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Tu Gutes – und du wirst getötet? Thrillerspannung von Erfolgsautor Hubertus Borck für alle Fans von Sebastian Fitzek und Andreas Winkelmann! In Hamburg wird die Leiche einer Frau aus der Elbe geborgen. Die seit Wochen Vermisste ist keines natürlichen Todes gestorben. Bei der Recherche stoßen Franka Erdmann und Alpay Eloğlu vom LKA der Hansestadt auf eine Reihe merkwürdiger Vermisstenfälle. Alle verschwundenen Frauen und Männer haben sich zuvor ehrenamtlich engagiert. Zufall? Oder tötet jemand gezielt Menschen, die Gutes tun? Und während im Hafenbecken an den Landungsbrücken bereits die nächste Tote treibt, gesteht ein Mann im Beichtstuhl einer Kirche eine grauenvolle Mordserie - nicht im Namen des Vaters, nicht des Sohnes und nicht des Heiligen Geistes. Und er verkündet: Das Töten geht weiter! Die erfolgreiche Thrillerserie um das einzigartige Hamburger Ermittlerduo Franka Erdmann und Alpay Eloğlu ist Hochspannung pur.
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Seitenzahl: 423
Veröffentlichungsjahr: 2025
Hubertus Borck
Thriller
Tu Gutes – und du wirst getötet.
In Hamburg wird die Leiche einer Frau aus der Elbe geborgen. Die seit Wochen Vermisste ist keines natürlichen Todes gestorben. Bei der Recherche stoßen Franka Erdmann und Alpay Eloğlu vom LKA der Hansestadt auf eine Reihe merkwürdiger Vermisstenfälle. Alle verschwundenen Frauen und Männer haben sich zuvor ehrenamtlich engagiert. Zufall? Oder tötet jemand gezielt Menschen, die Gutes tun? Und während im Hafenbecken an den Landungsbrücken bereits die nächste Tote treibt, gesteht ein Mann im Beichtstuhl einer Kirche eine grauenvolle Mordserie – nicht im Namen des Vaters, nicht des Sohnes und nicht des Heiligen Geistes. Und er verkündet: Das Töten geht weiter!
Hochspannung pur: der neue packende Thriller um das einzigartige Hamburger Ermittlerduo Franka Erdmann und Alpay Eloğlu.
«Wer Fitzek mag, wird diesen Thriller lieben.» Frankfurter Rundschau Online zu «Das Profil»
Stimmen zur Erdmann-und-Eloğlu-Reihe:
«Spannend und lesenswert.» Sabine Rückert, Chefin des ZEIT-Podcasts «Verbrechen», über «Das Profil»
«Borck gehört spätestens mit seinem dritten Thriller zu den deutschsprachigen Autoren, die man nahezu blind kaufen kann und lesen muss.» krimi-couch.de zu «Die Strafe»
«Ein extrem schneller Thriller, der im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut geht.» Münchner Merkur zu «Das Profil»
«Hochdosiert spannend.» Kulturnews zu «Die Klinik»
Hubertus Borck, geboren 1967 in Lübeck, ist Kabarettist, Texter, Theater- und Drehbuchautor. Er schrieb u.a. für «Gute Zeiten, schlechte Zeiten», «Wege zum Glück» und die NDR-Produktion «Rote Rosen». Hubertus Borck lebt in Hamburg. In der Thrillerserie mit Franka Erdmann und Alpay Eloğlu erschienen bisher «Das Profil», «Die Klinik» und «Die Strafe».
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Redaktion Tobias Schumacher-Hernández
Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung Shutterstock
ISBN 978-3-644-01523-4
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für Oli.
Als sie langsam in der Dunkelheit erwachte, fühlte Lilly sich völlig schwerelos. Sie genoss den unbekümmerten Zustand, doch schon im nächsten Augenblick begriff sie, dass sie weder auf einer weichen Matratze lag noch von einem warmen Sonnenstrahl auf der Nase wach gekitzelt worden war.
Der Instinkt hatte sie auf brutale Weise geweckt. In ihrem Kopf hämmerte ein Schmerz, der ihr das Denken unmöglich machte, und sie zitterte vor Kälte.
Lilly begriff erst langsam, warum sie fror – offensichtlich war sie umgeben von … Wasser? Um sich zu vergewissern, ruderte sie im Sitzen mit den Armen. Panisch schlug sie immer wieder mit den Händen auf die Wasseroberfläche.
Es war dunkel, sie konnte nichts sehen, aber sie spürte nun, dass ihr der Pegel bis zur Brust reichte. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Die Panik schnürte ihr die Kehle zu.
Ruhig bleiben, ermahnte sie sich. Sie befühlte die Wand in ihrem Rücken, die kalt und glatt war wie Metall. Langsam richtete sie sich daran auf, griff etwas weiter nach links, etwas weiter nach rechts. Bloß nicht hinfallen. Vorsichtig tastete sie ins Dunkel, dort, wo sie das Gegenüber vermutete. Doch da war nur eine weitere kalte Wand.
«Hallo?», rief sie zaghaft in die Dunkelheit, doch sie erhielt keine Antwort. Wie war sie hierhergekommen? Ihre Gedanken überschlugen sich. Wie spät war es überhaupt? Sie tastete nach der Smartwatch an ihrem Handgelenk, aber die Uhr fehlte.
Krampfhaft versuchte sie, sich zu erinnern. Nach dem Unterricht am Abend hatte sie mit Tamika, Jala und der immer gut gelaunten Armari die Stühle im Klassenzimmer zurück an die Tische geschoben, aber … nein, Moment. Danach, auf dem Weg zum Auto, war schon wieder eine Straßenlaterne auf dem Parkplatz kaputt gewesen. Sie sah das Licht zittern und hörte den Kurzschluss. Dann war da nichts mehr, nur ein großes schwarzes Loch in ihrer Erinnerung.
Sie hob die Arme, spürte den vollgesogenen Stoff ihrer Bluse.
Im Stehen reichte ihr das Wasser bis knapp über die Knie. Plötzlich hörte sie ein Brummen wie von einem Motor. Sie spürte eine leichte Vibration unter ihren nackten Füßen, dann stieg das Wasser sachte sprudelnd bis zur Hüfte an. Sie schrie, bis nach wenigen Augenblicken der Motor wieder aussetzte. Hatte man sie gehört? In absoluter Finsternis vernahm sie nur das leise Tropfen ihrer nassen Ärmel.
Sie war hier eingesperrt, das wurde ihr immer bewusster. Wieder befühlte sie die metallenen Wände um sich herum. Vielleicht steckte sie in einer Art Tank oder in einem Bassin. Sie schrie noch einmal aus voller Lunge, wobei sie erneut hilflos mit den Händen um sich schlug. Dann begann sie zu weinen. Was war das hier? Das Wasser, die Dunkelheit. Ein Albtraum. Moment. Da war ein Geräusch.
«Ist da jemand? Hal-lo!», schrie sie nun. Einem Impuls folgend, streckte sie die Arme nach oben aus, stellte sich auf die Zehenspitzen und erfühlte eine gewölbte Decke. Lilly war eingesperrt. Ihr Herz schaltete noch einen Gang höher. Die Enge und der Gedanke, gefangen zu sein, das steigende Wasser, die Kälte, das alles nahm ihr die Luft.
«Herr, wende dich mir zu und errette mich, um deiner Güte willen bring mir Hilfe», hörte sie sich leise flehen, um im nächsten Moment wütend zu schreien: «Verdammte Scheiße, ich will hier raus!» Noch einmal stellte sie sich auf die Zehenspitzen und schlug mit ganzer Kraft gegen die Decke, die ein wenig nachgab. Plötzlich drang auf Augenhöhe Licht durch einen feinen Schlitz zu ihr ins Dunkel. Sie schaute sich blinzelnd um. Wie in einer dunkelblauen, fast schwarzen Kugel stand sie bis zur Hüfte im Wasser. Tatsächlich war das ein Tank, keine zwei Meter hoch. Der Umfang ließ sich hingegen schwer schätzen. Über sich erkannte sie eine Art Deckel. Welcher Perverse hatte sie hier eingesperrt?
