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Das grausame Verbrechen an einem ebenso talentierten wie teuren Rennpferd verbreitet blankes Entsetzen bei Trainern und Besitzern. Kommissar Nerhus nimmt die Ermittlungen auf, die ihn sehr schnell in nicht gekannte Tiefen des Galopprennsports führen. Agent Lester O`Brien gerät in den Focus von Betrügern und gegen Jockey Mike Leonhard wird ein Mordanschlag verübt. Als der Hauptverdacht auf den Vorbestraften Dietrich Deters fällt, scheint der Täter gefasst zu sein. Doch kurz darauf erschüttert ein weiteres schreckliches Verbrechen die Vollblutszene des Galopperverbandes, dem einige zwielichtige Gestalten angehören. Der Autor gibt bekannt, das in diesem Buch Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen nicht gewollt sind und rein zufällig wären.
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Seitenzahl: 344
Veröffentlichungsjahr: 2019
Heinz Tölle
Die Halsabschneider
Tiefen des Galopprennsports
© 2019 Heinz Tölle
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback
978-3-7482-2368-9
Hardcover
978-3-7482-2369-6
e-Book
978-3-7482-2370-2
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Danke!
Ich danke meiner Frau Uschi, für ihre Geduld und die Unterstützung bei der Realisierung dieses Projektes.
Kapitel 1
Eben hatte sie noch tief und fest geschlafen. Warum sie hochgeschreckt war, wusste sie in diesem Moment noch nicht. Langsam kam sie zu sich, der Schlaf verschwand aus ihrem Kopf und sie nahm die Geräusche wahr, die aus dem gegenüberliegenden Stallgebäude kamen. Schnell hörte sie es deutlicher und konnte es auch zuordnen. Da ist etwas passiert, fuhr ein schrecklicher Gedanke durch ihren Kopf. Die Pferde schlugen gegen die Boxenwände und wieherten laut. Uschi Willems stieß Ihrem Mann den Ellenbogen in die Rippen. „Herbert, hörst du das nicht? Komm, steh auf, sieh nach, was da los ist."
Herbert Willems war mit einem Schlag hellwach. Auch er hörte jetzt das schrille Wiehern der Pferde und das zersplitternde Holz der Boxenwände. Die Tiere schlugen wild um sich und die Töne, die sie von sich gaben, hörten sich an wie das Schreien von Menschen, die vor Todesangst in Panik geraten sind. Jetzt, um 05.00 Uhr früh, konnte er sich nicht vorstellen, was die Pferde erschreckt haben könnte. Feuer, es ist Feuer, kam es ihm in den Sinn und Angst überfiel ihn. Blitzschnell schmiss er seine Zudecke zur Seite, sprang aus dem Bett, schlüpfte in seine Latschen, stürmte die Treppe hinunter, riss die Tür auf und rannte aus dem Haus. Er musste sich erst kurz orientieren, da an diesem Morgen der Nebel die Oberhand besaß und nur der Giebel des Pferdestalls aus dem Dunst hervorlugte. Es war das größte Gebäude auf dem Hof, höher, als die links und rechts angrenzenden Stroh- und Heuschober, die im Nebel versunken schienen.
Schnell lief er, nur mit einem Slip bekleidet, zum Stallgebäude hinüber. Als er sich dem Stall bis auf wenige Meter genähert hatte, sah er, dass die Eingangstür einen Spalt breit offen stand. Er stutzte und blieb einen Moment lang stehen. Irgendetwas stimmt hier nicht, dachte Willems. Wieso ist die Tür geöffnet, ich hab den Stall gestern Abend doch selbst abgeschlossen. Er sah sich den Eingangsbereich genauer an und entdeckte das aufgebrochene Vorhängeschloss, das auf dem steinigen Boden direkt vor der Tür lag. Misstrauisch ging Willems auf die Stalltür zu und versuchte vorsichtig den rechten Flügel so weit zu öffnen, dass er mit seinem Oberkörper hindurchpasste. Die verrosteten Scharniere knarrten ungewöhnlich laut, als er die Tür nach außen hin langsam öffnete. Er traute sich kaum zu atmen, während er in den Stall hinein lauschte. Aber außer den tobenden und wiehernden Pferden konnte er keine anderen Geräusche wahrnehmen. Weder Flammen noch Rauch kamen ihm entgegen und er war froh, dass sich seine Befürchtung, der Stall könne brennen, nicht bewahrheitet hatte. Aber was war der Grund für die Panik der Pferde? Ich muss vorsichtig sein, dachte er. Instinktiv zog er die Füße aus seinen alten Tretern und schlich sich barfuß, fast auf Zehenspitzen, durch die halb geöffnete Tür in den dunklen Stallgang hinein. Sofort presste er sich mit dem Rücken fest an die Wand. Kalter Beton ließ ihn erschauern und sein Herz füllte sich mit Angst. Er kniff die Augen zusammen und versuchte das Dunkel zu durchdringen, aber er konnte nichts erkennen. Es war alles nur schemenhaft und andeutungsweise zu erahnen. Ich brauche Licht, dachte Willems und tastete die Wand ab. Seine Finger erfühlten zunächst eine Steckdose, dann zwei Lichtschalter. Der obere war für die Außenbeleuchtung, der untere für die Stallgasse. Aufmerksam beobachtete er seine Umgebung, wollte auf das gefasst sein, was ihn erwartet, wenn es hell wurde. Sein rechter Zeigefinger senkte sich, um den Schalter für die Leuchten der Stallgasse zu betätigen. Doch es gelang ihm nicht. Den Schlag, der ihn mit Wucht im Genick traf und ihn niederstreckte, nahm er schon nicht mehr wahr.
