Ingravallo jene Seufzer, jenes Hinhalten, jene Blicke, die sich ab und zu traurig verloren und einem Raum, einer irrealen Zeit nachzuspüren suchten, die, wie man hätte sagen können, nur ihr bekannt waren – allmählich waren sie ihm aufgefallen: er hatte gewisse Rückschlüsse daraus gezogen, auf eine zwar nicht ursprüngliche, aber temporäre Seelenverfassung, auf eine wachsende Trostlosigkeit. Und dann, hin und wieder, ein Wort von Balducci selber: von jenem rotgesichtigen Mannsbild, das nur aus Geschäften und Hasenjagden bestand und das nun unter der großzügigen Inspiration des Albanerweins so geräuschvoll daherschwafelte.

Er glaubte erraten zu haben, was los war: sie hatten keine Kinder. »Etcetera, etcetera« hatte er hinzugefügt, als er einmal mit dem Doktor Fumi darüber sprach, als spiele er auf eine wohlbekannte Phänomenologie an, auf eine feststehende und geläufige Erfahrung. Er kannte den Balducci als Jäger, als erfolgreichen Jäger. Jäger in utroque. In seinem Innern nahm er ihm gewisse männliche Grobschlächtigkeiten, gewisse Derbheiten übel, das ein wenig zu dröhnende, wenn auch gutartige Gelächter, gewisse Egoismen oder Egotismen seiner Gockelhaftigkeit: gegenüber einem so sanften Geschöpf! Wollte man den Gedanken freien Lauf lassen, so hätte man sagen können, dass er, Balducci, ihre Schönheit und Zartheit nicht zu schätzen, nicht zu durchdringen vermocht hatte: all das Noble, das Verborgene in ihr: na, und somit … Kinder waren eben keine gekommen. Sozusagen wegen einer gametischen Unvereinbarkeit der beiden Gemüter. Kinder entstehen aus einer idealen gegenseitigen Durchdringung der Eltern. Sie allerdings liebte ihn: er war der Vater in der Vorstellung, Mann und Vater als Möglichkeit, wenn auch nicht de facto, als Potenz, wenn auch nicht als Tatsache. Er war der mögliche Vater einer erhofften Nachkommenschaft. Über seine Treue – vielleicht war sie sich nicht einmal darüber sicher: was das betraf, so schien ihr, dass ihre nicht vollbrachte Mutterschaft gelegentliche jagdliche Gebietsüberschreitungen des Gatten rechtfertigen könnte, gewisse Wissbegierden, Extravaganzen der männlichen und väterlichen Potenz, jene allgemein männliche Lüsternheit nach jeder Himmelsrichtung. »Es mit einer anderen ausprobieren!« Das, was sie für sich selber nicht einmal in Gedanken in Anspruch genommen hätte (die Ehe ist ein Sakrament, eines der sieben Sakramente unseres Heilands), nicht, dass sie es für ihn gewollt hätte, nein: auch Don Corpi sagte, es sei etwas Hässliches bei einem gutchristlichen Gatten: aber schließlich … man musste in allem geduldig sein: und klug, klug! Don Corpi war ein Mensch, dem man sich voll und ganz anvertrauen konnte. Die »Klugheit« war eine der vier Kardinaltugenden.

All dies hatte der Doktor Ingravallo zum Teil herausgespürt, zum Teil sich zusammenreimen können aus einigen Andeutungen des Balducci selber, und aus den so sanften »Momenten« ihrer Schwermut: auch Don Corpi, Don Lorenzo, Don Lorenzo Corpi, Don Corpi Lorenzo von der Kirche der Santi Quattro glänzte selber oft auf in den Gesprächen der Signora Liliana. Zum Teufel, auch mit Don Lorenzo! Man hätte sagen können, dass sie in jedem Mannsbild … einen Ehrenvater, einen potentiellen Vater verehrte: sogar in Don Lorenzo, ja: trotz des schwarzen Rocks, trotz der Unvereinbarkeit mit dem Sakrament … der beiden entgegengesetzten Sakramente.

Auch in Don Lorenzo. Der offenbar nicht gerade schlecht gebaut war, dieser Maulesel. Aus gewissen Andeutungen von ihr zu schließen, war er einer von denen, die immer den Kopf neigen, um ja durch jede Tür zu kommen. Zumindest die δύναμιϛ des Vaters musste er wohl besitzen. In diesen Dingen war Don Ciccio ziemlich versiert: von wacher Intuition, und zwar schon seit seinen Knabenjahren: wach und offen gegenüber allen geburtenfördernden Begegnungen jenes Geschlechts, das »fruchtbar ist im Werk und tödlich in den Waffen«: mehr angeborener Genius als systematische Lektüre. Aus dem dichten Gewimmel der Generationen, aus den Wachlokalen der Quästuren, zwischen dem Latium und der Marsica, zwischen dem Piceno und dem Sannio, oder bis hinunter zu seinen molisischen Hügeln: harte Berge, harte Nacken, hart auch der Teufel! Und die heilige und namenlose Gültigkeit der Matern! Unter diesen seinen Volksstämmen, seinen volkreichen Stämmen, hatte er lernen können, die Umstände der Fortzeugung von den Umständen der Nichtfortzeugung zu unterscheiden. Was ihn aber allmählich wunderzunehmen begann, war, das Reservoir der Nichten bei den Balduccis so randvoll zu sehen mit blühenden und liebenswerten Gestalten: vielmehr, diese hier war liebenswert, aber die anderen waren schlechthin überwältigend. Seit er im Haus der Balduccis verkehrte, hatte er bereits einige kennengelernt: drei oder vier. Und dann noch ein anderer Umstand: kaum von der Bildfläche verschwunden, war die Nichte nichts mehr als der Name einer Toten. Kam nie mehr zum Vorschein, nicht ums Verrecken, wie ein Konsul oder der Präsident einer Republik, wenn die Amtszeit abgelaufen ist.

Don Ciccio war gerade bis zum Grund des sogenannten Bechers gediehen – ein etwa Fünfjähriger, Extratrockener, nunmehr, aus der Kellerei des ›Cavaliere Gabbioni, Empedocle & Figlio, Albano Laziale‹, dem man noch in der Quästur nachträumen konnte, dem Wein, dem Becher, dem Vater, dem Sohn, dem Latium – als ihn das Luftgepäck seiner privaten Ansichten über das affektive (er sagte sogar erotische) Zusammenwirken der menschlichen Zufälle und Zustände ganz von selbst zu der Überlegung führte, dass eine Nichte unter solchen Umständen keine gewöhnliche Nichte sei: eine Luciana oder Adriana, die heute zu Onkel und Tante in die Stadt kommt, dann wieder geht, dann wiederkommt, dann telegrafiert, dann abreist, dann zu Hause eintrifft, eine Karte schreibt mit vielen Küsschen, dann plötzlich aus Viterbo oder Zagarolo wiederkehrt, weil sie zum Zahnarzt gehen muss: und so weiter.