Wieder hörte sie dumpf den Motor, es vibrierte unter ihren Füßen, und das Wasser stieg erneut an! Um besser nach draußen schauen zu können, machte sie einen vorsichtigen Schritt nach vorne und erschrak, als ihr Körper sanft von den Füßen geholt wurde, weil er Auftrieb erhielt. Bäuchlings hielt sie sich mit Schwimmbewegungen oben.
«Hilfe!», schrie Lilly, wobei sie versuchte, kein Wasser zu schlucken. Vor Kälte klapperte sie mit den Zähnen. Trotzdem spähte sie durch den winzigen Spalt nach draußen und glaubte, eine dunkel gekleidete Gestalt vorbeihuschen zu sehen. Wo war sie hier nur gelandet? Undeutlich erkannte sie, dass der Typ eine Schaufel in der Hand hielt und versuchte, ein Fass mit einem Deckel zu verschließen.
«Bitte. Helfen Sie mir!», flehte sie durch den millimeterdünnen Spalt, doch der Mann verschwand aus ihrem Sichtfeld. Kurz darauf hörte sie schwere Schritte über sich. Kam er ihr zu Hilfe? Doch gefolgt von einem Ruck, verschwand der feine Spalt aus Licht und raubte ihr die letzte Hoffnung. Sie weinte und versuchte vergeblich, an den glatten Wänden Halt zu finden. Um ihre Kräfte zu sparen, drehte sie sich auf den Rücken, floatete mit zur Seite ausgestreckten Armen und bemühte sich, ihre Angst in den Griff zu bekommen.
Der Motor setzte erneut ein, und der Wasserspiegel stieg weiter an. Rücklings trieb sie nach oben – Zentimeter um Zentimeter dem Deckel entgegen! Lilly spürte plötzlich den eigenen Atem auf ihrem Gesicht. Sie wollte nicht ertrinken, sie wollte leben! Panisch riss sie die Hände nach oben, stemmte sich gegen den Deckel, wobei sie sich versehentlich unter Wasser drückte. In ihrer Todesangst kratzte sie mit den Nägeln über das Metall ihres Sarkophags. Sie tauchte ein letztes Mal auf, schnappte nach Luft und hustete, schlug wieder panisch gegen den Deckel und reckte verzweifelt Mund und Nase in die immer kleiner werdende Luftblase über sich. Unter ihr das Motorengeräusch, drückte sie das Wasser nun mit der Stirn gegen das kalte Metall. Sie dachte an ihre Familie, an die Einschulung ihrer Enkeltochter, die sie nicht mehr erleben würde.
Und während ihr das Wasser schließlich in die Nase stieg, atmete sie es reflexartig ein. Das Letzte, was sie registrierte, war das Salz, das ihre Speiseröhre hinunterlief.
Der Herbstwind hatte aufgefrischt, als die Trauergemeinde die Fritz-Schumacher-Halle auf dem Friedhof in Hamburg-Ohlsdorf verließ. Franka hatte ganz hinten gesessen und stand nun etwas abseits auf dem Vorplatz aus Waschbetonplatten. Sie schnäuzte sich. Martin war mehr als ihr Chef gewesen. Das war ihr erst mit seinem Tod bewusst geworden.
Sie schaute zu Alpay hinüber, der schweigend neben seiner Kollegin Ina Reitzenbach die Halle verließ und dann auf Martins Witwe zuging. Er kondolierte Hilde, die tapfer lächelte und Alpay über die Wange strich. In ihrer Trauer tröstete sie andere. Ihre Stärke beeindruckte Franka und hätte Martin sicher stolz gemacht. Sie hatte Hilde immer bewundert, die früh eine Dreiecksbeziehung mit dem LKA akzeptiert und stets für Martins Polizeiarbeit zurückgesteckt hatte.
Menschen wie Hilde waren selten. Die Tatsache, dass Franka mit einundsechzig Jahren Single war, hatte wohl auch damit zu tun, dass die Männer in ihrem Leben Frankas psychische und physische Belastung im Dienst nicht lange auffangen konnten – oder wollten.
Über zweihundert Menschen, viele wie Alpay und Ina in Polizeiuniform, hatten sich nun auf dem Vorplatz versammelt. Sie alle warteten darauf, den Sarg zu seiner letzten Ruhestätte zu begleiten.
Franka wurde übel. Sie hatte vor der Trauerfeier kaum etwas herunterbekommen. Vielleicht lag es aber auch am Weihrauch, der, wie Ina ihr erklärt hatte, die Kostbarkeit des Lebens ehrt. Franka hingegen hatte dabei unweigerlich an die jahrelange Diskussion zur Legalisierung von Cannabis gedacht.
Sie entdeckte ihre Kollegin Sybille Wischmeier, die mit zwei anderen zusammenstand und Papiertaschentücher verteilte. Auch einige Ärzte aus dem Rechtsmedizinischen Institut waren gekommen, bis auf den Chef, der war auf Kur.
Nach der vielen Heulerei tat die kühle Herbstluft gut. Auch Alpay hatte sich während der Trauerfeier ständig über die Augen gewischt. Irgendwann hatte er die Tränen dann nicht mehr zurückhalten können. Schwäche zu zeigen, dachte Franka, war Alpays eigentliche Stärke. Es musste hart für ihn sein, mit Martin eine seiner wichtigsten Bezugspersonen im Dezernat zu verlieren, jemanden, dem er so viel zu verdanken hatte. Sie erinnerte sich, wie Alpay vor drei Jahren direkt nach dem Studium von Martin in die Abteilung für deliktorientierte Ermittlungen geholt worden war. Vielleicht hatte Martin zu wenig Feingefühl an den Tag gelegt, indem er Alpay ausgerechnet Franka an die Seite gestellt hatte. Kurz zuvor hatte sie ihren langjährigen Partner verloren und wenig Geduld für einen Frischling wie Alpay aufgebracht, der null Praxiserfahrung hatte und sein Temperament nicht im Zaum halten konnte. Martin hatte damals wörtlich zu Franka gesagt, dass sie und der kleine Türke so etwas wie ein Paar abgelatschte Schuhe seien, die man nur neu besohlen musste. Damals hatte sie sich über Martins Spruch geärgert. Heute hätte sie ihm gerne noch einmal gesagt, dass er nicht so falsch damit gelegen hatte, Alpay und sie zusammenzubringen. Denn trotz des Altersunterschieds von dreißig Jahren und ihren gegensätzlichen Persönlichkeiten waren sie über die teils spektakulären Fälle der letzten drei Jahre zu echten Partnern geworden.
Pit klopfte Franka im Vorbeigehen tröstend auf die Schulter. Sie alle wussten aus Erfahrung, dass der Tod ein ständiger Begleiter war. Doch wenn er so unvermittelt jemanden aus ihren eigenen Reihen riss, wurde auch Franka wieder einmal klar, wie groß die Lücke anschließend sein konnte.
Sie ging zu Alpay hinüber.
«Geht’s wieder?» Aufmunternd schaute sie ihn an, obwohl sie selbst mit ihrer Trauer zu kämpfen hatte.
«Er war erst dreiundsechzig. Ich kann das immer noch nicht fassen», sagte er und schaute verwundert an Franka herunter. Im Gegensatz zu den meisten Besuchern trug sie weder Uniform noch Trauerkleidung. Zumindest hatte sie ihre alte Lederjacke mit einer schwarzen Jeans und dunklen Sneakern kombiniert.
«Was denn? Ich hab Bereitschaft», sagte sie eine Spur zu harsch, was Alpay ihr hoffentlich nachsah.
Ein Akkordeon setzte ein, und als der Sarg, geschmückt mit einem einfachen Kranz aus Heidekraut, angeführt vom Pfarrer und geschultert von sechs uniformierten Polizisten aus der Halle getragen wurde, begann der Polizeichor Mein Hamburg zu singen. Sofort trieb es Alpay erneut die Tränen in die Augen und auch Franka schluckte. Bei der Textzeile Wo so mancher Seemann seine Heimat fand, liegt mein Hamburg an der Waterkant, legte sie ihm kurz die Hand auf die Schulter.
Dicht hinter dem Sarg schritt Martins Witwe, begleitet von ihren drei erwachsenen Kindern. Familie, Freunde und Weggefährten reihten sich in den Trauerzug ein. Franka erspähte Polizeidirektor Helmut Lindgens. Er hatte einen seiner wichtigsten Männer beim LKA verloren. Der Weg zum Revier Blutbuche, der Ehrengrabstätte der Hamburger Polizei, war lang. Martin Suttmann war als Dezernatsleiter der Abteilung 4 des LKA Hamburg über die Landesgrenzen hinaus bekannt und geschätzt gewesen.
