Die Große Depression - Jan-Otmar Hesse - E-Book

Die Große Depression E-Book

Jan-Otmar Hesse

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Beschreibung

War die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre vermeidbar? Haben Politiker wie Heinrich Brüning in Deutschland oder Herbert Hoover in den USA durch ihr Handeln die Krise verschärft und damit Millionen von Menschen in Armut gestürzt? Oder haben sie – schlimmer noch – den Aufstieg extremistischer Regierungen befördert? Können wir aus der Weltwirtschaftskrise lernen und durch »richtiges« Handeln in der Finanzkrise von heute einen vergleichbaren Absturz verhindern? Ökonomische Krisen – so eine der Thesen der drei Autoren – kehren zwar einerseits immer wieder, sind andererseits aber schwer kalkulierbar, da jede ihre eigene spezifische Prägung hat. Ihre Ursachen, Mechanismen und Folgen lassen sich aber beschreiben – und daraus kann man Schlüsse ziehen. In diesem Buch wird am Beispiel der Weltwirtschaftskrise, die auf den Zusammenbruch der New Yorker Börse von 1929 folgte, deutlich: Aus einer Abfolge volkswirtschaftlicher Einzelkrisen entstand in einer international verflochtenen Wirtschaft ein ökonomischer Flächenbrand, der – trotz oder wegen der Bemühungen der Politik – rasch in die entlegensten Winkel der Welt ausstrahlte und die herkömmliche Ordnung zerstörte.

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Jan-Otmar Hesse, Roman Köster, Werner Plumpe

Die Große Depression

Die Weltwirtschaftskrise 1929–1939

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

War die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre vermeidbar? Haben Politiker wie Heinrich Brüning in Deutschland oder Herbert Hoover in den USA durch ihr Handeln die Krise verschärft und damit Millionen von Menschen in Armut gestürzt? Oder haben sie – schlimmer noch – den Aufstieg extremistischer Regierungen befördert? Können wir aus der Weltwirtschaftskrise lernen und durch »richtiges« Handeln in der Finanzkrise von heute einen vergleichbaren Absturz verhindern?

Ökonomische Krisen – so eine der Thesen der drei Autoren – kehren zwar einerseits immer wieder, sind andererseits aber schwer kalkulierbar, da jede ihre eigene spezifische Prägung hat. Ihre Ursachen, Mechanismen und Folgen lassen sich aber beschreiben – und daraus kann man Schlüsse ziehen. In diesem Buch wird am Beispiel der Weltwirtschaftskrise, die auf den Zusammenbruch der New Yorker Börse von 1929 folgte, deutlich: Aus einer Abfolge volkswirtschaftlicher Einzelkrisen entstand in einer international verflochtenen Wirtschaft ein ökonomischer Flächenbrand, der – trotz oder wegen der Bemühungen der Politik – rasch in die entlegensten Winkel der Welt ausstrahlte und die herkömmliche Ordnung zerstörte.

Über den Autor

Jan-Otmar Hesse ist Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Bielefeld. Roman Köster ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität der Bundeswehr München. Werner Plumpe ist Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Frankfurt am Main; von 2008 bis 2012 war er Vorsitzender des Verbandes der Historikerinnen und Historiker Deutschlands.

Inhalt

Vorwort

1. Die Weltwirtschaftskrise als historisches Ereignis und konzeptionelles Problem

2. Krisenherde der »Goldenen Zwanziger Jahre«

3. Die Krise in den einzelnen Ländern

3.1 Die kurze und tiefe Krise des Deutschen Reiches

3.2 Die schleichende Krise in Großbritannien und dem Commonwealth

3.3 Die große und lange Depression in den USA

3.4 Die verzögerte Krise in Frankreich und dem Goldblock

3.5 Die verspätete Krise in China

3.6 Die entkoppelte Krise in der Sowjetunion

4. Die Weltwirtschaftskrise in der Kontroverse

5. Die Weltwirtschaftskrise und die gegenwärtige Finanzkrise

Verzeichnis der Grafiken und Tabellen

Literatur

Anhang

Vorwort

Die Wirtschaftskrise der Zwischenkriegszeit war, daran besteht kein Zweifel, wegen ihres Ausmaßes und ihrer Folgen das gravierendste Ereignis der jüngeren Wirtschaftsgeschichte. Sie hat nicht nur unser Verständnis der modernen Wirtschaftsentwicklung geprägt und dabei eine tiefe Skepsis hinterlassen, dass solche tiefen globalen Wirtschaftskrisen jederzeit wiederkehren können. Auch die Erwartungen an die wirtschaftliche Rolle des Staates haben sich fundamental gewandelt. Der liberale Optimismus des 19. Jahrhunderts jedenfalls ist seither geschwunden. Im Gegenteil: Heute verlangen die Bürger vom staatlichen Handeln Schutz, sei es durch kluge vorbeugende Maßnahmen oder durch umfassende Hilfen angesichts der sozialen Folgen von Wirtschaftskrisen. So richtete man während der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise rasch umfassende Erwartungen an die Adresse des Staates – und das nicht etwa nur aus dem Lager der Anhänger sozialpolitischer Maßnahmen, sondern auch von Seiten der Unternehmer. Die Forderungen wurden auch damit begründet, dass der Staat ein Desaster wie die Entwicklung nach 1929 um fast jeden Preis verhindern müsse. Schließlich war die Erfahrung der Weltwirtschaftskrise auch deshalb so einschneidend, weil sie in der Tat ein weltweites Phänomen war und nicht ohne weiteres auf regionale Besonderheiten oder nationale Fehlentwicklungen zurückgeführt werden konnte. Gerade ihre Globalität begründete ihre Wirkung und bestimmt unser Denken seither.

Umso erstaunlicher ist es, dass – trotz einer nicht mehr zu überschauenden Fülle an Forschungsbeiträgen – Darstellungen, die den ökonomischen und wirtschaftshistorischen Forschungsstand zusammenfassen und eine entsprechende Erläuterung der Ursachen, des Verlaufes und der Folgen der Krise geben, zumindest im deutschen Sprachraum selten geblieben sind. Dies mag mit Paul A. Samuelsons fast resignierender Beobachtung zu tun haben, nach der die Weltwirtschaftskrise sich vor allem einer unglücklichen Verkettung verschiedener Faktoren verdankt, die eine einfache Darstellung erschweren; allein die Zusammenfassung der bisherigen Literatur zu den Krisenursachen steht vor dem Problem, in einem nicht leicht zu entwirrenden Dickicht konkurrierender Interpretationen den roten Faden zu entdecken. Andererseits aber ist die Bedeutung der Krise zu groß, um nicht zumindest den nachfolgenden Versuch zu wagen.

Mit dem vorliegenden Buch beabsichtigen wir keine Enzyklopädie der Großen Depression zu schreiben. Wir legen vielmehr eine typisierende Darstellung einer Krise sowohl in ihrer Regelhaftigkeit als auch in ihren jeweiligen nationalen Besonderheiten vor. Daher betrachten wir vor allem jene Staaten und Regionen genauer, die sich im Fokus der Krise befanden, während Länder, die von der Krise kaum oder gar nicht betroffen waren (wie etwa Japan), eher am Rande bleiben. Auch lässt die historische Wirtschaftsstatistik ein zugleich umfassendes und detailliertes quantitatives Bild des Krisenverlaufes bisher nicht zu, und es war außerhalb unserer Möglichkeiten, hier durch eigene Arbeit Abhilfe zu schaffen. Aber die vorliegenden statistischen Befunde sind bei allen Vorbehalten auch nicht so schlecht, dass sie nicht für die Argumentation hätten herangezogen werden können. Der Aufbau der Studie ist entsprechend unserer typisierenden Argumentation angelegt.