Uschi Willems hatte sich ihren Morgenmantel übergezogen und war hinter ihrem Mann her ins Freie gelaufen. Kaum hatte sie sich auf die Terrasse Ihres Hauses begeben, sah sie gerade noch die verschwommenen Umrisse ihres Mannes durch den Nebel, bevor dieser den Stall betrat. Sie wollte ihm noch zurufen aufzupassen, vorsichtig zu sein oder besser sofort die Polizei zu verständigen, aber dafür war es bereits zu spät, denn noch bevor sie etwas sagen konnte, schlich er in den Stall hinein. Uschi Willems beobachtete mit zusammengekniffenen Augen die Stalltür, wartete darauf, dass sie sich öffnete, ihr Mann herauskam und ihr zurief, dass alles in Ordnung sei. Die Sekunden des Wartens zerrannen so zäh, als wäre die Zeit stehen geblieben. Sie konnte die Anspannung kaum ertragen und wollte gerade hinübergehen, um nach ihm zu sehen, als plötzlich die Tür so heftig aufgestoßen wurde, dass beide Flügel gegen die Stallwand krachten. Uschi Willems hielt geschockt den Atem an, als sie durch den Nebel zwei dunkel gekleidete Männer aus dem Stall stürmen und ins Freie laufen sah. Wie Schatten, tief nach vorne gebeugt, rannten sie durch die Nebelschwaden hindurch um das Gebäude herum und verschwanden in dem angrenzenden Waldstück. Einzelheiten konnte sie nicht erkennen, dafür ging alles viel zu schnell, und aus dieser Entfernung war die Sicht zu schlecht. Sie zitterte vor Angst. Was hatten die Männer mit ihrem Mann gemacht? Hatten sie ihn verletzt oder gar getötet? Warum meldete er sich nicht, warum kam er nicht einfach aus dem Stall heraus? Sie musste es wissen, musste nachsehen, brauchte die Gewissheit, dass es ihm gut geht. Ängstlich, aber entschlossen, ging sie langsam zu dem Stallgebäude hinüber, immer darauf gefasst, dass ihr ein Eindringling entgegenkommt und sie angreifen könnte. Bei diesen Sichtverhältnissen wäre sie bei einem Überraschungsangriff ein leichtes Opfer. Die Furcht nagte an ihr und sie überlegte, ob sie nicht ins Haus zurückgehen und die Polizei anrufen solle. Aber die Sorge um ihren Mann war stärker. Sie wollte zu ihm, musste ihm helfen. Sie ging tapfer weiter und erschrak heftig, als die Stalltür sich knarrend und quietschend im Wind bewegte. Trotz der morgendlichen Kühle bildeten sich Schweißperlen auf ihrer Stirn, aber sie bewegte sich mutig vorwärts. Nur wenige Meter von der Stalltür entfernt, rief sie seinen Namen.
„Herbert, hörst du mich? Was ist mit dir?" Keine Antwort. Totenstille umgab sie. Selbst die Pferde schienen den Atem angehalten zu haben und lauschten der angespannten Situation. Kein Laut war zu hören, als Uschi Willems den Stall betrat. Sie konnte zunächst nichts erkennen, da die Leuchtstoffröhren nicht eingeschaltet waren und die Morgendämmerung den Nebel noch nicht vertrieben hatte, sodass von draußen keine Helligkeit hereinkam. Ganz allmählich gewöhnten sich Ihre Augen an das halbdunkel im Stall und sie konnte sehen, dass im linken Teil des Stalltraktes alles in Ordnung war. Die zweigeteilten Boxentüren waren im oberen Teil geöffnet und die Pferde hatten sich wieder beruhigt. Einige von ihnen lugten über die verschlossene untere Tür hinweg neugierig zu ihr hinüber, andere hatten den Kopf unten und suchten im Stroh nach den Resten der Heuration des Vorabends. Als ihre Augen in den rechten Teil des Stalles hinüber schwenkten, sah sie zunächst ebenfalls friedlich fressende, aber auch interessiert blickende Pferde, die scheinbar gespannt den weiteren Verlauf der Ereignisse verfolgen wollten. Ihr Blick glitt aufmerksam die Boxenreihen und den Stallboden entlang und jäh stieß sie einen kurzen Schrei aus und alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. Nur wenige Meter vor ihr kam er urplötzlich in ihr Blickfeld. Er lag lang ausgestreckt auf dem Bauch und rührte sich nicht. „Herbert“, schrie sie, machte zwei Schritte auf ihn zu und kniete sich neben ihren Mann. Aus einer Wunde am Hinterkopf sickerte Blut und verklebte die Haare. Sie tastete die Wunde vorsichtig ab und fühlte, dass ihm mehrere Zentimeter Kopfhaut fehlten. „Herbert, wach auf.“ Sie rüttelte ihn an den Schultern und schrie ihn an. Panik erfasste sie. Warum rührt er sich nicht? Ihre Gedanken spielten verrückt. Beweg dich endlich, dachte sie, komm, lass den Quatsch und beweg dich endlich. Sie schrie lauter, fast kreischend: „Herbert, hörst du mich denn nicht?“
Aber er hörte sie. Die Dunkelheit verschwand quälend langsam aus seinen Augen und er versuchte blinzelnd die Umgebung zu erkennen und sich an das zu erinnern, was passiert war. Nach schier endlos langer Zeit erfasste sein getrübter Blick einen Menschen an seiner Seite und bald erkannte er, dass es seine Frau war, die daneben ihm kniete. Sie ließ ihm Zeit sich zu finden, sah, wie langsam wieder etwas Farbe in sein blasses Gesicht zurückkam.
„Ist gut Uschi“, sagte nach einer Weile eine Stimme, die unmöglich von ihm kommen konnte. Zumindest kam sie ihm völlig fremd vor. Sein trockener Hals erschwerte ihm das Sprechen und er verspürte starken Durst. Stückweise kam ihm immer mehr zu Bewusstsein, wo er war und warum er in den Stall gegangen ist. Die Pferde, schoss es durch seinen lädierten Kopf. Was ist mit den Pferden? Mühsam schob er sich in die Höhe, hielt sich an der Stallwand fest und hatte Angst, dass ihm der brummende Schädel zerbricht, wenn er ihn schneller bewegen würde als eine Schnecke kriechen kann. Er knipste das Licht an, sah sich mit ruhigen Bewegungen um und erkannte, dass die Boxentür von seinem Hengst Bolivien Star geöffnet war. So schnell es der stechende Kopfschmerz zuließ, ging er zu der Boxe, um nach dem Pferd zu sehen. Bei jedem Schritt schmerzte sein Schädel und blinkende Sterne tanzten wie wild vor seinen Augen. Er merkte, wie ihm langsam übel wurde. Diese Übelkeit verstärkte sich noch, als er das tote Pferd im blutbesudelten Stroh liegen sah. Wie die Berserker mussten die Männer gewütet haben. Der Pferdehals bestand nur noch aus Fetzen und der Kehlkopf war durchtrennt. Das Tier war fast völlig ausgeblutet und das Stroh war rot getränkt und schwamm in dem auslaufenden Lebenssaft. Mit weit aufgerissenen Augen lag Bolivien Star in seiner eigenen Blutlache und würde nie mehr aufstehen. Er war ein Hengst, der gestern noch vor Kraft und Energie strotzte und voller Bewegungsfreude seine Trainingseinheiten absolviert hatte. Er war ein Vollblüter, der bei seinen bisherigen Starts in Galopprennen bereits ansprechende Ergebnisse erzielt hatte und dem man eine überdurchschnittlich erfolgreiche Karriere als Rennpferd voraussagte. Dieser Vollblüter war bis zu diesem Zeitpunkt ein Hoffnungsträger im Stall von Trainer Willems gewesen, ein zukünftiger Champion, den man nun auf brutalste Weise abrupt und endgültig ausgebremst hatte. Uschi Willems war ihrem Mann zu der Boxe gefolgt. Sie konnte das, was sich ihren Augen bot, nicht mit ansehen. Sie konnte nicht verkraften, dass zwei Männer ein Pferd so bestialisch abgeschlachtet hatten.
