Die Helligkeit der letzten Tage - Jan Off - E-Book

Die Helligkeit der letzten Tage E-Book

Jan Off

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Beschreibung

Was, wenn sich herumspricht, dass der Menschheit nur noch ein paar Tage auf dem Planeten Erde verbleiben? Gute Gefühle sind urplötzlich Mangelware. Stattdessen bestimmen Gesetzlosigkeit und Gewalt das Dasein. Und natürlich die Suche nach dem letzten großen Kick oder zumindest nach etwas, das das Warten aufs Jüngste Gericht erträglich gestalten könnte. Und so stellt sich, während religiöse Eiferer, krankhafte Ordnungsfanatiker und andere Irre mehr denn je danach trachten, dir dein Seelenheil zu rauben, vor allem eine Frage: Welches Rauschmittel kostet wie viel und womit willst du bezahlen, wenn Geld keine Bedeutung mehr besitzt?

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1. Auflage 2016

©opyright 2016 by Autor

Cover: TERMINALaRT

Lektorat: Miriam Spies

Satz: Fred Uhde, Leipzig (www.buch-satz-illustration.de)

ISBN: 978-3-95791-055-4

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder eine andere Verwertung ist

nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet.

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Mehr Infos jederzeit im Web unter www.unsichtbar-verlag.de

Unsichtbar Verlag | Wellenburger Str. 1 | 86420 Diedorf

DIE HELLIGKEIT DER LETZTEN TAGE

Jan Off

Delayed because of hyena-attack.

1

Ein brutaler Knall, als hätte keinen Meter entfernt jemand mit einem Hammer auf Stahlblech geschlagen. Erschrocken hob Marek den Blick, erwartete schon, ein Einschussloch in der Scheibe zu entdecken, oder wenigstens einen Vogel, der, irritiert vom unerwarteten Aufprall, mit hektischen Flügelschlägen dagegen ankämpfte, in die Tiefe zu stürzen. Stattdessen sah er eine weiße Masse das Glas hinabrinnen.

Im ersten Moment dachte er an Joghurt oder Dickmilch. Dann erkannte er, dass es sich um Farbe handelte, Wandfarbe wahrscheinlich. Da hatte wohl einer der vielen Verzweifelten, die sich seit mittlerweile zwei Tagen im gesamten Stadtgebiet erbitterte Kämpfe mit den Sicherheitskräften lieferten, ein gutes Stück daneben gezielt.

Marek stemmte sich vorsichtig aus dem Bürostuhl, schlich gebückt zum Fenster und spähte hinunter zur Straße. Auf der Kreuzung hatte sich eine etwa zweihundert Köpfe zählende Menge versammelt, aus der heraus alle nur erdenklichen Wurfgeschosse in Richtung einer erschreckend losen Polizeikette flogen, die vor dem Supermarkt postiert worden war. Keine Stunde zuvor hatte dort noch die dreifache Zahl an Uniformierten gestanden. Auch das gepanzerte Fahrzeug, das sie dabeigehabt hatten, war verschwunden. Das mochte nichts zu bedeuten haben, dennoch verstärkte sich die dumpfe Beunruhigung, die Marek mittlerweile schon zum festen Begleiter geworden war, ein weiteres Mal.

Zurück am Schreibtisch starrte er minutenlang auf den Bildschirm, ohne auch nur einen Buchstaben wahrzunehmen. Seine Hoden fühlten sich an, als wären sie auf die Größe von Weintrauben geschrumpft, in seinem Magen blubberte und brodelte es wie in einer Schwefel­quelle. Und wieder begaben sich seine Gedanken in dieses quälende Karussell, aus dem auszusteigen so schwerfiel, weil dessen bösartiger Betreiber die Sättel der Plastikpferde mit Sekundenkleber eingeschmiert hatte: Sollte sich tatsächlich das bewahrheiten, wovon das Internet, zumindest der Teil des Internets, der sich dem Einfluss staatlicher Kontrolle entzog, mittlerweile immer drängender kündete? Sollte das Leben wirklich in Kürze vorbei sein? Das Leben der Menschheit und wahrscheinlich auch das aller anderen Geschöpfe? Sein Leben? Die Vorstellung, dass er schon in wenigen Tagen nichts mehr sehen, nichts mehr schmecken, nichts mehr spüren sollte, überstieg Mareks Verstand. Er war doch noch jung. Und kerngesund dazu. Verdammt, er war doch quicklebendig! Nein, es konnte nicht sein, dass all seine Pläne, seine hochfahrenden Hoffnungen bereits im Hier und Jetzt ihr Ende fanden. Oder doch? Zum tausendsten Mal ließ er den Ablauf der Ereignisse Revue passieren.