Wir beginnen mit einer allgemeinen Übersicht über die Krise und diskutieren danach deren Überraschungswert für die Zeitgenossen, deren Erwartung an die konjunkturelle Entwicklung noch weitgehend durch die ökonomischen Vorstellungen des liberalen 19. Jahrhunderts und die sich von dort herleitenden politischen Vorstellungen geprägt war. Die Krise war – und das ist uns sehr wichtig – eben nicht nur ein tiefer Einschnitt in der wirtschaftlichen Leistung; sie traf die wesentlichen Akteure der Zeit auch unvorbereitet, auf dem falschen Fuß, und machte sie teilweise hilflos. An diese Eröffnung schließt sich ein Kapitel zu den strukturellen Belastungen der Weltwirtschaft der Zwischenkriegszeit an, in dem einerseits die Folgen des Krieges, andererseits die Folgen jener Maßnahmen betrachtet werden, die ergriffen wurden, um die Nachkriegswirtschaft zu stabilisieren. Dabei ragt der Goldstandard als internationale Währungsordnung in jeder Hinsicht heraus. Rekonstruiert, um an die Vorkriegsprosperität anknüpfen zu können, wurde er zu einer Art tragischem Band der Weltwirtschaft, über das sich die Krise global ausbreiten konnte. Diesen Überlegungen folgt dann die Betrachtung der Krise in einzelnen Ländern nach der Reihenfolge, in der sich die Länder von den »goldenen Fesseln« (Barry Eichengreen) befreit haben, beginnend mit Deutschland, Großbritannien bzw. dem britischen Empire und fortsetzend mit den USA und Frankreich. Zwei Schlaglichter auf Länder, die dem Goldstandard nicht unterworfen waren, China und schließlich die Sowjetunion, beschließen dieses Kapitel. Das ist, wie gesagt, kein vollständiges Panorama der Weltwirtschaftskrise – so bleibt nicht nur Japan am Rande, sondern auch Lateinamerika. Diese Auswahl ermöglicht aber doch einen klaren Blick auf die maßgeblichen regionalen Krisenverläufe, durch die wiederum die Darstellung der Krise als Weltwirtschaftskrise Kontur gewinnt.

Dieser Krisengeschichte folgt dann eine pointierende Diskussion der Krisenursachen, namentlich auch eine Rekonstruktion der bis heute geführten Auseinandersetzungen um das Wesen der Krise und der mit einer jeweiligen Diagnose verbundenen Erwartungen an das wirtschaftspolitische Handeln des Staates. Seit der Weltwirtschaftskrise war Krisendiagnostik in der großen Mehrzahl der Fälle immer beides: Ursachenanalyse und Therapievorschlag, zum Teil untrennbar ineinander verschmolzen. Das zeigt noch die gegenwärtige Krisendebatte, die sich auf die Weltwirtschaftskrise von 1929 auch deshalb bezieht, weil sie so ein größeres Reservoir an Argumenten anzubieten glaubt, um die jeweils gewünschte Krisenpolitik zu legitimieren. Mit Überlegungen hierzu schließt das Buch, dessen Verfasser sich selbst mit Ratschlägen zurückhalten. Schließlich lehrt die Geschichte, dass nichts zweimal geschieht – und es daher auch schwer ist, ihr Rezepte zu entnehmen.

Das Buch geht zurück auf die Erstellung eines Kursheftes für die Fernuniversität Hagen, die die Verfasser noch kurz vor der Finanzkrise begonnen hatten. Das Thema haben wir seitdem in zahlreichen gemeinsamen Diskussionen untereinander, aber auch mit vielen Freunden, Kollegen und Studenten über einen längeren Zeitraum vertieft. Ihnen allen gilt unser Dank, auch wenn es nicht möglich ist, hier allen einzeln zu danken. Diejenigen, die großen Einfluss hatten, werden aber auf jeden Fall wissen, dass und inwiefern sie gemeint sind. Fehler gehen selbstverständlich auf unser Konto.

Frankfurt am Main und München, im Sommer 2014

Kapitel 1Die Weltwirtschaftskrise als historisches Ereignis und konzeptionelles Problem

Als im Oktober 1929 in New York die Blase am Aktienmarkt platzte, ahnte zunächst kaum ein Betrachter, dass die bis auf den heutigen Tag tiefste Wirtschaftskrise ausbrechen würde, in deren Ergebnis sich das Antlitz der Weltwirtschaft, ja der Weltpolitik grundlegend verändern sollte. Die meisten Zeitgenossen gingen vielmehr davon aus, dass es sich um einen normalen wirtschaftlichen Abschwung handelte, ausgelöst und verstärkt durch das Ende einer spekulativen Blase. Dieses Ereignis war zweifellos bemerkenswert, zumal es die vermeintlich »goldenen zwanziger Jahre« abrupt beendete und mit aus den Fenstern springenden Börsenhändlern auch spektakuläre Bilder lieferte. Aber das Ausmaß des konjunkturellen Einbruchs schien doch überschaubar, zumal es die Weltwirtschaft regional ganz unterschiedlich betraf.

Das Jahr 1930 war wirtschaftlich schwierig: Vor allem in den USA und im Deutschen Reich ging die wirtschaftliche Gesamtleistung um mehr als fünf Prozent zurück, die Arbeitslosigkeit stieg, und in manchen Branchen, besonders in der Landwirtschaft, waren die Zustände überaus unerfreulich. Aber die Landwirtschaft war Kummer gewohnt: Die gesamten zwanziger Jahre war sie von strukturellen Problemen (zu hohe Kapazitäten, niedriges Preisniveau) gequält worden, überhaupt schien ihre Bedeutung insgesamt zu schwinden. Andere Staaten hingegen wie Frankreich oder England merkten 1930 die Krise noch kaum, die Sowjetunion und Japan waren nur am Rande betroffen, und auch Italien, von der faschistischen Regierung zu einer durchgreifenden ökonomischen Modernisierung genötigt, schien sich der Krise weitgehend entziehen zu können. So war es nur naheliegend, dass die Regierungen weltweit auf die Krise nicht panisch, sondern eher traditionell im Sinne des wirtschaftlichen Liberalismus reagierten. Sie beschränkten die Staatstätigkeit, um den geringer werdenden finanziellen Spielräumen zu entsprechen. Ansonsten warteten sie darauf, dass die Krise sich von selbst erledigte. Abwartendes Verhalten war naheliegend, zumal die Probleme der internationalen Währungsordnung, die durch den Goldstandard bestimmt war, eine offensivere staatliche Haltung ohnehin nicht zuließen.

Anfang 1931 schien die Rechnung auch aufzugehen. Sowohl in der staatlichen Wirtschaftspolitik wie in zahlreichen privaten Unternehmen ging die Mehrzahl der Betrachter davon aus, die Krise sei im Wesentlichen überwunden, und man könne in absehbarer Zeit mit einem erneuten Aufschwung rechnen. Die dramatische Zuspitzung der internationalen Finanz- und Währungskrise in den nächsten Monaten ließ diese Hoffnungen jedoch gegenstandslos werden. Das überaus störungsanfällige System der internationalen Währungsordnung, das komplizierte Problem der Reparationen bzw. der interalliierten Schulden und der damit verbundenen Ungleichgewichte in den globalen Finanz- und Kapitalströmen sowie das politische Misstrauen der ehemaligen Kriegsgegner führten im Sommer 1931 zuerst zum faktischen Zusammenbruch des zentraleuropäischen Banken- und Finanzsektors und dann auch des Goldstandards. Diese Ereignisse mündeten wiederum in einem protektionistischen Wettlauf, in dessen Ergebnis der Welthandel ein weiteres Mal deutlich schrumpfte, nachdem ihm bereits zu Beginn der Krise verschiedene protektionistische Maßnahmen namentlich der US-Regierung zugesetzt hatten. Die wirtschaftlichen Daten verschlechterten sich im Gefolge der Währungs- und Finanzkrise und des Zusammenbruchs des Weltwährungssystems und des Welthandels nun weltweit drastisch – allein die Sowjetunion schien unbeschadet durch das wirtschaftliche Desaster zu kommen, während jetzt auch Länder wie England und Frankreich, die Niederlande und Belgien, die bisher einigermaßen zurecht gekommen waren, in den Strudel hineingezogen wurden.