Das viele Blut, die durchschnittene Kehle und der zerhackte Pferdehals waren Ekel erregend. Sie wandte sich ab, rannte aus der Tür zu der Hecke, die den rechten Teil des Stallgebäudes umsäumt, und übergab sich. Dieses Verbrechen war ein Schock für sie und Tränen rannen über ihr noch jugendlich aussehendes Gesicht, aber sie wusste, dass sie jetzt handeln musste. Selbst in diesem Moment, in dem sie von Trauer, Zorn und Schmerz übermannt wurde, gewann sie schnell die Kontrolle über sich zurück. Ich muss einen Arzt holen und die Polizei, fuhr es ihr durch den Kopf. „Herbert, bleib wo du bist, ich rufe den Notarzt“, rief sie in den Stall hinein. So schnell sie konnte, lief sie zum Wohnhaus hinüber, schnappte sich ihr Handy, das wie immer im Flur auf der Kommode lag, und wählte die Notrufnummer 112. Fast atemlos aber präzise berichtete sie, was vorgefallen war, nannte ihren Namen und die Adresse und bestand darauf, dass, aufgrund der schweren Verletzung ihres Mannes, auch ein Arzt kommen sollte. Wenn man den nicht ausdrücklich verlangte, wusste sie, kamen immer nur die Sanitäter. Und ob deren Kenntnisse ausreichen würden, um Ihren Mann entsprechend medizinisch zu versorgen, zog sie in Zweifel.
Nachdem Sie aufgelegt hatte, ging sie sofort wieder zum Stallgebäude zurück. Als sie erneut den Stall betrat, sah sie zunächst nur die Füße ihres Mannes aus der Boxe des getöteten Pferdes heraus ragen. „HERBERT“, schrie sie, zu Tode erschreckt, und ihre Beine fingen an zu zittern. Das halte ich nicht aus, dachte sie, das kann doch nicht sein. Ihr Geist kapitulierte langsam und nahm ihr einen großen Teil ihrer seelischen Kraft. Tränen schossen ihr in die Augen und ihr Hals fühlte sich an, als hing ein steckengebliebener Medizinball darin fest.
„Herbert, Herbert“, rief sie verzweifelt seinen Namen. Sie lief zu ihm und sah, dass er bewusstlos war, doch sein Oberkörper bewegte sich zaghaft im Takt seiner flachen Atemzüge. Er lag halb auf dem verendeten Pferd, die Beine im blutgetränkten Stroh. Gerade, als sie ihren Mann ansprechen wollte, fing er an sich zu regen. Sein Atem ging schwer und sie wusste, dass er starke Schmerzen hatte. Seine Lider flackerten und die Brauen zuckten, als er mühsam versuchte seine Augen zu öffnen. Wie durch eine Dampfwolke hindurch sah er die schemenhaften Umrisse seiner Frau. Erst ganz allmählich verschwanden diese Nebelwände und sein Blick wurde klarer. Er stöhnte laut auf, als er seinen Kopf in die Richtung seiner Frau drehte. Sofort wurde ihm wieder schwindelig, aber er riss sich zusammen. Nur nicht wieder Wegkippen sagte er sich. Bleib wach Junge, bleib nur schön wach. Er konzentrierte sich auf seine Frau: „Hilf mir hoch, Uschi. Wir müssen die Polizei verständigen“, presste er mit schmerzverzerrtem Gesicht die Worte heraus.
„Lass mich das machen. Komm ins Haus, du musst dich hinsetzen. Der Notarzt wird gleich hier sein und sich um dich kümmern“, antwortete sie mit Tränen erstickter Stimme und griff ihm unter die Arme. Mit ihrer Hilfe und an der Stallwand abgestützt, kam er langsam hoch und stand unsicher auf seinen wackeligen Beinen.
„Komm, leg einen Arm um meine Schultern“, bot sie ihm ihre Unterstützung an. Dankend nahm er die Hilfe in Anspruch, denn er wusste, dass seine Frau genügend Kraft besaß, um ihn bis zum Wohnhaus bringen zu können. Er hielt sich an ihr fest und gemeinsam gingen sie mit langsamen Schritten hinüber. Er mit qualvoll verzogenem Gesicht und sie mit angstvoll aufgerissenen tränen feuchten Augen. Sie führte ihn ins Wohnzimmer und nachdem sie die Tagesdecke ausgebreitet hatte, setzte Uschi Willems ihren Mann auf das Sofa. Sie drückte ihm ein Kissen in den Rücken und riet ihm, möglichst gerade zu sitzen und vor allem wach zu bleiben. Dann ging sie in den Flur, nahm das Telefon von der Kommode und rief die Polizei an. Als der Beamte sich meldete, sprudelte es förmlich aus ihr heraus.
„Sie müssen sofort kommen, mein Mann ist brutal niedergeschlagen worden und zwei Männer haben eines unserer Rennpferde abgeschlachtet“, berichtete Sie aufgeregt.
„Überfall auf Ihren Mann? Ein Rennpferd abgeschlachtet? Aus welchem Stall, von wo rufen Sie an und wer sind Sie?“, fragte der Polizist. Mit zittriger Stimme beantwortete Uschi Willems die Fragen zu Standort und Personalien.
„Was genau ist passiert? Beruhigen Sie sich und erzählen Sie alles der Reihe nach“, forderte der Beamte sie in ruhigem Ton auf. Uschi Willems holte einmal tief Luft und versuchte, sich auf das wesentliche zu konzentrieren. Sie berichtete von dem morgendlichen Lärm im Pferdestall, vom Überfall auf ihren Mann und dem getöteten Pferd, das blutüberströmt in seiner Boxe lag. Sie versicherte glaubhaft, dass es zwei Männer gewesen sind, die aus dem Stallgebäude geflüchtet und im angrenzenden Waldstück verschwunden waren. Und Sie erwähnte die erneute Bewusstlosigkeit ihres Mannes und das sie den Notarzt bereits angefordert hatte.
