Die hängende Säge - Alice Schmid - E-Book

Die hängende Säge E-Book

Alice Schmid

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Als Lilly aus dem Sportlager zurück in ihr Bergdorf kommt, ist sie verstummt. Alle sind ratlos, und sie wird als Au­pair nach Belgien geschickt. Wenn du ankommst, sagst du »Bon­jour Madame«, gibt der Vater ihr am Bahnhof mit auf den Weg. In dem von Nonnen geführten Kinderheim trifft sie auf afrikanische Mädchen, die sie mit Nivea Creme einreibt, und auf Fran­cine, die nachts Radio Kinshasa hört. Francine weiß nicht nur, wer den Kongo um seinen Reichtum gebracht hat, sondern auch, dass man sich bestimmte Tage besser in die Hand­fläche schreibt. Während Lilly auf Französisch die Sprache wiederfindet, wird ihr langsam klar, was der Sportlehrer mit ihr gemacht hat.Die hängende Säge erzählt von einem trauma­tischen Erlebnis in einem Mädchenleben und der Selbstbehauptung einer jungen Frau, die eine Heirat genauso wenig interessiert wie die Stelle als Grundschullehrerin in ihrem Heimat­dorf. Im Ton eigen und frisch, besticht der Roman auch atmosphärisch mit der Präsenz einer bizarren Bergwelt. Starke, wunderschöne Bilder lassen die Filmerin Alice Schmid durch­scheinen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 164

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Alice Schmid

Die hängende Säge

Roman

atlantis

Ich bin da, mein Herz schlägt.

Simone de Beauvoir

 

Wenn ich nicht ich selbst bin, bin ich niemand.

Virginia Woolf

Du bist vorlaut und eine andere geworden.

Am Licfest von Karls Freund Orleo heizte ich ein, stopfte Holz in den Ofen. Knappe siebzehn Jahre alt. Wir putzten zu viert die Zähne unter demselben Wasserstrahl.

– Habt ihr schon mal?, fragte Orleos Freundin.

– Ich schon, entschlüpfte es mir.

Orleo stellte sich in der Ecke seiner Studentenbude unter die Dusche. Ich schaute hin. Sein Körper war potenter ausgestattet als David auf dem Florentiner Sockel. Über ihm an der Decke hing eine meterlange Säge. Bewegte er sich, bewegte sie sich mit. Die Zacken hingen ihm im Nacken.

Ich übernachtete mit Karl auf dem Sofa. Der knarrende Holzboden, das leise Tapsen, als hause eine Mäusefamilie hinter der Bücherwand, waren mir vertraut. Der einzige Haken war die hängende Säge.

Karl lag steif neben mir, das Pyjama von unten bis oben zugeknöpft. Ich schmiegte mich trotzdem an ihn.

– Du bist vorlaut und eine andere geworden, sagte Karl.

In dieser Nacht bewegte sich nur die Säge mit ihrem Schatten an der Decke. Und das rührte von drüben, aus dem Zimmer nebenan.

 

 

Ein Jahr vor dieser Nacht setzten mich meine Eltern in den Zug Richtung Belgien. Mutter blieb mit kummervollem Blick draußen vor dem Fenster stehen. Sie hatte alles versucht. Vater trug mir den Koffer und die Handorgel in das Zugabteil.

– Sechs Mal umsteigen, und wenn du ankommst, sagst du Bonjour Madame.

Vater stellte keine Fragen. Er glaubte an mich.

 

In Basel stieg ich um. Im Anschlusszug hörte ich die Passagiere französisch reden. Ich lauschte diesen fremden Tönen.

Kaum war der Zug abgefahren, tauchte hinter der Bahnhofsmauer der Rüssel eines Elefanten auf und versprühte eine Wasserfontäne. Wie ein Vorzeichen, als würde mich die Reise nach Afrika führen.

Kurz nach Colmar hoben hinter meinem Fenster zwei Störche vom Boden ab. Sie nahmen schnell das Tempo des Zuges auf, ihre langen roten spitzen Schnäbel nach Beute ausgerichtet, die Beine aneinandergepresst. Die Flügel schwangen kräftig auf und ab, wie zwei Arme, die sich im Schwimmbecken nach vorn kämpfen.

Am letzten Abend im Sportlager legte mir der Lehrer eine Medaille um den Hals.

– Zwanzig Meter unter Wasser schwimmen. Das hast du gut gemacht.

Ich war stolz. Ich bewunderte ihn. Er rühmte mich vor allen.

