Die Guten und die Toten - Kim Koplin - E-Book

Die Guten und die Toten E-Book

Kim Koplin

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Beschreibung

Ein Ritt durch die düstere Berliner Schattenwelt: realistisch und absurd, vielschichtig, rührend und rasend spannend

Saad und seine kleine Tochter Leila leben unterm Radar in Berlin. Saad verdient sein Geld als Wächter in einem Charlottenburger Parkhaus, aus gutem Grund in der Nachtschicht.

In diesem Parkhaus steht auch der Luxusschlitten des Staatssekretärs Brasch, der mit dem Waffenhändler Müller und undurchsichtigen Saudis fiese Geschäfte macht. Als Brasch betrunken und zugekokst einen Verkehrsunfall baut und man zu seiner Überraschung eine Leiche in seinem Kofferraum findet, ist das ein Fall für die junge Kriminalkommissarin Nihal Khigarian.

Die hatte Saad schon ein paar Tage vorher zufällig kennengelernt, als sie ihm und Leila bei einer Schlägerei mit wüsten Pöblern geholfen hat. Leila ist sofort zu Nihal hingezogen, und auch Nihal und Saad ahnen, dass da mehr sein wird als eine flüchtige Bekanntschaft. Dabei muss Saad doch unbedingt unsichtbar bleiben, denn er weiß, dass gnadenlose Typen aus seinem früheren Leben hinter ihm her sind.

Und tatsächlich haben es die beiden bald mit Killern zu tun, mit Waffendealern, aufgebrachten Saudis, Drogenmafiosi, ein paar Toten ‒ und noch ein paar mehr … und einem epischen Showdown in der Hasch-Plantage auf dem Dach des Parkhauses, an dessen Ende es heißt: »Macht ihr so was öfter?«

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Seitenzahl: 308

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Ähnliche


Cover

Titel

Kim Koplin

Die Guten und die Toten

Thriller

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5312.

Originalausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023

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Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagabbildungen: Magdalena Russocka/Trevillion Images (Straße, Auto, Menschen), THEPALMER/Getty Images (Gesicht der Frau), FinePic©, München (Schrabbel)

eISBN 978-3-518-77587-5

www.suhrkamp.de

Die Guten und die Toten

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

NIHAL

SAAD

NIHAL

SAAD

NIHAL

SAAD

NIHAL

BRASCH

NIHAL

SAAD

MOHAMMED

MAJA

BRASCH

SAAD

NIHAL

SAAD

NIHAL

SAAD

NIHAL

BRASCH

NIHAL

SAAD

NIHAL

SCHÄFER

NIHAL

SAAD

NIHAL

SAAD

NIHAL

SAAD

NIHAL

SAAD

MAJA

BRASCH

SAAD

NIHAL

MÜLLER

NIHAL

MÜLLER

SAAD

NIHAL

JAMAL

NIHAL

JAMAL

MÜLLER

NIHAL

MAJA

SAAD

MOHAMMED

NIHAL

SAAD

BRASCH

NIHAL

MAJA

SAAD

NIHAL

SAAD

NIHAL

SAAD

NIHAL

SAAD

NIHAL

SAAD

DER TAG DANACH

Informationen zum Buch

NIHAL

Nihal wacht auf, bevor Jamie es geschafft hat, mit seinem Schlüssel das Schloss zu finden. Wie üblich hat er eine Partybitch an sich drankleben. Ihre Stimme hallt durchs Treppenhaus. Nihal kann die Worte nicht verstehen, aber es klingt eindeutig nach: Oh, Jamie, du bist so lustig, warum fickst du mich nicht gleich hier auf dem Treppenabsatz? Mit dieser Lache könnte man Füchse aus dem Bau treiben.

Als endlich das Schloss gefunden ist und die Tür aufschwingt, scheppert ihre Stimme durch die Wohnung.

– Ich hab schon gedacht, das wär die falsche Tür.

Sie scheint das witzig zu finden, lacht hysterisch. Bis Jamie zu ihr sagt:

– Jetzt halt mal die Klappe. Du weckst noch meine Schwester auf.

Als würde Nihal nach diesem Auftritt noch schlafen.

– Du wohnst mit deiner Schwester zusammen?

– Hab ich doch gerade gesagt.

– Ist die genauso hot wie du?

– Du redest zu viel.

– Sagt mein Freund auch immer.

Wieder diese Lache. Wahnsinn, was diese Frau alles lustig findet.

– Hat er recht, sagt Jamie. Nicht die Tür, das ist das Zimmer von meiner Schwester.

– Die würd ich ja gern mal kennenlernen.

– Nein, würdest du nicht. Hier rein.

Nihal schaltet die Lampe neben ihrem Bett ein und verschwendet eine sinnlose Minute auf den Gedanken, wie es sein kann, dass so viele Frauen scharf darauf sind, sich benutzen zu lassen. Lust an der eigenen Demütigung? Sie dreht sich auf den Rücken und starrt die Raufasertapete an. Ihre erste eigene Wohnung, 52 Quadratmeter, zwei Zimmer. Sechziger-Jahre-Bau, niedrige Decken, hellhörig wie Sau, Materialien zum Davonlaufen. Selbst die Wohnungstür ist so dünn, dass Nihal mit einer geraden Linken mühelos ein Loch reinschlagen könnte. Und wenn der alte Doganay im vierten Stock nachts aufs Klo geht, hört sie das Wasser neben ihrem Kopf durch die Wand rauschen. War ihr alles egal, Hauptsache ihr’s. Die Linke ist übrigens ihre Schlaghand. Schießt mit links, schlägt mit links, aber schreibt mit rechts.

In Jamies Zimmer geht das Gestöhne los, war ja klar, um halb fünf morgens. An Nihals freiem Tag. Sie schlägt mit der Faust gegen die Wand.

– Stöhn leiser, das ist kein Porno!

Die Frau prustet vor Lachen. Nihal hört sie sagen:

– Ich glaub, ich will deine Schwester doch nicht kennenlernen.

– Sag ich doch.