„Wissen Sie in welche Richtung die Täter geflüchtet sind?“
„Ja, durch den Forstwald in Richtung Autobahn. Die A 4 ist nur etwa vier Kilometer von hier entfernt.“
„Konnten Sie die Männer erkennen oder sind Ihnen die Männer bekannt?“
„Nein, natürlich nicht“, antwortete Uschi Willems, schon leicht genervt.
„Um welche Uhrzeit sind die Verbrechen geschehen?“, hakte der Polizist nach.
„Hab ich das nicht schon gesagt? Gegen fünf Uhr heute früh.“ „Also vor einer halben Stunde. Wissen Sie, mit was für einem Fahrzeug die Männer unterwegs sind?“
„Wie soll ich das wissen? Die sind durch den Wald gelaufen, nicht gefahren. Wenn sie ein Auto hatten, dann stand das auf einem dieser Parkplätze auf der anderen Seite des Waldstücks. Warum stellen Sie mir diese dummen Fragen? Schicken Sie endlich jemanden her, der sich darum kümmert, dass diese Pferdemörder gefasst werden“, endete sie ziemlich gereizt.
„Ist ja gut Frau Willems, die Kollegen sind gleich bei Ihnen“, versuchte der Beamte die Frau zu beruhigen. „Bleiben Sie dem Tatort fern, wir müssen erst die Spuren sichern, bevor Sie sich wieder dahin begeben dürfen.“ Obwohl sie wusste, dass er es nicht sehen konnte, nickte sie stumm. Dann legte sie den Hörer auf und ging zu ihrem Mann. Sie war nervlich völlig fertig und am Ende ihrer Kraft.
Kapitel 2
Nackt kam Ricarda aus dem Bad, frisch geduscht und bereit für die nächste Runde. Sie liebte Sex wie nichts anderes auf dieser Welt. Nie konnte sie genug davon bekommen und sie war froh, dass sie mit Tobias Nerhus einen ungewöhnlich agilen Freund hatte. Einen Mann, der die Erotik ebenso liebte wie sie, und der die ganze Nacht durchhalten konnte, unbegrenzte Kondition zu haben schien. Sie hatte kein Handtuch benutzt, mochte es, wenn die Körpertemperatur die feuchte Haut trocknete. Dieses Kribbeln, das sich dabei entwickelte, ließ sie wohlig erschauern und ihre Brustwarzen steif werden. Ricarda betrat das Schlafzimmer und schritt mit wippenden Bewegungen auf Tobias zu. Er lag auf dem Rücken in seinem Designer Rundbett und sah auf ihre wohlgeformten festen Brüste. Ihre Brustwar-zenvorhöfe waren so groß wie kanadische Silberdollar. Die Nippel waren hart und standen zwei Zentimeter weit in den Raum hinein. Sein Blick wurde gierig, als sie sich langsam auf ihm niederließ und in seinen Lenden spürte er das vertraute Verlangen nach ihrem heißen Körper. Einige vereinzelnde Wassertropfen liefen über ihr Becken hinunter, bis zu den Innenseiten ihrer samtenen Oberschenkel. Er spürte ihre Feuchtigkeit, als sie sich mit ihrer glattrasierten Haut auf seinen Brustkorb setzte und langsam begann, sich auf ihm zu rekeln. Seine Hände glitten automatisch zu ihren festen Pobacken und massierten sie sanft. Nach einer Weile griff er an ihre Hüften, hob sie kurz an und genoss ihren leisen Aufschrei, den sie immer von sich gab, sobald er in sie eindrang. Er wusste, wie sehr sie es liebte, auf diese Art befriedigt zu werden und er spürte, wie gut es ihm selbst tat. Allmählich fing sie leise an zu stöhnen und er intensivierte seine Aktivitäten um sie noch mehr in Ekstase zu bringen. Lange wird es nicht mehr dauern, gleich habe ich dich da, wo ich dich hin haben möchte, dachte er lustvoll, nachdem ihr Stöhnen lauter und ihre Bewegungen heftiger geworden waren. Ihre Erregung steigerte sich dramatisch und sie näherte sich rasant dem Höhepunkt, als plötzlich ein unglaublich schriller Ton das Liebesspiel beendete. Tobias´ Funkmelder war losgegangen. In einer Lautstärke, die jedes andere Geräusch deutlich übertönte. Ausgerechnet das Martinshorn hatte sich Nerhus als Klingelton ausgesucht. Vor Schreck wäre sie fast aus dem Bett gefallen. Tosender Lärm drang an ihre Ohren und nahm ihr jede Lust auf das, was sie kurz zuvor noch so genossen hatte. Ricarda befreite sich von ihm, stand auf und ging mit vor Wut verzerrtem Gesicht zum Wohnzimmertisch hinüber. Da lag das Ding und wollte nicht aufhören ins Martinshorn zu blasen.
„Das ist ja furchtbar, schalte das Teil endlich aus“, schimpfte sie und hielt es ihm hin. Nerhus trat neben sie, nahm das Gerät, drückte den AUS-Knopf und sah auf das Display. Die Nummer vom Präsidium leuchtete auf.
„So ein Mist, ich muss da sofort anrufen. Hätten die nicht noch zehn Minuten warten können?“, fluchte er.
„Zwei hätten mir auch gereicht. Mensch war ich gerade geil. So was blödes aber auch. Du solltest dich nach einem anderen Beruf umsehen, einen ohne Pieper, Bereitschaftsdienst oder sonstige Störungen in deiner Freizeit. Und dann noch Tatütata als Klingelton, du spinnst doch“, machte sie ihrem Unmut Luft.
„Das der Funkmelder auf volle Lautstärke gestellt war, ist ein Versehen. Hab das Rädchen offenbar in die falsche Richtung gedreht, eigentlich wollte ich auf Stumm schalten. Tut mir echt leid Ricarda“, entschuldigte sich Tobias bei seiner Freundin.
„Schon gut, sagte sie ernüchternd. Jetzt ist es sowieso zu spät. Passiert ist passiert.“
„Das stimmt allerdings, trotzdem ärgert es mich. Warte bitte einen Moment, ich muss erst telefonieren.“
Er nahm sein Diensthandy zur Hand und drückte drei Sekunden lang die voreingestellte eins, die ihn automatisch mit dem Kriminalkommissariat verband.
