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Zwischen Afghanistan und Amerika: Jamil Jan Kochai erzählt in fein verknüpften Episoden eine große, berührende Familien- und Kriegsgeschichte.
Ein afghanischer Teenager, der beim Videospielen in seinem kalifornischen Kinderzimmer versucht, den eigenen Vater in den virtuellen Welten vor der sehr realen Folter zu bewahren. Eine junge Frau in Kabul, die in letzter Sekunde für ihre Schwester bei der Zwangsheirat einspringt. Eine Gruppe Studenten, die sich solidarisieren im internationalen Kampf gegen die Unterdrückung, bis aus den akademischen Idealen bitterer Ernst wird. Ein amerikanischer Kampfpilot, der notlanden muss in dem afghanischen Dorf, das er eigentlich zerstören sollte. Oder der kalifornische Einwanderungsbeamte, der eine afghanische Familie ausspioniert, bis sie ihm so ans Herz wächst, dass er in einem entscheidenden Augenblick seine Pflichten vernachlässigt… Jamil Jan Kochai erzählt direkt aus dem Wahnsinn unserer Gegenwart, mal überbordend in seinem Einfallsreichtum, mal schonungslos klar. Seine Geschichten handeln von der ewigen Heimsuchung des Krieges, aber auch von seiner Bannung in der Sprache und der Phantasie.
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Seitenzahl: 261
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ein afghanischer Teenager, der beim Videospielen in seinem kalifornischen Kinderzimmer versucht, den eigenen Vater in den virtuellen Welten vor der sehr realen Folter zu bewahren. Eine junge Frau in Kabul, die in letzter Sekunde für ihre Schwester bei der Zwangsheirat einspringt. Eine Gruppe Studenten, die sich solidarisieren im internationalen Kampf gegen die Unterdrückung, bis aus den akademischen Idealen bitterer Ernst wird. Ein amerikanischer Kampfpilot, der notlanden muss in dem afghanischen Dorf, das er eigentlich zerstören sollte. Oder der kalifornische Einwanderungsbeamte, der eine afghanische Familie ausspioniert, bis sie ihm so ans Herz wächst, dass er in einem entscheidenden Augenblick seine Pflichten vernachlässigt…
Jamil Jan Kochai erzählt direkt aus dem Wahnsinn unserer Gegenwart, mal überbordend in seinem Einfallsreichtum, mal schonungslos klar. Seine Geschichten handeln von der ewigen Heimsuchung des Krieges, aber auch von seiner Bannung in der Sprache und der Fantasie.
JAMILJANKOCHAI wurde in einem afghanischen Flüchtlingscamp in Pakistan geboren, ist aufgewachsen in den USA. Sein Roman »99 Nächte in Logar« stand auf der Shortlist des PEN/Hemingway Award für das beste Debüt und war nominiert für den DSC Prize for South Asian Literature. Mit dem Erzählband »Die Heimsuchung des Hadschi Hotak« stand er auf der Shortlist des National Book Award und gewann den Aspen Words Literary Prize sowie den Clark Fiction Prize. Kochai lehrt Kreatives Schreiben an der California State University, Sacramento.
JAMIL JAN KOCHAI
Erzählungen
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
Luchterhand
Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »The Haunting of Hajji Hotak« bei Viking, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Copyright © 2022 by Jamil Jan Kochai
All rights reserved
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe
2025 Luchterhand Literaturverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben | Köln
Umschlagmotiv: © Freepik/Dramatic-black-and-
white-mountainous-landscape-wit
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-30808-7V002
www.luchterhand-literaturverlag.de
facebook.com/luchterhandverlag
Für Jalil und Marwand
Wohin also wollt ihr gehen?
Der heilige Koran 81:26
Metal Gear Solid V: The Phantom Pain spielen
Zurück an den Absender
Genug!
Bakhtawara und Miriam
Hungriger Ricky Daddy
Sabas Geschichte
Berufsrisiken
Eine Vorahnung: Rückblickend betrachtet
Warten auf Gulbuddin
Die Parabel von den Ziegen
Die Geschichte von Dullys Wandlung
Die Heimsuchung des Hadschi Hotak
Dank
Glossar
Erst musst du das Geld holen, um das Spiel im örtlichen GameStop vorzubestellen, wo dein Cousin arbeitet, und obwohl er es über sein Angestelltenkonto laufen lässt, liegt der Preis immer noch leicht über deiner Schmerzgrenze, weil du deinen Verdienst von Taco Bell dazu brauchst, deinem Pa zu helfen, der seit deinem zehnten Lebensjahr ohne Arbeit ist und dich mit unerträglichen Schuldgefühlen erfüllt, wenn du Geld für nutzlose Dinge ausgibst, während Kids in Kabul ihre Körper ruinieren, um Anwesen für weiße Geschäftsleute und Warlords zu bauen – aber Scheiße, es ist Kojima, es ist Metal Gear, und so hast du nach Knapsen und Knausern (und den buchstäblichen Dimes, die du von der Straße aufliest) genug Bares und gibst es deinem Cousin, der das Spiel für dich kauft, und dann, am Tag, an dem es herauskommt, musst du nur noch eine Möglichkeit finden, zum Laden zu kommen.