Am Anfang hatte sich die offizielle Berichterstattung noch mit dem gedeckt, was über Twitter und ähnliche Kanäle verbreitet wurde. Es war ein Meteorit ausgemacht worden, der sich auf die Erde zubewegte. Zwar besaß dieses Exemplar eine nie dagewesene Größe, aber das stellte keinen Grund zur Beunruhigung dar, schließlich hatte man die Abwehr derartiger Bedrohungen in den letzten Jahren zu genüge durchgespielt. Es war denn auch schnell eine Lösung gefunden. Der Fremd­körper aus dem All sollte in einer konzertierten Aktion mit mehreren atomar bestückten Raketen beschossen und so im wahrsten Sinne des Wortes pulverisiert werden.

Bereits zu diesem Zeitpunkt waren erste mahnende Stimmen zu vernehmen gewesen. Aber zumeist ging es den Kritikern um die negativen Umweltauswirkungen, die der Einsatz von Atomwaffen ihrer Ansicht nach mit sich brächte. Dieser vergleichsweise dünne Singsang schwoll schnell zum Chor an, als die Aktion endlich angelaufen war, die versprochenen Erfolgsbilder aber ausblieben. Erst wurden dafür technische Probleme ins Feld geführt, gleich darauf dann doch noch Aufnahmen gesendet, die allerdings derart verschwommen waren, dass sie alles und nichts belegen konnten. Und dann waren plötzlich erste Regierungsvertreter abgetaucht, Behörden nicht mehr zu erreichen gewesen, Sachverständige verschwunden.

Keine drei Tage war das jetzt her.

Die Erklärung für diese mysteriösen Vorkommnisse lag auf der Hand und verbreitete sich entsprechend schnell, vor allem in der Netzgemeinde: Das Manöver war schiefgelaufen.

Wie genau, darüber gingen die Meinungen auseinander. Die einen behaupteten, die Raketen hätten ihr Ziel nur am Rand beschädigt, wenn nicht gleich ganz verfehlt. Die anderen, und das war die Mehrheit, hingen der These an, dass der monströse Klumpen zwar sehr wohl gesprengt worden war, jedoch derart dilettantisch, dass nun gleich ein ganzer Meteoritenschwarm auf den Planeten zuraste.

Hinsichtlich der Auswirkungen des vermuteten Fiaskos bestand dann allerdings wieder Einigkeit, zumindest was deren Heftigkeit anging. Im Detail mochten die prognostizierten Folgen des Einschlags, beziehungsweise der Einschläge, variieren, furchterregend waren sie alle. Von Aschewolken war die Rede, von Feuerwalzen und Flutwellen und schließlich von einer Phase, die einem atomaren Winter gleichkam und selbst noch den kleinsten Funken organischer Materie auslöschen würde.

Das letzte, was Marek gelesen hatte, bevor er vom Aufprall der Farbbombe ans Fenster getrieben worden war, war der Blog-Eintrag eines international renommierten Strahlenwissenschaftlers der Humboldt-Universität gewesen, der viele dieser Horrorvisionen bestätigte. Der Text hatte mit der zynischen Empfehlung geendet, den Augenblick zu genießen.

Marek fühlte Wut aufwallen und ließ mit einer schnellen Handbewegung das Notebook zuklappen. All diese neunmalklugen Prognosen brachten ihn nicht weiter. Er hatte in den letzten achtundvierzig Stunden ohnehin schon mehr Informationen aufgenommen, als einem durchschnittlichen Verstand bekömmlich war. Von Unruhe getrieben stand er auf und stellte sich erneut ans Fenster. Was er sah, verstärkte das Gefühl, die Wirklichkeit würde mit hundertachtzig Sachen vorbeirauschen, während er selbst dazu verdammt war, auf dem Standstreifen zu verharren. Denn auch wenn es vielleicht zu erwarten gewesen wäre, wirkte der Umstand, dass die Polizeikräfte mittlerweile vollständig von der Bildfläche verschwunden waren, vollkommen irreal.