Die sich weltweit zuspitzende Agrarkrise traf zudem nun auch die Gewinner der durch den Ersten Weltkrieg ausgelösten weltwirtschaftlichen Verschiebungen wie Argentinien, Australien oder Spanien überaus heftig. Im Winter 1931/32 erreichte die Krise folgerichtig ihren Tiefpunkt, deren trauriger Ausdruck Rekordarbeitslosenzahlen waren – in Deutschland gab es im Februar 1932 offiziell sechs Millionen Arbeitslose, von der verdeckten Arbeitslosigkeit ganz zu schweigen. In Großbritannien waren es offiziell 2,85 Millionen Menschen, in den USA standen zwölf Millionen Menschen auf der Straße. Dabei geben diese Zahlen die soziale Realität kaum angemessen wieder, da diejenigen, die noch Arbeit hatten, oft kurz arbeiteten, die Löhne gesenkt und die staatlichen Transferleistungen für Erwerbslose drastisch eingeschränkt worden waren. Massenelend breitete sich in vielen Ländern Europas, vor allem aber auch in den ländlichen Gebieten der USA aus – nun wurden auch die politischen Systeme mehr und mehr in Mitleidenschaft gezogen. Die bisher noch ohne größeren Widerspruch betriebene liberale Wirtschaftspolitik erschien als unfähig, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Staaten in den Griff zu bekommen.

1932 war insofern nicht nur das annus horribilis der Weltwirtschaft; auch die bisherigen Vorstellungen einer liberalen Wirtschaftspolitik, ja der Handlungsfähigkeit parlamentarischer Regierungen überhaupt, gerieten weltweit in die Kritik. Der Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland war dabei in dieser Hinsicht keine Ausnahme, sondern nur der spektakulärste Fall – mit freilich in jeder Hinsicht desaströsen Folgen. Diese Auswirkungen blieben anderen Ländern erspart, auch wenn dort ähnliche antiparlamentarische und antiliberale Bewegungen an Raum gewannen, besonders ausgeprägt in Österreich und Südosteuropa. Aber auch Frankreich experimentierte in den 1930er Jahren mit der »Volksfront«, und in Spanien und Portugal kamen Diktatoren an die Macht. Wie weit die amerikanische Regierung unter Franklin Delano Roosevelt als antiparlamentarisch bezeichnet werden kann, ist umstritten, doch suchte auch Roosevelt im »New Deal« einen neuen, direkten, das Volk mobilisierenden Politikstil, um genügend Momentum zur Überwindung der Krise vorbei an der als schwerfällig, ja handlungsunfähig erscheinenden parlamentarischen Prozedur gewinnen zu können. Lediglich Großbritannien, die Niederlande und einige skandinavische Staaten blieben gegenüber derartigen Verlockungen immun. Der Bruch mit der liberalen Tradition – das ist freilich die Ironie – erzielte letztlich aber auch keine besseren wirtschaftlichen Ergebnisse als der vermeintlich versagende Liberalismus, vom Sonderfall der nationalsozialistischen Rüstungskonjunktur abgesehen.

In der Mehrzahl der Staaten kam es nach 1932/33 zwar langsam zu einer wirtschaftlichen Erholung, doch fiel der Aufschwung vergleichsweise verhalten aus, zumal ihm die weltwirtschaftlichen Impulse fehlten. Denn an die Stelle des in der Krise zerbrochenen Goldstandards trat keine neue Weltwährungsordnung. Die Weltwirtschaft verharrte vielmehr in wirtschaftlich gegeneinander abgeschotteten Handels- und Zollblöcken, und der Welthandel schrumpfte weiter. Entsprechend blieb in der Mehrzahl der Länder die Arbeitslosigkeit auf hohem Niveau. Allein Deutschland scherte aus diesem Muster eines nur schleppenden Aufschwungs aus. Schon 1936/37 war Vollbeschäftigung erreicht und auch die gesamtwirtschaftlichen Daten signalisierten, dass die große Krise überwunden war (vgl. Tabellen 5 und 10 im Anhang).

Doch der Preis, den die deutsche Wirtschaft für diesen Erfolg zu zahlen hatte, war überaus hoch. Die nationalsozialistische Regierung hatte nach 1933 nicht nur die zaghaften Versuche ihrer Vorgängerregierungen, die Wirtschaft anzukurbeln, aufgegriffen, sondern durch Maßnahmen der Aufrüstung und der Kriegsvorbereitung massiv verstärkt. Es kam zu einer Rüstungskonjunktur, die in der Tat die Globaldaten rasch verbesserte, aber nicht auf Dauer angelegt war. Und vor allem: Der Lebensstandard der Bevölkerung verbesserte sich kaum. Während die Auslastungsziffern der Wirtschaft anzogen, profitierte die Bevölkerung allein von den nun wieder längeren Arbeitszeiten. Die Löhne blieben auf dem Krisenniveau gedeckelt. Auch die Güterversorgung wurde nicht besser: Sie verschlechterte sich im Zuge des Autarkiekurses sogar, da der Import zahlreicher Produkte und Rohstoffe ganz unterbunden oder doch erheblich eingeschränkt wurde. So war auch Deutschland keineswegs eine Ausnahme: Die Weltwirtschaftskrise war – in wesentlichen Punkten zumindest – bis 1939 nicht ausgestanden. Erst der Krieg änderte die Lage, dann allerdings radikal.

***

Dass die Weltwirtschaftskrise die Wirtschaftspolitik in der Mehrzahl der Länder »auf dem falschen Fuß« erwischte, war nicht allein das Ergebnis politischer Versäumnisse, wirtschaftstheoretischer Naivität oder unglücklicher Umstände; es entsprach auch der noch verbreiteten Vorstellung, der ökonomische Prozess selbst entziehe sich der staatlichen Steuerung. Diese Vorstellung, wenn auch seit dem Ersten Weltkrieg bereits stark in der Defensive, war zumindest zu jenem Zeitpunkt, als die Krise ausbrach, noch feste Überzeugung der Mehrzahl der Wirtschaftspolitiker, zumal Instrumente zur gezielten Steuerung des ökonomischen Prozesses bis dahin kaum existierten. Diese Auffassung entsprach freilich auch tieferliegenden, längerfristigen Überzeugungen von den »Selbstheilungskräften« der Wirtschaft, ihrer inneren Tendenz zu gleichgewichtiger Entwicklung. Sie bildete geradezu das Credo des modernen Kapitalismus und seiner theoretischen Fassung, der sich schließlich gegen eine staatlich geleitete und weitgehend gebundene Wirtschaft überhaupt erst hatte durchsetzen müssen.

Im 18. Jahrhundert, der Phase der Entstehung des modernen Kapitalismus und der Sattelzeit der modernen ökonomischen Semantik, war der Staat zwar stark, aber die durch ihn geprägte ökonomische Realität alles andere als klar, vernünftig und effizient. Im alten Europa herrschte vielmehr ein wirtschaftlicher Flickenteppich, gewebt aus unterschiedlichen Bestandteilen: Es gab gelegentlich freie Märkte und freie Städte, doch die große Masse der wirtschaftlichen Handlungen erfolgte gebunden und unterlag zum Teil scharfen obrigkeitlichen Restriktionen. Diese folgten nur sehr selten klaren wirtschaftlichen Überlegungen; vielmehr reflektierten sie eine bunte Mischung aus lokalen und regionalen Interessen, obrigkeitlichen Vorbehalten, moralischen Regeln, sozialen Exklusivrechten und schlichtem Unwissen, die durch die dem eigenen Selbstverständnis nach eudämonische Tätigkeit der jeweiligen Regierungen mehr schlecht als recht zusammengehalten wurde. Entsprechend fielen die Ergebnisse aus. Die wirtschaftliche Leistung schwankte stark, Wetter- und Klimaschwankungen hatten zumeist verheerende Folgen, die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen war alles andere als konstant, die ärmeren Schichten der Bevölkerung lebten an und wiederholt auch unterhalb der Existenzschwelle. Entsprechend stark war im 18. Jahrhundert die Kritik an der hergebrachten Organisation der Wirtschaft, an der zumeist vorherrschenden merkantilistischen Wirtschaftspolitik, ihren Verboten und Geboten, der Privilegienpolitik und der oft nicht mehr zu begreifenden Vorschriften wie Polizeyordnungen oder Exportverboten, die längst jeden Sinn verloren hatten.