Wenigstens hat Nihal ihr vorübergehend den Wind aus den Segeln genommen. Sie verschwendet zwei weitere Minuten mit nutzlosen Gedanken: dass die Wände zu dünn sind für einen Mitbewohner. Dass sie geglaubt hat, ihrem kleinen Bruder etwas Gutes zu tun, als sie ihn bei sich einziehen ließ, vorübergehend. Hätte es besser wissen müssen. Wusste es besser. Wollte es sich nur nicht eingestehen. Und darüber ärgert sie sich mehr als über alles andere.

Gretchen kommt, halleluja, quietscht, als gebe es einen Teddy zu gewinnen, und hat den Orgasmus ihres Lebens. Nihals erste eigene Wohnung. Am Arsch. Es wird ruhig nebenan. Sie schaltet die Lampe wieder aus. Arme seitlich neben den Körper, Handflächen nach oben. Atmen. Spüren. Der Nacken, den Nacken entspannen. Da geht es immer als Erstes los, der Kopfschmerz, die Migräne. Konzentration auf die Atmung.

Nihal hat sich langsam bis zur Schlafschwelle zurückmeditiert – der Nacken entspannt, die Atmung gleichmäßig –, als das Gestöhne von Neuem losgeht. Klingt nicht so, als würde die Frau benutzt werden, eher so, als würde sie Jamie benutzen. Vielleicht ist die Frage, warum so viele Frauen scharf darauf sind, sich benutzen zu lassen, falsch. Vielleicht ist die eigentliche Frage, warum so viele Frauen scharf darauf sind, sich schlecht behandeln zu lassen.

Nihal gibt sich ein Versprechen: Monatsende. Bis dahin ist Jamie raus. Sonst wechselt sie das Schloss aus. Gut, das Schloss sollte sie so oder so auswechseln.

Bevor Jamies Quietscheentchen ihren zweiten Orgasmus herausstöhnen kann, ist Nihal aus dem Bett, hat sich ihren schwarzen Onesie übergezogen, ihre Laufschuhe geschnürt, ihr iPhone um den Oberarm geschnallt, den Schlüsselbund geschnappt und die Tür hinter sich zugezogen.

Nach Nihals Erfahrung gibt es sehr wenig, gegen das ein Zehn-Kilometer-Lauf nicht hilft: Nachbarn, die ihren Hund vor deine Tür scheißen lassen, Machoarschkollegen, den Kontostand am Monatsende, das Gefühl, nicht zu genügen, Kopfschmerzen. Mit schnellen Schritten federt sie die Stufen hinab, im Dreierrhythmus – links-rechts-links, rechts-links-rechts – beginnt ihr Training, bevor sie aus dem Haus ist.

Die kühle Nachtluft ist wie eine sanfte Ohrfeige, Nihal ist sofort angeschaltet. Ihre Hausstrecke führt zweimal um den Lietzensee, elf Kilometer, aber der Weg ist teilweise unbeleuchtet, und das Letzte, was Nihal im Moment gebrauchen kann, ist, über eine Baumwurzel zu stolpern und sich den Knöchel zu verstauchen. Also läuft sie los Richtung Amtsgericht, durch den Kiez. Die Stadt schläft noch, und die Luft ist noch nicht dreimal eingeatmet und durch irgendwelche Motoren gepresst worden. Selbst auf der Kantstraße ist so wenig los, dass sie auf der Fahrbahn laufen könnte. Sie tut es, nimmt Raum ein, legt einen Zwischenspurt hin und spürt, wie ihre Lungenflügel sich weiten. Fuck you, Jamie. Am Monatsende bist du raus.

SAAD

Der Versorgungsraum hinter dem Pförtnerhäuschen ist eine fensterlose, drei mal drei Meter große Betonzelle, in deren Decke armdicke Kabelstränge verschwinden. An der rechten Wand hängt ein grünlicher Metallschrank, der ein ungesundes Brummen von sich gibt. In der Mitte ist ein Ablaufgitter im Boden, das Saad mit Gaffer überklebt hat, weil es bei Regen den Geruch aus der Kanalisation nach oben drückt.

Er bleibt einen Moment in der Tür stehen. Leila in ihrem Kinderbett schlafen zu sehen, unter dem Baldachin, während Sonne, Mond und Sterne über die Wände tanzen, ist jedes Mal ein kleines Wunder. Als würde eine Orchidee aus dem Beton wachsen. Dabei sind von Leila wie üblich vor allem ihre Haare zu sehen. So geht es Saad jeden Morgen: Er zieht die Brandschutztür auf, sieht Leila in ihrem Bett liegen, und für eine halbe Minute hört alles andere auf zu existieren. Länger erlaubt er sich nicht, sonst weicht er auf, und das ist nicht gut.

Sobald er sich zu ihr herabbeugt, kommen Leilas Arme unter der Decke hervor und schieben sich um seinen Hals. So hebt er sie aus dem Bett, ihre Beine um seine Hüfte geklammert, ihren Kopf an seinem Schlüsselbein. Um fünf Uhr morgens. Und nie beschwert sie sich oder will liegen bleiben. Stattdessen zieht sie sich an, stellt sich vor die Spiegelfliese, die Saad unter dem Hochspannungszeichen auf den Verteilerkasten geklebt hat, und schiebt sich ihre Spangen ins Haar. Dreiundzwanzig. Nicht dass Leila schon bis dreiundzwanzig zählen könnte, aber wenn eine fehlt, merkt sie es sofort:

– Papa, die blaue Spange ist weg!

Saad deutet auf die Spange hinter ihrem linken Ohr.

– Die da?

– Nicht die. Die mit dem Glitzer!

Als sie aus dem Parkhaus auf den Bürgersteig treten, geht ein Schaudern durch Leilas Körper.

– Kalt?, fragt Saad.

Sie schiebt ihre noch schlafwarme Hand in seine.

– Geht schon.

Saad sieht die beiden Männer, als Leila und er unter dem Bogen durchgehen, der sich über die Gasse spannt. Tagsüber ist hier eine Menge los, abends auch. Aber morgens um kurz nach fünf hat noch nicht einmal der Steinecke geöffnet, und das ist der Erste, bei dem die Lichter angehen.