Der Mob hatte sich diesen Umstand sogleich zunutze gemacht und war bereits dabei, den Discounter um seine Warenbestände zu erleichtern. An den aufgehebelten Eingangstüren herrschte ein reges Kommen und Gehen. Mit leeren Händen drangen die Leute in den Innenraum vor, beladen wie Zollfahnder, die ein Lager voller Markenfälschungen ausgehoben hatten, kehrten sie wieder zurück. Die Kräftigsten schafften gleich vier oder fünf Paletten Dosenbier, das sich besonders großer Beliebtheit erfreute.

Für einen Moment überließ Marek sich der Vorstellung, selbst zum Plünderer zu werden, den alten Kindheitstraum wahr werden zu lassen, alles einzustecken, was das Herz begehrte. Dann wurde dieses Bild von der Einsicht verdunkelt, dass derlei Tun nicht ungefährlich war, auch wenn sich keine Polizei mehr in der Nähe befand oder gerade deswegen. Außerdem hatte er noch genug zu Essen und zu Trinken im Kühlschrank. Genug jedenfalls bis zum …

Wann der Moment des Einschlags wohl genau erfolgen würde? Und vor allem: wo? In unmittelbarer Nähe? Oder vielleicht auf der anderen Seite der Erdkugel, was ja dann sicher ein bisschen Aufschub … Wieder begann die drohende Apokalypse sich in Bildern zu manifestieren.

Aber auch die Gestalten, die da so dreist ihrer Gier nach Alkohol und anderen Genüssen freien Lauf ließen, spukten nach wie vor durch seinen Kopf. Denn natürlich stellte sich Frage, womit die letzte, kurze Spanne des Daseins, seines Daseins gefüllt werden sollte. Rausch war in jedem Fall eine Option. Arbeit weniger. Marek warf einen flüchtigen Blick auf die Skizzen, die sich auf der Schreibtischplatte türmten, und konnte es nicht verhindern, dass ein bitteres Lächeln über sein Gesicht huschte.

Nein, Arbeit schied aus, selbst wenn er, was nun wahrlich nicht der Fall war, die seine als freudvoll empfunden hätte. Denn Arbeit brauchte immer ein Gegenüber, einen Kunden, einen Auftraggeber, damit sie einen Sinn bekam. Marek musste an todkranke Künstler denken, die ihre letzten Stunden damit zubrachten, ein weiteres Bild, ein weiteres Buch, eine weitere Komposition zu vollenden oder wenigstens voranzutreiben, um der Nachwelt einen letzten Beweis ihres gottgleichen Genies zu hinterlassen. Derlei war in einer Situation wie dieser natürlich nicht mehr möglich und damit müßig. Genauso wie das Backen von Brot, das Behandeln von Krankheiten oder (wie in seinem Fall) das Entwerfen eines Flyers für ein neueröffnetes Piercingstudio.

Also der Rausch. Wenn schon alles den Bach runterging, dann wenigstens begleitet von Zügellosigkeit und Ekstase. Aber in welcher Form? Als stumpfes Besäufnis eher nicht. Das ließ die Minuten viel zu schnell dahinschwinden. Besser wäre etwas, das das Zeitgefühl zum Erliegen brachte. Sex zum Beispiel. Ja, Sex wäre in der Tat eine Möglichkeit. Wieder und wieder in eine weibliche Körperöffnung hineinstoßen, bis der Schwanz so wundgescheuert war, dass in der Intensität von Schmerz und Lustempfinden kein Unterschied mehr bestand. Und dann weitervögeln, vielleicht zwei Frauen oder gleich ein halbes Dutzend …

Verdammt, was dachte er da?! Die Erde würde nicht untergehen. Sie existierte seit Milliarden von Jahren und sie würde wohl auch noch ein paar Jahre weiterbestehen. Zumindest solange, bis sein Gedächtnis ausreichend Highlights gesammelt hatte, um davon eine Weile zehren zu können. Es gab also keinen Grund, sich mit Plänen für die allerletzte Party zu beschäftigen. Oder doch? Dieses tausendfach verfluchte Internet mit all seinen Halbwahrheiten und Fehlinformationen. Dieser gottverdammte Strahlenforscher.

Marek verließ seinen Beobachtungsposten und schenkte sich in der Küche etwas Merlot ein. Ein Schluck Wein war ja noch kein Besäufnis. Während er, das Glas in der Hand, langsam in sein Arbeitszimmer zurückwanderte, zog er mit der freien Hand sein Mobiltelefon aus der Hosentasche. Gleich fünf. Also keine vier Stunden mehr, bis es dunkel wurde. Wenn er das Haus noch verlassen wollte, sollte er das bald tun.