Die Kritiker der alten Ordnung, deren bekannteste aus den Reihen der französischen Physiokraten und der schottischen Moralphilosophen kamen, beließen es indes nicht dabei, die mangelnde Vernunft des obrigkeitlichen Handelns anzuprangern. Sie setzten dem vermeintlichen Chaos des Merkantilismus die wohlgeordnete Welt einer Wirtschaft entgegen, die nach Vernunftregeln funktionieren und die Widersprüche und Hemmnisse der Politik des »Ancien Régime« vermeiden würde. Diese aus der Kritik der Zustände geborenen Gegenentwürfe waren alles andere als Werbetexte für den sich nach und nach entfaltenden Kapitalismus, von dem weder François Quesnay noch Adam Smith bereits eine zureichende Vorstellung besaßen. Sie gingen vielmehr davon aus, dass in einer Wirtschaft, die den Grundsätzen der Vernunft (wie die Aufklärung diese verstand) folgte, sich zugleich eine deutliche Steigerung der Leistungsfähigkeit wie eine sich stets erneut einstellende Gleichgewichtigkeit des wirtschaftlichen Prozesses ergeben würde. Störungen der wirtschaftlichen Entwicklung erschienen in dieser Sicht als Folgen unvernünftigen Handelns oder von – letztlich unberechenbaren – Effekten wie Klima und Wetterschwankungen: eine zur Zeit der Entstehung der klassischen Texte der politischen Ökonomie überaus plausible Überlegung, waren die regelmäßig wiederkehrenden Krisen doch in der Tat meistens die Folgen von schlechten Ernten, Kriegen oder widersinnigen ökonomischen Vorschriften. Adam Smith’ Buch vom Reichtum der Nationen ist insofern und vor allem ein Kaleidoskop der »unvernünftigen« Welt seiner Zeit.

Auf diese Weise entstand die Vorstellung, sei die Wirtschaft nur vernünftig organisiert, komme zumindest in ökonomischer Hinsicht Harmonie in die Welt, als eine Art Nebenprodukt der Aufklärung, das von hier aus dann zu einem dauerhaften Bestandteil des ökonomischen Denkens und der liberalen ökonomischen Theorien wurde. Störungen des wirtschaftlichen Ablaufes, also das, was wir Krisen zu nennen gewohnt sind, waren in dieser Sicht, wie sie Jean Baptiste Say und John Stuart Mill formulierten, jederzeit möglich, aber keine Erscheinungsform der Wirtschaft selbst, sondern Folge unvorhergesehener Ereignisse oder fehlerhafter politischer Interventionen. Diese Harmonie- oder Gleichgewichtsvorstellung beinhaltete dabei nicht unbedingt die Überzeugung, ökonomisches Gleichgewicht bewirke auch sozial zustimmungsfähige Verhältnisse. Hier war die klassische ökonomische Theorie sogar eher skeptisch. Vor allem David Ricardo glaubte, aufgrund der Beschränktheit der für Lohnzahlungen verfügbaren Kapitalfonds werde sich eine dauerhafte Verbesserung der Lage der Arbeiter kaum erreichen lassen; aber für die Funktionsweise der Ökonomie hätte man dieses Argument nicht akzeptiert. Radikal formulierte das der Manchesterliberalismus: Ein Eingreifen in den wirtschaftlichen Prozess aus sozialen Gründen führe im schlimmsten Fall zu einer Erlahmung der wirtschaftlichen Kräfte und sei daher gerade aus sozialen Gründen abzulehnen!

Die ökonomische Wirklichkeit des neuen, des kapitalistischen 19. Jahrhunderts sah jedoch anders aus. Der ökonomische Prozess schwankte offenbar, und wirtschaftliche Krisen mit sinkender Gesamtleistung, Absatzschwierigkeiten, fallenden Preisen und steigender Arbeitslosigkeit waren keineswegs Ausnahmen. Im Gegenteil: Spätestens seit der Jahrhundertmitte war die Regelmäßigkeit dieser Auf- und Abschwünge offensichtlich. Der erste Beobachter, der diese Erscheinungen systematisierte, war der französische Arzt Clement Juglar in den 1860er Jahren, der zudem glaubte, einen festen zeitlichen Rhythmus von Aufschwung und Depression ausmachen zu können. Wachstums- bzw. Krisenzyklen von etwa achtjähriger Länge hat auch die spätere wirtschaftshistorische Forschung festgestellt. Zwar schwankten im Laufe des 20. Jahrhunderts die Zykluslängen, doch haben sich Juglars Annahmen bis in die Gegenwart als stichhaltig erwiesen. Die wirtschaftliche Entwicklung im Kapitalismus verläuft nicht gleichförmig und unterliegt lediglich extern ausgelösten Schwankungen, sondern ist durch die Wiederkehr von Aufschwung, Boom, Abschwung und Depression gekennzeichnet, wobei sich im Übrigen bereits seit dem späten 18. Jahrhundert für die Phasen von Abschwung und Depression umgangssprachlich der Begriff der Krise einbürgerte.

Eine Theorie der zyklischen Entwicklung, eine »Krisentheorie«, formulierte Juglar aber noch nicht. Das tat erst Karl Marx, zumindest lieferte er dafür Bausteine, denn sein eigentliches ökonomisches Hauptwerk erschien zunächst nur bruchstückweise. Erst sein enger Freund Friedrich Engels sollte die entsprechende Bände 2 und 3 des Kapitals fertigstellen. Nach Marx waren die wiederkehrenden zyklischen Krisen Überproduktionserscheinungen: Im Aufschwung weiten alle Kapitalisten in Erwartung großer Chancen den Kapitalstock und die Produktion aus, was solange stimulierend wirkt, bis die dann mögliche vermehrte Produktion auf die weiterhin beschränkte, zumindest aber langsamer wachsende Nachfrage trifft. Die Kapitalisten haben Probleme, den produzierten Mehrwert zu realisieren, ein harter Konkurrenzkampf mit sinkenden Preisen setzt ein, in dem schließlich ein Teil der Kapitalisten den vorher produzierten Mehrwert nicht mehr realisieren kann und Bankrott geht. Dadurch sinken Kapitalstock und Produktionsmenge so, dass schließlich wieder ausreichend kaufkräftige Nachfrage existiert und der Prozess von vorn beginnt. Das erklärt die zyklischen Schwankungen, doch Marx unterstellte einen sich verschärfenden Prozess, in dem sich im Laufe der Zeit die organische Zusammensetzung des Kapitals (Verhältnis von fixem zu variablem Kapital) so ändern müsse, dass die Mehrwert- bzw. Profitraten sinken, die Krisen immer tiefer und schärfer werden und der Kapitalismus schließlich an seiner inneren Widersprüchlichkeit zwangsläufig zugrunde geht.

Dieser Niedergang fand in der Realität, obwohl ihn Marx bis zur ersten Weltwirtschaftskrise von 1857 stets sehnsüchtig erwartete, jedoch nicht statt. Zwar war in wirtschaftlicher Hinsicht die Zeit vor 1848 problematisch, doch setzte danach weltweit ein Aufschwung ein, der alle bisher bekannten wirtschaftlichen Erfolge verblassen ließ. Marx hatte offensichtlich den technischen Wandel völlig unterschätzt. Mochte sein Schema für die Herstellung bestimmter Produkte durchaus zutreffen, so setzte doch mit neuen Produkten und neuen Produktionsverfahren der ganze Vorgang wieder von vorne an. Solange es der kapitalistischen Wirtschaft daher gelang, innovativ zu bleiben, beschrieb der Marx’sche Krisenmechanismus eben nur einen Teil des zyklischen Wandels. Die – wie Marx sagte – liberale bürgerliche Ökonomie teilte seinen Pessimismus daher keineswegs. Selbst die erneut schwierigen Jahre zwischen 1873 und 1895 beraubten die wesentlichen ökonomischen Denker nicht ihres Optimismus bezüglich der inneren Tendenz der Ökonomie zu gleichgewichtiger Entwicklung. Diesen glaubte man jetzt im Zuge der sogenannten marginalistischen Wende mit mathematischen Formeln zwingend zeigen zu können – immer vorausgesetzt natürlich, dass die Wirtschaft sachgerecht behandelt werde.