Die zwei Männer stehen neben dem Aufgang zur S-Bahn, als wüssten sie, dass um fünf Uhr Saads Schicht zu Ende ist. Aber sie warten nicht auf ihn. Sie warten einfach auf irgendjemand. Der Bullige trägt eine Menge Fleisch mit sich herum, seine Bewegungen sind verlangsamt. Als er zu schnell den Kopf in Saads Richtung dreht, stolpert er einen Schritt rückwärts. Saad schätzt ihn auf anderthalb Promille und 115 Kilo. Der wird ihm nicht gefährlich, es sei denn, er fällt zufällig auf ihn drauf. Bei dem Kleineren mit der Bomberjacke ist Vorsicht geboten. Selbst jetzt, angetrunken und nach einer langen Nacht, hat sein Körper noch Spannung, und sein Seitenscheitel ist voll auf Zack.

– Ey!

Der Kräftige. Wie Saad es erwartet hat. In drei Minuten kommt ihre Bahn. Leila lässt sich nichts anmerken, aber Saad spürt, wie sich der Druck ihrer Finger in seiner Hand verstärkt. Er erwidert ihn, alles in Ordnung.

Zum Bahnsteig müssen sie an den beiden vorbei, aber der Typ mit der Bomberjacke verstellt den Durchgang. Schnelle Füße, fester Stand. Und möglicherweise irgendwo ein Messer oder einen Totschläger in der Jacke.

– Mein Kompagnon hat dich was gefragt.

– Hat er nicht.

Leila drückt sich gegen ihren Vater. Der spürt die Gravitation des Bulligen hinter sich. Ist nie gut, einen Mann im Rücken zu haben. Doch hier geht es nicht um Saad, ist nichts Persönliches. Also sollte er es auch nicht persönlich nehmen.

Zwei Minuten.

– Unsere S-Bahn kommt gleich.

– Gib mal ne Fluppe, sagt der Bullige.

Saad riecht den Alkohol in seinem Atem, zieht die Packung aus der Jackentasche, bietet ihm eine Zigarette an. Der Typ muss sich konzentrieren, aber dann bekommt er sie zu fassen. Anschließend hält Saad dem anderen die Schachtel hin, Friedensangebot. Auch der nimmt sich eine.

– Wie sieht’s mit Feuer aus?

Ist keine Frage.

Saad gibt ihnen Feuer. Zwischen den Häusern und der S-Bahn-Trasse sind Schnüre gespannt, von denen Lampen herabhängen. Bei Wind fangen sie an zu schaukeln, dann schwimmt das Licht auf dem Pflaster. So wie jetzt.

Saad hört, wie sich Schritte nähern, schnelle, dynamische Schritte – tapp tapp tapp –, Schuhe, die nur für Sekundenbruchteile das Pflaster berühren. Ein fliegender Schatten in einem schwarzen Funktionsanzug kommt auf sie zu.

Eine Minute.

Saad will an dem Kleineren vorbeigehen, aber der versperrt ihm erneut den Weg, stößt ihm eine Hand in die Schulter. Da ist Druck hinter. Er hat ziemlich exakt Saads Größe. Ihre Blicke treffen sich. Leila umklammert Saads Oberschenkel. Langsam wird es schwierig, es nicht persönlich zu nehmen.

– Rauch erst mal eine mit uns.

– Sorry, unsere Bahn kommt gleich.

Der nächtliche Läufer witscht an ihnen vorbei, tapp tapp tapp …

Der Kräftige greift Saad von hinten am Arm und zieht ihn herum. Er braucht einen Moment, um ihn scharfzustellen.

– Du rauchst jetzt erst mal eine mit uns.

Über Saad und Leila fährt die Bahn ein. Alles noch kein Problem. Dann eben die nächste. In diesem Moment verstummt das Tapp-tapp-tapp.

Eine junge Frauenstimme fragt:

– Gibt’s hier ein Problem?

Saad denkt: Bis eben nicht.

NIHAL

Nihal tritt in den Lichtkegel. Ihr Anzug sitzt wie aufgesprüht, umrahmt ihr Gesicht. Das orangefarbene Licht der im Wind schwingenden Lampe zuckt auf ihren Schultern. Sie fragt sich, warum sie ihren Lauf unterbrochen hat. Drei Typen mit einem Konflikt vor dem S-Bahn-Eingang. Nicht ihre Baustelle. Dann wird ihr klar: Es ist das Mädchen, das das Bein ihres Vaters umklammert. Ein kleines Mädchen in Angst.

Alle sehen Nihal an, die drei Männer und das Mädchen auch. Als sei sie aus einer unsichtbaren Klappe gesprungen.

Sie macht eine Bewegung, wie um ihren Nacken zu lockern.

– Alle taubstumm, oder was?

Der Mann, an dessen Bein sich das Mädchen klammert, schüttelt kaum merklich den Kopf. Nihal fragt sich, was er ihr damit sagen will. Dass es kein Problem gibt? Alter, denkt sie, da sind zwei Typen, die dich schräg anmachen, und an deinem Bein klebt ein Kind, und du bist der, der hier kein Problem hat? Oder will er ihr sagen, dass sie sich raushalten soll? Läuft hier irgendein Deal? Sie wirft dem Mann einen Blick zu: Echt jetzt?

Der Dicke mischt sich ein: – Was will’n die?

Der Typ im Durchgang: – Frag sie doch.

Der Massige macht einen Schritt auf Nihal zu, was bei ihr sofort Adrenalin freisetzt. Einen Schritt weiter, und er ist in Schlagdistanz. Er macht eine Bewegung, wie um Tauben zu verscheuchen.

– Lauf mal schön weiter, sonst tust du dir noch weh.

Affektkontrolle. Eine von Nihals Baustellen. Muss sie dran arbeiten. Schäfer, ihr Chef, meint, das wird ihr sonst nochmal zum Verhängnis.

Sie atmet durch: – Ich kann mich nicht erinnern, dich irgendwas gefragt zu haben.