– Du bist schön, sagte er.

– Ich habe drum heute Geburtstag, sagte ich.

– Das müssen wir doch feiern, sagte er.

Im Rattern des Zugs döste ich vor mich hin, zwischen den Augenlidern die Störche mit ihren schwingenden Flügeln, schwarz-weiß, wie mein neuer Bikini.

 

Mutter ging mit mir zur Berufsberatung.

– Wir haben Lilly für das zehnte Schuljahr angemeldet. Sie weiß nicht, was sie werden will. Jetzt ist sie plötzlich stumm geworden.

Ich musste einen Baum malen. Ich malte einen Tann- zapfen. Aber der Berufsberater wollte einen Baum von mir.

– Aus dem Mädchen wird nichts. Schauen Sie sich diesen Baum ohne Wurzeln an, sagte der Berufsberater.

Mutter wollte, dass etwas wird aus mir. Sie ging mit mir zum Katholischen Frauenbund in die Stadt Luzern. Fräulein Pfister saß hinter einem Eichenpult und musterte mich von oben bis unten. Mutter hatte mir ein rosarotes Kostüm aus Leinenstoff genäht. Meine zu großen braunen Lederschuhe hatte ich vorne mit Zeitungspapier ausgestopft.

– Ein Mädchen, das nicht redet und nicht mehr will, geht am besten für ein Jahr ins Welschland, sagte Fräulein Pfister.

– Aber doch nicht unsere Lilly, protestierte Mutter.

Bei uns war es damals üblich, dass man Mädchen in anderen Umständen für ein Jahr ins Welschland schickte. Die von den abgelegenen Höfen, wo die Familien über ein Dutzend Kinder hatten, mussten in die Schlucht und dort ein Jahr in einem uralten Holzhaus verbringen, wo es geisterte.

Fräulein Pfister rüttelte an einer Schublade, zog eine Papiermappe mit Unterlagen hervor und legte sie vor uns auf das Eichenpult.

– Ich hätte da noch eine Adresse in Belgien, sagte sie.

Belgien tönte nach weit weg. Ich nickte. Da wollte ich hin.

 

 

Ein Schild schwankte auf mich zu, Lilly Beer Suisse. Dahinter eine Nonne in langer blauer Robe und mit einer weißen Haube auf dem Kopf, wie ein quer stehendes Schiff, das links und rechts über ihre Schultern ragte. Ich stand nach einer achtstündigen Zugfahrt auf dem Bahnhof Mons in Belgien und glaubte, die schicken mich ins Kloster. Die Nonne küsste mich zum Gruß auf beide Wangen. Das war ich von zu Hause nicht gewohnt.

– Bonjour Madame, sagte ich.

– Bonjour ma Sœur, korrigierte sie mich.

In einem VW-Käfer, blau wie die Robe der Schwester, rumpelten wir über Pflastersteinstraßen stadtauswärts. Drehte sich das Schiff, drehte ich mich mit. Die Spitze drückte mir in die Schläfe.

Wir fuhren zwischen dunkelroten zweistöckigen Ziegelsteingebäuden in ein Dorf. Obourg par Mons stand auf dem Schild. In der Mitte der Pflastersteinstraße erstreckte sich ein lang gezogener Hügel. Hinter gehäkelten Gardinen tauchten Schatten auf. Das Schiff nickte zum Gruß in alle Richtungen, steuerte in Schieflage auf ein vierstöckiges Fabrikgebäude zu, auch aus dunkelrotem Ziegelstein. Auf dem Dach ein Kreuz.

Über dem Eingangstor stand Institut St Vincent. Die VW-Schwester zog an einer langen Schnur. Innen ertönte eine Glocke. Die hölzerne Pforte, doppelt so hoch wie zu Hause das Scheunentor, öffnete sich von Geisterhand. Dahinter saß ein zweites Schiff. Es strickte im Licht einer schwachen Glühbirne auf einem Holzschemel unter einer hellblauen Marienstatue.

– Bonjour ma Sœur, grüßte ich.

Sie hob ihr Gesicht, ein schrumpeliger Apfel, wie einer im Keller, wenn wir sie in Harassen überwinterten, lächelte zu mir hoch und tauchte wieder ab. Ich folgte, zum Umfallen müde, den Schritten der VW-Schwester durch einen langen, hohen, dunklen Korridor, in der rechten Hand meinen Koffer, in der linken die Handorgel.