Erneut war es ein langer wirtschaftlicher Aufschwung zwischen 1895 und 1914, der die Überzeugung festigte, Krisen seien eine Art Kinderkrankheit des Kapitalismus gewesen, die der entfaltete und reife Kapitalismus hinter sich gelassen habe. Die durchaus vorhandenen Störungen und Schwankungen wurden auf Fehler der Politik zurückgeführt, nicht zuletzt auf fehlerhaftes Verhalten der Zentralbanken, die mit ihrer Zinspolitik viel Unheil anrichten konnten. Aber insgesamt glaubte man an die Beherrschbarkeit dieser Phänomene, zumal sich auch den weiterhin auftretenden Schwankungen sogar noch etwas Positives abgewinnen ließ: Sie seien letztlich so etwas wie Reinigungskrisen, die in wirtschaftlicher Hinsicht die Spreu vom Weizen trennten.

Ob dieses optimistische Szenario ohne den Ersten Weltkrieg erschüttert worden wäre, sei dahingestellt. Der Krieg und seine Folgewirkungen zerstörten die Rhythmen der Weltwirtschaft nicht; aber die Ausschläge wurden tiefer, und die sozialen Konsequenzen der Krisen nahmen bedrohliche Ausmaße an. In diesem Kontext sprengte die 1929 ausbrechende Wirtschaftskrise das bisherige Wissen von der Bedeutung krisenhafter Prozesse vollständig. Über das eigentliche ökonomische Geschehen hinaus führte sie zu einer tiefen Verunsicherung des bis dahin vorherrschenden ökonomischen Denkens. Mehr noch, sie erweckte den Eindruck, als sei es gerade diese »falsche« Vorstellung vom sich automatisch bildenden wirtschaftlichen Gleichgewicht gewesen, die die Tiefe und Dauer der Krise bedingt hätte. Die Krise wurde auf diese Weise zu einem Ereignis der Politik – und der die Politik jeweils begleitenden und beratenden ökonomischen Theorie. Ben Bernanke, der ehemalige Chef der amerikanischen Federal Reserve Bank (FED), nannte die Große Depression gar den »heiligen Gral« der Volkswirtschaftslehre, dessen Verständnis erst das Begreifen der gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge und damit das Ausarbeiten effektiver politischer Strategien ermögliche. Und auch wenn Bernanke keineswegs aus der Schule des englischen Ökonomen John Maynard Keynes stammt, hätte ihm dieser »Großmeister« des ökonomischen Denkens weitgehend zugestimmt. Die Weltwirtschaftskrise war der empirische Fall, durch den Keynes’ Allgemeine Theorie ihre Stichhaltigkeit erwies.

John Maynard Keynes und sein Werk sind daher in gewisser Hinsicht ebenso Krisenphänomene wie der Einbruch beim Bruttoinlandsprodukt oder die horrenden Arbeitslosenziffern. Denn nach Keynes’ Überlegungen, die in der Krise ausgearbeitet und 1936 der Öffentlichkeit als großer Wurf präsentiert wurden, zeigte die Tiefe der Krise gerade, dass es keine automatische Rückkehr zum wirtschaftlichen Gleichgewicht gab (wie die liberale Wirtschaftstheorie unterstellte), sondern dass Umstände eintreten konnten, unter denen sich Ungleichgewichte etwa auf dem Arbeitsmarkt, also hohe Arbeitslosigkeit, verstetigten. Die allgemeine Gleichgewichtstheorie reichte laut Keynes zur Beschreibung und Beherrschung ökonomischen Wandels nicht aus; sie sei um eine Theorie des Ungleichgewichtes und um eine politische Konzeption der Wiederherstellung gleichgewichtiger Zustände zu ergänzen.

Keynes führte die Tiefe der Krise darauf zurück, dass in bestimmten Situationen die wirtschaftlichen Akteure gerade nicht das taten, was die liberale Gleichgewichtstheorie als automatisch unterstellte, nämlich zu investieren und zu konsumieren. Angesichts schlechter Zukunftserwartungen hielten Unternehmen und Konsumenten ihr Geld zurück; die Folge waren eine zu geringe Auslastung der Produktionsfaktoren, Arbeitslosigkeit und sich weiter verschlechternde Erwartungen. Eine staatliche, in der Tradition der liberalen Theorie angelegte Politik, die auf die Krise durch Zurückhaltung und Anpassung des Staatshandelns an die schrumpfenden finanziellen Spielräume reagierte, musste in dieser Sicht die Krise verschärfen. Nach Keynes war genau das Gegenteil notwendig: Der Staat sollte, so seine Forderung, in der Krise expansiv handeln, um das »Versagen« der Marktteilnehmer so lange zu kompensieren, bis ein neuer Aufschwung eingesetzt hatte, der dem Staat dann die Möglichkeit gab, seine Aktivitäten wieder zu reduzieren.

Diese Auffassung ist nicht unwidersprochen geblieben: Seit den 1950er Jahren, verbunden insbesondere mit den Namen Milton Friedman und Anna J. Schwartz, wurde konkurrierend zu Keynes weniger in allgemeinen Fehlern der staatlichen Wirtschaftspolitik als vielmehr in geldpolitischen Versäumnissen der amerikanischen Notenbank die eigentliche Krisenursache gesehen. Letztlich wurde dem deflationären Kurs der FED im Rahmen des Goldstandards die Schuld am Desaster der Weltwirtschaftskrise gegeben. Auch dieser neuerliche wirtschaftstheoretische Paradigmenwechsel hing dabei seinerseits eng mit widerstreitenden Interpretationen der Weltwirtschaftskrise zusammen, worauf wir in Kapitel 4 zurückkommen werden.

Spätestens mit den krisentheoretischen Arbeiten von Keynes war die alte, für den Liberalismus (zumindest seinem Selbstverständnis nach) konstitutive Trennung von Politik und Ökonomie Vergangenheit. Dieser Sachverhalt trifft freilich auch für die monetaristische Position von Friedman und Schwartz zu. Das wirtschaftspolitische Handeln des Staates bzw. das geld- und währungspolitische Regime der jeweiligen Notenbanken hatten ihre Unschuld verloren. Sie spielten für Wirtschaftskrisen offenbar eine zentrale Rolle – und deshalb hing es auch vom Staat bzw. den Notenbanken ab, wie tief und andauernd die Krisen verliefen. Doch wäre es ein Trugschluss, allein bei John Maynard Keynes und Milton Friedman einen mit der Weltwirtschaftskrise sich vollziehenden Bruch zur älteren liberalen Tradition zu vermuten. Auch in der liberalen Tradition selbst gab es Stimmen, die einen Neuanfang verlangten. Der Begriff des »Neoliberalismus« wurde zwar erst 1938 auf einer Konferenz in Paris zum Sammlungsbegriff einer bestimmten Variante der ökonomischen Wissenschaft. Doch worum es ging, war schon im Laufe der Weltwirtschaftskrise deutlich zu Tage getreten. Vor allem in Deutschland wurden bereits Ende der 1920er Jahre Stimmen laut, die mit der bisherigen Praxis der kapitalistischen Entwicklung und der sie begleitenden und rahmenden staatlichen Wirtschaftspolitik hart ins Gericht gingen. Die »Vertrustung« der Wirtschaft (durch Kartelle und Oligopole), die Aushebelung der Marktkräfte und die Handlungsunfähigkeit von durch Interessengruppen überformten Parlamenten hätten zu einem umfassenden Marktversagen geführt. Es komme deshalb darauf an, durch einen handlungsfähigen Staat eine funktionierende Marktordnung zurückzugewinnen (Ordoliberalismus) und sie im Zweifel gegen die widerstrebenden Individualinteressen der Marktteilnehmer durchzusetzen und zu behaupten. Erst im Rahmen einer gesicherten Marktordnung könnten dann die Regeln des »freien Spiels der Kräfte« ihre gleichgewichtsschöpfende Funktion wahrnehmen.