Tobias Nerhus hatte als Kind ein einschneidendes Erlebnis gehabt, welches dafür gesorgt hatte, dass er in den Polizeidienst eintrat. Der Überfall auf seine Nachbarin Frau Schöne, eine damals 76- jährige Dame, die unmittelbar vor ihrer Wohnungstür niedergeschlagen und ihrer Handtasche beraubt worden war, war für seinen späteren beruflichen Weg ausschlaggebend. Als Junge hatte er hin und wieder für diese nette ältere Dame eingekauft und sich auf diese Weise ein bisschen Taschengeld hinzuverdient. Selbst heute noch kann er kaum nachvollziehen, dass jemand dieser lieben Frau derartiges antun konnte. Frau Schöne hatte durch den Überfall erhebliche Hautabschürfungen und Prellungen davongetragen und musste eine Zeitlang starke Schmerzmittel einnehmen. Mit ihrer Handtasche verschwand auch ihr Haushaltsgeld, mit dem sie den folgenden Monat ihren Lebensunterhalt bestreiten wollte. Da sie nicht mehr so gut zu Fuß war, hob sie ihre gesamte Rente, immer am Monatsanfang, in nur einem Betrag von ihrem Konto ab, so dass sie den beschwerlichen Weg zu ihrer Hausbank nur alle vier bis fünf Wochen zu bewältigen hatte. Vielleicht war es Zufall, dass der Täter das Geld erbeuten konnte, vielleicht hatte er die Rentnerin aber auch über einen längeren Zeitraum beobachtet und gewusst, dass sie sich stets am Monatsbeginn einen größeren Geldbetrag von der Bank holte. Eine Antwort auf diese Frage gab es bis heute nicht, da der Täter nie ermittelt wurde. Nerhus hatte damals mitbekommen, dass sich Frau Schöne Geld von Ihrer Schwester leihen musste, um sich für die nächsten 30 Tage wenigstens mit Lebensmitteln eindecken zu können. Es war der alten Dame sehr peinlich diesen Weg gehen zu müssen und es dauerte Monate, bis sie den Schock, den sie durch den Übergriff erlitten hatte, verarbeiten konnte. Sie tat dem kleinen Tobias leid und seit diesem Ereignis war dem Jungen klar, dass er Polizist werden wollte. Er war fest entschlossen, sämtliche Verbrecher dieser Welt einzufangen und für immer ins Gefängnis zu bringen. Das war ein ehrenwertes Vorhaben für einen Jungen in seinem Alter, doch sollte sich in Nerhus´ beruflicher Laufbahn herausstellen, dass es mit dem Einfangen krimineller Subjekte nicht so einfach war, wie er es gerne gehabt hätte.
Nerhus´ Eltern waren vor vier Jahrzehnten aus Norwegen nach Deutschland gezogen. Sein Vater, Konsul Henrik Nerhus, war von seinem Heimatland zur Königlich Norwegischen Botschaft nach Berlin gesandt worden. Acht Jahre später wurde der Umzug nach Düsseldorf vollzogen, wo Nerhus´ Vater bis zur Pensionierung für das Königlich Norwegische Honorargeneralkonsulat tätig war.
Gerne hätte sein Vater gesehen, dass der einzige Sohn eine ähnliche Karriere anstrebt wie er selbst. Aber nach der Trennung der Eltern, hatte die Mutter das Sorgerecht über Tobias bekommen und sich entschlossen, ihren Jungen selbst entscheiden zu lassen, welchen beruflichen Weg er einschlagen wolle. Sie bezog mit ihm in Düsseldorfs bester Lage, nur wenige Gehminuten vom Unterbacher See entfernt, in einem Neubau, eine große Mietwohnung, in dem außer ihnen und zwei weiteren Familien, auch Frau Schöne wohnte. Das, was sich der kleine Tobias vorgenommen hatte realisierte er, als er ins entsprechende Alter kam. Nerhus schlug die Polizeilaufbahn ein und ging diesen Weg konsequent. Mittlerweile war er bei der Kripo und trotz unregelmäßiger Arbeitszeiten, der vielen Überstunden und der Gefahren, denen er sich aussetzte, fühlte er sich in seinem Beruf sehr wohl und war bemüht, seine Karriere weiter voranzutreiben.
Nach dem zweiten Klingeln hob der Beamte, der im Kommissariat saß und kurz zuvor Nerhus und Ricarda massiv gestört hatte, den Hörer ab, dankte dem Kommissar für den Rückruf, informierte ihn über die schrecklichen Geschehnisse auf Trainer Willems Stallgelände und bat ihn, sich umgehend um diesen Fall zu kümmern.
„Die Spurensicherung ist bereits unterwegs zum Tatort“, sagte der Polizist abschließend.
„Ich bin in zwanzig Minuten dort“, antwortete Nerhus und erntete einen enttäuschten Blick von Ricarda.
Kapitel 3
Paul Sheridan, ein Arbeitsjockey, der gleichzeitig auch die verantwortliche Position des Trainerassistenten im Rennstall von Herbert Willems bekleidete und zusätzlich als Futtermeister tätig war, fuhr auf das Stallgelände und stellte seinen Audi auf dem angestammten Parkplatz neben dem Heuschober ab. Es war 05: 45 Uhr. In einer Viertelstunde war Arbeitsbeginn und wie immer war Sheridan der Erste am Stall. Schon seit mehr als zehn Jahren war er die rechte Hand von Trainer Willems. Stets zuverlässig, kompetent und im positiven Umgang mit Pferden und Personal kaum zu übertreffen. Seine ersten Handlungen morgens bestanden aus Routinearbeiten. Zunächst schloss er die Stallungen auf, dann betrat er jede einzelne Boxe und sah nach, ob die Pferde ihren Hafer und das weitere Kraftfutter über Nacht gefressen hatten. Anschließend kontrollierte er die zartbesaiteten Beine dieser empfindlichen Vollblüter auf mögliche Verletzungen. Danach kümmerte er sich um das Frühstück für die Pferde. Stehfutter nannte man es im Allgemeinen. Ein Begriff, der längst überholt war und Sheridans Kenntnissen nicht gerecht wurde. In den meisten Rennställen bestand das sogenannte Stehfutter aus Hafer. Als Ernährungsexperten aber irgendwann herausfanden, dass Hafer, auf nüchternen Magen gefüttert, Magengeschwüre verursachen können, weil die Tiere morgens den größten Hunger hatten und das Kraftfutter einfach hinunterschlangen, sodass es schwer wie Blei im Magen lag, haben viele Trainer entsprechend reagiert. Sie bieten den Pferden richtigerweise als erste Mahlzeit Raufutter an. Schon von der Struktur her können Pferde das Heu nur langsam zerkauen, sodass sie mehr Zeit zum Fressen brauchen. Dadurch bekamen sie ein Sättigungsgefühl, ohne das sich der Magen übermäßig füllte. Das war der perfekte Weg, um den Verdauungsapparat langsam in Schwung zu bringen und den Magen-Darm-Trakt zu schonen.