»Das mit der Nichte ist ein aufgelegter Schwindel«, murmelte er in sich hinein, zusammen mit dem trockenen Weißen in der Porta Paradisi, der ihm immer noch das Halszäpfchen kitzelte. Ja, ja. Hinter dem Ausdruck »Nichte« musste ein ganzer Wirrwarr verborgen sein … von Fäden, von Gefühlsspinnweben, von den feinsten, von den allerseltensten … Sie. Er. Sie, aus Respekt vor ihm. Er, aus Rücksicht auf sie. Sie hat dann eine Nichte aufgetan, nach Jahren: Kummer, Tränen, die Nächte – und am Tage Kerzen für den heiligen Antonius in allen Kirchen Roms: und wieder Hoffnungen und Heilkuren in Salsomaggiore, sowohl in loco wie am Wohnsitz, und Untersuchungen beim Professor Beltramelli und beim Professor Macchiori. Bei jeder neuen Kerze eine neue Hoffnung. Bei jeder neuen Hoffnung einen neuen Professor.

Da hat sie diese Gina aufgefischt, arme Ginetta! Aber vor der Ginetta hatte die ganze Angelegenheit eine andere Richtung, eine andere Färbung gehabt. »Eine seltsame Sache, seltsam«, dachte Ingravallo.

Die Virginia! (die Vorstellung war wie ein glorreiches Wetterleuchten, ein plötzliches Flammen in der Düsternis): und die vor der Virginia, die ist dann nach Monteleone: wie hieß sie gleich? Und die Dienstmädchen! Man weiß ja, dass sie leicht davonschwirren wie die Spatzen, beim ersten Flügelschlag einer neuen Laune: aber die Balduccis, nun, die wechselten ihre Mädchen, man konnte sagen, fast jeden Monat. Ein Gedanke ging ihm durch den Kopf, mit einem respektlosen Ausdruck: das kam vom Wein.

Die Signora Liliana, sie konnte aus eigener Pfanne mit nichts aufwarten … Und daher jedes Jahr: eine neue Nichte musste offenbar (im Unbewussten) symbolisch herhalten, als Ersatz für die Leere der häuslichen Pfanne. Wie für seine eigene Mutter, die acht auf die Welt gebracht hatte, in jedem Frühjahr, der neue Sohn der richtige Sohn war. Die im Mai auf die Welt kommen, sind Augustkinder. »Guter Monat!« dachte Don Ciccio, »auch bei den Katzen, die schreien was zusammen, in gewissen Nächten!«

Von Jahr zu Jahr … eine neue Nichte: fast als wollte sie im Herzen die aufeinanderfolgenden Geburtszeiten symbolisieren. »Jedes Jahr ein Kind, jedes Jahr ein Kind …«, hatte ihm der Deutsche in Anzio vorgesungen, der aussah wie ein Seehund.

Und er, er, der Jäger (er betrachtete ihn), was fühlt er dabei, was spürt er da drin, wenn ihm wieder eine neue Nichte ins Haus schneit, die Nichte vom Dienst? Was hatte er gedacht über die verschiedenen … Nichten?

Für sie war, vom Tiber abwärts, hinunter, jenseits der zerfallenen Schlösser und der hellen Weinberge, auf den Hügeln, auf den Hängen und in den gedrungenen Ebenen Italiens, war alles wie ein großer, fruchtbarer Leib, zwei fette Samenstöcke, beperlt von einer körnigen Überfülle, dem körnigen und fettigen, dem glückhaften Kaviar des Volkes. Von Zeit zu Zeit lösten sich vom großen Ovarius reife Follikeln, wie die Spalten eines Granatapfels: und rote Körner, voll toller Liebeszuversicht, wanderten abwärts ad urbem, dem männlichen Anhauch entgegen, dem belebenden Impuls der spermatischen Aura, von der die Ovaristen des achtzehnten Jahrhunderts fabelten. Und in der Via Merulana 219, Treppe A, dritter Stock, erblühte die Nichte, im besten Keimnest, weiß Gott, des Goldpalastes.

Die Nichte! Die albanische Nichte, Blüte des unsterblichen Sabinervolkes. Anhauch der Frauenräuber. Das war’s. Die Sabinerinnen brauchten nicht mehr geraubt zu werden … die tiefen Erwartungen der vermittelnden Nächte, laues Fleisch der Morgendämmerung. Die Albanerinnen sorgten selbst dafür, heutzutage, und kamen flussabwärts. Und der Fluss trieb und trieb, über die Unruhen hinweg, hinunter zum Strand, in die unausschöpfliche Erwartung der Ewigkeit.

Aber er? der Signor Balducci? Was dachte er, der Jägersmann, von der albanischen, von der tiburtinischen Nichte?

Die Türklingel schrillte. Lulu bellte sich die Seele aus dem Leib. Die Assunta war öffnen gegangen. Nach einigem Hinund Hergerede draußen betrat das Esszimmer ein junger Mann, gekleidet in einen grauen Anzug von nicht unelegantem Schnitt. Man lud ihn zum Sitzen. »Noch eine Tasse, Gina, für den Signor Giuliano.« Sogleich wurde er vorgestellt und stellte sich auch selbst vor: »Valdarena.« – »Doktor Ingravallo«, schnaubte Ingravallo, indem er sich kaum vom Sitz erhob und kaum, sozusagen unwillig, die Hand drückte, die ihm der andere hinhielt. »Das ist Doktor Valdarena«, sagte Liliana, mit dem Kaffee beschäftigt und mit den Tassen. »Vetter meiner Frau«, erklärte Balducci, rotgesichtig.

Es gab da, bedauerlich es sagen zu müssen, in Don Ciccio eine gewisse Kälte, eine Art grollende Missgunst gegen die Jungen, insbesondere gegen die schönen Jungen, und vor allem gegen die Verwöhnten. Dieses Gefühl überschritt sonst nicht die zulässigen Grenzen eines internen Phänomens, hätte auch niemals seine Haltung als Kommissar des Sicherheitsdienstes beeinflusst: er – nein, keineswegs – er war nicht »schön«: und es gelang ihm auch nicht, sich mit dem Ausspruch zu trösten, den er von einem Mädchen in Mailand im venerischen Ambulatorium der Via delle Oche gehört hatte: »Alle Mannsbilder sind schön.«

Er spürte schon, im Herzen, eine Enttäuschung, eine Stimme: eine Stimme, die vor kurzem … und schon flüsterte sie in der Kammer, ob in der Herzkammer oder der Gehirnkammer, wusste er selber nicht zu sagen, und vielleicht war es die Wirkung des trockenen Weißen von der Firma Gabbioni, ein etwas aufreizender Wein, eine Stimme, die auf vermaledeite Weise munkelte: »Das ist der Hausfreund«, wie das grausame Tacktack jener gewissen Kopfschmerzen, die ihn an den Schläfen packten.

Er wusste nicht wieso, aber es kam ihm so vor, er stellte es sich so vor, als sei dieser junge Mann einer von denen, die, koste es, was es wolle, ans Ziel kommen möchten: auch der, einer von denen, die sich ordentlich festkrallen, die vom Gedanken an Geld verblendet sind, worüber man sich übrigens billig entrüsten kann, denn das Geld ist einem jeden angenehm. Beim Hereinkommen hatte er Möbel und Ausstattung gemustert, die schönen Tassen, die silberne Kürbiskanne und die silberne Zuckerdose, Überbleibsel aus den alten umbertinischen Glanzzeiten, Erinnerung an die fetten Kühe, mit einer goldenen Eichel und zwei Silberblättchen auf dem Deckel. Na ja, zum Hochheben des Deckels. Er hatte eine dickgestopfte Zigarette vom Balducci entgegengenommen (der ihm die goldne Zigarettendose unter der Nase aufspringen ließ mit plötzlichem Track-track): und er rauchte sie nun, mit zurückhaltender Wollust und gleichzeitig mit eleganter Natürlichkeit.