Dummerweise gab es keine Frau, der er mal eben einen Fick hätte vorschlagen können, um genau zu sein, spielten Frauen gerade überhaupt keine Rolle in seinem Leben (seine Mutter, mit der er im Übrigen auch schon länger nicht gesprochen hatte, mal außenvorgelassen). Sex hatte er seit beinahe anderthalb Jahren keinen mehr gehabt. Sah man mal von diesem einen missglückten Schäferstündchen mit der durchgeknallten Alten ab, die sich bei Renés Geburtstagsparty an ihn rangemacht hatte. Die hatte er, bevor sie grundlos ausgerastet war und ihn mit diesem erstaunlich schmerzhaften Plüschnilpferd aus ihrer Wohnung geprügelt hatte, wenigstens ein paar Minuten lang befummeln können. Lange genug jedenfalls, um die Aktivität unter Petting zu verbuchen, wie das während seiner Schulzeit genannt wurde.

Wieder am Fenster angelangt, widmete Marek seine Aufmerksamkeit erneut den Vorgängen um den Supermarkt, wo der Strom der Bierdosen-und Schnapsflaschenjäger kein bisschen abgeebbt war. Was Marek erst jetzt auffiel, war der Umstand, dass kaum Frauen zu sehen waren, jüngere schon gar nicht. Offenbar empfand das weibliche Geschlecht die Situation bereits derart bedrohlich, dass es den Schutz der eigenen vier Wände dem Kontakt mit der Außenwelt vorzog. Das machte es natürlich nicht leichter, eine dieser willigen, zu allem bereiten Schönheiten zu finden, deren Abbilder – befeuert von Erinnerungen an ungezählte Pornosequenzen – in Mareks Gehirn aufpoppten wie Explosionen in einem Ballerspiel.

Wenn aber Frauen Mangelware darstellten und Besaufen allein nicht genügte, musste etwas anderes her. Was das sein konnte, darüber brauchte Marek nicht lange nachzudenken: Drogen natürlich. Und zwar die, die nach allgemeinen Maßstäben als besonders gefährlich galten, also Heroin, Crack, Crystal und was da sonst noch mit neuen Erfahrungen und Bewusstseinszuständen lockte. Gab es eine bessere Gelegenheit als das bevorstehende Armageddon, um diese Substanzen endlich einmal auszuprobieren? All das spannende Zeug, von dem dich das vernunftgesteuerte Denken und die von ihm geschürten Horrorvorstellungen bisher ferngehalten hatten? Wohl kaum.

Marek kamen Berichte über ein Teufelszeug namens Cloud Nine in den Sinn, das seine Konsumenten angeblich zu Kannibalen machen konnte. In den USA sollten bereits Polizisten gebissen und Obdachlosen das Gesicht zerfleischt worden sein. Aber hey, was bedeutete schon ein fehlendes Stück Fleisch in der Wange, wenn die Welt noch am selben Tag unterging. Stopp! Marek rief sich erneut zur Ordnung. Natürlich machte es etwas aus, ob Menschen Schmerzen litten, bevor sie starben. Und natürlich war es von Belang, wer oder was für diese Schmerzen verantwortlich zeichnete. Auf der anderen Seite gab es keinen Grund, diesen Gedankengang weiterzuverfolgen. Denn Cloud Nine, Krokodil oder ähnlich hochpotente Mixturen mussten es gar nicht sein. Kokain oder Heroin würden vollkommen genügen. Wobei auch Opium zweifels­ohne seinen Reiz besaß.

Die Auswahl derjenigen, die ihm beim Beschaffen einer dieser Substanzen weiterhelfen konnten, war leider gering. Genaugenommen gab es nur einen einzigen Kontakt, der in dieser Hinsicht von Interesse war. Er rief René an.

»Marek! Was gibtʼs? Willst du mir deine Besitztümer überschreiben?« René klang gewohnt unbekümmert. Aber hinter der aufgesetzten Fröhlichkeit schimmerte etwas durch, das unschwer als Panik zu deuten war.