Trainer Willems wusste, was er an seinem Stellvertreter hatte und war froh über dessen großes Fachwissen. Als Sheridan an diesem Morgen aus dem Auto stieg und in Richtung Hauptstall ging, spürte er sofort, dass etwas nicht stimmte. Durch den immer noch dichten Nebel sah er, dass die Stalltür geöffnet war und fragte sich, ob Willems gestern Abend vergessen hatte sie abzuschließen. Nein, dass kann nicht sein, dachte er, ich habe ja selbst noch einmal alles kontrolliert. Die Lichter in den Ställen waren aus und die Türen zu, dessen war er sich vollkommen sicher. Ein Geräusch ließ ihn zum Wohnhaus der Eheleute Willems sehen, wo er seine Chefin auf der Terrasse erblickte. Uschi Willems hatte sich auf die rustikale Holzbank neben der Eingangstür gesetzt. Von dort aus starrte sie mit einem undefinierbaren Blick zu ihm herüber. Sheridan ging die paar Schritte auf sie zu und war entsetzt, als er ihr blasses und eingefallenes Gesicht sah.
„Hallo Frau Willems“, grüßte er unsicher und sorgenvoll.
„Geht es Ihnen nicht gut? Und warum ist die Tür vom Hauptstall so früh offen? Ist alles in Ordnung?“
Er sah wie sie zusammenzuckte und plötzlich Tränen ihre Augen füllten. Sie weinte, während die Anspannung aus ihr herausbrach und sich ihr Oberkörper unter immer lauter werdenden Schluchzern schüttelte. Sheridan wartete verlegen, bis sich seine Chefin einigermaßen gefangen hatte. Entsetzen zeigte sich in seinem Gesicht, als er von ihr hörte, welches Verbrechen sich ereignet hatte, während die Tränen unaufhaltsam über ihre Wangen liefen.
„Gehen Sie nicht in den Stall hinein Paul, wir müssen warten, bis die Polizei hier ist“, endete sie.
In diesem Moment kam der Notarzt auf den Hof gefahren.
Kapitel 4
Um 07.00 Uhr früh ging Michael Leonhard hinaus in den Nebel. Er war ein talentierter Hindernisjockey und mit seinen 32 Jahren in seiner Karriere endlich auf dem Weg zur Spitze. In Anlehnung an einen englischen Reiter, der unter den Galopprennsport-Experten als einer der besten Steeplechase-Jockeys aller Zeiten galt, nannten ihn alle Mike. An die Erfolge von Mike Callahen heranzukommen, würde für Leonhard allerdings genauso unwahrscheinlich sein, wie an die reiterliche Klasse, die Callahen ausgezeichnet hatte. Während Leonhard schon froh wäre, wenigstens einmal für das Grand National, dem wichtigsten und wertvollsten Hindernisrennen auf der britischen Insel, engagiert zu werden, gab es in England kein großes Rennen, das Callahan nicht gewonnen hatte. Die mehr als 2.000 Siege von Callahan würde Leonhard nie erreichen können, dafür hätte er schon frühzeitig in England oder Frankreich in einem der führenden Hindernisställe anheuern und sich entsprechend durchsetzen müssen. Aber den Zeitpunkt hatte er verpasst. Er war in Deutschland tätig, in einem Land, in dem es im Pferderennsport wirtschaftlich schon seit Jahren abwärts ging. Die Schließung von einigen Rennbahnen und die Reduzierung der Rennpreise auf den übriggebliebenen Galopprennbahnen, waren nur zwei Gründe für das Schattendasein, das dieser schöne Sport in Deutschland führte. Galopprennen mit Vollblütern nannte man einst den Sport der Könige. Im Laufe der Zeit wandelte sich die Bezeichnung in der breiten Öffentlichkeit allerdings abwertend in Sport der Zocker um. Der gesellschaftliche Stellenwert sank rapide und der schlechte Ruf hatte mit dazu beigetragen, dass viele namhafte Sponsoren dem Galopprennsport in Deutschland den Rücken gekehrt haben und das wettende Publikum immer weniger wurde. Es fehlten finanzielle Mittel an allen Ecken und Enden und nirgends war jemand in Sicht, der die Fähigkeit und dringend benötigte Beziehungen zu investitionsfreudigen Wirtschaftsbossen hatte, um das Ruder herumzureißen.
Leider war es so, dass in den Gremien der Rennvereine Leute in verantwortungsvollen Positionen standen, die nicht einmal eine kaufmännische Ausbildung absolviert, geschweige denn Erfahrung in der Akquise von Sponsoren hatten. Das ein Rennverein nach dem anderen Pleite ging, war die logische Folge der größtenteils stümperhaften Arbeitsweise der jeweiligen Amtsträger.
Das Gleiche galt für den Dachverband der Galopper, in dem sich reichlich Versager gegenseitig die Klinke in die Hand gegeben hatten. Sich selbst überschätzende Geschäftsführer, sogenannte Top-Manager und hochgejubelte, aber unfähige Präsidenten, waren hauptursächlich für den kontinuierlichen Untergang des Galopprennsports in Deutschland verantwortlich. Kein Wunder, dass sich der Abwärtstrend seit Jahren nicht stoppen ließ. Geringere Geldpreise bedeuteten weniger ausgetragene Rennen und weniger Rennen bedeuteten weniger Pferde, die gewettet werden konnten. Fehlende Wetteinsätze führten folgerichtig zu immensen Umsatzeinbußen. Diese Gelder fehlten für die weitere Finanzierung der Rennveranstaltungen. Das war das elende Zwischenergebnis der seit vielen Jahren vorangetriebenen Misswirtschaft, deren Ende nicht absehbar war.
In Deutschland war Leonhard so erfolgreich, wie es in der hiesigen Galopprennsport Situation derzeit nur sein konnte, denn er war einer der gefragtesten Hindernisreiter hierzulande. In Frankreich hatte er auch schon einige Siege erzielen können, während ihn in England kein Mensch kannte. Darum war es schon ein bisschen schmeichelhaft für ihn, mit Callahen in Verbindung gebracht zu werden. Seine reiterliche Zukunft sah er allerdings im benachbarten Frankreich, aber dieser Schritt musste noch ein wenig warten, denn er musste professionell vorbereitet werden. Die Umsetzung dieses Vorhabens forderte Können aber auch Geduld von ihm ein.