Da wurde Ingravallo von einer seltsamen Idee ergriffen, als hätte er Gift getrunken – das war der trockene Wein von Gabbioni: es kam ihm die Idee, dass der »Vetter« der Signora Liliana den Hof mache … aber ja … um geldliche Vorteile dabei herauszuschlagen. Das brachte ihn in Wut: in heimliche, versteckte Wut, wenn es auch nur ein Verdacht war. Ein perfider Verdacht jedoch … der ihm die Schläfen dröhnen ließ, eine der ingravallischsten Verdächtigungen, der allerdon-ciccionischsten.

Am rechten Ringfinger, auf der weißen Hand mit den schlanken Fingern des vornehmen Herrn, die ihm dazu dienten, die Asche abzustäuben, trug das Herrchen einen Ring: aus Altgold, tiefes Gelb: wundervoll: mit einem blutroten Jaspis in der Fassung, einem ovalen Jaspis mit eingeschnittener Initiale. Vielleicht das Familienwappen. Ihm, Don Ciccio, wollte es scheinen, als schwebe, jenseits vom Schleier der Worte und der Gesten, eine Kälte zwischen ihm und dem Balducci … »Giuliano ist ganz Aug und Ohr für seine Cousine«, dachte Ingravallo, »so hochnäsig er auch tut.« Die Gina hatte er überhaupt nicht beachtet, abgesehen vom üblichen Händedruck. Nur der Hündin gab er einen Klaps: die von ihrem wütenden Gebelfer, die Böse! allmählich in Knurren absank, wie ein kleines Ungewitter, das sich verzieht und allmählich verstummt.

Die Signora Liliana war ja nun, ungeachtet der (tageweise) schlecht unterdrückten Seufzer, unter den wehenden Wolken ihrer Traurigkeiten, eine begehrenswerte Frau: alle nahmen, im Vorübergehen, ihr Bild in sich auf. In der Dämmerstunde, in jenem ersten Absinken in die traumbeladene römische Nacht, wenn man auf dem Heimweg war … da blühten von den Ecken der Palazzi, von den Gehsteigen, die Ehrenbezeigungen der Blicke ihr zu, einzeln oder kollektiv: Augenblitze und jugendliches Feuer: ein Flüstern, manchmal, streifte sie: wie ein leidenschaftliches Murmeln des Abends. Manchmal, im Oktober, erhob sich aus jenem Farbloswerden der Dinge, aus der fliehenden Wärme der Mauern ein plötzlicher Verfolger, Hermes, mit den kurzen Flügeln des Mysteriums: oder, vielleicht, ein seltsames Friedhofsgewächs, das ins Volk, in die urbs, wieder heraufgestiegen war. Einer, der geiler war als die anderen. Und unverschämter … Rom ist Rom. Und sie schien Mitleid zu haben mit dem armen Esel, der so siegessicher dahinsegelte, auf gut Glück, getragen von seinen großen Eselsohren: mit ihrem Blick, halb Entrüstung, halb Erbarmen, halb Dankbarkeit und doch Entrüstung, schien sie zu fragen: »Na und?« Verschleierte Frau, für die Lüsternsten, von süßem, dunklem Klang: mit blendender Haut: versunken, so oft, in einen ihrer Träume: mit einem Vlies schöner, kastanienfarbener Haare, die ihr aus der Stirn sprangen; sie zog sich wunderbar an … Sie hatte feurige Augen, entgegenkommend fast durch das Licht (oder war es ein Schatten?) schwermütiger Brüderlichkeit … Bei der halb gesungenen, halb geblökten Ankündigung der Assunta: »Der Signor Giuliano ist da«, schien ihm, dem Ingravallo, als sei sie etwas aufgeschreckt: oder errötet: von einer »subkutanen« Röte. Unmerkbar.

Als die beiden Polizisten ihm sagten: »In der Via Merulana hat’s eine Schießerei gegeben: auf Nummer zweihundertneunzehn: im Stiegenhaus: im Schieberpalast …«, wallte ihm das Blut hoch, wissbegierig oder angstvoll, und überschwemmte ihm die rechte Magenseite. »Zweihundertneunzehn?«, konnte er nicht umhin zu fragen und fiel sofort zurück in jene ferne Schläfrigkeit, die bei ihm die Maske des Dienstbewusstseins war. Indes kam schon der Chef der Untersuchungsabteilung in sein Büro. Er trug den noch nicht deflorierten ›Messaggero‹ bei sich und ein weißes Blütenblatt, ein einziges Blatt, im Knopfloch. »Eine Mandelblüte«, dachte Ingravallo und erforschte den Vorgesetzten mit den Augen. »Die erste des Jahres. Zahlen sie jetzt am Ende auch die Mandelblüten?« »Gehen Sie dorthin, Ingravallo, in die Via Merulana? Schauen Sie sich die Sache einmal an. Reiner Blödsinn, wie ich höre. Und noch dazu die andere Geschichte da, heut morgen, mit der Marchesa vom Viale Liegi … und dann dieser Schlamassel hier in der Nähe, bei den Botteghe Oscure: und dann das nette Veilchenbouquet: die zwei Schwägerinnen und die drei Nichten: und um den Rattenschwanz von unseren eigenen Sachen müssen wir uns schließlich auch noch kümmern: und dann, und dann …«, er fasste sich mit der Hand an die Stirn, »ich selber geh jetzt zu dem Langweiler von einem Staatssekretär. Man schaut überhaupt nicht mehr raus, sag ich Ihnen. Tun Sie mir also den Gefallen und gehen Sie dorthin.«

»Gehn wir, gehn wir«, sagte Ingravallo, und dann brummte er: »Gehn wir halt hin«, und griff sich vom Haken den Hut. Der schlecht eingepflöckte Holzhaken löste sich, fiel auf den Boden, wie immer, und rollte ein Stückchen: er hob ihn auf, stöpselte ihn wieder ins ausgeleierte Loch: und mit dem Ärmel des Unterarms, als wäre das eine Kleiderbürste, säuberte er den schwarzen Hut, rundherum um das Hutband. Die beiden Polizisten folgten ihm, wie auf einen stillschweigenden Befehl des Oberkommissars: Gaudenzio war der eine, bei der Unterwelt als der »Große Blonde« bekannt, und Pompeo der andere, der seinerseits »Greifer« genannt wurde.

Mit der Linie PV bis zum Viminale, und von dort aus nahmen sie die Trambahn bis San Giovanni. So langten sie im Verlauf von zwanzig Minuten vor dem Mietspalast zweihundertneunzehn an.

Der Goldpalast, der Schieberpalast, wie man will: da stand er, fünf Stockwerke, dazu das Hochparterre, und schien grauer und vermotteter denn je. Sollte man aus diesem trostlosen Wohnsitz schließen, aus der Kohorte von Fenstern, so mussten Myriaden von Schiebern drin hausen: Raubfische mit heißhungrigen Mägen, sicherlich, aber von höchst bescheidenen Ansprüchen, was das Ästhetische betraf. Unter Wasser lebend, von Fressgier und Magensensationen schlechthin, war das Grau oder jener opalisierende Schummer des Tages Licht für sie: jenes bisschen Licht, das sie nötig hatten. Was das Gold betrifft, nun ja – konnte durchaus möglich sein, dass sie Gold hatten und Silber. Eines dieser Riesenhäuser aus den Jahren der Jahrhundertwende, die einem beim bloßen Anschauen das Gefühl von Schmuddligkeit und kanarienvogelhafter Nichtigkeit einflößten: ja, das genaue Gegenteil zur Farbe von Rom, zum römischen Himmel und seinem blendenden Sonnenglast. Ingravallo, so konnte man sagen, war das alles im Herzen vertraut: und in der Tat überfiel ihn ein leichtes Herzklopfen, als er mit seinen beiden Polizisten sich der wohlbekannten Architektur näherte, ausgerüstet mit so viel und so entscheidender Autorität.