Schweigend ging Franka neben Alpay und dachte an all die spektakulären Fälle, die sie in den Jahren unter Martins Führung gelöst hatte, sein donnerndes Lachen, seine fürsorgliche Art. Ihre lautstarken Auseinandersetzungen im Präsidium waren legendär. Aber immer getragen von gegenseitigem Respekt und Leidenschaft für die Aufklärung eines Falls. Niemand hatte sich jemals getraut, dem Chef so stark Paroli zu bieten wie Franka. Sie wusste, dass sie dafür bewundert wurde, auch wenn manche, insbesondere männliche Kollegen, sie für verschroben hielten – wäre sie ein Mann, hätten sie Franka vermutlich als «engagiert» und «gradlinig» gewürdigt.
Der Tod kommt unangemeldet, dachte Franka. Vor knapp einer Woche hatte Hilde ihrem Mann wie jeden Morgen einen heißen Kaffee ans Bett gestellt. Als sie Martin wecken wollte, war er bereits kalt. Franka war nur drei Jahre jünger als Martin.
«Na, ihr zwei», sagte Sybille leise. «Darf ich?» Sie schob sich zwischen Franka und Alpay und die Erklärung gleich hinterher. «Ich vertrage das viele Testosteron da vorne nicht.» Sie nickte in Richtung der Kollegen Hendrik Wahl und Jörg Scharnke, die ständig die Köpfe mit der Oberstaatsanwältin Monika Moro zusammensteckten. Ausgerechnet Frankas Spezialfreundin, die ihr oft das Leben schwer gemacht hatte, war im letzten Jahr befördert worden. «Die diskutieren gerade Martins Nachfolge», legte Sybille nach. «Offensichtlich sehen die drei Jörg bereits als neuen Abteilungschef.»
Franka schwieg und dachte sich ihren Teil, den Alpay aussprach, weil er mal wieder nicht an sich halten konnte.
«Ich könnte kotzen. Sieht Jörg ähnlich. Martin ist noch nicht mal unter der Erde.»
«Es laufen bereits Wetten», sagte Sybille.
«Worauf?»
«Wie, worauf? Hat das noch keiner von euch gecheckt?» Sybille schaute überrascht von Alpay zu Franka. «Die meisten von uns setzen natürlich auf dich, Franka. Pit ist ausgebrannt, und Kurt Möhring steht kurz vor der Frühpensionierung, auch wenn er die Abteilung jetzt interimsmäßig leitet.»
«Leute. Bitte …» Franka hob abwehrend die Hände, doch Sybille ließ nicht locker.
«Wie ich dich kenne, hast du noch keinen Gedanken auf diese Möglichkeit verschwendet.»
«Sybille hat recht», schob Alpay hinterher. «Du hättest die Beförderung nicht nur wegen deiner Dienstjahre verdient. Ach Scheiße, Mann. Du weißt doch ganz genau, warum.»
«So, Leute. Ist gut jetzt», sagte Franka schließlich harsch. Diese ganze Diskussion war pietätlos.
«Ob da wieder was geht zwischen der Moro und Jörg?» Sybille ließ sich nicht beirren. «Ich bin überzeugt, die Frau Oberstaatsanwältin wird sicherlich beim Polizeidirektor ein gutes Wort für ihre Ex-Affäre einlegen.»
Der Zirkus hätte Martin gefallen, dachte Franka, als sich zehn Minuten später die riesige Trauergesellschaft im kreisrunden Ehrenhain Revier Blutbuche zu seiner Beisetzung aufgestellt hatte. Ein Gedenkort mit besonderer Geschichte für im Dienst ums Leben gekommene Polizeibeamte. Oder für Männer wie Martin, denen die Stadt Hamburg viel zu verdanken hatte.
Der Pfarrer segnete die Grabstelle mit Weihwasser und Kreuzzeichen und schien dabei selbst sichtlich bewegt. Franka kannte den Mann aus Martins Erzählungen. Er hatte, wenn sie das richtig erinnerte, die drei Suttmann-Kinder nicht nur getauft und gefirmt, die beiden Ältesten hatte er bereits getraut. Obwohl seit Kurzem in Pension, hatte der Geistliche dieser Messe auf Hildes ausdrücklichen Wunsch zugestimmt. Das hatte sie erzählt, als Franka ihr nach Martins Tod persönlich kondoliert hatte. Nun hielt sich Hilde mit jedem bisschen Trost tapfer aufrecht. Martin war bei Gott.
Franka hingegen hatte mit Kirche wenig am Hut. Jedwede Form von Religion hielt sie für gesellschaftlichen Sprengstoff. Schaute sie sich auf der Welt um, hatte sie das Gefühl, dass religiös begründete, gewalttätige Auseinandersetzungen zu einer großen Bedrohung des Friedens geworden waren. Außerdem brauchte Franka keine Gebote, um ihren Mitmenschen zu helfen und anderen nichts zuleide zu tun. Sie setzte sich auch so für die Schwachen ein, kämpfte für Gerechtigkeit und hatte auch noch nie jemandem den Mann ausgespannt.
Diese Art der Beerdigung erschien ihr wie ein gut geprobtes Spektakel aus ferner Vergangenheit. Die Kyrierufe in der Halle hatte sie als düster empfunden, der mittelalterliche Gesang Zum Paradies mögen Engel dich begleiten war ihr als seltsam aus der Zeit gefallen erschienen. Trotzdem hatten sie die einfühlsamen Worte des Pfarrers in Bezug auf Martin sehr berührt. Jedenfalls mehr als die distanzierte Rede des Polizeidirektors, in der Martins jahrzehntelange Verdienste als Chef im Vordergrund gestanden hatten.
Als die erste Schaufel Erde auf den Sargdeckel prasselte, hörte man vereinzeltes Schluchzen. Das Vaterunser murmelte Franka zwar mit, aber eher, um zu sehen, ob sie es noch zusammenbekam. Bei Dein Wille geschehe zog sie ertappt die Hände aus den Jackentaschen.
Mit Alpay hatte sich Franka nie über Religion unterhalten. Sein Vater war türkischstämmig, seine Mutter Deutsche. Bekannten sich die Eloğlus eigentlich zum Christentum oder zum Islam? Oder würde Alpay ihr bei einer solchen Frage alltäglichen Rassismus unterstellen und sie wüsste nicht, ob er sie damit mal wieder auf den Arm nahm?
Die Beisetzung war beendet, und Franka wandte sich schon zum Gehen, da winkte Hilde sie zu sich herüber.
«Wie schön, dass du gekommen bist.» Die Witwe umarmte Franka. «Martin hat mal erzählt», flüsterte Hilde ihr ins Ohr, «wie sehr du so einen Zirkus hasst.» Wie in einer kitschigen Filmszene riss ausgerechnet in diesem Moment der herbstliche Himmel auf, und die Sonne trat hervor.
«Siehst du, und Martin freut sich auch», sagte Hilde tapfer. «Franka, ich möchte dir kurz Pater Remigus vorstellen. Er ist ein enger Freund der Familie.»
Der Geistliche reichte ihr mit festem Druck die Hand. «Ich habe schon einiges über Sie gehört, Frau Erdmann.» Die Sonne ließ seine weißen Haare leuchten. Er lächelte ihr verschmitzt zu, was Franka kurz irritierte. Vielleicht hatte Martin sich seinem katholischen Freund gegenüber beklagt, wenn er sich im Dienst wieder mit ihr gekabbelt hatte, dachte sie.
«Ich sehe dich zu Kaffee und Kuchen im Seehof. Und nicht, dass du dich drückst.» Hilde klang bestimmt, als würde sie keinen Widerspruch dulden. Dann nahm sie tapfer weitere Beileidsbekundungen entgegen.
Frankas Handy vibrierte in der Lederjacke. Sie ging zu einer kleinen Buchsbaumhecke hinüber.
«Erdmann.»
«Hartwig mein Name. Polizeiwachtmeister vom Polizeiposten Altengamme. Guten Tag», sagte ein Mann, in dessen junger Stimme Nervosität mitschwang. «Bei uns im Schwemmland der Elbe wurde eine Leiche angetrieben.»