Vor einer halben Stunde hatte ihn Pedro Rodriguez angerufen und ihm den Ritt auf Exploit im Großen Badener Jagdrennen angeboten. Der aus Andalusien stammende Rodriguez war ein erfolgreicher Unternehmer, der sein Geld in der Pharmazie verdiente und dessen Hobbys American Football und Pferderennen waren. Insbesondere Hindernisrennen interessierten ihn, weshalb er sich Exploit, einen mit viel Talent ausgestatteten Steepler, für einen niedrigen fünfstelligen Geldbetrag gekauft hatte. Der Wallach sollte in einigen Wochen seine bisher schwerste Aufgabe bewältigen und Mike Leonhard sollte ihn, in der bedeutendsten Steeplechase des Jahres, welche in Iffezheim, nahe Baden-Baden, ausgetragen werden würde, reiten. Zuvor wollte Rodriguez sehen, ob und wie Leonhard mit dem Pferd zurechtkommen würde. Mit Trainer Willems hatte er vereinbart, dass Leonhard an diesem Tag um 08: 00 Uhr am Stall ist, um Exploit in einem Jagdgalopp zu reiten. So, zumindest glaubte er das, könne er beurteilen, ob Jockey und Pferd miteinander harmonieren. Danach würde er sich für oder gegen Leonhard entscheiden. Da Leonhard bewusst keine feste Anstellung als Jockey angenommen hatte, sondern als Freelancer, also als vertragsloser Jockey, tätig war, konnte er seine Arbeitszeit und seine Rittangebote selbst koordinieren.
So hatte er Rodriguez den frühen Termin bei Trainer Willems gerne bestätigt, denn die Möglichkeit ein chancenreiches Pferd in einem hoch dotierten Rennen reiten zu können, wollte er sich nicht entgehen lassen.
Nachdem sein Aufenthalt im Bad keine zwei Minuten gedauert hatte, nahm er sich ein Hemd und eine ebenso saubere Reithose aus dem Kleiderschrank, zog beides, während er auf dem Weg zur Wohnungstür war, im Gehen an und schlüpfte schließlich in seine ungeputzten Stiefeletten. Leonhard hatte in den letzten Monaten bereits einige Rennen mit niedriger Dotierung für Rodriguez gewinnen können. Auf Exploit saß jedoch bisher immer Hannes Jep im Rennsattel. Einige Jockeys nannten ihn Schinderhannes, weil er als sehr harter Reiter bekannt war. Er quetschte alles aus den Pferden heraus, was möglich war. Nicht selten hatte er wegen Peitschenmissbrauchs von der Rennleitung saftige Geldstrafen aufgebrummt bekommen. Auch hatte es für ihn schon Reitverbote über mehrere Renntage gegeben, weil er die Peitsche zu oft einsetzte. Dadurch hatte er empfindliche Einkommensverluste, die Hannes Jep jedoch nicht daran hinderten die nächsten Ritte ähnlich rücksichtslos auszuführen. Einen seiner übertrieben harten Ritte hatte er beim letzten Start auf Exploit ausgeübt. Ohne eine Siegchance zu haben, hatte er das Pferd ins Ziel geprügelt. Ein dritter Platz sprang am Ende dabei heraus und ein Pferd, das völlig ausgelaugt und verstört aus dem Rennen kam. Rodriguez war der Überzeugung, dass Exploit auch ohne Einsatz der Peitsche Dritter geworden wäre, da er viele Längen vor dem Viertplatzierten Pferd ins Ziel gelaufen war. Er war wütend über den fast schon brutalen Reitstil und enttäuscht von Hannes Jep, da der jede Kritik von sich wies. Vielleicht war Mike Leonhard jetzt der Nutznießer dieser Verärgerung, zunächst aber musste er Rodriguez im anstehenden Training davon überzeugen, dass genau er der perfekte Jockey für Exploit war.
Leonhard wohnte in Ratingen, einem kleinen beschaulichen Ort an der Grenze zu Düsseldorf. Zu Willems Stallungen brauchte er normalerweise nicht länger als zwanzig Minuten, doch sorgte der Nebel dafür, dass er etwas umsichtiger fahren musste. Typisches Oktoberwetter am frühen Morgen und das mitten im Juli, dachte er, als er aus dem Haus trat. Als er in seinen alten Sebring stieg, der sehr bequem und freundlich zu seinem Rücken war, machte er sich die ersten Gedanken über das kommende Jagdrennen in Iffezheim. Exploit zählte zu den besseren Hindernispferden, die derzeit in Deutschland aktiv waren. Er hatte in seiner kurzen Rennkarriere erstaunliche sieben von insgesamt neun Starts zu Siegen gestalten können. Bei seinem letzten Start wurden ihm erstmals Grenzen aufgezeigt, als er gegen die Hinderniselite angetreten und Dritter geworden war. Aber er hatte angedeutet, dass er die Grenze nach oben durchaus überwinden könnte. Ob er die Klasse hat, sich dauerhaft gegen die etablierten Pferde durchzusetzen, wird sich wohl im Großen Badener Jagdrennen zeigen, so die Überlegung des Jockeys.