Vor der lausfarbenen Wohnkaserne eine Menschenansammlung: ringsherum ein Schutzgitter von Fahrrädern. Frauen, Einkaufstaschen und Selleriestauden: einige Ladenbesitzer von nebenan, im weißen Kittel: ein paar Dienstmänner, in gestreiften Jacken und mit Nasen in der Farbe einer prächtigen Paprikaschote, Portiersfrauen, Dienstmädchen, Töchter von Portiersfrauen, die kreischten: »Peppii!«, Buben mit Ball und Reifen, ein Offiziersbursche mit einer vollen Ladung Orangen und Paketen, in seinem Netz eingefangen, mit Fenchelbüscheln obendrauf: zwei oder drei dicke Beamte, die in dieser späten Stunde, wo die höheren Dienstgrade für die Bürozeit reif werden, soeben erst die Segel entfaltet hatten: jeder auf sein Ministerium zusteuernd: und so zwölf bis fünfzehn Tagediebe und diverse Herumstreuner, die keinerlei Ziel hatten. Ein Briefträger im Stadium höchster Post-Schwangerschaft, der neugierigste von allen, boxte mit seiner überfüllten Tasche alle Umstehenden in den Hintern: die schimpften, Kreuzteufel, und nochmals Kreuzteufel, Kreuzteufel, einer nach dem anderen, pünktlich, wenn die Tasche beim Vordrängeln wieder eine Hinterseite gerammt hatte. Ein Gassenjunge sagte mit tiburtinischer Ernsthaftigkeit: »In dem Haus, da ist mehr Gold als Dreck!« Und ringsherum das Räder-Korsett, die Fahrräder, wie eine Schutzhaut sui generis, die diesen kollektiven Fleischklumpen undurchdringlich zu umgeben schien.

Unterstützt und beinahe geführt von den beiden Polizisten, schaffte Ingravallo sich Zugang. »Die Polizei«, sagte jemand. »Lass den Greifer da durch, du … Servus, Pompeo! Na, hast du ihn schon gegriffen? den Dieb? … Ah, da ist auch der Blonde …« Das halb geschlossene Haustor war von einem Posten der Ordnungspolizei vom Kommissariat San Giovanni bewacht. Die Portiersfrau, die ihn vorbeipatrouillieren sah, hatte ihn zu Hilfe gerufen: kurz nachdem die Sache passiert war und kurz ehe die beiden von der Sicherheitspolizei gekommen waren, Gaudenzio und Pompeo also. Sie kannte ihn schon lange, wegen der polizeilichen Anmeldungen nämlich und des Einwohnerregisters. Die Sache war vor ungefähr einer Stunde passiert, kurz vor zehn Uhr war’s: eigentlich eine unglaubliche Tageszeit für so was! Im Eingang und in der Hausmeisterloge war ein weiterer kleiner Auflauf, die Mieter des Hauses: das Grillennest der Weiber. Ingravallo, gefolgt von seinen beiden und von der Hausmeisterin und von den Bemerkungen aller anderen: »Die Polizei, die Polizei«, stieg bis zum dritten Stock, Treppe A, wo die Bestohlene wohnte. Das große Geschwatze folgte ihnen auf den Fersen: die spitzen oder geradezu tremolierenden Stimmen der Frauen, die, mit einigen männlichen Basstrompeten wetteifernd, von jenen sogar hin und wieder übertönt wurden; die Volksseele suchte den Glücksklee der direkten Zeugenschaft, das »ich schwöre, ich hab’s gesehen«: begann die phantastische Torte eines Epos zusammenzubacken. Es handelte sich um einen Diebstahl, genauer gesagt um einen Raubüberfall in einer Wohnung, um einen bewaffneten Raubüberfall.

Eine ziemlich schwerwiegende Angelegenheit also. Die Signora Menegazzi war, kurz nach dem erlittenen Schrecken, in Ohnmacht gefallen. Der Signora Liliana war’s ihrerseits »schlecht geworden«, kaum dass sie aus dem Badezimmer gekommen war. Don Ciccio sammelte und protokollierte stehenden Fußes alles, was er erfahren konnte aus dem Sturzbach der ersten Zeugenschaft: er begann bei der Hausmeisterin und ließ so der Menegazzi Zeit, sich ein wenig zu frisieren und herzuputzen: ihm zu Ehren sozusagen. Er hatte auch Papier und Füller zur Hand, ließ aber alle »Oh, Jesusmaria! Herr Kommissar!« und andere Zwischen- und Anrufungen aus, mit denen die »Signora« Manuela Pettacchioni den Bericht spickte: einen dramatischen Bericht. Der Hausmeistersgatte, Angestellter bei der Städtischen Milchzentrale, wurde erst um sechzehn Uhr zurückerwartet.

»Jesusmaria! Zuerst hat er bei der Signora Liliana geklingelt …« – »Wer?« – »Na, der Mörder …« – »Was heißt Mörder, hat ja keinen Toten gegeben?« Die Signora Liliana (Ingravallo erschauerte) war allein, hatte nicht geöffnet. »Sie war im Badezimmer … ja, sie nahm gerade ein Bad.« Don Ciccio, ohne es zu wollen, strich sich mit der Hand über die Augen, fast als wolle er sie vor einem überhellen Leuchten schützen. Das Dienstmädchen, die Assunta, war wenige Tage zuvor nach Hause abgereist: ihr Vater war erkrankt, wie das häufig bei Dienstmädchen der Fall ist, »besonders wie jetzt bei Vollmond.« Die Gina war den ganzen Tag in der Schule: im Sacre Cœur, bei den Schwestern: da blieb sie über Mittag und manchmal auch zur Vesper. Daraufhin, »versteht sich«, als niemand aufmachte, »klar«, hatte der Übeltäter bei der Menegazzi geläutet: »ja, genau da«, auf dem gleichen Treppenabsatz, gegenüber von der Balducci: Eingang gegenüber. Ah! Don Ciccio kannte ihn gut, jenen Treppenabsatz, jene Wohnungstür!