Immer wieder versank Franka mit ihren Gummistiefeln bis zu den Knöcheln im aufgeweichten Boden. Der Regen der letzten Wochen hatte die ohnehin feuchte Borghorster Elblandschaft zusätzlich aufgeweicht.
«Sieh dir meine Uniformhose an», fluchte Alpay und schaute genervt an sich herunter.
«Es hat dich niemand gezwungen, mich zu begleiten», gab sie ungerührt zurück und folgte dem Kollegen, der sie über den Leichenfund informiert hatte.
«Sie haben es gleich geschafft», sagte er und deutete zum Fluss. «Sehen Sie die Kollegen da vorne am Ufer?»
Franka wischte sich den Schweiß von der Stirn und erkannte in einiger Entfernung nicht nur die beiden Schlauchboote der Feuerwehr auf der Elbe, sondern auch einige Gestalten in weißen Schutzanzügen im Schilf stehen. Wie sie vom jungen Streifenpolizisten erfahren hatte, hatten die Kollegen der Spurensicherung den Fundort bereits freigegeben. Bernhard Bruhns, der Leiter der Abteilung, den alle Poppy nannten, wartete am Ufer. Jeder in Hamburg gefundene Tote wurde zunächst an das LKA gemeldet. Dann rückten Franka und ihre Kollegen aus, um zu entscheiden, ob eine Ermittlung notwendig werden würde.
Für Franka gehörten solche Begehungen zu einer ersten Fallanalyse dazu, auch wenn sich durch immer bessere Techniken Todesermittlungen in erster Linie auf Gutachten, Fotos und Zeugenaussagen konzentrierten. Aber dort unten war ein Mensch ums Leben gekommen, kein Aktenzeichen. Jeder Leichenfund setzte einen automatisierten Ablauf in Gang, und Wasserleichen waren oftmals eine besondere Herausforderung für alle Beteiligten. Sie überlegte, ob Alpay vielleicht deswegen Kaffee und Kuchen nach Martins Beisetzung gegen seine erste Wasserleiche getauscht hatte. Die Zeiten, in denen Alpay beim Anblick von Toten regelmäßig schlecht geworden war, waren zum Glück vorbei.
«Moin, ihr zwei.» Poppy Bruhns zog sich die Gummihandschuhe aus und hob eine Hand zum Gruß. «Tut mir leid, dass wir euch von Martins Trauerfeier weggeholt haben.» Ein kurzer Augenblick des Innehaltens entstand. Dann ging Bruhns zu Frankas Erleichterung zur Tagesordnung über.
«Kommt, es ziehen Wolken auf. Aber ich warne euch. Das da unten sieht heftig aus.» Die Techniker hatten Laufwege aus Lochblechen bis zum Fluss gelegt. Bruhns ging voran. «Es handelt sich um eine Frau, vermutlich um die fünfzig. Aber sonst lässt sich kaum noch was feststellen. Wäre der Körper auf der anderen Uferseite angespült worden, müssten sich die Kollegen aus Hannover drum kümmern. Die Grenze zu Niedersachsen verläuft mitten im Fluss. Eins kann ich euch aber schon sagen: Auch wenn bei diesem Untergrund jeder Fußabdruck wieder versickert, die Auffindesituation ist definitiv nicht die Stelle, an der der Körper ins Wasser gelangt ist. Um die Leiche herum ist kein einziger Halm abgeknickt. Ihr seht selbst, die Stelle ist kaum gescheit zu erreichen.»
«Wer hat sie dann gefunden?» Franka schaute einem Zug Kraniche nach.
«Ein Sportbootfahrer, vom Wasser aus. Die Kollegen haben die Personalien aufgenommen.»
«Ich könnte jetzt bei Kaffee und Kuchen im Seehof sitzen», sagte Alpay mehr zu sich selbst, und Franka fragte sich, ob er Witze machte oder sie seinen Abhärtungsgrad doch überschätzt hatte.
«Ob die Frau überhaupt ertrunken ist», sagte Bruhns, «wird euch Dörfler hoffentlich nach der Rechtsmedizinischen sagen können. Identifizierung wohl nur noch über DNA.»
«Dörfler ist auf Kur.»
«Irgendwas mache ich falsch.» Bruhns zog die Augenbrauen zusammen und ging weiter über die Lochbleche Richtung Ufer. Bei jedem Schritt machte es ein schmatzendes Geräusch.
«Kannst du sagen, wie lange der Körper schon im Wasser liegt?» Eine zweite Gruppe Kraniche zog über den Fluss hinweg.
«Ich schätze mal, einige Wochen wird sie in der Elbe schon unterwegs gewesen sein. Der Körper hat durch die Gase bereits Auftrieb. Auch dazu wird euch die Rechtsmedizin mehr sagen können. Ihre Klamotten sind jedenfalls schon ziemlich zerschlissen. Nix Teures. Irgendeine Modekette.»
«Die Elbe ist lang», sagte Alpay. «Vielleicht stammt die Tote nicht unbedingt aus Tschechien, aber … zwischen Dresden und hier kann der Körper überall ins Wasser gelangt sein.»
«Ich weiß nicht, wie viele Schleusen die Elbe hat», überlegte Franka, «aber hätte der Körper nicht spätestens in dem Werk in Geesthacht auftauchen müssen?» Die Beschilderung zur Schleuse war ihr auf dem Weg über die Bundesstraße aufgefallen. «Vielleicht ist sie auch erst hinter dem Werk ins Wasser gelangt.»
Sie erreichten die Stelle im Schilf. Poppys Assistentin Sophie van Ackern war mit einer Wathose bekleidet und stand wenige Meter von ihnen entfernt bis zur Hüfte im Wasser und machte Fotos.
«Boah, nee, Leute! Echt jetzt?» Alpay drehte sich angewidert ab. «Das ist doch nicht euer Ernst! Fuck!»
«Ich hab euch gewarnt.» Bruhns wandte sich an Franka. «Wir tippen auf Schiffsschraube.» Er deutete auf das kaum noch erkennbare Gesicht der Toten. «In diesem Teil der Elbe sind viele Sportbootfahrer unterwegs. So wie das Gewebe aussieht, denke ich, post mortem.»
Bei Alpays trockenem Würgen fragte sich Franka, wie er im vorletzten Jahr allen Ernstes die Tatortbegehung mit bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Opfern bewältigt hatte. Aber auch ihr zog es kurz den Magen zusammen. Denn vor ihnen im Wasser dümpelte, zwischen Schilf und Plastikmüll, etwas, das nur noch sehr entfernt an einen Menschen erinnerte. Die langen Haare, vermutlich blondiert, hatten sich in filzigen Strähnen um ein Gesicht gewickelt, dessen untere Hälfte verstümmelt war. Die zerrissenen Klamotten bewegten sich um den aufgedunsenen Körper im sanften Takt der Wellen.
«Gibt es Beifunde, die bei der Identifizierung helfen können?»
«Papiere hatte sie nicht in den Klamotten. Auf den ersten Blick gibt es auch keine Tattoos. Mehr kann euch die Rechtsmedizin sagen, wenn die Frau in Eppendorf auf dem Tisch liegt. Aber beim Zahnschema … na ja, ihr seht ja selbst, wie das Gesicht aussieht.» Die Bugwelle eines vorbeifahrenden Schiffes hob den Körper sanft an. Auf surreale Weise schien die Tote lebendig, als würde sie winken.
Um Punkt 8.00 Uhr fuhr Franka den Computer in ihrem Büro hoch, gespannt, ob endlich die Gutachten von Spurensicherung und Rechtsmedizin vorlagen. Eine DNA-Analyse würde mehrere Tage dauern, das wusste sie, und Dörfler war auf Kur. Die Entscheidung, ob die Staatsanwaltschaft die Wasserleiche zu einem Fall erklärte, war in erster Linie von den Gutachten aus Rechtsmedizin und KTU abhängig, auf denen Frankas Einschätzung basieren würde.