Leonhard nahm den bekannten Weg zur A 52 und fuhr in Richtung Nördlicher Zubringer auf die Autobahn. Nach gut zehn Minuten Fahrzeit endete die A 52 fließend im Düsseldorfer Stadtverkehr. An der ersten Ampel bog er nach links ab in Richtung Galopprennbahn. Sicher hätte er sich an den gewaltigen Kastanienbäumen erfreut, die die gesamte Rennbahnallee umsäumten, wenn die Nebelschwaden dies zugelassen hätten. Doch obwohl sein Sichtfeld noch ziemlich eingeschränkt war, hatte er das Gefühl, dass sich der Dunst nun langsam auflöste und die Sichtverhältnisse allmählich besser wurden. Trotzdem fuhr er weiterhin äußerst kontrolliert, um keinen Unfall zu verursachen. Nach drei Kilometern musste er in ein Waldstück abbiegen, das zu den Stallungen von Herbert Willems führte. Als Leonhard nur noch etwa dreißig Meter vom Grundstück entfernt war, sah er schemenhaft zwei Menschen aus dem Nebel auftauchen. Als die beiden unmittelbar vor der Motorhaube in sein Blickfeld gerieten, trat er instinktiv auf die Bremse und dachte schon es wäre zu spät, denn er sah, wie die Männer stürzten. Aber sofort kamen sie fluchend wieder auf die Beine und rannten, ohne ihn weiter zu beachten, in den Wald hinein. Das alles ging so schnell, dass Leonhard zunächst nicht begriff, was passiert war. Er atmete erst mal tief durch und fuhr kurz darauf einigermaßen verwirrt bis zum offenen Hoftor vom Stall Willems weiter. Als er ausgestiegen war, sah er sich um. Leonhard war fast schon ein wenig dankbar, dass der Nebel nun endgültig verschwunden war, weil sein Blickfeld sich dadurch verbreitert hatte. Seine Augen sahen nach links, über den Hof. Angefangen an der hohen, weiß getünchten Mauer, die das gesamte Grundstück umrahmte und nur vom Haupttor unterbrochen wurde. Ehemalige Spitzenpferde waren in Lebensgröße an die Grundstücksmauer gemalt worden. Jedes mit seinem namentlich erwähnten Jockey und in der bunten Rennfarbe des Besitzers. Meist waren es die großen Gestüte, die hier verewigt wurden, aber auch weniger bekannte Rennfarben waren zu sehen. Alles sehr gekonnt und realitätsnah, von einem unbekannten Künstler vollbracht. Sein Blick glitt weiter über die angrenzenden Stallungen, in denen die edlen Vollblüter in großzügigen Boxen untergebracht waren. Einige dieser Pferde waren hörbar unruhig und schnaubten ängstlich. Als seine Augen die Baumgruppe passierten und das Haupthaus erfassten, durchfuhr ihn erneut ein Schreck. Er sah den Rettungswagen neben der Eingangstür stehen und zwei Sanitäter, die mit einer Trage in das Haus hinein gingen. Uschi Willems saß auf der Terrasse auf der alten Holzbank und weinte, während Trainerassistent Paul Sheridan mit hängenden Schultern hilflos daneben stand. Leonhard spürte, wie sich seine Magenwände wie Fäuste zusammenballten. Mit unsicheren Schritten und einem mulmigen Gefühl im Bauch ging er langsam hinüber. Als er auf die Terrasse trat und Sheridan fragend ansah, nickte dieser und berichtete mit wenigen Worten von den furchtbaren Verbrechen an Bolivien Star und Trainer Willems, der in diesem Moment auf der Trage liegend aus dem Haus gebracht wurde. Die Sanitäter verbrachten Willems in den Notrufwagen, schlossen die hinteren Türen und fuhren mit Blaulicht zum nächstgelegenen Krankenhaus. Bevor der behandelnde Arzt in seinen Notrufwagen stieg, um das Gelände zu verlassen, teilte er Uschi Willems die vorläufigen Untersuchungsergebnisse mit:
„Ihr Mann hat wahrscheinlich nur eine leichte Gehirnerschütterung und eine oberflächliche Platzwunde am Kopf. Es ist bloß ein etwa zwei Millimeter tiefer Riss in der Kopfhaut, der mit wenigen Stichen genäht werden wird. Wahrscheinlich hat der Täter seitlich von ihm gestanden und ihn nicht voll getroffen, als er zuschlug. Der Schock, den Ihr Mann erlitten hat, ist größer als die beigebrachten Verletzungen. Ich werde Sie nach Ende aller notwendigen Untersuchungen anrufen und Ihnen die endgültige Diagnose mitteilen, Frau Willems, machen Sie sich nicht allzu große Sorgen .“
„Vielen Dank Herr Doktor“, antwortete Uschi Willems und war erleichtert, dass sich die medizinischen Umstände nicht so dramatisch darstellten, wie von Ihr befürchtet.
„Ja bitte, melden Sie sich bei mir“, bat sie den Arzt und verabschiedete ihn. Dann wandte sie sich um und erblickte Leonhard, der näher getreten war.
Mit jammervollem Blick sah sie ihn an und sagte: „Bitte helfen Sie mir, wir müssen einen Tierarzt anrufen.“
„Ja, natürlich, kommen Sie mit ins Haus und geben Sie mir die Telefonnummer von Ihrem Veterinär“, stimmte Leonhard mit weicher Stimme zu, obwohl ihm klar war, dass jede angebotene Hilfe für das Pferd zu spät kommen würde. Uschi Willems sah ihn mit rot geräderten Augen an, erhob sich mühsam von der Holzbank und ging langsam in das Haus hinein. Leonhard folgte Ihr in geringem Abstand und wartete im Flur des Hauses auf den Zettel, auf den sie die Telefonnummer geschrieben hatte. Sie gab ihm schweigend das Stück Papier und Leonhard wählte auf seinem Handy die Nummer des Veterinärs an. Nach dem dritten Klingeln vernahm er eine Frauenstimme, die sich mit: „Tierarztpraxis Dr. Wenger, Anne Knödel am Apparat“, meldete. Leonhard nannte seinen Namen und sagte Ihr, dass er dringend Ihren Chef sprechen müsse.
„Es ist ein Notfall“ fügte er noch hinzu.
„Moment bitte“, antwortete sie und gab das Telefon an den Tierarzt weiter. Während Leonhard wartete, musste er kurz grinsen, denn ihm fiel sein Lieblingsessen ein, das seine Mutter sonntags öfters gekocht hatte. Nachdem sie den Sauerbraten auf den Tellern verteilt hatte, kamen die Beilagen dran. Und dann sagte sie, in imitiertem Ruhrpott-Slang: jetzt aber ran anne Knödel.
„Dr. Wenger“ meldete sich eine Stimme, die gut und gerne einem der Jungs von den Regensburger Domspatzen gehören konnte, riss ihn aus seinen Gedanken. Erstaunlich hell und klar drang sie an Leonhards Ohr.
„Was gibt es denn?“, fragte der Veterinär.
Leonhard erklärte ihm die aktuelle Situation und Dr. Wenger versprach, sich sofort auf den Weg zu machen. Er müsse nur noch seine Arzttasche packen, dann könne er losfahren. Leonhard beendete das Telefonat und hoffte, dass der Tierarzt mit einem zweifelsfreien Gutachten über die Todesursache des Pferdes dazu beitragen würde, dem Besitzer von Bolivien Star zumindest zur Auszahlung der vereinbarten Versicherungssumme zu verhelfen. Mike Leonhard kannte den Besitzer Karl Trebert seit Jahren und wusste, dass der bisher für alle seine Pferde Lebensversicherungen abgeschlossen hatte. Er war der Überzeugung, dass versicherten Pferden nichts passieren konnte, womit er bisher auch immer richtig lag. Die vorliegenden Fakten würden Treberts Annahme in diesem Fall allerdings unweigerlich korrigieren.
Warten wir es ab, sagte sich Leonhard und steckte sein Handy in die Hosentasche. Als er aus dem Haus trat, sah er die Polizeiwagen vorfahren. Leonhard konnte zwei uniformierte Polizisten erkennen, die aus einem PKW ausstiegen, und drei in Zivil gekleidete Männer, die einen Kleinbus verließen. Während die Polizisten von Sheridan zum Tatort geführt wurden und die diesen sofort abriegelten, zogen sich die anderen Männer Schutzkleidung an. Sie waren von der Spurensicherung und nahmen zügig ihre Arbeit auf.