Weil dein ältester Bruder mit dem Civic zur Sac State gefahren ist, hievst du deinen Hundertzwanzig-Kilo-Hintern auf ein Fahrrad, das du seit der Mittelschule nicht angerührt hast, und bereust den ganzen Taco-Bell-Scheiß, den du während der letzten zwei Jahre gegessen hast, aber Allah sei Dank (wenn Er denn da oben ist) trittst du mit solch einer Leidenschaft in die Pedale, dass du der Zweite in der Schlange bist, und es ist dein Cousin selbst, der dir das Spiel in einer braunen Papiertüte gibt, als wäre es etwas Gesetzwidriges, Verbotenes, was es natürlich nicht ist, es ist Metal Gear, es ist Kojima, es ist das letzte Spiel einer ganzen Serie, ein so fundamentaler Teil deiner Kindheit, dass du, wenn du den irisch-gälischen Chor mit The Best Is Yet to Come hörst, oft nicht anders kannst und leise auf dein Keyboard heulst.
Aus irgendeinem Grund ist die Fahrt zurück leichter.
Du stellst dein Fahrrad hinter den Mülleimern neben dem Haus deines Vaters ab, springst über den Holzzaun in den Garten, und wenn die Garagentür verschlossen ist, was sie ist, musst du dein Glück an der Fliegentür hinten versuchen, und siehe da, dein Vater steht knöcheltief im Dreck, vorgebeugt und mit bloßen Händen reißt er Unkraut aus, wie er es als Bauer in Logar gemacht hat, bevor der Krieg und der Hunger ihn dazu gezwungen haben, an die Westküste des amerikanischen Imperiums zu fliehen, wo er viele Jahre schwer gearbeitet hat, bis sein Körper endgültig kaputt war, und auch wenn ihm sein Arzt alle Gartenarbeit verboten hat, wegen maroden Nerven im Nacken und Rückgrat, die, wie du von deiner Mutter weißt, ihren ersten Schaden erlitten haben, als er im Krieg mit den Russen von den Angreifern kurz nach dem Mord an seinem jüngeren Bruder Watak gefoltert wurde, und jetzt steht er da draußen und wühlt in der Erde, als grabe er nach einem Schatz oder sein eigenes Grab.
Als er dich nur zwei Schritte von der Glasschiebetür entfernt sieht, winkt er dich heran, und obwohl du erschöpft und verschwitzt bist, deine Füße wehtun und du das wichtigste Spiel des Jahrzehnts in der Unterhose stecken hast, gehst du zu ihm hin.
Er bedeutet dir, dich neben ihn zu hocken, und fährt sich mit seinen schmutzigen Fingern durchs Haar, bis es ihm weiß vom Schädel auf Schultern und Bart schneit.
Das ist nicht gut.
Wenn sich dein Vater mit der Hand durchs Haar fährt, dann, weil er seine fürchterlich rieselnden Schuppen vergessen hat, was ihm nur in Situationen heftiger emotionaler oder körperlicher Anspannung passiert, und das bedeutet, dass er dir eine Geschichte erzählen wird, die erschütternd, entsetzlich oder beides ist, was nicht fair ist, weil du ein Sohn und kein Therapeut bist.
Dein Vater ist ein dunkler, stämmiger Mann und so anders als du, dass du als Kind sicher warst, eines Tages würde Hagrid an deine Tür klopfen und dich darüber informieren, dass du ein »Schlammblut« wärst, womit dein wahres Leben begänne – ein Leben ohne die Last der Geschichte deines Vaters, ohne Schmerz, Schuld, Hoffnungs- und Hilflosigkeit, Verurteilung und Scham.
Dein Vater fragt dich, wo du warst.
»In der Bibliothek.«
»Musst du lernen?«
Du sagst ja, was eigentlich keine Lüge ist.
»All right«, sagt er auf Englisch, weil er es aufgegeben hat, mit dir Paschto zu sprechen, »aber wenn du fertig bist, komm wieder runter, ich muss mit dir über etwas reden.«
Schnell.
Als du in dein Zimmer kommst, verschließt du die Tür und drehst MF Doom auf deinem tragbaren Lautsprecher auf, um Mütter, Väter, Großmütter, Schwestern und Brüder abzuwehren, die dir wieder mal wegen der Beterei auf die Nerven gehen wollen, wegen dem Koran, Paschto, Farsi, einem neuen Job, neuem Unterricht, Sport, Basketball, Joggen, Reden, Gästen, Pflichten, Hilfe bei den Hausaufgaben, Hilfe im Bad, Zeit für die Familie, und für gewöhnlich erfüllt Madvillainy da seinen Zweck.