Vor der Reise war Mutter mit mir zum Kloster mit dem Sarner-Jesuskind gepilgert. An der Pforte hatte sie mir eine Kerze und ein Linneli gekauft, ein weißes gesegnetes Stück Leinenstoff, das eine Nonne vorher mit dem Jesuskind in Berührung gebracht hatte.

– Solltest du krank werden in Belgien, legst du es dort auf, wo es dir wehtut, hatte Mutter gesagt.

Die VW-Schwester schlug mit ihren Hüften zwei Türflügel auf, drehte ruckartig den Kopf, damit ihr Schiff nicht im Rahmen stecken blieb. Dahinter erhob sich eine Schar blau uniformierter Mädchen und grüßte wie aus der Kanone geschossen.

– Bonsoir ma Sœur.

Ich hatte noch nie Schwarze Kinder gesehen.

 

 

Am nächsten Morgen erwachte ich mit einem trockenen Gefühl im Hals, als hätte ich im Schlaf geschrien. Ich lauschte, es blieb still im Haus. Ich konnte mich nicht erinnern, wie ich in diesem Bett gelandet war, und legte mich zurück unter das Leintuch und den dünnen blauen Überwurf, fröstelnd, mit angezogenen Knien. Kein Federbett.

Weit über mir die Zimmerdecke, nicht so wie in unserem Haus auf dem Berg, wo ich es gewohnt war, den Kopf einzuziehen. Zum ersten Mal hatte ich ein Zimmer für mich allein. Die Wände waren dünn, wie Karton, und reichten nicht bis oben. Ein breiter Spalt blieb offen.

Die Angst im Bauch kehrte zurück.

Die Wand bewegte sich. Jemand drückte von hinten dagegen. Ein Mädchen, schlank und hochgewachsen, ich schätzte sie in meinem Alter, stand in blauer Schuluniform, Faltenjupe, Bluse mit umgekrempelten Ärmeln dicht vor meiner Tür.

– Francine, sagte sie.

Was sie mir in ihrem französischen Dialekt mitteilte, verstand ich nicht. Ihre Stimme tönte wie der Bassknopf an meiner Handorgel, wenn ich d-Moll drückte. Ich schaute auf ihre Schwarze Haut und ihre senkrecht vom Kopf abstehenden Zöpfe. Sie deutete mir an, ihr zu folgen. Ich drehte mich um, tauschte etwas verkrampft das Nachthemd mit meinem rosaroten Kostüm, schnürte die Lederschuhe, und zwischen meine Beine hindurch sah ich zwei Schwarze nackte Füße.

Ich durchquerte hinter Francine den Schlafsaal. Über zwei Dutzend eiserne Bettgestelle, eines dicht neben dem anderen, im Abstand von einem Meter, darauf blaue Bettüberwürfe mit wollenen Zotteln am Fußende, wie in meinem Zimmer, das rechts hinten auf der Fensterseite zwischen zwei Kartonwände eingeschoben worden war. Hier schienen alle ohne Federdecke zu schlafen.

Im Treppenhaus schwang sich Francine aufs Holzgeländer und rutschte mir davon. Ich schaute ihr hinterher und hörte, wie sie unten mit einem Sprung auf dem steinernen Fußboden landete.

Als ich über die Steinfliesen durch den langen Korridor ging, hörte ich ihre dunkle Stimme mich beim strickenden Schiff in der Eingangshalle ankündigen.

– La Suissesse, ma Sœur.

Der Apfel von gestern lächelte zu mir hoch.

– Bonjour ma Sœur, grüßte ich.

Sie wies mit der Stricknadel die Wendeltreppe hoch. Ich hielt mich am Eisengeländer fest. Die Gitterroststufen schwankten unter mir. Ich zählte. Bei Stufe 54 landete ich vor einem Schild, Sœur Supérieure. Ich klopfte. Energische Schritte näherten sich. Die Oberschwester. Sie empfing mich in ihrem hellen Raum mit schneeweißen hohen Wänden, küsste mich auf beide Wangen und führte mich vor ein Porträt, das neben einem Holzkreuz an der Wand hing. Sie sprach langsam, in kurzen französischen Sätzen.

– Der Gründer unseres Ordens. Saint Vincent de Paul. Wie du aus einer Bauernfamilie. Geboren 1576. Sein Leitsatz: Liebe die Kinder.

Dieser Leitsatz gelte auch für mich, wenn ich in ihrem Haus arbeiten wolle, führte sie weiter aus. Ich nickte zu allem, was sie mir zu meiner bevorstehenden Aufgabe als Au-pair und über die Geschichte des Hauses erzählte, das früher einmal eine Fabrik gewesen war, auch wenn ich kaum die Hälfte verstand. Irgendwann verlor ich den Faden, die französische Sprache klang noch fremd in meinen Ohren.