Der Bullige dreht sich zu seinem Kumpel um: – Was labert die denn?

Kritischer Moment. Der Typ mit der Bomberjacke wittert Autoritätsverlust. Da kann so eine Situation schnell kippen.

– Verpiss dich, Muschi. Das hier ist’n Gespräch unter Männern.

An dem Bulligen vorbei sieht Nihal ihn an: – Wie hast du mich gerade genannt?

– Muschi. Er zieht an seiner Zigarette. – Oder ist dir Fotze lieber?

Nihal schiebt sich an dem Dicken vorbei, federt auf den Fußballen.

– Ich geb dir gleich Fotze, du Wichser.

– Und ich geb dir gleich Schwanz, du Fot …

Bevor der Satz draußen ist, trifft Nihals linker Seitwärtshaken seinen rechten Oberarm. Er lässt die Zigarette fallen, Glut regnet aufs Pflaster. Seine Rechte schnellt vor, doch bevor er die Frau im Ganzkörperanzug von den Füßen holen kann, ist ihr Kopf nicht mehr da, wo er ihn zwei Zehntelsekunden vorher noch gesehen hat. Sein Gehirn verarbeitet noch die Info, als Nihal ihm einen Bilderbuchkick gegen den Oberschenkel und eine Links-rechts-Kombination gegen den Brustkorb verpasst. Er reißt die Augen auf, klingt wie ein angestochener Reifen.

Nihals Füße nehmen Grundstellung ein. Sie muss echt an ihrer Affektkontrolle arbeiten. Im selben Augenblick schließen sich von hinten zwei fleischige Arme um sie. Der Dicke. Fuck. Während der eine langsam auf die Beine kommt, versucht Nihal, sich dem Griff des anderen zu entwinden, aber dessen Arme sind wie Baggerschaufeln. Der Typ mit der Bomberjacke hebt derweil die noch glühende Zigarette auf. Nihal versucht, ihn mit Kicks auf Distanz zu halten.

– Mach, dass sie damit aufhört.

Nihal spürt, wie der Dicke sein Gewicht verlagert, seinen Körper auf ihren drückt. Der wiegt das Doppelte von ihr, mindestens. Kurz hält sie dem Druck stand, dann knicken ihre Beine ein wie Strohhalme. Aus dem Augenwinkel und mit verschwommenem Blick sieht sie den Typen, der seine Tochter an der Hand hält.

– Vielleicht machst du auch mal was!

Inzwischen kniet sie auf dem Pflaster wie eine Büßerin, während der Dicke sie weiter umklammert hält. Der Typ mit der Bomberjacke zieht zweimal an der Zigarette, damit die Glut frisch ist, nimmt sie zwischen Daumen und Zeigefinger wie einen Dartpfeil und beugt sich zu ihr herunter.

– Du bist ja ’ne richtige kleine Superfotze, hör mal.

Nihals Wut ist größer als ihre Angst. Sie spuckt ihm ins Gesicht.

Beim Einatmen verzieht er das Gesicht. Schmerzen. Sieht nach einer gebrochenen Rippe aus. Oder auch zwei. Mit seinem Scheitel steht es auch nicht mehr zum Besten. Er bringt sein Gesicht direkt an ihres heran.

– Und weißt du, was man mit Superfotzen wie dir macht?

Bevor Nihal es erfährt, sackt plötzlich der Bullige in sich zusammen und begräbt sie unter 115 Kilo Lebendfleisch. In ihrer Schulter knackt etwas, sie stöhnt auf, dann geht ihr die Luft aus. Zum Glück wird als Nächstes der leblose Fleischberg von ihr heruntergezogen, Luft strömt in ihre Lungen. Und mit ihr die Wut. Sie stemmt ihre Hände in den Boden, wieder knackt es in der Schulter, ein Satz, und sie ist auf den Beinen.

Sie hat keine Ahnung, was passiert ist, aber der Dicke liegt neben ihr wie ein gestrandeter Wal, die Arme auf dem Pflaster. Daneben der Mann, dessen Tochter gerade wieder ihre Hand in seine schiebt. Die Kleine verzieht entschuldigend den Mund.

Der Typ, der Nihal eben noch die Zigarette ins Gesicht drücken wollte, überlegt, was die veränderte Situation für ihn bedeutet. Nihal erklärt es ihm: – Du bist festgenommen, Arschloch. Hände auf den Rücken, oder ich brech dir noch eine Rippe.

Sie hat seine Hände im Blick, und als sie sieht, wie er in die Jackentasche greift, schnellt sie vor wie eine Feder, verpasst ihm einen Leberhaken und zwei so harte Körpertreffer, dass seine Arme bis auf Weiteres jede Zusammenarbeit mit dem Gehirn verweigern.

Mit einer geübten Bewegung dreht sie seinen Arm nach hinten, drückt ihn mit dem Gesicht aufs Pflaster und tackert ihm mit dem Knie den Arm auf den Rücken. Dabei zuzusehen erfordert eine gewisse Unerschrockenheit. Während Nihal mit der freien Hand die Taschen seiner Jacke durchsucht, kommt der Typ zu Atem und zischt etwas Unverständliches. Sie spürt ein ungutes Ziehen in der Schulter.

– Wie hast du mich gerade genannt?

– Ich hab dich gar nicht genannt.

– Besser is.

In der rechten Außentasche ertastet sie den gummiummantelten Griff eines Teleskopstocks. Sie verlagert ihr Gewicht auf das Knie, mit dem sie seinen Arm fixiert.

– Du brichst mir den Arm!

Gut möglich, denkt sie. Affektkontrolle erst wieder von 9 bis 17 Uhr. Der Typ gibt Geräusche von sich wie eine kalbende Kuh. Er stöhnt: – Du hast echt ein Problem, Mann!

Nihal knallt den Teleskopstock direkt vor seinem Gesicht auf das Pflaster. – Du jetzt auch.

Sie blickt zu dem Mann und seiner Tochter auf. Wo wollen die hin, morgens um fünf? Vorausgesetzt, das ist überhaupt seine Tochter. Der Dicke liegt nach wie vor auf dem Pflaster und rührt sich nicht.

