Die Herzen des Monsieur Lefort - Mara Ferr - E-Book

Die Herzen des Monsieur Lefort E-Book

Mara Ferr

0,0

Beschreibung

Elaine Sabatier, Serveuse im Straßencafé am Montmartre. Jerome Lefort, Commandant im Ruhestand, ihr Stammgast. Josephine, seine Frau. Mathis, Inspecteur, Freund und Liebhaber. Vier Menschen verbunden durch eine Obsession, die sie in den Wahnsinn treibt. Nur einer von ihnen ist der Gute. "An dieser Stelle finden Sie in Büchern gerne Phrasen wie 'Es war etwas Böses in seinen Augen, das mich vor Furcht erstarren ließ' oder 'Ich ekelte mich vor seinen kalten, schweißnassen Fingern und der laue Händedruck ließ mich schaudern', aber nichts von all dem traf in diesen ersten Augenblicken des Kennenlernens auf mich zu."

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 306

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Die Herzen des Monsieur Lefort

Mara Ferr, geboren 1965 in Österreich, studierte Psychologie und schloss eine Ausbildung zur Pädagogin ab. Sie betätigte sich als freie Lektorin und beschäftigte sich mit journalistischer Pressearbeit, bevor sie ihren ersten Kriminalroman veröffentlichte. Die Neugierde für das Paris inmitten aber auch abseits glamouröser Flaniermeilen erweckt bei ihren Reisen in die „Stadt der Liebe“ stets die Phantasie für neue Romanideen zum Leben.

Bisher von der Autorin erschienen:

»Aux Champs-Élysées« (2013),

emons »Ponts de Paris« (2014), emons

»41 Rue Loubert« (2015), emons

Mara Ferr

Die Herzen des Monsieur Lefort

Kriminalroman

© 2016 Mara Ferr

Urheberrecht und Copyright:

Alle Rechte liegen bei der Autorin.

Umschlagmotiv: Mara FerrUmschlaggestaltung: Hans Glavnik, www. bluesoft.atLektorat: Heinz EibelVerlag: tredition GmbH, Hamburg 2016

ISBN Paperback

978-3-7345-4958-8

ISBN Hardcover

978-3-7345-4959-5

ISBN e-Book

978-3-7345-4960-1

Written in Leoben, Linz and on Kos Island Originalausgabe

Die Handlung ist frei erfunden, mögliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sowie geografischen Angaben sind zufällig.

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Julia

Am Anfang war das Wort

„Über alles hat der Mensch Gewalt, nur nicht über sein Herz“, las Jerome über den Rand seiner goldgefassten Halbmondbrille hinweg und bewegte dabei lautlos seine Lippen, wie es nicht nur betagte Menschen zuweilen dann taten, wenn sie in ihre Lektüre versunken waren und die nächste Umgebung zu vergessen schienen. „Friedrich Hebbel“, murmelte er vor sich hin, faltete sorgfältig die Le Monde zu einem handlichen Format, legte sie auf den runden Bistrotisch, strich gedankenverloren darüber und griff nach seiner halb geleerten Tasse Café au lait.

Das philosophische Zitat des deutschen Dramatikers war ihm zwischen den in winziger Schrift gedruckten Kleinanzeigen im hinteren Teil der renommierten Tageszeitung förmlich entgegengesprungen, obwohl es mit seiner unscheinbaren Aufmachung augenscheinlich eher die Funktion eines schwarz umrahmten Lückenbüßers erfüllen und weniger intellektuelle Leser zum Nachdenken inspirieren sollte.

Allein die schier unglaubliche Tatsache, dass die Le Monde einen deutschen Lyriker zitierte – und sei es nur beinahe unsichtbar zwischen den Rubriken „Kinderbetreuung“ und „Kleinmöbel“ – war eine Sensation an sich, die Jerome Lefort mit missbilligend hochgezogenen Augenbrauen zur Kenntnis nahm. Dennoch aber, seltsam berührt von den beiden schlichten Zeilen, registrierte er mit erwartungsvollem Interesse diesen weisen Sinnspruch.

„Wie wahr“, resümierte er, nachdem er einige Minuten über den tieferen Sinn dieser unwiderlegbaren Weisheit gegrübelt hatte und zu dem Schluss gekommen war, dass seine vierzigjährige Erfahrung im Dienste der französischen Staatspolizei, davon dreißig Jahre als Commandant des Dezernates für Schwerverbrechen im neunten Arrondissement, diese simple Wahrheit bestätigte. Mit unzähligen Fallbeispielen konnte sie sogar hieb- und stichfest bewiesen werden. Körperliche Gewalt bis hin zum wie auch immer gearteten Mord gingen stets einher mit aggressiven Gefühlen, die der vernunftgesteuerte Kopf nicht mehr unter Kontrolle hatte; darunter waren Eifersucht sowie Habgier die gängigsten Motive, die die kriminalistischen Statistiken anführten.

Jerome bedeutete Albert, seinem bevorzugten Kellner im Café Moncœur und langjährigen Freund, wortlos mit erhobenem Zeigefinger, dass er eine weitere Tasse des lauwarmen Milchkaffees wünschte. Albert machte sich nicht einmal die Mühe, zustimmend zu nicken, stattdessen schlurfte er schnurstracks in Richtung Tresen, um die Bestellung höchstpersönlich liebevoll zuzubereiten. Seit dem allerersten Tag seines wohlverdienten und wider Erwarten lebend erreichten Ruhestandes vor genau vier Jahren kam Jerome täglich pünktlich um zehn Uhr vormittags, um sein zweites Frühstück in Form mehrerer Tassen Kaffees und eines petit Pain au chocolat zu sich zu nehmen, die Le Monde zu studieren und zwischendurch müßig das bunte Treiben der vorbei flanierenden Touristen und geschäftigen Pariser rund um den Montmartre zu betrachten.