Öffne die braune Papiertüte und wirf das Kusch weg, das dein Cousin zu deinem Spiel gepackt hat, weil er einen neuen Kumpel zum Kiffen braucht und dich als sein Hauptziel ausgemacht hat, wahrscheinlich weil er denkt, du hast nichts Besseres zu tun, bist nicht so religiös wie deine Brüder oder versuchst verzweifelt, der erbarmungslosen Natur des physischen Lebens zu entkommen, und gottverdammt, die Afghanistankarte, die dem Spiel beiliegt, ist verfickt wundervoll.
Nicht, dass du ein Patriot wärst, ein Nationalist oder einer von den Afghanen mit Pakol und Kamis, die Tabla spielen und behaupten, Ahmad Zahir sei ihr Lieblingssänger, aber die Tatsache, dass das Afghanistan der 1980er das finale Setting der legendärsten und künstlerisch bedeutendsten Videospielreihe der Geschichte ist, hat dich noch verrückter darauf gemacht, dieses Spiel in die Hände zu bekommen, besonders, da du in Call of Duty schon so lange Afghanen erschießt, dass du auf komische Weise immun geworden bist gegen den Selbsthass, den du zu Anfang dabei verspürt hast, Welle um Welle angreifender Kämpfer niederzumähen, die alle aussahen wie dein Vater.
Und jetzt fang endlich an zu spielen.
Nachdem ihr dem Massaker im Krankenhaus entkommen seid, bewegt ihr euch, du und Revolver Ocelot, auf die brutalen Szenen Nordkabuls zu, seine Felsenkliffs, schmutzigen Straßen und das Sonnenlicht, das wie Blut in die dunklen Berge rinnt, genau so, wie du es noch in Erinnerung hast von vor all den Jahren, als du als Kind dort warst, und auch wenn dein erster Auftrag eigentlich darin besteht, Kazuhira Miller zu finden und zu befreien, The Phantom Pain ist das erste Metal-Gear-Spiel, das in einer offenen Welt spielt, und du beschließt, die Rettung von Kaz Miller zurückzustellen und deine Hände erst mal in Sowjetblut zu tauchen.
Dein Vater, das weißt du, hat während seiner Jahre als Mudschahed in Logar nicht einen einzigen Russen getötet, aber die sowjetischen NPCs zu schlachten, hat etwas, das dir das Gefühl gibt, dich mit ihm und seiner Kriegsgeschichte zu verbinden.
Mit dem Gedanken an deinen Vater und sein kleines Dorf in Logar wendest du dich in Richtung Süden, um die äußeren Grenzen der Welt von The Phantom Pain zu erkunden, kreuzt Wege, durchquerst Wüsten und überwindest Bergpässe, hältst gelegentlich an einem Checkpoint oder einer Kaserne, um noch ein paar Russen niederzumetzeln, und umgehst schließlich, unglaublich, Kabul, das immer noch von den Russen gehalten wird, und ziehst weiter nach Logar zu Mohammad Agha, und als du nach Wagh Jan kommst, dem Marktflecken, der an der Hauptstraße von Kabul nach Logar liegt, genau so, wie du es in Erinnerung hast, bindest du dein Pferd an und schleichst an den Lehmmauern entlang, den Läden, kletterst auf Mauern und kriechst über Dächer, und wann immer dich ein örtlicher Afghane entdeckt, schaltest du ihn mit dem Betäubungsgewehr aus, bis du an die Brücke kommst, die über die inneren Gassen des Heimatdorfes deiner Eltern führt, Naw’e Kaleh, das den Fotos und deinen eigenen verschwommenen Erinnerungen von deiner Reise als Kind dorthin so gleicht, dass dir mulmig wird, es ist noch keine Angst, aber ein geradezu überwältigendes Gefühl von Déjà-vu.
Du schleichst über unbefestigte Straßen, vorbei an goldenen Feldern, Apfelgärten und durch Labyrinthe aus Lehmmauern, bis du das Haus erreichst, in dem dein Vater gewohnt hat, und dort, auf der Straße vor dem Haus deines Vaters, entdeckst du Watak, seinen sechzehn Jahre alten Bruder, den du nur erkennst, weil sein Foto (ohne ein Lächeln, der Kopf kahl rasiert, auf ewig sechzehn) bei dir zu Hause an der Wand des Zimmers hängt, in dem deine Eltern beten.
Aber da ist er, in deinem Spiel, und du drückst auf Pause, legst den Controller zur Seite, und jetzt hast du Angst.
Der Schweiß läuft dir in Rinnsalen, Bächen die Beine hinunter, dein Herz pocht, und du fragst dich, ob dich deine Schnüffelei am Kusch vorher angetörnt hat.
Du blickst aus dem Fenster, siehst deinen Bruder durch die Dunkelheit auf das Haus zukommen und begreifst, dass du schon zu lange spielst.
Du blinzelst wie verrückt.
Zu viel.