Für eine historische Betrachtung sind diese Theorien aus zwei Gründen allerdings nur bedingt geeignet. Das liegt zunächst daran, dass sie durchaus normativ sind. Je nach der »Richtung«, für die man sich entscheidet, erhält man auch die entsprechenden Ergebnisse: eine verfehlte staatliche Wirtschaftspolitik, eine unzureichende Geld- und Währungspolitik oder schließlich die Kritik an einer Marktordnung, in der die Funktionsweise der Märkte, insbesondere ihre ausgleichende Funktion, aufgrund der Vermachtung von Strukturen nicht mehr funktioniert. Historisch lassen sich für fast alle theoretischen Annahmen empirische Hinweise finden, sodass sie vielleicht einen bestimmten Aspekt oder Ausschnitt angemessen beschreiben, andere hingegen nicht erfassen bzw. zu Unrecht vernachlässigen. Daher sind keynesianische, monetaristische oder ordoliberale Krisentheorien und -erklärungen hilfreich, wie auch die durch diese konkurrierenden Ansätze lange geprägten wirtschaftshistorischen Debatten zeigen (siehe das vierte Kapitel), ein volles historisches Verständnis der Krise ermöglichen sie aber nicht.

Das ist auch deswegen der Fall, weil diese Theorien zwar auf eine in der Tat außergewöhnliche Krise reagierten, ihr Erfolg und ihre Wirkung auf die Wirtschaftspolitik aber auch erst durch diese Krise erklärbar sind. Vorausgesetzt wurden dabei zwei Dinge: Erstens musste nach der Großen Depression über die Wirtschaft anders nachgedacht werden als bislang. Wenn das zyklische Verlaufsschema der wirtschaftlichen Entwicklung durch die Große Depression scheinbar ad absurdum geführt wurde, dann hatten sich die Prämissen staatlichen Handelns gegenüber der Ökonomie durch die Krise fundamental verändert. Zum anderen galten schwere Krisen nun grundsätzlich als vermeidbar, die richtige Wirtschafts-, Finanz- und Geldpolitik vorausgesetzt. Es war aber genau dieser, geradezu demiurgische Anspruch, durch den jede nachfolgende schwere Krise auch zu einer Krise der herrschenden wirtschaftstheoretischen Paradigmen wurde. Jedenfalls erzeugen ökonomische Depressionen seit der Weltwirtschaftskrise regelmäßig Veränderungen in den Wirtschaftswissenschaften, wobei die genannten, auf diese Weise hervorgebrachten Theorien letztlich selbst Produkte einer Krise, mithin Produkte des Gegenstandes sind, zu dessen Betrachtung sie in möglichst erhellender Weise beitragen sollen.

Insofern eröffnet es möglicherweise eine freiere Perspektive, den durch die Große Depression ausgelösten Wandel des ökonomischen Denkens in die Beschreibungen und Erklärungen der Weltwirtschaftskrise mit einzubeziehen, anstatt sie in »richtige« und »falsche« Krisenerklärungen, die aber außerhalb des historischen Geschehens stehen, zu unterteilen. Auch wenn er selbst in diesem Geschehen als ein Vertreter der liberalen Krisentheorie der österreichischen Schule auftrat, scheinen uns Ansätze zu einer solchen Perspektive in den Schriften des österreichisch-amerikanischen Ökonomen Joseph A. Schumpeter zu finden zu sein: Dieser ging davon aus, dass Krisen kein vermeidbares Übel, sondern die Form sind, in der sich der kapitalistische Strukturwandel vollzieht. Daher brauchte er (hierin ganz ein Liberaler) keine Theorie einer besseren Wirtschaftspolitik vorzulegen, sondern konnte jede Krise zugleich als ein allgemeines Phänomen des wirtschaftlichen Strukturwandels wie als ein besonderes historisches Ereignis behandeln. Wirtschaftskrisen haben dann (ganz ähnlich wie die mit ihnen eng korrespondierenden Aufschwung- und Boomphasen) einen doppelten Charakter: Sie sind Ausdruck der regulären Schwingungen des kapitalistischen Prozesses, deren jeweilige Ausformung zugleich aber immer ein konkretes, vor allem jedoch komplexes historisches Phänomen darstellt, das sich nur sehr begrenzt konzeptionell fassen lässt.

Für Schumpeter ergab sich die Weltwirtschaftskrise von 1929 durch das Zusammentreffen verschiedener, sich überlagernder Zyklen an ihrem Tiefpunkt, was durch ihren kumulativen Effekt das besondere Ausmaß dieses Zusammenbruchs erklärte. Im Gegensatz zur ökonomischen Theorie seiner Zeit und im Gegensatz auch zu John Maynard Keynes ging Schumpeter nicht von gleichgewichtstheoretischen Annahmen aus. Gleichgewichte hielt er für sinnvolle theoretische Figuren, um ökonomische Zusammenhänge zu erklären, nicht aber um den ökonomischen Wandel stichhaltig zu beschreiben. Im ökonomischen Prozess seien Gleichgewichte bestenfalls zufällig und kurzfristig möglich, ansonsten der stete Wechsel und die dauernde Schwankung die Regel.

Vergleicht man Schumpeters Erklärung der Großen Depression, die er in seinem 1939 publizierten Werk Business Cycles formulierte, mit Keynes’ drei Jahre früher erschienener General Theory, so trägt diese geradezu kontemplative Züge. Schumpeter war gegenüber den Möglichkeiten staatlicher Wirtschaftspolitik, die Zyklen zu beeinflussen, mehr als skeptisch. Mit praktischen Ratschlägen hielt er sich daher, ganz anders als der gleichaltrige Keynes, bewusst zurück. Es dürfte hierin auch der Grund liegen, warum Keynes’ Texte in den Jahren nach der Krise von den Studenten der Wirtschaftswissenschaften weltweit geradezu sehnsüchtig erwartet wurden, während Schumpeters umfangreiche Ausarbeitungen zum Konjunkturzyklus bestenfalls am Rande wohlwollende Erwähnung fanden. Die Welt wollte Rezepte, die letzterer nicht bieten konnte.

Gerade Schumpeters Festhalten am zyklischen Verlaufsschema bietet aber wichtige Denkanstöße für das historische Verständnis der Krise. Ihm zufolge bringt der kapitalistische Prozess Depressionsphasen notwendig hervor, sie sind wesentlicher Bestandteil der, wie Schumpeter es in einer berühmten Phrase ausdrückte, »schöpferischen Zerstörung«, die mit dem kapitalistischen Prozess einhergeht. Diese Einsicht relativiert nicht nur die mit jeder Krise genauso zyklisch auftretende Systemkritik. Sie hat auch eine grundlegende Skepsis gegenüber der Ansicht zur Folge, man wüsste irgendwann genug über die Ökonomie und wie sie zu manipulieren sei, um Krisen in Zukunft ganz vermeiden zu können. Darüber hinaus ermöglicht Schumpeters Feststellung aber auch eine Präzisierung der historischen Betrachtung: Diese hat, ihm zufolge, nämlich weniger eine Antwort auf die Frage zu geben, warum es nach 1929 überhaupt zu einer, sondern warum es zu dieser Krise kam, die zu nie zuvor dagewesener Massenarbeitslosigkeit, Armut, Hunger, dem Zusammenbruch des internationalen Währungssystems und dem Zerplatzen gewachsener weltwirtschaftlicher Beziehungen führte.