– Was war’n das, bitte?

Der Mann zieht eine Braue in die Höhe, als sei er selbst überrascht und könne sich gar nicht erklären, weshalb der Fleischbrocken schlagartig ohnmächtig geworden ist.

– Der ist jetzt aber nicht tot, oder?

Er schüttelt den Kopf.

Nihal sieht das Mädchen an: – Ist das dein Vater?

– Yep. Sie lächelt. – Ich mag deinen Anzug.

Damit schubst sie Nihal kurz aus der Bahn. Mit Kindern kann sie nicht besonders. Die erwarten immer etwas von ihr, und sie hat keine Ahnung, was. Andererseits: Mit den meisten Erwachsenen kann Nihal auch nicht besonders.

– Der glitzert, sagt die Kleine. – Ich mag Glitzer.

Während Nihal ihr Smartphone aus der Manschette zieht, sieht sie den Vater an. – Ich rufe jetzt die Kollegen vom Streifendienst, die nehmen die Anzeige auf.

Der Typ deutet nach oben, zum Bahnsteig.

– Mein Arm!, stöhnt der Mann, dessen Gesicht auf den Stein gedrückt wird.

– Tell me about it. Nihal stößt ihm das Knie noch etwas fester ins Kreuz. Zu dem Vater sagt sie: – Sie wollen keine Anzeige machen?

Statt zu antworten, macht er ein Lieber-nicht-Gesicht. Da ist etwas in seinem Blick. Bedauern?

– Seid ihr illegal?

Entfernt hört Nihal, wie über ihr die S-Bahn einfährt. Der Typ hebt die Hand, und dann gehen er und seine Tochter an Nihal vorbei.

– Tschüss, du, sagt das Mädchen.

Und Nihal fällt nichts Besseres ein, als zu sagen: – Tschüss.

SAAD

Am Zoo müssen sie in die U9 umsteigen. Bevor die Bahn einfährt, rumpelt es dumpf in der Röhre, und ein Schwall trauriger Luft weht über die Gleise. Stumme Menschen mit neonlichtblassen Gesichtern verteilen sich auf dem Bahnsteig. Die Nachtschicht räumt das Feld für die Tagschicht. Dazu ein paar Ruhelose auf dem Rückzug, bevor die Wirkung der Drogen verblasst und das Licht die Illusion zersiebt.

Leila entscheidet sich für einen Klappsitz. Die Türen schließen, die Pfeiler wischen an den Fenstern vorbei, dann tauchen sie in den Tunnel ein. Oft lehnt Leila sich jetzt gegen Saad und schließt für sechs Stationen die Augen. Heute nicht.

– Wer war die Frau?

– Ich weiß nicht.

Eine, die zu viele Fragen stellt.

– Die war voll schnell, oder?

– Sah so aus.

Für zwei Stationen blickt Leila in das schwarze Nichts hinter den Fenstern, dann, zwischen Amrumer und Leopoldplatz, zieht sie mit der Hand eine Linie durch die Luft, als schwimme etwas am Fenster vorbei.

Saad und Leila wohnen in der Drontheimer, Altbau, dritter Seitenflügel, zweiter Stock. Die Tür, durch die man ins Treppenhaus gelangt, ist niedriger als die im zweiten Seitenflügel, und die wiederum ist niedriger als die im ersten. Als wären die Menschen vor hundert Jahren immer kleiner gewesen, je weiter sie im Hinterhaus gewohnt haben.

Sie hängen ihre Jacken auf und stellen die Schuhe in eine Reihe mit den anderen.

– Willst du was trinken?

– Hm-m.

Saad blickt zur Tür am Ende des Flurs. Sein Zimmer. Und zugleich das Wohnzimmer. Leila hat ein eigenes, aber das ist winzig. Sie mag es trotzdem, nennt es ihre Höhle. Anderthalb Zimmer, Küche, Bad. Im Mietvertrag steht, die Wohnung habe zwei Zimmer, aber im Mietvertrag steht auch, sie habe einen Balkon.

– Willst du dich nochmal hinlegen?, fragt Saad.

Leila blickt zu ihm auf, die vielen Haarspangen wie ein Schuppenpanzer auf ihrem Kopf:

– Du bist müde, stimmt’s?

– Stimmt.

– Leg dich ruhig hin, Papa. Ich bin aber schon wach.

– Und was machst du so lange? Bis wir in die Kita gehen, dauert es noch zwei Stunden.

– Ich male was.

Saad verriegelt die Wohnungstür und stellt seinen Handywecker. Im Bett liegend betrachtet er Leila, wie sie im Schein der Tischlampe auf den Stuhl klettert und ihren Malblock und das Stiftemäppchen aus dem Rucksack zieht. Dann ist er eingeschlafen.

Geweckt wird Saad nicht von seinem Wecker, sondern von Leilas Locken, mit denen sie ihn in der Nase kitzelt. Es ist hell draußen. Sein Arm schleicht sich an, umgreift ihre Hüfte und zieht sie unter Geschrei zu sich ins Bett.

– Heute ist es so weit, flüstert er in ihr Ohr. – Heute rasier ich dir die Haare ab.

– Niemals.

– Doch, schwöre. Bis auf die Kopfhaut. Dann kannst du mich nie wieder damit kitzeln.

– Das traust du dich nicht.

– Und ob.

Leila überlegt, ob er seine Drohung womöglich wahr macht. Dann sagt sie: – Ich weiß, dass du’s nicht machst. Und weißt du auch, wieso ich’s weiß?

– Sag.

– Weil ich dann nie wieder mit dir reden würde, nie! Und das könntest du gar nicht aushalten.

Als Saad Leilas Rucksack für die Kita packt, fällt sein Blick auf ihren Malblock: ein grinsendes Pferd mit einer Nonne als Reiterin. Bis Saad versteht, dass das viele Schwarz ein Ganzkörperanzug ist.