»Ich brauche … Ich würde gern …« Im ersten Moment wusste Marek nicht, wie er sein Anliegen vorbringen sollte, und er ärgerte sich, dass er seine Wortwahl nicht kurz überdacht hatte. Dann wurde ihm bewusst, dass eine verklausulierte Sprache, ja, dass überhaupt keine Form der Zurückhaltung mehr vonnöten war. Tele­fonüberwachung? Strafverfolgung? Das alles war ja wohl Geschichte. Er konnte also gleich auf den Punkt kommen.

»Ich würde gern Drogen kaufen.«

Erst sekundenlanges Schweigen, dann ein nicht enden wollendes, beinahe hysterisches Lachen. Als René wieder sprechen konnte, war der ängstliche Unterton verschwunden.

»Willst du was kiffen oder wie?«

»Nein, ich brauch was Stärkeres. Kokain oder so.«

»Kokain, hört, hört! Und womit willst du das bezahlen?«

Scheiße verdammt! Darüber hatte Marek nicht eine Sekunde lang nachgedacht. Was galt aktuell als Währung? Was gab es noch außer Genuss- und Betäubungsmitteln? Egal. Erst mal das Gespräch am Laufen halten.

»Da fällt uns bestimmt was ein.«

»Glaub ich nicht. Davon ab, habe ich sowieso nichts da.«

Das war absolut nicht das, was Marek hatte hören wollen. Aber er konnte jetzt unmöglich aufgeben.

»Oh. Das ist … das ist blöd. Aber hey, vielleicht können wir ja zusammen was auftreiben.«

»Sicher nicht.«

»Aber … Wieso nicht?«

»Weil du der letzte bist, den ich jetzt sehen will.«

»Was?! Aber warum denn?« Marek konnte nicht verhindern, dass seine Stimme einen unterwürfigen Klang bekam.

»Weil du ein jämmerlicher Langweiler bist.«

»Hey …«

Aufgelegt! Was für ein Arschloch! Was für ein bornierter, kleiner Wichser. Natürlich besaß das Großmaul Stoff. Typen wie René hatten immer was in petto. Und Marek würde seinen Teil davon abbekommen, das war mal sicher. So leicht ließ er sich nicht abweisen. Er würde da jetzt hinfahren und solange Sturm klingeln, bis René ihn reinließ. Zur Not musste er sich mit Gewalt Zugang verschaffen. Und wenn das auch nichts half, wenn René nicht zuhause war oder seinen gierigen Rüssel gerade über den letzten Krümel gestülpt hatte, dann würde er eben woanders was organisieren.

Aufgebracht lief Marek ein paarmal zwischen Arbeitszimmer, Küche und Flur hin und her, zog zwischendurch Schuhe und Jacke an, trank den restlichen Wein und überlegte, was er mitnehmen sollte. Waffen hatte er nicht, jedenfalls keine Waffen im eigentlichen Sinn. Also musste es ein Küchenmesser tun. Er suchte das mit der längsten Klinge heraus und wickelte es in ein Geschirrhandtuch. Dann nahm er ein Stück Käse sowie eine Packung Salami aus dem Kühlschrank, legte den halben Laib Brot dazu, den er am Vortag gekauft hatte, griff sich zwei Flaschen Mineralwasser und verstaute alles in einem Rucksack. Komplettiert wurde das Survival-Kit, wie eine spöttische Stimme in seinem Kopf diese mehr als amateurhafte Auswahl bereits getauft hatte, mit einem Liter Tullamore Dew und einer lange nicht mehr benutzten Stabtaschenlampe, deren Batterien zu Mareks großer Überraschung nach wie vor Saft abgaben. Zu guter Letzt ging er an den Medikamentenschrank im Badezimmer und raffte dort alles zusammen, was auch nur im Entferntesten den Anschein erweckte, eine stimulierende Wirkung zu besitzen. Aus einem Impuls heraus steckte er auch noch das Fieberthermometer ein.

Danach durchmaß er einmal die komplette Wohnung, sah sich in jedem Raum wenigstens für vier, fünf Sekunden um und trat schließlich ins Treppenhaus.

Als er wie üblich den Schlüssel ins Schloss steckte, wurde ihm schmerzlich bewusst, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr hierher zurückkehren würde. Dennoch konnte er dem Drang abzuschließen nicht widerstehen.

Er hatte den Schlüsselbund gerade wieder in der Jackentasche verstaut, als er eine Stimme in seinem Rücken vernahm.