Die Augen auf dem Porträt verfolgten mich quer durch den Raum. Der sanfte Blick verunsicherte mich. Ich fühlte mich von diesem Heiligen durchschaut, als wüsste er, warum ich hier gelandet war. Seine lange Nase reichte ihm fast bis zur Oberlippe, an der Spitze endete sie prallrot wie eine ausgewachsene Rübe.

Runggle, Rüebli, Möhrefäud sangen wir Kinder im Herbst, wenn wir die roten Rüben auf den Holzkarren warfen und mit der Kuh im Vorspann über den Acker zur Scheune brachten, wo wir sie einlagerten und den Schweinen im Winter zum Fraß vorwarfen. Der heilige Vincent de Paul hatte mich mit seinem Blick im Griff, bis der Zeigefinger der Oberschwester mein Kinn hob und mich näher unter ihr Schiff zog.

– Warum schaust du so traurig?, fragte sie.

Da sah ich es ihr an. Sie musste es wissen. Fräulein Pfister hatte ihr sicher geschrieben, was ich für eine war. Sie wartete nicht lange auf eine Antwort und drückte mir ein blaues liniertes Heft in die Hand.

– Lern möglichst schnell Französisch, sagte sie.

Der Apfel war beim Stricken eingenickt. Ich schaute durch die Gitterroststufen hinunter in die Eingangshalle. Durchs Oberfenster hinter der hellblauen Marienstatue sah ich in ein Schulzimmer und entdeckte Francine mit ihren abstehenden Zöpfen mitten in einer blau uniformierten Mädchenschar. Ich setzte mich auf die schwankende Wendeltreppe und schrieb die ersten Wörter ins blaue Heft.

la fabrique de tabaque – die Tabakfabrik

 

Ich holte den Wollknäuel, der bis zum Eingangstor davongerollt war, wickelte ihn wieder auf und legte ihn zurück in den Schoß vom Apfel. Ein leises Schnarchen unter dem seitlich gekippten Schiff.

Ich blieb vor der hellblauen Marienstatue stehen und versuchte es mit einem Gebet. In meiner Verzweiflung bat ich die heilige Maria um Hilfe. Ich versprach ihr, ein besserer Mensch zu werden, sollten meine Befürchtungen nicht eintreffen.

Hier trugen alle eine Uniform. Ich zog das Kostüm aus und schlüpfte in mein Schürzenkleid, das ich im letzten Schuljahr mit blauroten Kreuzstichen verziert hatte, und machte vorne die vielen weißen Knöpfe zu.

Ich nahm das Tagebuch aus dem Koffer. Mutter hatte es mir gegeben, weil ich verstummt war. Ich öffnete es mit dem kleinen Schlüssel, der neben dem goldenen Kreuz an meiner Halskette hing. Der Umschlag aus hellbraunem Leder fühlte sich weich an. Die Blätter waren hauchdünn wie Seidenpapier, mit einem filigran vergoldeten Rand. Beim Aufklappen fiel das Linneli vom Sarner-Jesuskind heraus. Ich befeuchtete es mit Speichel und klebte es mir auf den Bauch.

Das Tagebuch legte ich zurück in den Koffer. Ich wusste nicht, wie beginnen. Ich aß einen Riegel Schokolade.

– Wenn du Heimweh hast, hatte Mutter beim Packen gesagt.

Den Rest stopfte ich zurück zu den anderen Schokoladen in die Beine meiner gestrickten blauen Strumpfhose.

Abhauen konnte ich nicht. Das Haus war von einer hohen Mauer umgeben. Hätte ich doch dem Sportlehrer nie gesagt, dass ich Geburtstag habe.

Die Angst hockte mir im Bauch wie ein Pflasterstein. Ich war einfach gegangen, ohne Karl Ade zu sagen. Ich hätte es nie geschafft, ihm unter die Augen zu treten. Ich versuchte mich zu erinnern, was mir die Oberschwester gesagt hatte.

chaque mois – jeden Monat

un jour de congé – ein freier Tag

aimer les enfants – die Kinder lieben

 

Das Kippfenster in meinem Zimmer begann am Boden und reichte mir bis zum Bauch. Keine Berge. Da draußen war alles flach. Auch kein Meer, wie ich es zu sehen gehofft hatte. Am Horizont standen kleine pyramidenförmige dunkelbraune Hügel. Ich tastete nach meinem Linneli am Bauch und drückte es fest.