Zugleich gibt Schumpeters Skepsis gegenüber der Fähigkeit des Staates, den zyklischen Wandel zu beeinflussen, aber auch Anlass, darüber nachzudenken, wie sinnvoll es ist, in der Krise nach »Schuldigen« zu suchen. Gerade keynesianisch und monetaristisch inspirierte Erklärungen haben die Frage nach den Ursachen der Krise auf Schuldfragen zugespitzt: wer in der Krise versagt habe, wer blind gegenüber den ökonomischen Realitäten war, wer es besser wusste, auf wen nicht gehört wurde. Abgesehen von der Frage, ob sich die Krise durch wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen erklären lässt (womit nicht in Abrede gestellt werden soll, dass Fehler gemacht wurden und dass sich auch vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Wissens durchaus Ansätze für eine verantwortlichere oder »bessere« Politik hätten finden lassen), erscheinen solche Bewertungen deswegen als zutiefst unhistorisch, weil sie verkennen, dass die Akteure im Horizont und allein mit dem Wissen ihrer Zeit handelten. Sie verkennen überdies, dass erst der exzeptionelle Charakter der Krise einen Prozess des Umdenkens und der Neujustierung des ökonomischen Denkens auslöste, der dann ex post zu den vernichtenden Urteilen über das Handeln der zeitgenössischen Akteure führte. Eine historische Betrachtung sollte aber stets im Hinterkopf behalten, dass die Politiker und Ökonomen die Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise nicht kannten: Vielmehr steckten sie mittendrin.

Kapitel 2Krisenherde der »Goldenen Zwanziger Jahre«

In der Erinnerung des englischen Ökonomen John Maynard Keynes schien die Welt der internationalen Wirtschaft vor dem Ersten Weltkrieg vielleicht allzu paradiesisch zu sein:

»Der Bewohner Londons konnte, seinen Morgentee im Bette trinkend, durch den Fernsprecher die verschiedenen Erzeugnisse der ganzen Erde in jeder beliebigen Menge bestellen und mit gutem Grund erwarten, daß man sie alsbald an seiner Tür ablieferte. […] Er konnte nach Wunsch sofort billige und bequeme Verkehrsgelegenheiten nach jedem Lande oder Klima ohne Pässe und andere Förmlichkeiten bekommen, seinen Dienstboten zu einer benachbarten Bankstelle nach soviel Edelmetall schicken, wie er brauchte und dann nach fremden Gegenden reisen, ohne ihre Religion, ihre Sprache oder ihre Sitten zu kennen, nur mit seinem gemünzten Reichtum in der Tasche, und sich bei dem geringsten Hindernis schwer beleidigt und höchlich überrascht dünken. Aber – und das ist wichtiger als alles – er betrachtete diesen Zustand der Dinge auch als normal, sicher und dauernd, es sei denn, daß er sich noch weiter verbessern ließe; jede Abweichung davon erschien ihm als abwegig, empörend und unnötig. Die Pläne der Politik des Militarismus und Imperialismus, der Nebenbuhlerschaft von Rassen und Kulturen, der Monopole, Handelsbeschränkungen und Ausschließungen, die die Schlange in diesem Paradiese spielen sollten, waren wenig mehr als Gerede in seiner Tageszeitung und schienen fast gar keinen Einfluss auf den gewöhnlichen Lauf des geschäftlichen und wirtschaftlichen Lebens zu üben, dessen Internationalisierung praktisch fast vollendet war.«1

Keynes kritisierte mit diesen Worten die Arglosigkeit, mit der die englischen Geschäftsleute die drohenden Gefahren übersahen, die zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges geführt hatten. Gleichzeitig wollte er zu Beginn der 1920er Jahre darauf hinweisen, dass ein solcher Zustand weltwirtschaftlicher Integration sich keineswegs automatisch wieder einstellen würde, sondern nur durch große Anstrengungen der zerstrittenen europäischen Mächte wiederzubeleben sei. Die Machtpolitik hingegen, die von den Staaten bei den Versailler Vertragsverhandlungen verfolgt wurde, bedrohte dieses Ziel – weshalb der Unterhändler Keynes die Verhandlungen auch konsterniert verlassen hatte, um zu einem in Deutschland gerne gehörten Kritiker des Versailler Vertrages und der Reparationen zu werden.

Nun dürfte für die südamerikanischen und die chinesischen, aber auch für deutsche und russische Kaufleute die Weltwirtschaft schon vor dem Ersten Weltkrieg weniger paradiesische Züge aufgewiesen haben, als sie Keynes bei der englischen Oberschicht kennengelernt hatte. Genauso wie die weltwirtschaftliche Integration Englands hatte der Erste Weltkrieg aber auch die Verflechtung der anderen Länder zerstört oder aber mindestens zutiefst erschüttert: Die wirtschaftliche Welt nach dem Ersten Weltkrieg hatte sich grundlegend gewandelt. Machtzentren hatten sich verschoben, Handelsströme hatten sich verlagert, und in vielen Wirtschaftssektoren waren globale Überkapazitäten aufgebaut worden, die die Wirtschaft der 1920er Jahre fast überall auf der Welt zutiefst belasteten. Die Weltwirtschaft war als ein klappriges und reparaturbedürftiges Gefährt aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen.

Für die Zeitgenossen war es freilich einigermaßen undurchsichtig, welche Schäden die Wirtschaft davongetragen hatte und wo Reparaturen nötig waren. Volkswirtschaftliche Statistiken und systematische Daten über internationalen Handel und globalen Kapitalfluss entstanden erst zögerlich im Verlauf der 1920er Jahre. Zugleich war der Glaube an die »Selbstheilungskräfte« der Wirtschaft bei vielen politischen Akteuren weitgehend ungetrübt. Nicht zuletzt diese Einstellung hatte Keynes mit seinem Traktat kritisiert. So blieb trotz der Erholungstendenzen in vielen Wirtschaftssektoren und dem Aufschwung in einigen Ländern, in denen die zwanziger Jahre tatsächlich »golden« erschienen, die Weltwirtschaft von vielen Krisenherden gekennzeichnet, welche sich in der Weltwirtschaftskrise zu einem Flächenbrand ausweiten sollten.

Eine deutliche Belastung der Weltwirtschaft stellten zunächst die zahlreichen ungelösten politischen Interessenkonflikte dar, die sich nicht nur in Europa, sondern auch im Pazifik durch den Ersten Weltkrieg verschärft hatten. Gut bekannt ist dies in Bezug auf die deutsch-französische »Erbfeindschaft«, die im Deutschen Reich nicht nur im rechts-konservativen Lager tiefe Rachegelüste konservierte. Neben dem »Versailler System« der vertraglich nur notdürftig eingehegten Interessengegensätze war mit dem »Washingtoner System« ein ähnliches labiles Gleichgewicht der Kräfte im pazifischen Raum entstanden, das kaum geeignet war, die japanischen Großmachtambitionen im Zaum zu halten. Japan war seit dem Krieg gegen Russland 1904/05 durch territoriale Zugewinne und ein ehrgeiziges Flottenbauprogramm, in das bis zu 43 Prozent des Staatshaushaltes geflossen waren, zum ernsthaften Konkurrenten der englischen, vor allem aber der amerikanischen Herrschaftsansprüche im Pazifik aufgestiegen. Im »Fünfmächtevertrag« von 1921 wurde die Flottenrüstung beendet, und der noch im selben Jahr geschlossene »Neunmächtevertrag« sollte die Unverletzlichkeit des auseinander fallenden chinesischen Weltreiches garantieren, mit allerdings nur geringem Erfolg. Diese machtpolitischen Schwelbrände, die mit der Gründung des Völkerbundes in Genf und allerlei weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Konferenzen in den 1920er Jahren immer nur notdürftig kaschiert werden konnten, verhinderten später in der Weltwirtschaftskrise eine internationale Kooperation, die zur raschen Krisenbewältigung notwendig gewesen wäre.