Der Vorteil daran, im dritten Hinterhof zu wohnen, ist, dass man auf dem Weg zur Straße mit seinem Skateboard durch drei Hofdurchfahrten rollern muss. Sobald Leila in eine der Durchfahrten eintaucht, ruft sie die neuesten Wörter, die dann von den Wänden hallen.

– Käsekuchen! Nacktschnecke! Mistkäfer!

Sie hat den Rock mit dem Kirschenmuster angezogen, der immer so fliegt, wenn sie sich im Kreis dreht. Darunter trägt sie schwarze Leggins. Außerdem die Basecap, die, wenn die Sonne auf die Blende scheint und Leila die Hände vors Gesicht hält, ihre Finger orange färbt.

Als sie aus der Ausfahrt und ins Licht fährt, flammen im Morgenlicht ihre Locken auf. Sie hält an. Einen Fuß auf dem Skateboard dreht sie Saad den Oberkörper zu. Eine Bewegung, in der für einen Augenblick ihre Mutter zum Vorschein kommt, eins zu eins. Saad steht noch im Hinterhof und sieht sie durch die Einfahrt wie eingerahmt, sie und zugleich Samara, wie übereinandergelegt. Die Haare an seinen Unterarmen richten sich auf, und für die Dauer von so etwas wie drei Atemzügen ist er zugleich von Trauer gelähmt und erfüllt von Glück. Leila stemmt eine Hand in die Hüfte. Auch in dieser Pose gleicht sie ihrer Mutter. Als seien ihrem Körper Dinge eingeschrieben, von denen sie keine Ahnung hat.

– Papa, du bist so lahm wie ne Nacktschnecke!

NIHAL

Als Nihal die Haustür aufschließt, kommt ihr Frau Kasprzak mit ihrem Hund entgegen. Und sieht sie vorwurfsvoll an.

– Also Ihr Bruder … Sie lässt den Satz im Treppenhaus hängen und wendet sich ihrem Hund zu, der auch mal eine neue Hüfte gebrauchen könnte. – Komm, Balu!

Nihal nimmt zwei Stufen auf einmal und ist noch schlechter drauf, als bevor sie losgelaufen ist. Wenn sie versucht, die Schulter zu kreisen, ist da ein Punkt, an dem es ihr jedes Mal eine Nadel durchs Gelenk schiebt. Bravo, Nihal, konntest dich wieder mal nicht raushalten. Und alles wegen diesem stummen Deppen und seiner Tochter. Einfach mal die Fresse halten, wie wär’s? Steht da, als würde ihn das alles nichts angehen, während dieser Fettkloß dir die Luft rauslässt, und dann liegt der Dicke plötzlich auf dem Pflaster und rührt sich nicht, und der Typ verpisst sich.

Nihal riecht das Dope bis auf den Treppenabsatz. Als wäre ihre Nase darauf trainiert. Offenbar haben Jamie und sein Quietscheentchen noch einen durchgezogen, bevor sie endgültig in Ohnmacht gefallen sind. Sobald sie die Wohnung betritt, hat sie außerdem den Duft eines Parfums in der Nase, das nach rosa Plastik riecht, Jamies Schweißgeruch und den von Tiefkühlpizza, die zu lange im Ofen war. Die ganze scheiß Wohnung riecht nach ihrem Bruder. Ihre Wohnung. In der Küche der Stummel eines Joints auf einer Untertasse, drumherum ein hübscher Aschekranz. Über den Tisch verteilt die verbrannte Pizzakruste und eine halb leere Flasche Berliner Kindl in ihrer eigenen Pfütze.

Nihal flieht ins Bad, zieht den Reißverschluss ihres Anzugs auf, lässt das Oberteil auf die Hüfte rutschen und betrachtet ihren Körper im Spiegel: die definierten Schultern, die durchtrainierten Arme, der Sixpack. Da ist nichts Überflüssiges, nichts, das sie nach unten zieht. Alles drängt nach vorne. An ihrem Hals vorbei sieht sie etwas auf der Waschmaschine liegen. Sie dreht sich um, nimmt die blutigen Taschentücher und lässt sie ins Klo fallen. Da hatte jemand Nasenbluten. Erst Kokain, dann Gras. Rauf und wieder runter. Sie fragt sich, woher Jamie das Geld für Koks hat. Die wenigen Sachen in Nihals Wohnung, die sich zu Geld machen ließen, liegen zusammen mit ihrer Dienstwaffe im Schranktresor, Bargeld und EC-Karte inklusive. Wahrscheinlich ging das Koks auf das Konto von Quietscheentchen.

Sie wendet sich wieder der Schulter zu. Zu sehen ist nichts, aber nach zwei, drei schnellen Schlägen ist klar: Das lässt sich nicht wegmassieren. Nihal nimmt ihr Handy und schreibt Betül eine WhatsApp: Brauche Arzttermin und MRT Schulter links. Anschließend schiebt sie vorsichtig die von Jamie aus der Führung gebrochenen Plastikelemente ihrer Duschkabine ineinander und steigt in die Wanne. Sie dreht das Wasser auf. Erst so heiß, dass ihre Haut verbrennt, dann so kalt, dass ihr der Atem stockt. Dann dasselbe nochmal.

SAAD

Sobald die Kita ins Blickfeld rückt, hält Leila Ausschau nach Akonos Fahrrad. Akono ist ein Jahr älter als Leila, seine Gruppe, die Dinos, auf einer anderen Etage. Ein Umstand, den Leila als persönlichen Affront und nicht zu tolerierenden Wettbewerbsnachteil empfindet.

Akono kann Dinge, die andere nicht können, freihändig Kurven fahren zum Beispiel. Aber das ist nicht alles. Er sammelt die Schnecken aus den Büschen und lässt sie dann über sein Gesicht kriechen, wobei sie auf seiner dunklen Haut glänzende Schleimspuren hinterlassen. Das finden vor allem die Mädchen sehr aufregend, und Leila macht da keine Ausnahme. Kurz: Er ist der hot shit der Kita.

– Wenn Ako ein Hund wäre, dann wäre er mein Hund, hat Leila Saad gestanden.

Doch sein Fahrrad ist noch nicht da.