Unten, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, ging eine Gestalt rund um die Gemüsebeete. Sie marschierte wie ein Sträfling im Innenhof eines Gefängnisses. Sie hatte kurze dunkle Haare, trug Turnschuhe, einen wadenlangen grauen Jupe und eine gleichfarbige Jacke, die ihr bis über die Hüfte reichte. Eine Frau. Sie drehte sich im Kreis wie ich mit meinen Gedanken. Ich spannte einen Film in den Fotoapparat, den Vater mir auf die Reise mitgegeben hatte. Ich drückte ab. Mein erstes Foto als Au-pair in Belgien.

 

 

Les Petites – die Kleinen, stand auf dem Schild. Pünktlich um sieben in der Früh klopfte ich an die Tür in der untersten Etage. Entfernte Kinderstimmen. Ein Schlafsaal mit über zwanzig Eisenbettgestellen, wie bei mir oben im Meterabstand. Die Überwürfe lagen am Boden. Hier war alles braun. Auch die wollenen Zotteln.

Die Stimmen kamen aus dem Waschraum. Schwarze Mädchen in weißen Unterhosen, zwischen vier und neun Jahren, klammerten sich verschlafen an der langen blauen Robe von Sœur Madeleine fest. Etwas abseits wuschen sich zwei weiße Mädchen ihre Gesichter und wirkten wie Fremdkörper in dieser Schwarzen Schar.

Sœur Madeleine strahlte aus, was die Oberschwester mir mit dem Leitsatz Liebe die Kinder mitgegeben hatte. Ihre Wangen schimmerten blass wie Kerzenwachs. Sie begrüßte mich mit einem Lächeln, hob die drängelnden Mädchen geduldig eins nach dem anderen hoch, stellte sie in den Waschtrog und seifte sie mit einem Schwamm von oben bis unten ein. Danach sollte ich sie übernehmen und mit Nivea eincremen, damit ihre Haut nicht schuppte und grau von der Seife wurde. Ich hätte nie gedacht, dass sich Schwarze Haut so weich und sanft anfühlt.

Das Frühstück begann wie ein eingespieltes Ritual. Die zwei Türflügel flogen auf. Schlagartige Ruhe. Die Mädchen schossen zum Gruß in die Höhe.

– Bonjour ma Sœur.

Energische Schritte. Das Rauschen der blauen Robe. Die Oberschwester steuerte Richtung Holzkreuz an der Wand, setzte sich an den Tisch in die Mitte der schwankenden Schiffe. Ein Gongschlag. Ein kurzes Tischgebet. In Ton und Tempo wie zu Hause. Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Amen.

Und los gings. Glasschalen, gefüllt mit Zuckerstücken, schwebten über die Tische. Ich machte es wie alle anderen, nahm ein Stück aus der Schale, legte es auf die Zunge und schlürfte den Kaffee darüber. Steinhart, kantig wie vom Beil geschlagen, löste sich der Zucker nur langsam auf. Ein Stück reichte für mehrere Tassen. Der Kaffee dampfte, war schön heiß, alle tranken ihn schwarz, ohne Milch, auch die Kleinen.

Statt Konfitüre gab es Bananen. Sœur Madeleine und ich drückten sie zu Dutzenden auf Brotscheiben und strichen sie dick mit dem Messer auf. Bananen kannte ich bisher nur, wenn ich krank war.

An den Wänden hingen sepiafarbene Fotos. Der Fabrikalltag von früher in diesem Haus. Frauen in Schürzen standen rund um Weidenkörbe und sortierten meterlange Tabakblätter. Bis unters Estrichdach hingen Blätter zum Trocknen, eng nebeneinander, wie die Fledermäuse unter dem Dach auf unserer Heubühne.

Ich spielte mit dem Zuckerstück auf der Zunge. Mit jedem Schluck Kaffee breitete sich die Süße im Mund aus. Wenn nur die Angst im Bauch nicht gewesen wäre.

 

Zum Französischlernen musste ich zuerst bei Sœur Madeleine am Unterricht mit den Kleinen teilnehmen. Sie schickte mich schon nach wenigen Tagen weiter, ins Klassenzimmer vorne bei der Eingangshalle, wo der Apfel strickte. Hier stand ich wieder vor der VW-Schwester. Erst jetzt realisierte ich, wie groß sie war. Die Backenknochen, die Augen, das Schiff, alles war groß, und unter ihrer langen blauen Robe war sie breit gebaut. Sie wollte, dass ich mich bei den Mädchen vorstellte und ihnen sagte, woher ich komme und warum ich hier sei.