Du stellst fest, dass Chaos herrscht in deinem Zimmer, dass es stinkt wie die Sau und du dich so an den Gestank und das Chaos gewöhnt hast, dass du von dem Ort in deinem Kopf, hinter deinen Augen, dem Ort, wo dein Ego-POV verwurzelt ist …
Überhöre das Klopfen.
Es ist nur deine kleine Schwester.
Kehre zurück ins Spiel.
Neben Watak steht ein bärtiger, massiger Mann, der, wie du bald begreifst, dein Vater ist.
Du drückst erneut auf Pause und legst den Controller zur Seite.
Doom spuckt: »Sein Leben ist wie ein Märchen … Warum so steif, du musst mehr rauchen, Kumpel … statt mit dem abgebrannten Kriegsveteranen rumzumachen.«
Es scheint dir ein Zeichen zu sein.
Du holst das Kusch aus dem Abfall, und weil du weder Streichhölzer noch ein Feuerzeug hast, steckst du dir große Stücke davon in den Mund, kaust darauf rum und übergibst dich zweimal fast.
Zurück ins Spiel.
Im Maulbeerbaum deines Großvaters versteckt, hörst du, wie dein Vater und sein Bruder besprechen, was sie zum Sahur essen werden, womit klar wird, dass es Ramadan ist, nur ein paar Tage vor Wataks Ermordung.
Dann weißt du es.
Du wirst Folgendes tun: Bevor dein Vater gefoltert und sein Bruder ermordet wird, betäubst du sie beide, trägst sie zu deinem Pferd und bringst sie über Land zu einem sicheren Ort, wo du einen Hubschrauber rufen und sie zu deiner Offshore-Plattform schicken kannst: Mother Base.
Aber gerade, als du dein Betäubungsgewehr lädst, hämmert dein Bruder gegen die Tür und will, dass du rauskommst, und nachdem du ihn eine Weile ignoriert hast, weswegen er nur noch wütender und lauter wird, schreist du, dass du krank bist, aber die Stimme, die da aus deinem Mund kommt, ist nicht deine eigene, es ist die Stimme eines weit entfernten Mannes, der deine nachmacht, und dein Bruder hört es.
Er geht weg, und du wendest dich wieder dem Spiel zu.
Aus dem Schutz des Maulbeerbaums legst du dein Betäubungsgewehr an, denkst aber nicht daran, dass du dein Laserzielfernrohr eingeschaltet hast, und Watak sieht den roten Punkt auf der Brust deines Vaters, und weg sind sie, rennen davon, feuern mit Gewehren auf deinen Baum, die sie unter ihren Patus versteckt hatten, und du wirst zweimal getroffen und brauchst ein paar Augenblicke, um deine Gesundheit wiederherzustellen, und als es so weit ist, sind sie nicht mehr da.
Dein Bruder ist zurück, und diesmal hat er deinen ältesten Bruder mitgebracht, der lauter schreien und fester gegen die Tür bollern kann als dein zweitältester Bruder, und sie wollen beide wissen, was du da treibst und warum du nicht rauskommst, warum du nicht endlich erwachsen wirst, sondern darauf bestehst, deiner Mutter und deinem Vater solche Sorgen zu machen, wo die beiden doch, wie du weißt, so schlimme Migräne kriegen durch die ganze Anspannung, und jetzt hämmert dein ältester Bruder so heftig gegen die Tür, dass du fürchtest, sie könnte aus den Angeln fliegen, und du zerrst deine Kommode als Barrikade davor und bist auch schon wieder auf deinem Platz am Bildschirm, sitzt auf dem Boden und drückst Play.
In der Nacht, im Schutz der Dunkelheit, schleichst du dich zum Besitz deines Vaters, du erklimmst die über vier Meter hohe Lehmmauer und kriechst über Dächer, bis du zum höchsten Punkt kommst, wo dein Vater nach heranfliegenden Jets und Feuerbomben Ausschau hält, und du schießt ihm zweimal mit dem Betäubungsgewehr in den Rücken, und als er fällt, fängst du ihn auf, deinen Vater, der zu der Zeit etwa so alt war wie du heute, und da in der Dunkelheit, auf dem Dach des Anwesens, das er durch diesen Krieg verlieren wird, hältst du ihn, sein Körper ist noch voller Kraft und gesund, sein Herz ungebrochen, und du legst ihn sanft ab, damit der Himmel ihn nicht verschlingt.
Du kletterst hinunter auf den Hof, gehst von Zimmer zu Zimmer, siehst Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen, die du im wirklichen Leben nie gesehen hast, und findest Watak beim Kuhstall, wo er direkt hinter der Tür eines Zimmers voller Frauen schläft, als wollte er sie beschützen, und nachdem du dein Betäubungsgewehr auf ihn gerichtet und ihn in einen noch tieferen Schlaf geschickt hast, erhebt sich deine Großmutter, die ewig Schlaflose, von ihrem Toschak, schlägt dir eine Machete in die Schulter und ruft nach den Männern des Hauses, von denen es viele gibt, sie sollen aufwachen und den russischen Attentäter töten, der gekommen ist, um sie alle umzubringen.