Die Menegazzi, wohlfrisiert, trat, leicht hüstelnd, wieder auf die Szene. Ein großer lila Foulard um den Hals, welcher sich vorne mager und welk zeigte: einen Hauch von Mattigkeit um ihre ganze traumatische Erscheinung. Ein Negligé von etwas ungewöhnlicher Art, halb spanisch, halb japanisch, halb Mantilla und halb Kimono. Ein bläulicher Schnurrbart überm schlaffen Gesicht, blasse Haut, wie ein gepuderter Mauergecko, die Lippen, gemalt zu zwei herzförmigen Hälften, in leuchtendstem Erdbeerrot, verliehen ihr das Aussehen und das momentane äußere Prestige der Besitzerin oder Ex-Besitzerin eines etwas heruntergekommenen Stundenhotels: wäre nicht jene gewisse Aura von Neu-Jüngferlichkeit und Wiedervertrocknung gewesen, und jene typische, hingebungsvolle Beflissenheit der Ungekosteten, derentwegen man sie leicht und ohne Verdacht in das romantische Register der alten Mädchen, und außerdem der anständigen Frauen, einreihen konnte … Sie war Witwe. Der Mantilla-Schlafrock überwog der Foulard, verwob sie vielmehr, die Foulards (nicht eines, sondern mehrere), bepudert auch sie und leicht im Farbton untereinander variierend und zart ineinanderspielend, mit den Blütenblättern (oder waren es etwa Schmetterlinge?) des leicht kastilianischen Kimonos. Sie durchkreuzte mit ihrem Bericht den der Portiersfrau, richtete ihn aus, präzisierte ihn. Sie schaltete sich ein mit einem Zittern in der Stimme, ihrer armen Stimme, mit einem Hoffnungsschimmer im Auge. Vielleicht nicht in der Hoffnung, ihren Schmuck zurückzuerhalten, aber in der Gewissheit … den Schutz des Gesetzes zu erfahren, das Ingravallo auf so überzeugende Weise personifizierte. Auf das Klingeln hin hatte die Menegazzi mit dem üblichen »Wer ist da?« reagiert: sie wiederholte es, in halb besorgtem, halb klagendem Tonfall, wie sie es bei jedem Klingeln der Türglocke ausstieß. Dann hatte sie geöffnet. Der Mörder war ein hochgewachsener junger Mann mit einer Mütze, in grauem Monteuranzug, so schien es ihr, von dunkler Gesichtsfarbe, mit einem braungrünen Wollschal. Ein hübscher Bursche, jawohl, ein fescher Kerl. Aber ein Typ, der einem sofort ein Gefühl der Angst einflößte. »Was hatte er für eine Mütze?«, fragte Don Ciccio, indem er weiterschrieb. »Er hatte … bestimmt, ich weiß es nicht mehr, ich kann mich nicht genau erinnern, könnte es Ihnen nicht sagen …« – »Und Sie?«, fragte er die Portiersfrau. »Wie er weggerannt ist, wie er unter Ihren Augen davon ist? Haben Sie ihn da nicht gesehen? Können Sie mir nicht sagen, wie die Mütze ausgesehen hat …«

»Aber Herr Kommisar … bei so einer Aufregung! Wer denkt denn in einem solchen Augenblick an die Mütze! Was glauben Sie denn … Sagen Sie selber, wenn da zwischen den Leuten herumgeschossen wird, meinen Sie, dass eine Frau da an eine Mütze denken kann …«

»War er allein?« – »Ganz allein«, sagten die beiden Damen unisono. »Ah, Herr Kommissar!« flehte die Menegazzi. »Sie müssen uns helfen! Sie, der Sie uns helfen können! Helfen Sie uns, um Gottes willen, Heiligemariamuttergottes! Einer armen Witwe! Allein im Haus, Heiligemaria! Die Welt ist ja so schlecht! Das sind ja keine Menschen mehr, das sind ja Teufel, Teufel, die direkt aus der Hölle kommen …!«

Die Menegazzi verbrachte, wie alle Frauen, die allein wohnen, ihre Stunden in einem Zustand der Bedrängnis oder zumindest zweifelvoller und angstvoller Erwartung. Seit einiger Zeit hatte sich diese ihre fortdauernde Furcht vor dem Schrillen der Klingel in einen Komplex von Vorstellungen und bedrohlichen Gestalten ausgewachsen: Männer mit Gesichtsmasken vor allem, Filzsohlen an den Füßen, wiederholte, völlig geräuschlose Einbrüche in die Diele, Hammerschläge auf den Kopf, Würgegriffe mit der Hand oder mit einer geeigneten Schnur, etwa nach vorausgegangenen »Missbehandlungen«, Letzteres eine Vorstellung, beziehungsweise ein Ausdruck, der in ihr unsagbare Erregung auslöste.

Vermischte Ängste und Wahnvorstellungen: begleitet, unter Umständen, von plötzlichem Herzklopfen, hervorgerufen durch ein unversehenes Knacksen im Dunkeln, in einem Schrank, der älter war als die anderen: jedenfalls gingen solche düsteren Anzeichen dem Ereignis voraus. Welches schließlich und endlich ja nicht hatte ausbleiben können. Die lange Erwartung eines Überfalls in der Wohnung, dachte Ingravallo, war wirkender Umstand geworden, nicht so sehr, was sie betraf und ihre Aktionen und Gedanken als bereits vorbelastetes Opfer, vielmehr als Mitwirkung am Schicksal, im »Kraftfeld« des Schicksals. Die Figurenanordnung eines Verbrechens hatte sich nach der historischen Prädisposition abspielen müssen: hatte gewirkt: nicht nur auf die Psyche der zu Berauben-Erstechen-Misshandelnden, sondern auf ihr Umwelts-»Feld«, auf das äußere psychische Spannungsfeld. Denn Ingravallo schrieb, ähnlich wie gewisse unserer Philosophen, jenem System von Kräften und Wahrscheinlichkeiten, das jede lebende menschliche Kreatur umgibt, und das man gemeinhin Schicksal nennt, eine Seele zu, vielmehr eine schmutzige Drecksseele. Kurzum: ihre Heidenangst hatte die Menegazzi ins Unglück gebracht. Ihr vorherrschendes Denken pflegte sich bei jedem Klingeln in jenes »Wer ist da?« zu koagulieren, in das Blöken oder Röhren, das so bezeichnend ist für jede Gefangene, welche die traurigen Laren nicht zu schützen vermögen. In ihr war es ein zitternder Gegenlaut zum Trillern der Klingel, zu den häuslichen Instanzen der Türglocke.

Es ergab sich, dass der junge Mann, kaum dass die Signora Teresina sich entschlossen hatte, die Sicherheitskette aufzuhaken und zu öffnen, erklärte, er komme im Auftrag der Hausverwaltung, um die Heizkörper nachzuprüfen: die er, einen um den anderen, inspizieren müsse. In der Tat war einige Tage zuvor die Rede gewesen von Heizkörpern, die jetzt, wo der Winter und die offizielle Heizperiode zu Ende gingen, noch lauwarmer (oder eher kälter) waren als die Lust der Mieter, noch weiter Geld für die Heizung auszugeben.

Die Flamme jeglicher zentralen Heizanlage verlöscht in Rom um die Iden des März, manchmal schon um die Nonen, wenn nicht gar schon um die Kalenden. In den doppellangen Wintern mit ausgedehntem Epilog, wie dem Winter jenes Jahres siebenundzwanzig, nährte man sie noch den ganzen Monat und ließ sie den Tod langsamer Ermattung sterben, nicht ohne akademische Diskussion und heftige Kritik der Hausbewohner, die in verschiedener Lautstärke zu dem Vorgang Stellung nahmen, proportional zu ihrer Eigenschaft als Groschenkratzer oder Melkkuh, zu dünnen oder dicken Geldbeuteln. Was die Zimmer in den oberen Stockwerken von Nummer zweihundertneunzehn betrifft, so gehörten sie zweifellos zu den »sonnigsten römischen Lagen«: ein Grund, weshalb man, da es in diesem frühen Vorfrühling schneeregnete, dort vor Kälte bibberte.