»Ach, der verehrte Nachbar. Wie sieht’s aus? Lust auf einen kleinen Umtrunk?«

Er drehte sich um und hatte den alten Herrn Harnleitner aus der gegenüberliegenden Wohnung vor sich. Allerdings sah der heute deutlich anders aus als gewohnt. Er trug Strapse, eine längere, silberne Perlenkette und sonst … nichts. Aber halt, Letzteres stimmte nicht ganz. Da war noch ein Accessoire, ein Detail, das Marek erst jetzt auffiel, obwohl es eigentlich nicht zu übersehen war. An Harnleitners Ohren hingen, wie ganz normaler Schmuck befestigt, zwei ausgefranste, blutige Hautlappen in der Größe von Spielkarten. Was bitte schön war das? Schlachtereiabfälle?

Der Alte bemerkte Mareks Blick und sagte: »Helgas Tränensäcke.«

Nun war Marek erst recht verwirrt.

»Wie bitte? Was?«

»Na, die Tränensäcke von Helga, meiner Frau.«

Marek, der sich auf diese Worte noch immer keinen Reim machen konnte, fiel nichts Besseres ein als: »Ach ja? Wo, äh, ist denn ihre Frau?« Zeitgleich versuchte er an Harnleitner vorbei in dessen Wohnung zu spähen. Aber dort war es zu dunkel, um mehr als den Anfang des Flurs erkennen zu können.

»Die ruht sich ein bisschen aus«, entgegnete der spärlich bekleidete Greis. »So eine Schönheitsoperation ist ja kein Zuckerschlecken, gerade wenn die Anästhetika knapp sind.«

Und plötzlich begriff Marek. Der alte Harnleitner, dieser stets freundliche Hausgenosse, mit dem er mehr als einmal über Alltäglichkeiten ins Gespräch gekommen war, hatte – ganz im Sinne des Strahlenforschers – den Augenblick genutzt. Genutzt und offenkundig auch genossen, wie der verklärte Blick verriet, den er bekam, als er jetzt mit der Rechten an seinem neuen Ohrgehänge zu spielen begann. Marek konnte gar nicht anders, als den grusligen Freak beiseite zu stoßen und so schnell es ging die Stufen hinab zu hasten.

Die Stimme des Alten verfolgte ihn bis ins Erdgeschoss.

»Hey, was ist jetzt mit dem Umtrunk? Ich hab selbstgemachten Sliwowitz da«, hörte Marek ihn rufen.

Vielleicht war die Idee, sein schützendes Heim gegen die vage Möglichkeit eines Drogenrauschs einzutauschen, nicht die klügste gewesen, durchfuhr es ihn, als er endlich die Haustür erreicht hatte. Vielleicht hätte er besser dortbleiben, Pornos konsumieren und sich bis zum letzten Tropfen leerwichsen sollen. Aber umkehren und riskieren, dem Irren noch einmal zu begegnen, würde er nicht. Nein, umkehren würde er auf keinen Fall.

2

Draußen war es für eine Oktobernacht vergleichsweise mild, vor allem aber weit ruhiger, als Marek sich das vorgestellt hatte. Er hatte Sirenen und Geschrei erwartet. Und nach dem Vorfall im Treppenhaus hätte es ihn nicht weiter überrascht, wenn ihn auf der Straße eine ganze Prozession von Durchgeknallten empfangen hätte. Aber erfreulicherweise waren nur vereinzelte Passanten zu entdecken. Und auch die Geräuschkulisse nahm sich vergleichsweise bescheiden aus, was vor allem daran lag, dass kaum Verkehr zu hören war.

Er hatte bereits vor dem Verlassen der Wohnung beschlossen, das Fahrrad zu nehmen. Mit dem konnten Fußgänger, die unredliche Absichten verfolgten, jederzeit abgehängt und viele Hindernisse umfahren werden. Es schien unter den gegebenen Umständen also das sicherste Fortbewegungsmittel zu sein. Als er sich nun aber in Richtung der Laterne wandte, an der er sein Mountainbike zuletzt angeschlossen hatte, musste er schon von weitem erkennen, dass das Gefährt nicht mehr zu gebrauchen war. Es sah aus, als wäre es von einem Laster gerammt worden – das Hinterrad auf halbe Größe zusammengefaltet, der Rahmen verbogen wie eine Büroklammer in den Händen eines nervösen Angestellten. Auch die Laterne hatte im Übrigen etwas abbekommen. Vielleicht war hier, warum auch immer, das schwere Gerät der Polizei am Werk gewesen.