Die Wunde durch die Machete ist erheblich.
Trotzdem hast du noch genug Kraft, deine Großmutter zu betäuben, Watak mitzunehmen, zurück aufs Dach zu klettern, und während all deine Onkel und Cousins und sogar dein Großvater aufwachen, sich bewaffnen und auf deine Beine zu schießen beginnen, hetzt du, blutend und ermattet, zu der Stelle, wo dein Vater liegt.
Mit deinem Onkel auf der einen und deinem Vater auf der anderen Schulter springst du vom Dach in den Schatten eines Apfelgartens.
Die Männer strömen auf die Straßen und Felder, rufen ihre Nachbarn und Verbündeten, und weil der Garten mit den Apfelbäumen bald auf allen Seiten umzingelt ist, scheint es sicher, dass sie dich fangen, aber du wirst ausgerechnet von einer Spetsnaz-Schwadron gerettet, die auf die Dorfbewohner zu schießen beginnen, und in der allgemeinen Verwirrung, während das ganze Dorf von Hunderten Feuergefechten erleuchtet wird, jedes Gefecht ein Mikrokosmos größerer Schlachten, Kriege und globaler Konflikte, verbunden durch die unsichtbaren Bande geliebter Menschen, die friedlich im Schlaf sterben, entkommst du aus dem Garten und passierst Wege, Bäche, Flüsse und Maulbeerbäume, bis du dein Pferd erreichst und aus Wagh Jan zu einem Fluchtpunkt in den nahen Schwarzen Bergen reitest.
Aber jetzt ist dein Vater an der Tür.
»Mirwais?«, sagt er sehr sanft, so wie er es zu tun pflegte, als du noch ein Kind warst, in Logar, als du die Grippe hattest und die Tabletten, Infusionen und Hausmittel nicht halfen, als man nur abwarten konnte, dass die Schmerzen nachließen, als dein Vater da war, vielleicht im Garten, vielleicht auf der Veranda, und dich auf dem Schoß hielt, dir mit den Fingern durchs Haar fuhr und deinen Namen sagte, so wie er es jetzt tut, fast so, als wäre es eine Frage.
»Mirwais?«, sagt er, und, als du nicht antwortest, nichts mehr.
Mach weiter.
Russen jagen dich zu Lande und in der Luft, schießen auf dich, und du wirst einmal, zweimal, drei- oder viermal getroffen, und es sind so viele Russen, aber dein Pferd ist schnell und beweglich, kommt mit dem Terrain besser zurecht als die russischen Trucks, und du schaffst es zum Fluchtpunkt in einem Kessel in den Schwarzen Bergen und hast genug Zeit, dich mit einem Minengürtel zu schützen, versteckst deinen Vater und seinen Bruder in einer Höhle hinter einem großen Felsen, der die Form eines niedergeworfenen Gläubigen hat, legst dich mit deinem Scharfschützengewehr hin und fängst an, russische Fallschirmjäger ein Stück entfernt auszuknipsen, zielst auf die Motoren von Trucks und ignorierst die Panzer, die dich zuletzt erreichen werden, und es sind nur noch Augenblicke, bis dein Hubschrauber kommt, und gerade, als du denkst, du schaffst es, wird dein Pferd in einem Kugelregen erschossen, dein Pilot von der Kugel eines einzelnen Schützen getroffen, und der Hubschrauber stürzt ab und geht in Flammen auf, tötet dabei aber zahllose Russen und verschafft dir gerade genug Zeit, in die Höhle zu rennen, ins Herz der Schwarzen Berge.
Mit deinem Vater auf der einen und deinem Onkel auf der anderen Schulter, während das Aufblitzen des russischen Gewehrfeuers am Rand deines Gesichtsfeldes verblasst, schleppst du dich tiefer in die Finsternis der Höhle, und auch wenn du nicht sicher sein kannst, dass dein Vater und sein Bruder noch leben, dass sie in all dem Chaos nicht erschossen wurden und jetzt nur mehr Leichen sind, fühlst du dich gezwungen, immer weiter in die Finsternis vorzudringen, die so tief ist, dass dein Spiegelbild auf dem Bildschirm vor dir aufscheint, und es ist, als würden sich die Gestalten des Spiels in dir bewegen und sich in dein Fleisch graben.
TOBESAVED.