Der Mechaniker hatte weder eine Tasche noch ein Werkzeugbündel bei sich: Werkzeug brauche er für den Moment nicht, es handele sich lediglich um eine Inspektion. Die Signora Teresina fügte noch hinzu, was Don Ciccio jedoch nicht ins Protokoll nahm, sie sei sicher, dass dieser junge Bursche … ja, der Mörder halt, der Mechaniker … sie war sicher, hätte es auch vor Gericht schwören können, war sicher, dass dieser Kerl sie hypnotisiert hatte (Don Ciccio hörte mit offenem Munde zu, wie ein Schlafender, dem das Maul offensteht), denn er hatte sie, noch in der Diele draußen, starr angeschaut. »Fixiert«, wiederholte sie fast deklamierend, begeistert von der Dauer und der Festigkeit dieses Blickes: »es war ein erbarmungsloser Blick aus starren Augen«, unter der Mütze hervor »wie eine Schlange.« Und sie hatte dabei genau gespürt, wie ihre Kräfte sie verließen. Sie sagte sogar, dass sie in diesem Moment, was immer der Bursche von ihr verlangt oder gefordert, in diesem Moment, getan, ihm ohne weiteres gehorcht hätte – »wie eine Gliederpuppe« (so sagte sie).

»Heilige Muttergottes, er hat mich hypnotisiert …« Don Ciccio, in seinem Innern, konnte nicht umhin, auszurufen: »Diese Weibsbilder!«

So war’s gekommen, dass der Mensch da, der Mechaniker, die Runde durch die ganze Wohnung gemacht hatte. Im Schlafzimmer, wo er einige Goldgegenstände auf der Kommode eräugt hatte, auf der Marmorplatte, hatte er nur einen einzigen Handgriff getan, während er mit der anderen unterwärts die Tasche, die er in seinem Monteuranzug hatte, wie einen Eimer weit aufhielt.

»Was machen Sie denn da?«, hatte die Menegazzi gegackert, von ihrem hypnotischen Zustand doch nicht ganz gelähmt. Er, indem er sich rumdrehte, hatte ihr eine Pistole vors Gesicht gehalten: »Halt’s Maul, alte Hexe, sonst verbrenn ich dich!« Nachdem er ihren Schrecken abgeschätzt hatte, öffnete er die Schublade, die obere, dort wo der Schlüssel steckte … Und er hatte es gleich richtig getroffen. Da drin war alles Gold und der Schmuck: in einer Lederschatulle. Da war auch das Geld. »Wieviel?«, fragte Ingravallo. »Genau weiß ich’s nicht. Viertausendsiebenhundert, glaub ich.« Das Geld, in einer alten, vertrockneten Brieftasche, einer Herrenbrieftasche: von ihrem Seligen. (Ihre Augen wurden feucht.) Der da, schneller als der Blitz, hatte schon die Lederschatulle in so einen alten, schmierigen Schneuzlappen, oder Schmutzlappen, gewickelt, fuffuffu, mit fiebrigen Fingern: die Brieftasche hatte er mir nichts, dir nichts in die Tasche gesteckt, mit einer Fixigkeit! Heiligemaria. »Da in die Tasche …«, und die Signora schlug sich mit der Hand auf den Schenkel.

»Diese Teufel, ich weiß nicht, wie die das fertigbringen, diese Teufel! Teufel!«

»Sei still jetzt!«, hatte der Bursche mit düster drohender Stimme zu ihr gesagt, indem er sie wieder beäugte, sein Gesicht fast unter dem ihrigen. Jetzt sahen sie aus wie Tigeraugen, die seinigen: die Raubtierseele hatte ihr Opfer: sie würde ihren Raub unter allen Umständen verteidigen. Er war entwichen, ohne das geringste Hindernis, wie ein Schatten. »Still!«, so lautete das schreckliche Gebot. Sie aber, stattdessen, kaum dass sie ihn hatte hinausgehen sehen, war sofort ans Fenster gestürzt, ja, an dies hier, genau, das auf den Hof ging, hatte es aufgerissen und geschrien, geschrien, die Hausbewohner behaupteten sogar, verzweifelt gekreischt:

»Diebe! Diebe! Hilfe! Diebe!«, dann … sie wollte ihm sofort nachrennen: aber es war ihr schlecht geworden, noch schlechter als vorhin. Sie war aufs Bett gesunken, oder hatte sich drauffallen lassen: auf »ihr« Bett: dort. Und sie zeigte mit dem Finger darauf.

Nummer zweihundertneunzehn: fünf Stockwerke, von der Straße gerechnet, dazu noch die Dachwohnung, und die beiden Treppenhäuser A und B, nebst einigen Büros auf Treppe B, im Hochparterre – das alles war groß wie ein Meereshafen. Die Treppen waren auch recht praktisch, eine dunkler als die andere, die Treppe A stiller als ihre Schwester B: alles wirkliche Herrschaften dort, du côté de chez madame.

Aus den zusammengefügten und sich überkreuzenden Berichten der Portiersfrau und der anderen Einwohnerinnen, die am widerstandslosesten der Fabel zuneigten und die Ingravallo ohne mitzuschreiben befragte, im Eingang unten, hinter dem Haustor und am Seitenpförtchen, das vom Brigadier und später von einem Polizisten bewacht wurde, konnte er schließlich den Vorfall rekonstruieren. Und einen weiteren, recht merkwürdigen Umstand aufklären. Der Einbrecher war auf sehr mutige Weise verfolgt worden. »Ah«, machte Ingravallo. »Jawohl«, vielleicht sogar zu mutig. Denn der, der ihm nachrannte, oder so tat, als ob er ihm nachrenne, die Treppen hinunter und durch den Eingang, noch ehe der Signor Bottafavi aus dem vierten Stock ihm nachsetzte, mit dem Revolver, der erste also, war ein junger Mann gewesen, »jawohl, ein junger Bursch.« – »Nein, nein, kein junger Bursch, ein Bub …« – »Was heißt Bub! der war riesenlang«: und sah aus wie der Ladenschwengel einer Lebensmittelhandlung, den weißen Schurz hochgerollt und um die Hüften gewickelt, hatte aber kurze Hosen drunter an und grüne Socken. »Doch nicht grün!« Er war gleich nachher aus dem Haustor hinausgesaust, nachdem man die zwei Schüsse, die Revolverschüsse im Stiegenhaus gehört hatte. Und keiner hatte ihn mehr gesehen. »Doch, ich! Auf dem Trottoir! Ich kam grad von Santa Maria Maggiore! Er ist weggerannt …« Der Herzensbrand der Augenzeugenschaft, nachdem er Feuer an die Seelen gelegt hatte, verglutete ins Epos. Alle sprachen gleichzeitig. Verworrenheit der Stimmen und Bilder: Dienstboten, Herrschaften, Blumenkohlköpfe: riesige Blätter eines Blumenkohls ragten aus einer hochgeschwollenen, verwesenden Einkaufstasche. Schrille oder kindliche Stimmchen taten Zustimmung oder Verneinung kund. Ringsherum, ringsherum wedelte ein aufgeregter weißer Pudel, der ebenfalls von Zeit zu Zeit bellte: so gebieterisch wie möglich.

Ingravallo meinte zu ersticken, zermalmt zu werden zwischen Berichterinnen und Bericht.