Ein weiterer Krisenherd resultierte aus den während des Krieges in mehreren Branchen weltweit aufgebauten enormen Überkapazitäten. Hiervon war zu allererst und vielleicht am stärksten die globale Landwirtschaft betroffen. In dem Maße, wie die kriegführenden Länder ihre landwirtschaftliche Produktion einschränkten, wurden in anderen Ländern landwirtschaftliche Produktionsflächen ausgeweitet. Das Produktionsvolumen der deutschen Landwirtschaft betrug bei Kriegsende nur noch die Hälfte des Vorkriegsstands, und zumindest ein Teil des Konsums wurde wie in anderen kriegführenden Staaten durch zusätzliche Lebensmittelimporte kompensiert, die aber schon wegen der alliierten Blockade der Nordsee noch Jahre nach Kriegsende nur sehr spärlich nach Deutschland kamen. Lediglich England brachte es während des Krieges zu einer Produktionssteigerung. Die Nutznießer waren zunächst die großen Agrarexportländer, also Argentinien, Australien, Kanada und die USA, deren Weizenanbauflächen um 30 Prozent vergrößert worden waren.

Mit dem zunehmenden Bestreben Europas, die landwirtschaftliche Produktion im Inland wieder aufzunehmen, entstand eine globale Überproduktion und ein schleichender, nicht konjunktureller Preisverfall für landwirtschaftliche Exportgüter, die die Landwirtschaft im Grunde in allen Ländern in eine Dauerkrise stürzte. Noch vor dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise waren die Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse um 30 Prozent gesunken. Diese Entwicklung traf besonders jene Länder, die eine auf dem Export von Agrarerzeugnissen fußende Monokultur aufgebaut hatten: Australien erwirtschaftete 14 Prozent des jährlichen gesamtwirtschaftlichen Einkommens aus dem Export von Wolle, Brasilien mehr als zehn Prozent aus dem Export von Kaffee, und die Sowjetunion exportierte in den 1920er Jahren, um aus den Erlösen die inländische Industrialisierung zu finanzieren, so viel Weizen, dass die eigene Bevölkerung hungerte. Weil diese Länder von dem Export landwirtschaftlicher Güter stark abhingen, versuchten sie durch staatliche Exportförderung ihre Exporteinnahmen konstant zu halten und forcierten so die globale Überproduktion zusätzlich. Eine Preissenkungsspirale für viele landwirtschaftliche Güter war die zwangsläufige Folge (vgl. hierzu Tabelle 3 im Anhang).

Globale Überproduktion prägte aber auch andere Branchen: Die Eisen- und Stahlindustrie beispielsweise litt an drastischen Überkapazitäten, die man während des Krieges im Rüstungssektor aufgebaut hatte, bevor man sich nun in mehreren Ländern gleichzeitig auf die Herstellung von zivilen Gütern stürzte. So expandierte neben der Eisen- und Stahlindustrie auch der Fahrzeugbau und (außerhalb Deutschlands) auch der Luftfahrzeugbau. Zusätzlich hatte der Ausfall von Lieferungen aus den kriegführenden Staaten Importsubstitutionsprozesse ausgelöst, namentlich in der chemischen und der Farbstoffindustrie, der elektrotechnischen und der Pharmaindustrie. Nicht nur in Deutschland und in den USA versuchten die bedrängten Industriezweige durch Kartellierungs- und Monopolisierungsstrategien die Kapazitäten zu verringern, jedoch mit nur wenig Erfolg. Der englischen Textilindustrie, dem einstigen Zugpferd der Industrialisierung, war in Japan ein einflussreicher Großkonkurrent erwachsen, der den englischen Exporteuren die pazifischen Märkte streitig machte.

Ein dritter Krisenherd war schließlich durch die Reparationsproblematik entstanden, dem Hauptziel von Keynes’ eingangs erwähnter Kritik. Hierbei ging es nicht um die tatsächliche ökonomische Belastung der deutschen Volkswirtschaft mit den im Londoner Ultimatum 1921 fixierten Reparationsforderungen von 132 Milliarden Mark, eine für deutsche Zeitgenossen freilich atemberaubende Forderung, die dem Eineinhalbfachen des Bruttosozialproduktes des Deutschen Reiches von 1913 entsprach und fast dem Dreifachen des niedrigeren Bruttosozialproduktes von 1920. Weil in späteren Verhandlungen über die Zahlungsmodalitäten ein Großteil dieser Summe als eine Art Vollstreckungspfand betrachtet wurde und die Experten die reale Gesamtschuld auf nur rund 50 Milliarden Mark fixierten, die zudem über einen sehr langen Zeitraum gestreckt werden sollte, können Wirtschaftshistoriker heute zeigen, dass die tatsächlich wirksamen Reparationen keine gravierende Belastung der deutschen Wirtschaft dargestellt haben und letztlich sogar finanzierbar gewesen wären. Die Zeitgenossen konnten das freilich nicht wissen: Sie gingen davon aus, dass Deutschland mit der zur Verfügung stehenden Wirtschaftsleistung des Jahres 1920 und unter den Rahmenbedingungen eines beschränkten Außenhandels eine nicht tragfähige Auslandsschuld akzeptieren musste, und versuchten daher mit allen Mitteln, diese Schuld zu mildern.

Was Keynes in seinem Frontalangriff auf die Reparationsforderungen allerdings wesentlich mehr beschäftigte und was sich später tatsächlich als eine Belastung der Weltwirtschaft herausstellen sollte, war nicht die Höhe der Reparationsforderungen, sondern die Art und Weise, wie diese Reparationsleistungen von Deutschland aufgebracht wurden. Die Weimarer Republik wurde nach dem Ersten Weltkrieg erheblichen außenwirtschaftlichen Beschränkungen unterworfen, die es ihr faktisch unmöglich machten, Außenhandelsüberschüsse zu erwirtschaften. Ein Großteil des im Ausland befindlichen Privatbesitzes an Sachgütern (insbesondere Handelsschiffe), aber auch an Patenten und Markenrechten war während des Krieges beschlagnahmt oder enteignet worden, sodass das Land auch keine namhaften ausländischen Kapitaleinkünfte erzielte. Die einzige Möglichkeit, den Reparationsforderungen nachzukommen, war daher die Aufnahme von Krediten im Ausland, die dem deutschen Staat und der deutschen Privatwirtschaft angesichts des vielversprechenden industriellen Potentials des Landes auch großzügig gewährt wurden.

So kam es im Verlauf der 1920er Jahre zu einem zutiefst paradoxen und ganz und gar krisenhaften internationalen Geldkreislauf, den der amerikanische Ökonom Charles Kindleberger in seiner klassischen Darstellung der Weltwirtschaftskrise einmal als »Schuldenkarussell« bezeichnet hat: Deutschland bediente die Reparationsforderungen der Siegermächte in hohem Maße mittels der Kreditaufnahme bei amerikanischen Gläubigern. Von Frankreich und England wanderten die aus Deutschland bezogenen Gelder aber in die USA zurück, denn auch diese beiden Länder hatten sich während des Krieges in erheblichem Ausmaß in den USA verschuldet, wo Rüstungsgüter gegen Kredit gekauft worden waren. Dieser Schuldenkreislauf heizte die Spekulationsblasen an den Finanzmärkten erheblich an und bildete schon hierdurch einen Krisenherd. Das Eskalationspotential des internationalen Schuldenkarussells wurde aber durch die Verbindung mit einem weiteren Krisenherd noch erheblich gesteigert: der Rekonstruktion des Goldstandards. Denn um die Reparationszahlungen und die gegenseitigen Kreditbeziehungen einfach abwickeln zu können, mussten die Länder Wertschwankungen zwischen ihren Währungen möglichst vermeiden. Und hierfür gab es nach einhelliger Meinung von führenden Ökonomen und einflussreichen Politikern kein geeigneteres Mittel als den sogenannten »Goldstandard«.

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Grafik 1: Das »Schuldenkarussell« (interalliierte Verschuldung bei Kriegsende in Millionen Dollar)2

Die Rekonstruktion des Goldstandards