Obwohl Dr. Yusuf Ibrahimi kein Salat mehr gesprochen hatte, seit sein Vater mit seinem mächtigen Bart vor fast zehn Jahren an einer absolut heilbaren Krankheit gestorben war, wachte er immer noch bei jedem Fadschr-Adhan auf und führte einen fortdauernden Krieg mit dem Geist des väterlichen Barts. Nachdem er sich rasiert und die Schnitte versorgt hatte, ging Yusuf in die Küche, wo er zwei Tassen Tee trank und etwas las. Und es war dort, in der Küche seiner Wohnung in Kabul, wo er das erste Mal das Klopfen hörte. Der gedämpfte Ton, nur einer, erklang so leise, so unerwartet und so früh am Morgen, dass sich Yusuf zunächst fragte, ob er sich vielleicht verhört hatte. Das Phantomklopfen eines Dschinns, an den Yusuf seit seinem ersten Semester an der Universität in Berkeley nicht mehr glaubte. Ein paar Augenblicke lang saß er dort in der Küche an seinem Tisch, den Daumen fest auf die Ecke der zweiten Seite einer existentialistischen Abhandlung gedrückt, die er im Laufe der Woche für immer aufgeben sollte, und blickte in den Flur, vorbei am Zimmer seines Sohnes, hin zur stabilen Stahltür seiner ziemlich großen Wohnung und wartete. Natürlich wartete er auf das zweite Klopfen, ließ dann aber davon ab, als Momente später immer noch nichts passiert war.
Yusuf sah auf den Gang hinaus, erst nach links, dann nach rechts, und hätte fast den kleinen Karton nicht bemerkt, der nur Zentimeter von seinem kürzlich angeschwollenen kleinen Zeh entfernt lag.
Nun, hoffentlich ist es keine Bombe, dachte Yusuf und hätte beinahe losgelacht.
Amina träumte.
Sie arbeitete nachts im Krankenhaus und schlief morgens. Noch nie in ihrem Leben war sie so müde gewesen. Seit sie vor sechs Monaten nach Kabul gezogen waren, schien es, als hätte man das gesamte örtliche Krankenhaus allein ihr und Yusuf auf die Schultern geladen. Sechs Ärzte, elf Schwestern, acht Hebammen, insgesamt fünfzehn Helferinnen und eine absolut unfassbare Anzahl Patienten. Am Anfang hatte sich das junge Paar voll der neuen Aufgabe gewidmet. Amina arbeitete nachts, Yusuf übernahm die Tagschichten, und ihre Leben schienen wie zwei alternierende Monde um das Krankenhaus zu kreisen. Wenn einer kam, ging der andere. War der eine wach, schlief der andere. Wenn sie miteinander redeten, ging es entweder ums Krankenhaus oder um ihren achtjährigen Sohn: Ismael. Und wenn sie gelegentlich miteinander schliefen, schien es aus gewichtiger Notwendigkeit zu geschehen, sie glichen müden Pilgern, die auf der Suche nach Land auf die See hinausgeschickt worden waren. Falls es Unmut darüber gab, brachten ihn beide nicht zum Ausdruck oder gestanden ihn ein. Es war ihre Pflicht, dachte Amina, ihre jahrelange Prüfung.
Amina war eine ausgebildete Kinderärztin, hatte während der letzten sechs Monate aber Gliedmaßen amputiert, Wunden verätzt, zwei ungenehmigte Sterilisationen vorgenommen und heimlich bei einem Suizid geholfen, wovon selbst ihr Mann nichts wusste. Sie hatte Patienten ohne jeden Beistand in ihr Krankenhaus kommen sehen, die die Überreste ihrer eigenen verlorenen Gliedmaßen mitbrachten. Siebenmal verbrannte sie sich an geschmolzenem Fleisch. Sie trug Männer, die einmal doppelt so schwer wie sie gewesen, aber halbiert worden waren, und legte sie auf Bahren und Betten und manchmal auch, wenn es nichts anderes gab, auf eine dünne Decke direkt auf den Boden. Sie hatte Soldaten und Kämpfer wie Kinder schluchzen hören, kleine dunkelhäutige Jungen mit einer Verwunderung, die in dem Moment fast etwas Heiliges an sich hatte, auf ihre verlorenen Hände und Füße blicken sehen. Tatsächlich waren so viele Kinder in ihrer Obhut, in ihren Armen gestorben – ihre Augen, ihre Wimpern hatten hoch in ihr Leben gestarrt, vom Rand des Todes, und dann nicht länger vom Rand, sondern tief aus ihm selbst –, dass sie angefangen hatte, ihren eigenen Sohn Ismael mit anderen Augen zu betrachten. Ismael, dessen Züge, wie sie zugeben musste, im Laufe der Monate zunehmend verschwommen geworden waren. Manchmal, nach einer besonders brutalen Schicht, schlich sich Amina morgens in Ismaels Zimmer und verweilte an seinem Bett. Mit geschlossenen Augen suchte sie unter der Decke nach seinen Händen oder Füßen, und wenn sie sie fand, brachte sie ihre Weichheit fast zum Weinen.