Noch am Freitag hatte sie sich mit dem Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt Elbe-Nordsee in Verbindung gesetzt. Eine Mitarbeiterin hatte erklärt, dass die Elbe vor Geesthacht mit bis zu viereinhalb Stundenkilometern floss, was mit der vorgelagerten Elbinsel und dem Schleusenkanal zusammenhing. Eine Leiche wäre demzufolge in nur wenigen Tagen von der Schleuse bis zum Fundort getrieben. Die Expertin des Schifffahrtsamtes brachte allerdings eine ganz andere These ins Spiel. Konnte es sein, dass die Tote vielleicht unbemerkt auf dem Ruderwerk eines geschleusten Schiffs gehangen hatte und so in den Kanal gelangt war?
Wenn der lahme Computer auf Frankas Schreibtisch endlich einsatzbereit wäre, könnte sie hoffentlich auf Grundlage der Gutachten eine Anfrage bei INPOL stellen. Die Datenbank der Polizei speicherte zudem auch die Fotos vermisster Personen. Vielleicht war eine Frau in Hamburg und Umgebung als vermisst gemeldet worden, auf die Alter, Körpergröße und Gewicht der Wasserleiche passten.
Wegen des entstellten Gesichts schieden Presse und Social Media als Optionen aus, um die Identität der Toten zu klären.
Aus der Praxis wusste Franka, dass in Deutschland täglich bis zu dreihundert Menschen als vermisst gemeldet werden. Kinder und Jugendliche tauchen dabei meist ebenso schnell wieder auf wie Senioren oder aus Krankenhäusern verschwundene Patienten. Die Frau aus der Elbe hätte wahrscheinlich zu den drei Prozent vermisster Personen gehört, die länger als ein Jahr verschwunden bleiben, wenn die Strömung der Elbe sie nicht angetrieben hätte.
Der Computer rödelte immer noch. Franka ging nach nebenan ins Großraumbüro und kochte Kaffee. Auf Ina Reitzenbachs Schreibtisch sah sie zwei kleine blaue Schlümpfe stehen. An einem Becher voller Kugelschreiber und mit abgeschlagenem Henkel lehnte die Trauerkarte für Martin. Es würde wohl noch eine ganze Weile dauern, dachte Franka, während sie das Kaffeepulver in den Filter löffelte, bis sein Tod bei allen im Dezernat wirklich angekommen war. Ihren alten Nissan vor dem Präsidium neben dem freien Chefparkplatz abzustellen, hatte Franka auch heute Morgen wieder traurig gestimmt.
Sie goss Wasser in die Maschine. Auf dem Weg zurück in ihr Büro wurde sie von Pit begrüßt, der zum Dienst erschien. Dann setzte sie sich an ihren Schreibtisch. Was war das für ein Mist? Hatte sich die Kiste etwa aufgehängt? Der PC machte merkwürdige Geräusche, und der Bildschirm war immer noch schwarz. Genervt machte sie einen Neustart.
Wie fest Martin die Zügel im Dezernat in der Hand gehalten hatte, wurde Franka erst jetzt bewusst, da Kurt sich interimsmäßig kümmerte und sich eine unterschwellige Nachlässigkeit im Team breitgemacht hatte. So kam es Franka zumindest vor. Natürlich brauchte man eine gewisse Strenge, wenn man auf dem Chefsessel saß. Da war der ständige Druck der Staatsanwaltschaft, dazu Personalengpässe, Urlaubsanträge und Krankschreibungen. Dabei einer erwarteten Aufklärungsquote gerecht zu werden, nein, das wäre kein Job für Franka, da konnten noch so viele Wetten hinter ihrem Rücken laufen. Die wenigen Jahre bis zu ihrer Pension würde sie als Ermittlerin durchziehen und sich über ihren alten Computer ärgern, ob nun mit Jörg als neuem Chef oder einem fremden Kollegen, vielleicht aus einem anderen Bundesland, weil in Hamburg eine Planstelle besetzt werden musste. Doch über die seit Langem überfällige Beförderung zur Ersten Hauptkommissarin, darüber würde sie sich freuen.
«Guten Morgen.» Alpay lehnte im Türrahmen und riss sie aus ihren Gedanken. «Pit sagt, du wolltest Kaffee aufsetzen. Ich hab dann auch mal die Maschine angestellt. Gibt’s Neuigkeiten?» Er nickte in Richtung ihres Computers, der mit einer kleinen Fanfare endlich seine Einsatzbereitschaft verkündete und mit einem leisen Pling über neue E-Mails informierte.
Alpay schenkte Franka noch eine Tasse Kaffee nach und lehnte sich schließlich mit der leeren Kanne in der Hand wieder gegen das Fensterbrett. Sie hatte immer noch keinen Ton gesagt. Konzentriert las sie die Mail aus der Rechtsmedizin, machte sich Notizen, scrollte, murmelte, und wenn Alpay nur den Versuch unternahm, etwas zu fragen, bremste sie ihn mit erhobener Hand. Schließlich hielt er es nicht mehr aus.
«Soll ich doof sterben, oder was?»
Sie lehnte sich wippend in ihrem Bürostuhl zurück und warf ihren Kugelschreiber vor sich auf die Kladde. «Na, das ist ja mal ein Ding», sagte sie und schob sich die Lesebrille ins Haar.
«Also ist die Frau nun ertrunken oder nicht?»
«Wegen der starken Fäulnis der Leiche wohl nicht mehr mit Sicherheit zu sagen.» Franka richtete ihren Blick wieder auf den Bildschirm. «‹Dreischichtung des Mageninhalts und Flüssigkeit in Nasennebenhöhlen durch die lange Liegezeit im Wasser nicht mehr zu bestimmen›, schreibt ein Dr. Johanson.» Sie verzog das Gesicht. «‹Tierfraß an den Gliedmaßen›.»
«Dann werden wir also nicht mehr erfahren, wie die Frau zu Tode gekommen ist.»
«Ob es ein Lungenödem wie beim Ertrinken gegeben hat», Franka zuckte mit den Schultern, «ist wohl nicht mehr wirklich festzustellen. Das Gewicht der Frau lässt sich nur noch schätzen, um die siebzig Kilo, nimmt der Arzt an. Sie war knapp eins siebzig groß. Die äußeren Verletzungen sind tatsächlich alle post mortem entstanden. Waschhaut durch die Liegezeit im Wasser, circa vier Wochen. Augenfarbe durch die postmortale Irisverfärbung braun und nicht bestimmbar, Haare blond, aber gefärbt. Sechs abgebrochene Fingernägel. Spuren von Aluminium darunter. Hat vielleicht versucht, sich irgendwo festzuhalten, was wiederum für Ertrinken spricht. Alter, wie schon von Bruhns geschätzt, um die fünfzig. Gebissabdruck nur noch oben möglich, Fotos sind auch beigefügt. DNA-Ergebnis frühstens morgen. Die versuchen, Material aus dem Beckenkamm zu gewinnen.»
«Und warum hast du eben gesagt: Na, das ist ja ein Ding?»
«Darum.» Franka drehte den Bildschirm zu Alpay. Aber er wurde aus dem Foto darauf nicht schlau.
«Das ist die Vergrößerungsaufnahme vom Hals der Toten. Das hier ist die hintere linke Seite auf Höhe des C7. Und genau darum geht’s.» Franka tippte mit dem Kugelschreiber auf eine kleine Stelle auf der Vergrößerung. «Der Frau steckte ein Haken im Hals, kleiner als ein Fingernagel. Und zwar einen Zentimeter tief. Genau daneben befindet sich noch ein Loch in der Haut.» Nun öffnete Franka ein weiteres Foto. «Und das ist das Teil, das die Rechtsmedizin sichergestellt hat.»
Alpay pfiff durch die Zähne. «Ein Widerhaken vom Projektil einer Taserpistole?»
Franka nickte. «Nicht schlecht. Und zwar von einem solchen Modell.» Sie klickte auf einige Fotos, die ihr Poppy Bruhns von zwei Distanz-Elektroimpulsgeräten geschickt hatte. Die Rechtsmedizin hatte sich zuvor mit der KTU in Verbindung gesetzt. «Gerade du weißt, wie dich ein Taser von den Füßen holen kann», sagte Franka und nahm einen Schluck aus ihrem Becher.