Auf die Schreie der Menegazzi hin waren die beiden Bottafavis von oben, Mann und Frau, in Pantoffeln auf den Treppenabsatz herausgekommen, ebenfalls schreiend, ein schönes eheliches Bariton-Sopran-Duett: »Diebe! Diebe!« Sie heischten nun angemessene Bewunderung für ihren Mut, ihre Geistesgegenwart. Bottafavi sogar mit einem großen Trommelrevolver in der Hand: den wollte er dem Kommissar vorführen, beziehungsweise den Umstehenden: die Frauen wichen etwas zurück. »Na, schießen Sie jetzt nicht gleich noch auf uns!«: die Buben reckten die Hälse, voller Bewunderung. Von da an hatten sie eine hohe Meinung von diesem Signor Bottafavi. Er fuhr mit seiner Rezitation fort, Revolver in der Hand, der aber nicht geladen war: Revolverlauf nach oben. Mit großer Genauigkeit wiederholte er das Vorgefallene. Wie es gekommen war, dass ihm, sosehr er es auch versucht hatte, nicht gelungen war, ihn abzufeuern. Denn da war eine Sicherung, ein Bolzen im siebten Loch der Trommel. Und er, in den vielen Jahren der absoluten Inaktivität des Schießeisens, hatte ganz vergessen, dass richtige Revolver, wie der seinige, eben diese Ladesicherung hatten! Und wenn die zu ist, kann man eben nicht schießen. Sodass, grad auf dem Höhepunkt, der Dieb in langen Sätzen hatte das Weite suchen können. »Aber die zwei Schüsse, haben Sie die denn abgegeben?«, fragte Ingravallo. »Was denken Sie, Herr Kommissar! Ich bin doch kein leichtsinniger Bengel … so aufs Geratewohl zu schießen!« – »Aber Sie haben’s doch versucht!« – »Versucht, und ob versucht! Aber mein Revolver ist doch nicht so einer wie von diesen Verbrechern … die ernstlich schießen. Das hier, Herr Kommissar, das ist der Revolver eines Ehrenmanns. Ich … ich bin als junger Mann bei der Ehrengarde gewesen: und ich glaub, ich kann mit Waffen besser umgehen als viele andre. Ich, ich hab mich und meine Nerven gut in der Hand …« Der Dieb war entwischt. Um Haaresbreite … »aber ein zweites Mal wird es ihm nicht gelingen …«

»Und was können Sie über den Ladenburschen aussagen?« – »Was für einen Ladenburschen?« – »Den Austräger vom Lebensmittelgeschäft«, sagten die Frauen. »Haben Sie denn nicht gehört, was die Weiber da erzählt haben? Stundenlang reden sie schon davon …«, sagte Ingravallo. »Na, ich kümmere mich doch nicht um Lebensmittelgeschäfte: das sind Sachen, die meine Frau angehen«, antwortete er in gewichtigem Ton. Die Ladenjungen der Wursthandlungen konnten ganz offensichtlich nicht mit seinem Revolver konkurrieren. Nein, er hatte keinen Ladenburschen gesehen: weder von einem Lebensmittelgeschäft noch von irgendeinem anderen: weder vom Metzger noch vom Bäcker.

Und doch hatte die Signora Manuela ihn gesehen, und gut gesehen, wie er gestreckten Laufs aus dem Tor schoß, direkt hinter dem Dieb. »Aber was denn«, rief die Bottafavi, um ihren Gatten zu unterstützen. »Wieso, was denn! Nichts ›was denn‹, Signora Teresa! Glauben Sie, ich habe meine Augen für nichts und wieder nichts? … Das wäre ja noch schöner … bei dem Hin und Her hier im ganzen Haus?« Die Frau Professor Bertola dementierte, was die Bottafavis abstritten: und korrigierte gleichzeitig die Behauptung der Portiersfrau. Sie war grad auf dem Heimweg: am Mittwoch hatte sie nur eine Stunde Unterricht, von acht bis neun. Grad wollte sie beim Haustor herein, als sie ihn herauskommen sah und er sie beinahe über den Haufen rannte, dieser verängstigte Seraphim mit der unglaublichen Haarmähne: mit verstörtem Gesicht, weißen Lippen … die Lippen hatten ihm gezittert, dessen war sie sicher. Sie hatte ihn aus den Augen verloren, denn gleich darauf war dieser »üble Bursche« hintennach gekommen, der im grauen Monteuranzug sui generis, ganz ausgestopft, und mit einem eingewickelten Paket, »der Mörder in Person …« – »Und was für eine Mütze hatte er auf?«, fragte Ingravallo. »Die Mütze … ja, wissen Sie … die Mütze …« – »Wie war sie? Sagen Sie nur!« – »Ich könnte es nicht sagen, kann mich nicht erinnern, Herr Kommissar.« Kurz vorher, ja, ja, doch, sicherlich, hatte auch sie die beiden Schüsse gehört: zwei Einschläge, die durchs Haustor schallten.

Die Portiersfrau ihrerseits hackte zurück. Die zwei Schüsse wohl, zuallererst die zwei Schüsse … stimmt. Dann aber hatte sie etwas Graues vorüberfegen sehen im Hausgang, eine fliehende Ratte … »Kam mir vor wie die Mäuse, die davonrennen, wenn man mit dem Besen hinter ihnen her ist … Und dann, hinter ihm, der Ladenbursche.« Sie konnte drauf schwören. Wie der Ladenbursche vorübersauste, ganz in Weiß gekleidet, außer der Hose, wie gesagt, nun, da war der Mörder schon vorbei. Die Revolverschüsse: ja, sicher … einen Augenblick vorher hatte dieser Dreckskerl zwei Schüsse abgegeben. Auf der Treppe oben noch, die dröhnten wie zwei Bombeneinschläge. »Bumm! Bumm! Ich sag Ihnen, Herr Kommissar, ich hab ein Herzklopfen davon gekriegt …«

Die Bertola wollte etwas erwidern. Zwischen den beiden Frauen gab’s eine Keiferei. Die Signora Liliana hatte sich nicht gezeigt: und Don Ciccio war froh darüber! sie! sollte sie sich einem solchen Marktgeschrei aussetzen?

Es schien ihm nicht angemessen, seine Zeit mit der Suche nach den Geschossen oder Geschossspuren zu verplempern. Ob sich’s nun um eine 6,5 Beretta oder eine 7,65 Glisenti handelte, war ihm ziemlich gleichgültig: eine Pistole konnte man mit Leichtigkeit auf einige Zeit verschwinden lassen, das wusste er aus Erfahrung: man brauchte sie nur einem Kameraden, einem Freund zur Aufbewahrung zu geben.

So entließ er Mieter und Mieterinnen, Dienstboten und Einkaufstaschen; unversehens versetzte er dem Pudel eins auf die Pfote, der in ein Teufelsgekläff von »kai, kai, kai« ausbrach, dass selbst der Papst in seinem Palast es hören musste. Ließ das Haustor ganz abschließen, das Seitenpförtchen von dem Polizisten bewachen, der auf den Posten des Brigadiers gerückt war. Stieg hinauf. Zu einem nochmaligen kurzen Augenschein bei der Menegazzi: Pompeo, der ihn begleitete, hinter ihm her: Gaudenzio war oben geblieben. Fragte und guckte nochmals, ob Spuren, genauer gesagt, Fingerabdrücke des Mörders vorhanden waren. Die Schubladengriffe, die Marmorplatte der Kommode: der glänzende Marmorfußboden.