Nachdem sie aus einem angenehmen Traum aufgewacht war, stand Amina nicht gleich auf, als sie ein gedämpftes Klopfen an der stabilen Tür ihrer ziemlich großen Wohnung hörte. Der Deckenventilator über ihr stand still in der drückenden Hitze. Wie gewöhnlich war der Strom in ihrem Gebäude irgendwann vor dem Fadschr ausgefallen. Sie wohnten in einem relativ gut bewachten Apartmentkomplex direkt bei der Kart-e-Naw-Straße, oben auf einer Anhöhe, die fast so unverschämt steil war wie ihre Miete hoch, mit der sie, wie ihr Vermieter behauptete, auch für die Sicherheit bezahlten, die Ausstattung (fließendes Wasser, ein Gasherd), den momentan defekten Aufzug und das gute Viertel, in dem hauptsächlich öffentliche Angestellte, Geschäftsleute und andere Angehörige der Kabuler oberen unteren Mittelschicht wohnten. Zu Aminas Freude war kaum ein Ausländer darunter.
Immer noch leicht berauscht von der Logik ihrer Träume, versuchte Amina eine Weile lang, die Blätter ihres Ventilators telepathisch in Bewegung zu versetzen. Das gedämpfte Klopfen dauerte an. Sie setzte sich auf und ließ die Füße über den Rand des Betts hängen. Amina war sowohl dunkler als auch kleiner als ihre sechs Schwestern und hatte schon in jungem Alter begriffen, dass sich daran nichts ändern ließ. Doch statt sich in ihrem scheinbaren Unglück zu suhlen, hatte sie nie die Sonne gemieden, keine Unterrichtsstunde verpasst, für keinen der Jungen Zeit gehabt (mit Ausnahme am Ende für Yusuf) und streckte und reckte sich jeden einzelnen Morgen, um sich ihre soldatische Haltung zu bewahren.
Es war wegen dieses Sich-Streckens, dass Amina zunächst nicht zur Tür ging. Dann, weil sie dachte, ihr Mann ginge. Dann, in der Annahme, dass Yusuf schon etwas früher zum Krankenhaus aufgebrochen war, wurde Amina bewusst, dass sie bisher aus dem einfachen Grund nicht zur Tür gegangen war, weil sie Angst hatte. Sich für ihre Angst schämend, legte sie den weißen Tschador an (von der Art, wie ihn ihre Mutter getragen hatte) und ging den Besucher begrüßen.
Im Gang sah sie auf der zerschlissenen Matte, die ihr Vormieter zurückgelassen hatte, gleich das, wie sie nicht wusste, zweite Päckchen, das an diesem Morgen vor ihre Tür gelegt worden war.
»Yusuf«, rief sie zurück in die Wohnung, nur um sicherzugehen. Als sie keine Antwort bekam, nahm sie den kleinen Karton, trug ihn in die Küche und stellte ihn vorsichtig auf den Tisch neben das offen daliegende Exemplar von Der Mythos des Sisyphos, das ihr Mann las, obwohl sie ihm erklärt hatte, dass Camus ein Rassist sei.
»Und Aristoteles hat Kinder vergewaltigt«, hatte Yusuf entgegnet, wobei Amina nicht sagen konnte, was das damit zu tun haben sollte.
Auf dem Päckchen stand weder eine Adresse noch ein Name. Sie wusste nicht, ob es für sie oder ihren Mann war, und sie war nicht der Typ, der in anderer Leute Sachen herumschnüffelte.
Aber als Amina sich umdrehte, um die Küche zu verlassen und nach Ismael zu sehen, warf sie zufällig noch einen letzten Blick auf die Kartonschachtel zwischen Camus und dem Chai, die in genau dem Moment zu erzittern schien. Die Bewegung war so winzig, dass Amina sogleich bezweifelte, tatsächlich etwas gesehen zu haben. Die Kartonschachtel lag völlig ruhig da. Aber jetzt konnte sie nicht mehr anders. Sie näherte sich dem Päckchen, als wäre es ein kleiner, verwundeter Vogel, nahm es in die linke Hand, riss das Klebeband vom Deckel und fand innen in der Schachtel, eingewickelt in Fleischerpapier, ohne eine Nachricht, einen Namen oder eine Begründung, den abgetrennten Zeigefinger ihres einzigen Kindes, dessen Namen sie zu ihrem Entsetzen plötzlich nicht mehr wusste.
Ismael.
Sein Name war Ismael.
Als sie Ismaels immer noch mit Henna gefärbten abgetrennten Finger anstarrte, konnte Amina nicht wissen, dass es der zweite Finger war, der an diesem Morgen vor ihre Tür gelegt worden war.