Ich wusste, man konnte es nicht sehen, aber ich hatte das Gefühl, man sah es mir an. Die schneeweißen Augen in den Schwarzen Gesichtern schauten voller Erwartung.

– Je … – Ich …

Ich kam nicht über das eine Wort hinaus. Die Schwester drückte mir den Larousse Dictionnaire in die Hand und gab mir Zeit, nach den französischen Wörtern zu suchen.

Kaum stand ich wieder vor der Klasse, konnte ich den Kopf der hellblauen Marienstatue hinter dem Oberfenster sehen. Ich hatte ihr doch geschworen, ein besserer Mensch zu werden. Jetzt kamen bei mir Zweifel, ob ich ehrlich geschrieben hatte, weshalb ich nach Belgien gekommen war. Ich schluckte und brachte kein Wort heraus.

– C’est la guerre. – Das ist der Krieg, flüsterte Francine.

– Nein, die Schweizer führen keinen Krieg, sagte die VW-Schwester.

Francine bot an, für mich zu lesen. Ich reichte ihr mein Heft und lauschte ihrer dunklen Stimme.

– Name Lilly Beer. Alter sechzehn. Sternzeichen Löwe. Nationalität Schweiz. Wohnhaft auf einem Berg. Bauernkind wie Saint Paul de Vincent. Schuhgröße zwei Nummern zu groß. Aus Spargründen. Instrument Handorgel. Ich werde nie heiraten. Ich weiß nicht, was ich werden will. Ich bin in Belgien, weil ich Französisch lernen und das Meer sehen will.

– Aller à la mer, aller à la mer, klatschten die Mädchen.

Die VW-Schwester winkte ab, die Reise ans Meer komme erst im Oktober.

– Fühlst du dich wohl bei uns?, fragte die Schwester.

Ich nickte.

Dass ich nachts eine Federdecke vermisste, dafür hätte ich wieder den Larousse gebraucht. Ich versuchte es mit Händen und Füßen, bewegte die Arme wie ein Huhn, das sich aufplustert und sein Gefieder schüttelt. Da kam mir das Wort in den Sinn.

– Froide, ma Sœur, sagte ich.

– Kalt? Du frierst, Lilly?, fragte die Schwester.

Nicht jetzt, hätte ich sagen sollen. Ich nahm einen neuen Anlauf, versuchte es mit Gurren. Die Mädchen fühlten mit und wollten mir auf die Sprünge helfen.

– Un oiseau.

– Sie hat einen Vogel mitgebracht.

– Er friert.

Vielleicht half die Feder auf dem Fenstersims. Ich klemmte sie zwischen Daumen und Zeigfinger, hielt sie hoch, damit alle sie sehen konnten, tat so, als zupfte ich sie aus, wie zu Hause beim Federnrupfen, nachdem wir in der Scheune dem Huhn den Kopf mit dem Beil abgeschlagen hatten, was ich mit der Hand an mir selber demonstrierte, seufzend, weil wir danach das Huhn ins brühende Wasser tauchten, damit die Federn leichter von der zähen Haut ließen. Ich schaffte es auch mit der Feder nicht, zu sagen, was ich nachts im Bett vermisste.

– Genug, sagte die Schwester und legte ihre Hand auf meine Stirn.

– Lilly ist ganz heiß, sagte sie.

 

 

Auf dem Weg ins Zimmer entdeckte ich eine Treppe zum Estrich hoch. Ich drehte den Lichtschalter. Die Glühbirne reagierte nicht. Im Halbdunkeln sah ich den Umriss eines Klaviers. Das hatte ich mir schon immer gewünscht. Ich hob den staubigen Deckel, drückte eine Taste. Verstimmt.

Ich lief mit der Stirn gegen gespannte Schnüre. Es raschelte. Ein dürres Tabakblatt zerrann wie Staub zwischen meinen Fingern. Ich schaute in die Holzkisten und in die Weidekörbe, nirgends eine Federdecke.

Unter der Dachschräge stand ein Bettgestell mit Gitterrost. Ich setzte mich und landete mit dem Hintern fast am Boden, von links rutschte mir ein Aktenordner mit der Jahreszahl 1911 an die Hüfte, von rechts ein Emaillegefäß mit blauen Buchstaben: Tabac D’Obourg