Schließlich erschien auch die Signora Liliana (wunderschön): behauptete, von sich aus keinerlei Vermutungen anstellen zu können: hatte freundliche Worte für die Menegazzi, bot ihr an, sie bei sich unterzubringen: bestätigte, auf Befragen hin, dass einige Zeit vor den zwei Pistolenschüssen an der Wohnungstür geklingelt worden war, reichlich schüchtern jedoch, wie ihr schien. Sie war im Bad. Hatte nicht öffnen können: vielleicht hätte sie sowieso nicht geöffnet. Um diese Zeit schrieben die Zeitungen ja viel über jenes »düstere« Verbrechen in der Via Valadier, dann über jenes andere, noch »finsterere« in der Via Montebello. Ihr gingen die Dinge, die sie gelesen hatte, nicht aus dem Kopf. Und außerdem … eine Dame … die allein zu Hause ist, hat immer ein wenig Angst, aufzumachen. Sie verabschiedete sich. Dann erst fiel dem Ingravallo seine grünliche Krawatte ein (die mit den schwarzen Kleeblättchen in Fünferordnung) und sein molisischer Bart der letzten sechsunddreißig, achtunddreißig Stunden. Aber ihre Erscheinung hatte ihn beseligt.

Er befragte nochmals die Witwe Menegazzi, geborene Zabalà, ob sie etwa, bei genauer Überlegung, irgendeinen Verdacht gegen irgendjemanden hätte, irgendeinen Hinweis, irgendein Indiz geben könnte? Keiner von den Leuten aus dem Haus? Aber die Gewohnheiten des Hauses mussten ihm doch vertraut sein, der Ungeniertheit nach, mit der er vorgegangen war. Er fragte nochmals, ob irgendwelche Spuren vorhanden wären … Abdrücke, oder andere … des Mörders. (Dieser Ausdruck des fabulierenden Kollektivs hatte sich ihm inzwischen im Gehörgang eingenistet: seine Zunge musste ihn nachsagen.) Nein, keine Spuren.

Er ließ Gaudenzio und Pompeo die Kommode wegrücken. Staub. Ein gelbes Reisig vom Kehrbesen. Ein bläuliches Trambahnbillett, fest zusammengeknäuelt. Er bückte sich, klaubte es auf, faltete es sehr vorsichtig auseinander, den dicken Kopf über dieses Nichts gebeugt: das ganz verknittert, fast ganz verknittert schien. Trambahnlinie zu den Castelli. Geknipst am Datum des Tags zuvor, vielleicht, es ging da ein Riss durch, bei der Station »Tor … Tor … Herrschaftnochmal! Die Haltestelle vor … Due Santi.« – »Das ist die Haltestelle von Torraccio«, sagte da Gaudenzio, der hinter Don Ciccios Schultern den Hals vorgereckt hatte. »Ist das von Ihnen?« fragte Don Ciccio die verängstigte Menegazzi. »Nein, Signore, es ist nicht von mir.« Nein, sie hatte auch keine Besuche gehabt, am Tag vorher. Die Putzfrau, die Cencia, eine etwas bucklige Alte, kam nur halbtags, um zwei Uhr: was ihr gar nicht recht war (ihr, der Menegazzi). Deshalb musste sie sich zum Beispiel morgens selber ihr Bett machen, obwohl … ihre armen Nerven, ach, Herr Kommissar! Sie hatte es übrigens schon gemacht, als plötzlich, inmitten des friedlichen Schweigens »diese grässliche Klingel« so unvermutet ertönte. Ins Schlafzimmer, Heiligemuttergottes, dahinein kam doch niemand, in dies Heiligtum der Erinnerungen, nein, nein, dahinein hätte sie nie jemanden geführt.

Don Ciccio zweifelte daran in keiner Weise: aber ihr Ton und ihr »Heiligemuttergottes« waren dergestalt, dass sie Zweifel am Gegenteil durchaus zuließen. Nein, die Putzfrau war nicht aus Marino, war nicht aus der Gegend der Castelli Romani … Sie wohnte vielmehr, seit undenkbaren Zeiten, in so einer Bruchbude, einer ganz stinkigen Bruchbude in der Via dei Querceti, auf halber Höhe, direkt an der Hinterpartie der Santi Quattro, mit einer Schwester, einer Zwillingsschwester, die nur ein klein bisschen kleiner war als sie, aber kaum zu merken. Übrigens, beide, das konnte er glauben, kreuzbrave Frauen. Sie schleckte gern Zucker, das wohl, und Kaffee, ganz süßen Kaffee. Aber dass sie was angerührt hätte … nein, bewahre … sie hätte nie was genommen, ohne zu fragen. Sie litt an Frostbeulen, an Händen und Füßen, jawohl: konnte oft kein Geschirr spülen, so brannten ihr die Hände: musste viel ausstehen, die Arme. Diesen Winter war’s nicht gar so schlimm, wenn auch arg genug, aber den vorherigen Winter. Eine sehr brave, fromme Frau: den ganzen Tag mit dem Rosenkranz in der Hand: besonders den heiligen Joseph verehrte sie. Auch Don Corpi konnte Auskunft über sie geben, Don Lorenzo, kannte er den nicht? … Ach, ein so heiligmäßiger Mann: von der Kirche Santi Quattro Coronati: ja, er war ihr Beichtvater: manchmal machte sie auch Kirchendienst für ihn, wenn die Kirchenputzerin, Rosa, selber nicht konnte.

Ingravallo hatte mit offenem Mund zugehört. »Dann ist also das Billett da? dies Billett, von wem ist denn dann dies Billett? Wer kann das hiergelassen haben? Sagen Sie! Der Mörder? …« Es war, als ob die Menegazzi dem Eifer und der Dringlichkeit der Fragestellung ausweichen wollte, die Anstrengung scheute, nachzudenken: ganz zittrig, ganz durchweicht von verspäteter Hoffnung, im Traum und im Charisma der ach, nur gestreiften und nicht erlittenen »Missbehandlungen«. Eine vielfarbene Flatterhaftigkeit wölkte aus ihren violetten Foulards, ihrem blauen Bartanflug, ihrem vogelprangenden Kimono (es waren keine Blütenblätter, sondern seltsame Flugwesen, zwischen Vogel und Schmetterling), von den gelblichen Haaren mit dem brüchigen Tizianschimmer, vom lilafarbenen Band, das sie zusammenhielt fast wie ein Strahlenbüschel im Glorienschein: oberhalb der vagotonen Schlaffheit des Epigastriums und des welken Gesichts, und der Seufzer ob der – ach! – entronnenen Brutalitäten und der nicht entronnenen Beraubung der Goldschätze: sie wollte nicht nachdenken, wollte sich nicht erinnern: oder doch, wollte sich nur an das erinnern, was wohlweislich nicht geschehen war. Der Schreck, das »Unglück« hatten ihr das Gehirn verdreht, das bisschen, was man bei ihr Gehirn nennen konnte. Sie war neunundvierzig Jahre alt, auch wenn sie aussah wie fünfzig. Das Unglück hatte sie doppelt heimgesucht: in ihrem Geld, jenem unvergleichlichen Urkundenbeweis … der nun nicht mehr zu leugnenden Wertgeschätztheit: und in ihrer eigenen Person, mit der Titulierung »alte Hexe«, dem Pistolenlauf, der Pistole. »Früher bist du nicht so nichtsnutzig