Den ersten Finger hatte ihr Mann Yusuf, der sechzehn Stockwerke unter ihr die letzten vier Treppen des Gebäudes hinunterhumpelte. Vor lauter Eile, den Überbringer des Päckchens zu erwischen, war er gestolpert und hatte sich das Fußgelenk gleich auf den ersten Stufen verletzt. Seit dem Bombenalarm vor zwei Wochen war der Aufzug außer Betrieb. Wären sie in eine der befestigten Anlagen gezogen, die er empfohlen hatte – mit den Amerikanern, den privaten militärischen und wirtschaftlichen Vertragsnehmern, den Journalisten, Diplomaten, Auswanderern und all den anderen glücklichen Arbeitenden, die vernünftig genug waren zu begreifen, dass sie in einem Kriegsgebiet lebten und nicht in einer touristischen Attraktion – gäbe es keinen Grund zur Sorge. Aber Amina wollte unbedingt unter ihren Leuten leben. Auch wenn es bedeutete, ihr Leben zu riskieren. Und so humpelte Yusuf auf seinem, wie er fast sicher wusste, gebrochenen Fußgelenk auch noch die letzte Treppe hinunter. Trotz des pulsierenden Schmerzes in seinem Bein sprintete er beinahe aus dem Gebäude auf den Parkplatz des Komplexes, wo seine Nachbarn viel beschäftigt herumwuselten, von denen einer, das wusste er, mit der Zustellung des Päckchens zu tun hatte, das er in den Händen hielt.
Dank des Opferfestes Eid ul-Adha waren auch Kinder auf dem Parkplatz. Zu Hunderten. Sie hatten ihn in ein provisorisches Spielfeld für ein Cricketturnier verwandelt. Es wurden wahrscheinlich zwanzig Spiele gleichzeitig ausgetragen. Die Kinder hatten sich ausreichend Platz zwischen Autos und Läden, in den Durchgängen zwischen den Gebäuden und auf den Wegen geschaffen, immer, wie es schien, kurz davor, auseinanderzustieben. Yusuf hatten diese Kinder von Beginn an irritiert. Ihr Fluchen, Spucken, Sich-Schlagen, Schreien, immer dieses Geschrei und die durchdringenden Blicke, als wüssten sie, dass er nicht hierhergehörte. Ihr Hang zu Gewalt und Krankheit. Ihre ganze unbeaufsichtigte Existenz. Und jetzt, wo sein Sohn verschwunden war, dessen Finger er in einem dünnen Stück Fleischerpapier eingewickelt mit sich trug, hasste Yusuf diese Kinder mit einem Furor, den er, so fürchtete er, womöglich nicht kontrollieren konnte. Glücklicherweise stand der nächste Wachmann in entgegengesetzter Richtung, ein dunkler, untersetzter Polizist, der den Fluss der durch die Tore hinein- und hinausströmenden Menschen beobachtete, ohne zu ahnen, dass er mit ziemlicher Sicherheit einen Schlächter hindurchgelassen hatte. Yusuf eilte zu ihm und schrie in seinem gebrochenen Farsi, dass sein Kind verschwunden sei.
Der Polizist antwortete ihm auf Paschto.
»Mein Junge ist verschwunden«, wiederholte Yusuf auf Farsi.
Der Polizist sagte etwas auf Paschto, lachte und zeigte zu den Cricketspielern hinüber.
»Nein«, rief Yusuf auf Englisch, »er ist entführt worden.«
Der Polizist schien noch konfuser als zuvor.
Endlich dachte Yusuf daran, ihm den Finger zu zeigen.
Amina war noch in der Küche und balancierte Ismaels zweiten Finger auf ihrer Handfläche. Er war genau am Ansatz abgeschnitten, wie bei einer chirurgischen Operation. Er blutete nicht. Aber es war nicht das fehlende Blut, auch nicht die Präzision des Schnitts, die seltsame Fluoreszenz oder seine Ankunft in dem Päckchen, die Amina so lähmte.
Nein.
Amina vermochte sich nicht zu bewegen, weil sich der abgetrennte Finger in ihrer Hand langsam zu krümmen und zu strecken schien. Was für ein Wunder (fühlte Amina, konnte es aber nicht denken), dass sie überhaupt fähig war, dort zu stehen und zu atmen, und ihre Bänder und Knochen und die Muskeln, die diese Bänder und Knochen zusammenhielten, nicht in sich zusammenfielen. Der Finger krümmte sich. Sie wusste, dass er es tat, weil das Fleischerpapier darunter jedes Mal knisterte. Sie sah sein Sich-Krümmen mit den Augen in den Höhlen ihres Schädels, hörte das Knistern des Papiers mit den Ohren seitlich an ihrem Kopf, die immer noch, wie ihr bewusst wurde, mit dem weißen Tschador bedeckt waren.
Da hörte sie zum zweiten Mal das Klopfen.
Sie rannte zur Tür, wo sie im Gang auf der Matte eine weitere kleine Schachtel fand. Dieses Mal war es ein Ohr. Wie der Finger war es mit einem präzisen Schnitt abgetrennt worden, chirurgisch, und auch wenn es sich erst nicht bewegte, als Amina es in seinem Fleischerpapier anhob, nahe an ihre Lippen brachte und flüsterte: »Wo ist der Rest von dir?«, schien das Ohr in ihrer Hand zu pulsieren.
Yusuf verstand die Frage nicht.