Alpay kannte die schmerzhaften Muskelkrämpfe, die ein solcher Schuss verursachte, und er wusste auch, dass manche Menschen infolge eines Elektroschocks ohnmächtig werden konnten. Im letzten Jahr hatte er zu der Gruppe LKA-Beamter gehört, die ein solches Gerät in der Versuchsphase getestet hatte. Zuvor waren nur das SEK und besonders geschulte Beamte der Bereitschaftspolizei damit ausgerüstet worden. Die Meinungen der Kollegen über den Gebrauch solcher Pistolen gingen auseinander. Alpay war gegen die Verwendung dieser Geräte, die unter anderem für Herzkranke lebensgefährlich sein konnten.
«In unserem Fall», fuhr Franka fort, «ist einer der nadelförmigen Widerhaken abgebrochen. Wenn du nach so einem Taserschuss ins Wasser fällst, war’s das.»
«Also hat bei der Frau jemand nachgeholfen.»
«Offensichtlich.» Franka deutete auf den Drucker, der ein Blatt Papier einzog. «Mit den wenigen Parametern der Toten über Größe und Gewicht habe ich mir mal die Vermisstenanzeigen der letzten Monate angeschaut. Da kommen drei Frauen in Betracht.»
Alpay nahm das noch warme Papier aus dem Ausgabefach.
«Lilija Girdauskas, geboren 1973, wurde am 4. Oktober von ihrer Tochter in Hamburg-Rahlstedt als vermisst gemeldet.»
«Die Mutter ist am Abend zuvor nicht ans Telefon gegangen», übernahm Franka das Briefing. «Laut Protokoll hat sie auch nicht auf SMS ihrer Tochter reagiert. Vor ihrem Verschwinden wurde Frau Girdauskas zuletzt von ihren Schülern gesehen. Das war am 3. Oktober, abends. Die Frau hat sich in Hamburg in der Geflüchtetenhilfe engagiert und einmal in der Woche Deutschunterricht in Tonndorf gegeben.»
Im Großraumbüro nebenan bekamen sich Sybille und Jörg in die Haare. Alpay versuchte, den Disput auszublenden. Es klang so, als habe Jörg sich aufgespielt und Sybille irgendwelche Instruktionen gegeben, als wäre er bereits Chef der Abteilung. Total unangemessen und auch unangenehm, wie wohl auch Franka fand, denn sie erhob sich und schloss die Glastür.
«Lies weiter», forderte sie Alpay auf.
«Die zweite ist Franziska Roicke, Jahrgang 83. Sie wurde von ihrem Ehemann am 26. September in Wandsbek als vermisst gemeldet. Sie ist irgendwo in den Walddörfern verschwunden, nachdem sie sich mit einer Freundin zum Essen getroffen hatte.» Er schaute auf. Franka setzte sich auf eine Ecke ihres Schreibtisches und verschränkte die Arme vor der Brust. «Bleibt die dritte Kandidatin. Melanie Lilienberg, Jahrgang 79, vermisst seit dem 9. Oktober in Schwinde, gemeldet am nächsten Tag in Winsen.»
«Das ist in Niedersachsen.» Alpay deutete auf das Papier in seiner Hand. «Selbst um bei den Angehörigen eine DNA-Probe einzusammeln, benötigen wir das Okay aus Hannover. Antrag auf Amtshilfe?»
«Frau Reitzenbach soll sich darum kümmern», sagte Franka. «Der Wohnort der Frau liegt übrigens nur wenige Kilometer vom Fundort der Leiche entfernt, auf der gegenüberliegenden Seite der Elbe.»
«Okay. Also Roicke, Lilienberg und Girdauskas. Denkst du, es ist eine von denen?»
«Möglich. Irgendwo müssen wir ja ansetzen.»
«Haben die Kollegen, die diese Vermisstenmeldungen erfasst haben, Handyortungen veranlasst?»
«Ja, die letzten Funkzellen liegen vor.» Franka scrollte durch die geöffneten Dokumente auf ihrem Bildschirm und stutzte. Dann griff sie zu Stift und Zettel und notierte etwas. Schließlich ging sie zum großen Hamburg-Stadtplan, der an der Wand über dem Drucker hing. Alpay konnte schon ihrem Rücken ansehen, wie sehr es in ihr arbeitete.
«Franziska Roicke verschwand am 25. September in den Walddörfern und wurde einen Tag später von ihrem Mann in Wandsbek als vermisst gemeldet. Ihr Telefon sendete aber in der Funkzelle, in der die Frau das letzte Mal gesehen wurde, noch bis zum 27. September.» Franka schaute zu Alpay. «Ich frage mich, hat niemand nach dem Telefon gesucht? Was ist denn das für eine Sauerei?»
Sie setzte sich zurück an ihren Schreibtisch. «Hier. Auch bei Lilija Girdauskas. Das Telefon sendet nach ihrem Verschwinden in Tonndorf noch etliche Stunden weiter.»
Alpay wusste, wie sehr die Suche nach Vermissten die ohnehin dezimierten Kräfte der Polizei beanspruchte. Die Schilderungen der Angehörigen bildeten die Grundlage für eine Beurteilung der Gesamtsituation. Nach allen drei Frauen war lediglich anlassbezogen und strategisch gesucht worden. Da man in keinem der Fälle von einer Gefahr für Leib und Leben ausgegangen war, wie zum Beispiel bei einer schweren Erkrankung einer vermissten Person, waren für Girdauskas, Roicke und Lilienberg keine groß angelegten Suchaktionen durchgeführt worden.
Alpay kratzte seinen Dreitagebart. «Unmöglich zu sagen, ob die Tote aus dem Schilf wirklich eine von denen hier ist. Was schlägst du also vor?»
«Sag du es mir.» Franka setzte sich wieder auf ihren Bürostuhl, wippte vor und zurück und schaute ihn erwartungsvoll an. Immer öfter überließ sie ihm die Vorgehensweise, ohne ihn zu beeinflussen. Nur so konnte er sich weiterentwickeln.
«Na ja. Wir haben zumindest den Abdruck des Oberkiefers. Wir könnten Marcel oder Ina bitten, sich mit den Angehörigen in Verbindung zu setzen, um die Zahnarztpraxen zu erfragen, in denen die Frauen behandelt worden sind. Und es sollte bei den Familien DNA-Material zum Abgleich mit der Toten angefordert werden. Haar- und Zahnbürsten, die ganze Rutsche eben.»
Franka stand auf und zog kommentarlos ihre Lederjacke an.
«Wo willst du hin?»
«Du hast doch selbst erklärt, was zu tun ist», sagte sie und schrieb einige Telefonnummern aus der elektronischen Akte. Dann kramte sie ein Kaugummi aus ihrer Schreibtischschublade, und bei Alpay fiel der Groschen. «Dir geht es doch um was anderes. Für die DNA hättest du jemanden schicken können. Du willst vielmehr abklopfen, ob es im Umfeld der vermissten Frauen einen Grund für eine Gewalttat geben könnte. Stimmt’s?»
Franka steckte sich das Kaugummi in den Mund. «Weißt du, ich muss gerade an den Chef denken», sagte sie und schaute an Alpay vorbei aus dem Fenster hinunter auf den Parkplatz. «Der hat in dir schon Potenzial gesehen, als du mir noch gehörig auf den Senkel gegangen bist.»
Alpay wusste nicht, was er darauf sagen sollte, und schon schnappte sie sich ihre Umhängetasche und verließ das Büro.
Wenn Franka menschelte, brachte sie ihn immer aus dem Konzept.
Nachdem Alpay Ina Reitzenbach gebeten hatte, sich um ein Amtshilfeersuchen bei den Kollegen in Niedersachsen zu kümmern, folgte er Franka über den Flur zu den Fahrstühlen. Ungeduldig drückte sie den Rufknopf.
«Vielleicht ist eine der drei Frauen unsere Tote aus dem Schilf, und das Projektilteil in ihrem Hals zeigt ganz klar, dass da jemand nachgeholfen hat, nur das interessiert mich – und die Staatsanwaltschaft.»
«Aber Roicke ist erst dreiundvierzig, die Frau aus Niedersachsen auch, und die Tote wurde auf um die fünfzig geschätzt.»
«Ich führe lieber eine Befragung zu viel als eine zu wenig durch.»
Die Fahrstuhltüren öffneten sich in Frankas Rücken. «Auch wenn mir die Moro nach ihrer Beförderung nicht mehr direkt im Nacken sitzt, kann ich gut darauf verzichten, dass sie mir als Oberstaatsanwältin einen ihrer profilierungssüchtigen jungen Kollegen vor die Nase setzt.»