In der Garderobe sitzen zwei Kinder mit ihren Müttern, ein Junge und ein Mädchen, das Mädchen heißt Joline und wird von Leila freundlich begrüßt, den Jungen ignoriert sie. Das Symbol an ihrem Haken ist der Mond, von ihr selbst gemalt. Über den anderen Haken kleben Marienkäfer, Fuchs, Schmetterling, Katze. Leila aber wollte kein Tier, sondern etwas, das zu ihrem Namen passt. Leila heißt nämlich »Nacht« oder auch »Schönste aller Nächte«. Hat ihr Frau Gismalla erzählt, die Erzieherin in Akonos Gruppe. Und Leila hat entschieden, es zu glauben.

Sie zieht ihre Turnschuhe aus und hängt ihre Strickjacke an den Haken. Saad setzt sich nicht wie sonst neben sie auf die Bank, sondern bleibt stehen.

– Ist was, Papa?

Sie forscht in seinem Gesicht.

– Alles in Ordnung.

Er hebt sie hoch, sie schlingt ihre Arme um seinen Hals. Drücken. Dann will sie in die Gruppe.

– Bis nachher.

– Ich hol dich ab.

– Ich weiß. Du holst mich immer ab.

– Um vier bin ich da.

Sie reibt mit der Hand über die Stoppeln in Saads Nacken.

– Leg dich nochmal hin, Papa.

Ecke Osloer, gegenüber dem DRK-Klinikum, hält der 255er. Hinter dem Wartehäuschen versteckt sich Atti’s Café. Drei kleine Tische drinnen, zwei noch kleinere draußen. An der Kaffeemaschine steht Kacper, im Hinterzimmer werden die Bohnen geröstet und Kacpers Mutter backt Kuchen. Bevor Saad sich nochmal hinlegt, holt er sich einen doppelten Espresso. Sein Morgenritual.

Kacper ist Künstler, aber das weiß nur, wer bei ihm Kaffee trinkt. Neulich hat er für eine Frau, die gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden war, einen Schwan in den Milchschaum gegossen. Sah aus, als sei er direkt aus dem Paradies eingeschwebt. Die Frau hatte Tränen in den Augen. Schönheit, dachte Saad, gedeiht selbst an den hässlichsten Orten, man muss sie nur sehen.

Er weiß, dass Rituale eine Illusion sind. Sie gaukeln dir vor, dass die Dinge ihren Platz haben und du deinen Platz hast und dass sich daran nichts ändern wird. Alles Unsinn natürlich. Funktionieren tut es trotzdem. Für die Dauer eines doppelten Espressos hat Saad seinen Platz in der Welt.

Er dreht die Tasse in den Fingern. Gegenüber erstrahlt das Klinikum im Morgenlicht in all seiner biblischen Tristesse. Auf der Osloer rumpeln zwei Trambahnen aneinander vorbei. Er denkt an die Frau von vorhin, den schwarzen Anzug. An das Geräusch der Schuhe, die kaum den Boden berührten. Die war voll schnell, oder? Ja, war sie. Bis sie stehen blieb. Gibt’s ein Problem? Oh, Mann. Saad trinkt den letzten Schluck, dann bringt er die Tasse zurück ins Café.

NIHAL

Nihal geht den Behandlungsflur entlang, als sie von einer Frau angesprochen wird, die neben Zimmer 6 wartet.

– Fräulein!

Nihal bleibt stehen, dreht sich um. Die Frau sieht aus wie gefriergetrocknet.

– Ich sitze hier seit – zum Beweis blickt sie auf ihre Uhr – einer halben Stunde!

– Und?

– Wie lange soll ich denn noch warten?

– Keine Ahnung, ich arbeite hier nicht.

– Ach so?

Nihal überlässt die Frau sich selbst, geht weiter zu Behandlungszimmer 3, der VIP-Lounge der Praxis. Zimmer 3 ist für die Privatpatienten unter den Privatpatienten. Es ist hinter dem Knick am Ende des Flurs, damit, wer davor wartet, nicht den Blicken der anderen ausgesetzt ist.

Den Zimmer-3-Status verdankt Nihal zum einen der Tatsache, dass ihr Sponsorenvertrag eine Zusatzversicherung beinhaltet, zum anderen ihrer Freundin Raina, die am Empfang arbeitet. Eigentlich gibt es hinter dem Tresen keine Hierarchie, Raina ist trotzdem irgendwie die Chefin. War schon so, als sie noch zusammen zur Schule gingen. Am Ende entschied Raina, was sie machten. Und deshalb wird Nihal im selben Zimmer behandelt wie irgendwelche Schauspielstars, nachdem sie sich am Set das Knie verdreht haben.

Nihal setzt sich auf den orangeroten Designerstuhl und wartet darauf, ins Behandlungszimmer gerufen zu werden. Mit dem Zeigefinger fährt sie die Nähte des Lederpolsters entlang. Grundsätzlich findet sie Privilegien zum Kotzen. Aber so ist das: Wenn du selber davon profitierst, beschwerst du dich nicht.

Sie zieht ihr Handy heraus, ruft den Kontakt ihres Dienstgruppenleiters auf und überlegt, was sie ihm schreiben soll. Allein der Umstand, dass sie erst überlegen muss, macht, dass Nihals Bein anfängt zu zucken. Statt ihm einfach zu schreiben, dass sie sich verletzt hat und beim Arzt sitzt. Aber so einfach ist es nicht. Bernd Schäfer ist einer, der es gut mit ihr meint, gerecht ist, der zwar voll die Midlife-Crisis schiebt, weil ihm die Haare ausgehen und er ein paar Kilo zu viel drauf hat, der aber niemand anderem die Schuld dafür gibt.

In schwachen Momenten muss Nihal sich eingestehen, dass Schäfer etwas bei ihr auslöst. Hat mit Geborgenheit zu tun, Akzeptanz, Gesehen-Werden. Die Wahrheit ist: Nihal will Schäfer nicht nur nicht enttäuschen, sie will von ihm gemocht und gelobt werden. Und diese SMS wird ihn enttäuschen. Ihr erster Impuls ist also, sich zu entschuldigen. Weil sie sich die Schulter verletzt hat, als sie versucht hat, ein kleines Mädchen zu beschützen. Kann echt nicht sein.