Alpay schaute auf und hielt die Luft an. Kein gutes Timing. «Guten Morgen, Frau Erdmann», sagte die Moro freundlich, als sie mit mehreren Personen aus dem Fahrstuhl trat und an ihrer Perlenkette spielte. «Darf ich Ihnen unseren neuen Kollegen Julian Forster vorstellen. Ihm berichten Sie im Fall der Toten aus der Elbe. Schon Neuigkeiten?» Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Die Frau wusste, wie man Druck aufbaute, dachte Alpay, während Franka die beiden Juristen knapp auf Stand brachte.
In der Kabine auf dem Weg nach unten zeigte Franka dann ihr Pokerface, aber Alpay konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
«Verrätst du mir den Grund für deine gute Laune?», fragte sie genervt.
«Ich musste nur gerade an meine allererste Ermittlung mit dir denken.» Er machte eine Kunstpause, vielleicht kam sie ja von allein drauf.
«Die toten Influencerinnen.» Offensichtlich hatte sie keinen Schimmer, worauf er anspielte.
«Ich habe mich damals in einer Kanzlei mit dem Rücken zur Tür über einen Anwalt aufgeregt», fuhr er fort, «der uns vor seiner Befragung ziemlich lang hatte warten lassen. Ausgerechnet in dem Moment hat er den Raum betreten.» Der Fahrstuhl hielt im Erdgeschoss, sie stiegen aus und steuerten auf den Ausgang des Präsidiums zu. «Du hast mir dann im Auto einen ordentlichen Einlauf verpasst, von wegen, ob man das auf der Polizeischule lernt oder im Studium …»
Franka blieb in der geöffneten Schiebetür des Foyers stehen und schaute ihn überrascht an. «Ich finde, du hast mittlerweile ein bisschen sehr viel Oberwasser, mein Freund.»
Das Gewicht der letzten Obstkisten zog ihm noch immer ins Kreuz. Sieben davon hatte er in den Lieferwagen gewuchtet, gestapelt und mit einem Spanngurt gesichert. Im Laderaum roch es verführerisch nach frischem Brot und Brötchen, obwohl die Ware, die er vorhin beim Bäcker in der Schanze abgeholt hatte, bereits vom Vortag war.
«Ich habe auch noch Birnen, Herr Meyer. Wollen Sie?», fragte ihn die junge Obstbäuerin auf dem Hof im Alten Land. Unweit der Elbe sorgte der fruchtbare Marschboden auf einer riesigen Fläche für eine ertragreiche Ernte. Sie deutete auf einen Stapel neben dem alten Klinkergebäude, das den Hofladen beherbergte. «Geschmacklich sind die prima, nur die Form …», sagte sie und schüttelte verständnislos den Kopf. «Sie wissen ja, wie zielsicher die Kundschaft an Produkten vorbeigreift, die nicht der Norm entsprechen.»
Vorsichtig stieg Harry aus dem Sprinter. Die Zeiten, in denen er mit einem Hops von der Ladefläche heruntergesprungen war, waren schon lange vorbei. Das Angebot der Landwirtin nahm er im Namen des ehrenamtlichen Vereins Johannes-Brot dankend an und war ebenso erfreut, als sie auf Fingern pfiff und einen jungen Mann herbeiwinkte. «Djadi, pack mal bitte mit an.» Dann wandte sie sich wieder an Harry. «Sagen Sie mal, wie lange arbeiten Sie eigentlich schon für den Verein?» Sie öffnete ihm wie jedes Mal eine Flasche Apfelsaft. Seine Arbeit war schweißtreibend.
«Seit zehn Jahren. Ich bin quasi von Anfang an dabei.» Der süße Saft rann ihm die Kehle hinunter. «Ich hab ja schon vor meinem Ruhestand als Fahrer gearbeitet.» Dankbar schaute er dem jungen Mann dabei zu, wie er flott die Kisten auf die Ladefläche hob und fachgerecht vertäute. Harry streckte sich. Er spürte mal wieder die Schwachstelle im Lendenwirbelbereich. «Aber so was hier», er zeigte auf die volle Ladefläche, «kann ich wohl nicht mehr lange machen.»
Es wurde Zeit. Der Verkehr zurück in die Stadt war um diese Uhrzeit immer zäh fließend, und wie jeden Tag erwarteten seine Kollegen im kleinen Lager in der City Nord die Spenden gegen Mittag. Dort wurden sie sortiert und anschließend zum Verteilen wieder zusammengestellt. Außerdem gab der Verein Secondhandkleidung und -möbel ab. Anders als bei der Tafel, bei der sich deutschlandweit an die neunzigtausend Freiwillige engagieren, waren die Johanner, wie sie sich selber nannten, ein überschaubarer Haufen, der das Ehrenamt direkt in den Stadtteilen ausübte. Es war schon beschämend, dachte Harry. In einer reichen Kaufmannsstadt wie Hamburg mit seinen feinen Bezirken rund um die Außenalster, mit den teuren Geschäften am Jungfernstieg und dem Mäzenatentum, das auch den Bau der Elbphilharmonie ermöglicht hatte, wurden die Schlangen Bedürftiger an den Ausgabestellen auf St. Pauli oder in Hammerbrook von Jahr zu Jahr länger.
Harry fuhr über die Landstraße Richtung Autobahnauffahrt Waltershof. Für ihn, der als Hotelkaufmann eine ausreichende Rente bezog, die ihm zwar keine großen Sprünge, aber ein sorgloses Leben ermöglichte, war diese Arbeit etwas Wunderbares. Harry konnte Dankbarkeit zeigen und der Gesellschaft etwas zurückgeben. Behandele andere so, wie auch du behandelt werden möchtest, das war sein Credo.
Er stellte das Radio an. Seine Finger trommelten im Beat einer Soulnummer, die aus den Boxen tönte, auf das Lenkrad. Ihm wurde warm ums Herz. Zu diesem Song hatte Harry immer mit Riccarda im Trinity getanzt, wenn er sie in Hamburg besuchen kam. Was waren das für herrliche Zeiten kurz nach dem Mauerfall. Wenn um Mitternacht der Nebel über den beleuchteten Dancefloor der Diskothek in Eimsbüttel kroch, gab es bei Wiener Walzer kein Halten mehr. Heute hatte Harry Rücken, das Trinity war seit 1993 geschlossen und Riccarda schon seit zehn Jahren tot. Ihren Ehering hatte er weiten lassen und trug ihn seitdem vor seinen gesteckt.
Die dunklen Gedanken als Witwer, nach fünfundzwanzig Jahren Ehe, hatten Harry manches Mal die Frage nach dem Warum stellen lassen. Und vielleicht war sein Engagement bei den Johannern eine Antwort darauf. Aus dem persönlichen Verlust, der sein eigenes Leben infrage gestellt hatte, war etwas Gutes erwachsen. Das Ehrenamt brachte nicht nur Struktur in seinen Rentneralltag, sondern auch neue soziale Kontakte. Und der Verein sorgte nicht zuletzt dafür, dass Harry seinen Kindern weniger auf die Nerven ging. Auch das war ihm schnell klar geworden.
Drei Stunden später, Harry hatte mit Alexandra und Katharina in der kleinen Halle des Vereins in der City Nord alle Spenden sortiert, machte er sich mit Dieter auf dem Beifahrersitz des vollgepackten Sprinters erneut auf den Weg. Dieses Mal zur Abgabestelle in Hammerbrook.
Auf der Ladefläche transportierten sie nicht nur eine Kleiderstange voller gebrauchter, aber noch tadelloser Herrenoberhemden, sondern auch Obst und Gemüse, Backwaren und H-Milch. Erwartet wurden sie meist von Sozialhilfeempfängern und Obdachlosen. Einige von ihnen waren schwer drogenabhängig.
Zweimal in der Woche stellte der Bezirk die «Piazza» zur Verfügung, wie sie das ungemütliche Atrium mit dem von Tauben vollgekackten Glasdach vor dem Stadtteilzentrum nannten, in dem einige Yuccapalmen ein trostloses Dasein fristeten.
Harry und Dieter waren ein eingespieltes Team. Zügig hatten sie das Sortiment auf faltbaren Markttischen aufgebaut, über die sie vorher abwischbare Tischdecken in Italo-Optik drapiert hatten. Die Johanner versuchten alles, den Menschen nicht das Gefühl einer Armenspeisung zu vermitteln.
«Schau mal», sagte Dieter leise, nachdem er die Kleiderstange mit den Hemden aufgestellt hatte. Mit einem Kopfnicken deutete er zu einem Mann um die dreißig, der sie beobachtete und nervös von einem Fuß auf den anderen tippelte. «Tourette-Peter ist auch wieder da.»
Das Verhalten des jungen Mannes war so unberechenbar, dass sie sich vor seinen Ausbrüchen fürchteten, die wohl weniger mit einer neuropsychiatrischen Erkrankung zu tun hatten als mit dem Konsum von Crack. Harry hatte sich informiert. Der Typ lebte auf der Straße und drohte gelegentlich anderen Gewalt an. Doch meist saß er apathisch auf einer der Bänke und starrte böse zu ihnen herüber. Sein verkniffenes Gesicht strahlte trotz der sedierenden Drogen eine solch unbändige Wut aus, dass Harry und Dieter einen Bogen um ihn machten und direkten Augenkontakt vermieden. Manchmal wurde er von der Polizei ermahnt, sich zusammenzureißen, manchmal nahmen sie ihn mit, aber zuverlässig tauchte er immer wieder auf.
«Grüß dich, Merle», sagte Harry nun freundlich zu der jungen Frau, die ein kleines Mädchen in einem Kinderwagen schob. «Die Lütte ist ja ordentlich gewachsen.» Merle lächelte verlegen und suchte sich einiges an Obst und Backwaren aus. Jedes Einzelschicksal berührte Harry auch noch nach vielen Jahren der sozialen Arbeit.
Die Gruppe Bedürftiger war heute besonders groß. Einige neue Gesichter waren auch darunter, wie der Mann mit der groben Strickmütze und dem sehr alten Schäferhund an der Leine. Oder die Frau, die am Eingang der Piazza neben einer vertrockneten Yuccapalme saß und Dieter und ihn die ganze Zeit verstohlen beobachtete. Alle Ehrenamtlichen wissen, wie groß die Hemmschwelle anfangs ist, sich hier einzureihen.
«Fickt euch alle!», schrie Tourette-Peter plötzlich. Er war von seiner Bank aufgesprungen, pumpte seinen Brustkorb auf und reckte die rechte Faust gen Himmel. «Satan wird herniederfahren und euch alle ficken!» Betreten schauten die Anwesenden zu Boden. Die in seiner Nähe suchten das Weite. Auch Harry und Dieter machten hinter ihrem Tisch automatisch einen Schritt zurück. «Grundgütiger», entfuhr es Dieter. «Der ist doch gemeingefährlich.» Noch bevor Tourette-Peter weitere Flüche ausstoßen konnte, kam das Sicherheitspersonal des Gemeindezentrums herbeigeeilt, griff den Mann links und rechts unter den Armen und führte ihn unter dessen wütendem Protest und weiteren Flüchen Richtung Ausgang. Dort trat er gegen einen Pflanzkübel, der in zwei Hälften zerbrach, und riss sich los. Die Frau auf der Bank schrie vor Schreck kurz auf, was Tourette-Peter veranlasste, sie als gottlose Schlampe zu beschimpfen, von der er ganz genau wisse, dass sie Böses im Schilde führe. Satan habe sie geschickt! Der Mann war wirklich gemeingefährlich.
Bisher hatte Harry immer geglaubt, dass Hunde, die bellen, nicht beißen. Doch bei dem Typen musste er unweigerlich an die Bibel denken, die sagt, man solle sich eigentlich vor Hunden hüten.
Sie erschrak heftig, als die beiden Hälften des Pflanzkübels krachend neben ihr zu Boden fielen. Die Yuccapalme blieb allerdings stehen, nur etwas braunes Granulat rieselte aus dem Pflanzballen und über die Fliesen vor ihre Füße. Das Sicherheitspersonal drehte dem Mann beide Arme auf den Rücken. Der Irre spuckte vor ihr auf den Fußboden, und es lief ihr heiß und kalt den Rücken hinunter, denn er schrie erneut. «Seht, die gottlose Schlampe führt Böses im Schilde!» Dabei traten ihm die Adern aus dem Hals. Sein kalter Blick aus grünen Augen ging ihr durch und durch, als könnte der Mann direkt bis tief in ihre Seele blicken und ihren Plan erkennen. Ihr Puls beschleunigte ähnlich schnell, wie wenn sie kurz davor war, den Abzug des Tasers zu betätigen.
«Ihr Pisser! Ihr verdammten Drecksäcke nehmt eure versifften Daddeln weg!», schrie er nun aus der Entfernung. Sie beobachtete, wie er sich auf der Straße losriss, den beiden Sicherheitsleuten den Mittelfinger zeigte und irgendwo im Gewusel des Stadtteils verschwand.
Sie versuchte sich zu beruhigen, auch wenn die Worte des Mannes eine unbändige Wut in ihr triggerten. Sie waren abwertend und verletzend gewesen und hatten sie im Innersten getroffen, dort, wo ein Schmerz saß, den nichts heilen konnte.
Doch sie war besser als der Verrückte. Mit Gedanken an Vergebung, Barmherzigkeit und Nächstenliebe brachte sie sich zur Ruhe.
Sie setzte sich zurück auf die Bank, von wo aus sie die Ehrenamtlichen weiter beobachtete.
Auch heute gaben sie sich große Mühe. Die rot-weiß karierte Tischdecke auf dem abgeranzten Klapptisch wirkte dabei allerdings wieder extrem lächerlich, wie sie fand. Glaubten die beiden wirklich, das Elend dieser Welt ließe sich damit kaschieren?
Barmherzigkeit wärmte das Herz, dachte sie bitter. Sich einreihen zu müssen, um etwas Gutes zu empfangen, was die Gesellschaft als etwas Schlechtes empfand und darum in den Müll warf, machte sie mittlerweile extrem sauer. In ihrer Definition von Gut und Böse machte es sich die Allgemeinheit etwas zu einfach. So wie die Wahrheit immer hell und freundlich erscheint, verdunkelt die Lüge angeblich den Himmel. Sie schnaubte verächtlich bei dem Gedanken einer so simpel gestrickten Moral.
Der Mensch sagt im Schnitt bis zu zweihundertmal am Tag die Unwahrheit. Vielleicht fragt er sich dabei allzu oft, was daran schlecht sein soll, ist die Wahrheit doch oft unbequem.
Fest steht nur, dachte sie, während sie die beiden Männer vom Verein nicht aus den Augen ließ, dass der Mensch Gut und Böse zu gleichen Teilen in sich trägt. Wie zum Beweis bekamen sich gerade zwei junge Männer in die Wolle, die nach demselben Hemd gegriffen hatten. Sie zankten sich, keiner wollte den Bügel hergeben, bis einer der beiden Ehrenamtlichen schlichtete.
Aggression ist eine Spielart des Bösen, dachte sie. Und Gewalt folgt meist auf dem Fuß. Sie war das eigentliche Übel und die damit verbundene Lüge, und das Bigotte, und der Verrat und der Schmerz. Sie spürte, wie ihre Hände zu Fäusten verkrampften und ihr ganzer Körper von einem Zittern erfasst wurde, das bis hinunter in die Zehenspitzen reichte. Unweigerlich musste sie an die Frau Anfang Oktober denken. Als sich die Widerhaken der Taserpistole tief in ihre Haut gebohrt hatten, hatte sie so grotesk gezappelt, dass sie sich dabei mehrmals mit dem Autoschlüssel in der Hand auf die Stirn geschlagen hatte. Dann war sie an der Beifahrertür ihres Wagens heruntergerutscht und wimmernd auf dem Parkplatz liegen geblieben.
Nun predigte sie sich, ruhig zu bleiben. Es würde alles glattlaufen. Sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht.
Franka bedankte sich bei Kristine Girdauskas, die im Treppenhaus eines Winterhuder Altbaus sichtlich nervös die Tür zur Wohnung ihrer Mutter aufschloss. In der Hand hielt sie einen Stapel Post, den sie unten aus dem Briefkasten genommen hatte.