Hab mich an der Schulter verletzt und sitze beim Arzt. Melde mich später. Gruß Nihal.

Doktor Ritter ist einer, der gerne in Kameras lächelt. Statt eines Kittels trägt er ein weißes Polohemd, damit seinen Patienten der flache Bauch und seine Bizepsadern nicht entgehen. Bei Raina funktioniert es, die findet ihren Chef hot. Aber bei Raina funktionieren auch tiefergelegte Autos, Sixpacks, Typen auf dem Drahtseil.

Als er Nihals Schulter inspiziert, steigt ihr der wohldosierte Geruch von Kokoshaargel in die Nase.

– Ab in die Röhre, sagt er und begleitet Nihal zum MRT.

Eine halbe Stunde später sitzen sie sich wieder gegenüber. Das MRT bestätigt, was Ritter zuvor diagnostiziert hat. Auch das gefällt ihm: Befunde, die ihn bestätigen.

– Schonung, befiehlt er. Und weil er weiß, wen er vor sich hat: – Oberstes Gebot.

– Mein Lieblingswort, zischt Nihal.

Ritter lächelt sein Gewinnerlächeln. Hat was Gönnerhaftes, wie immer bei Gewinnern. – Welches? Schonung oder Gebot?

– Beides Kacke.

Sein Lächeln ist unzerstörbar. – Zweimal täglich 75 Milligramm Diclo, und in einer Woche sehen wir uns wieder. Und wenn sich das bis dahin nicht beruhigt hat, weil Sie das Gelenk nicht geschont haben, dann werde ich dafür sorgen, dass Ihnen nichts anderes übrig bleibt, als es zu schonen.

– Ich bin mitten in der Vorbereitung auf die Olympiaquali.

– Deshalb werden Sie die Schulter ja auch schonen. Sonst wird es nämlich nichts mit der Quali.

– Du khelager yes, knurrt Nihal. Du spinnst doch. – Laufen?, fragt sie.

– Solange Sie nicht auf den Händen laufen.

Ärzte und ihre Späßchen.

– Seilspringen?

– Besser nicht.

– Pfff …

Nihal wendet den Kopf ab, als hätte Ritter ihr Ammoniak unter die Nase gehalten.

Um ihrer Freundin die Krankschreibung zu geben, kommt Raina hinter dem Tresen vor. Sie trägt dasselbe mintfarbene Poloshirt wie ihre Kolleginnen, nur dass es bei ihr enger anliegt als bei den anderen. Nihal weiß, dass Raina und Dr. Ritter nach Feierabend gerne mal auf der Behandlungsliege in Zimmer 3 zugange sind. Ist ihr schleierhaft. Und geht sie nichts an. Jeder, wie er will.

– Lass mal wieder was machen, sagt Raina.

Dabei wissen sie beide ganz genau, dass sie nicht mal wieder was machen werden. Genauso wenig wie beim letzten oder vorletzten Mal. Wann ist das passiert, überlegt Nihal, dass alles, was Raina und sie noch verbindet, ihre Vergangenheit ist?

– Ja, klar.

BRASCH

Phillipp Brasch, zwei I, zwei L, zwei P – wir nehmen, was wir kriegen können, wie sein Vater noch heute gerne sagt –, zieht die Line vom Display seines Smartphones, wartet auf das Taubheitsgefühl im Rachen. Als er merkt, wie sich die Kopfhaut zusammenzieht und die Synapsenregler hochfahren, checkt er sein Gesicht im Rückspiegel und fingert sich die Haare in Position. Bis jetzt sind weder Müller noch sein Unterhändler eingetroffen. Was psychologisch suboptimal ist. Eigentlich sollte Brasch derjenige sein, der die anderen warten lässt. Aber scheiß auf psychologische Manipulationstechniken. So oder so wird er den beiden gleich den Arsch aufreißen.

Die Lippen geschlossen lupft Brasch probeweise den linken Mundwinkel an, bis sich auf einer Seite sein Grübchen zeigt. Ein Versprechen. Ladykiller. Einziges Problem sind die geröteten Augenränder. Die meisten von Braschs Kollegen führen es auf die viele Arbeit zurück, sein Ruf als Overperformer reicht längst über das Ministerium hinaus. Der geübte Beobachter aber erkennt: Brasch sollte dringend seinen Drogenkonsum zurückfahren.

Für die Mengen an Koks, die er sich in letzter Zeit reinzieht, ist Brasch deutlich zu alt. Weiß er selbst. Da geht ganz schön was durch. Mit 28, wenn die Party von Freitagabend bis Sonntag früh dauern soll – logisch, rein damit. Mit 38, wenn deine Wochenenden mit Telefonaten und Terminen gefüllt sind – outdated. Aber Brasch steht unter Druck. Gut, ist nichts Neues. Brasch steht schon sein ganzes Leben unter Druck, hat ihn mit der Muttermilch eingesogen. Allerdings kommt der Druck seit einiger Zeit nicht mehr nur von innen, sondern auch von außen. Der Druck ist also einer, der nicht weggeht, wenn man nicht kokst. Das Beste, was du in so einer Situation tun kannst, ist, die Welle zu reiten. Und da hilft Koks ungemein.

Im Seitenspiegel sieht Brasch einen schwarzen A8 auf den Parkplatz einbiegen, Müller, Zeit wird’s, direkt gefolgt von einem Porsche Cayenne mit sandfarbenen Ledersitzen. Dass Müller und sein Unterhändler hier in Kolonne auftauchen, fühlt sich nicht gut an. Haben die sich vorher besprochen? Brasch entscheidet, dass ihm das egal ist. Ein letzter Blick in den Rückspiegel, dann öffnet er die Tür, steigt aus – Nieselregen weht ihm ins Gesicht – und steuert mit dynamischen Schritten Müllers A8 an. Wenn er schon als Erster beim Treffen ist, will er gleich die dazugehörige Message aussenden: Offensive.