Gegen halb zwölf machte er sich für gewöhnlich auf, um entspannt durch die Gassen zu seinem großzügigen Appartement im letzten Stock des alten, aber modern restaurierten Miethauses in der Rue Puget gegenüber der legendären Moulin Rouge zu schlendern. Dort hatte seine um zehn Jahre jüngere, immer noch außergewöhnlich attraktive Ehegattin während seiner Abwesenheit ein leichtes Mittagessen zubereitet, das sie an warmen Tagen gemeinsam auf der mit dekorativen Topfpflanzen zu einem botanischen Minigarten gestalteten Terrasse einzunehmen pflegten. An regnerischen Tagen hingegen zogen sie sich in den ebenso üppig bewachsenen, gläsern überdachten Wintergarten zurück und blickten zwischen Spitz- und Giebeldächern hindurch auf einen dicht bebauten Ausschnitt von Paris.

Jerome Lefort wusste durchaus sein Glück zu schätzen, einer der wenigen Polizeibeamten seines Distriktes zu sein, dessen Ehe unregelmäßige Arbeitszeiten, gefahrvolle Einsätze sowie je nach Tatbestand abwechselnd depressive oder überschwängliche Lebensphasen einigermaßen unbeschadet überlebt hatte.

Er war felsenfest davon überzeugt, dass seine Frau Josephine und er ihre größtenteils konfliktfreie und stabile Beziehung deshalb erhalten hatten können, weil sie kinderlos geblieben waren. Diesen Umstand hatte zwar Josephine jahrelang mit exorbitant teuren Untersuchungen und Befruchtungsbehandlungen zu bekämpfen versucht, ihre Bemühungen aber letztendlich aufgegeben, als ihre biologische Uhr erst immer leiser tickte und später dann ihren Dienst schließlich für immer einstellte. Sie hatte sich mit ihrer beider Kinderlosigkeit arrangiert, wenngleich Jerome keinen blassen Schimmer davon hatte, wie sie mit ihrer anfänglichen Verzweiflung, späteren Niedergeschlagenheit und zu guter Letzt kühlen Gleichgültigkeit ohne seine aktive Hilfe oder den Beistand eines darauf spezialisierten Therapeuten zu Rande gekommen war.

Josephine hatte zumindest dem äußeren Anschein nach ihre Probleme selbst in die Hand genommen, sich geweigert, hadernd und armselig ihr restliches Dasein als schmückendes Beiwerk an seiner Seite zu fristen; stattdessen rief sie karitative Projekte ins Leben, die sich dem Wohle hungernder, bildungsferner oder elternloser Kinder widmeten, und malträtierte ihren Körper mit schweißtreibenden Einheiten in Fitnessstudios oder Ausdauerläufen entlang der Seine.

Daneben war sie ihm stets eine besonnene, zärtliche Gefährtin geblieben, die geduldig nächtelang während verzweifelter, frustrierter Ausbrüche seine Hand gestreichelt und die verhärteten Nackenmuskeln massiert oder nach erfolgreichen Festnahmen brutaler Täter mit ihm bis in die Puppen gefeiert, getrunken und gelacht hatte.

Die zweite Säule ihrer seit nunmehr vierunddreißig Jahre andauernden ehelichen Harmonie neben der ungewollten Kinderlosigkeit schrieb Jerome seiner und Josephines bis heute ungebrochenen Fähigkeit zu, miteinander im Gespräch zu bleiben. Anders als die meisten seiner Kollegen war Jerome von Beginn ihrer Beziehung an darauf bedacht gewesen, Josephine an seinem Arbeitsalltag und den damit verbundenen Sorgen und Ängsten, aber auch Freuden und Erfolgen teilhaben zu lassen. Josephine ihrerseits zeigte sich anfangs fasziniert, zwischendurch auch manchmal abgestoßen, aber immer interessiert an seinen allabendlichen Schilderungen, brachte eigene Gedanken und Ideen in angeregte Diskussionen mit ein, tauschte sich mit Jerome aus oder trauerte am Sofa eng an ihn geschmiegt mit ihm gemeinsam um hilflose Opfer.

Selbstverständlich war auch Madame und Monsieur Leforts einträchtiges Eheleben von Höhen und Tiefen geprägt, ab und an kräftig durchgebeutelt von Krisen, Spannungen und Streit oder abgeglitten in schlichte Langeweile, aber trotz Widrigkeiten, Kummer oder Verdruss trat im Laufe der Jahre anstelle von Hitzköpfigkeit, Starrsinn oder Leidenschaft immer mehr der Wunsch nach Frieden und Einklang in den Vordergrund. Jeder der beiden war unabhängig vom anderen in seiner persönlichen Entwicklung zu der Auffassung gelangt, im Grunde seines Herzens kein echtes Verlangen nach einem anderen Partner zu verspüren.

Jerome Lefort war ein glücklicher, rundum zufriedener und im Großen und Ganzen geistig wie körperlich gesunder Pensionär. Bis er „Über alles hat der Mensch Gewalt, nur nicht über sein Herz“ las.

* * * * *

Sabatier, ich heiße Elaine Sabatier.

Wissen Sie, ich kann es nicht in Worte kleiden, kann nicht beschreiben, woran genau es gelegen hat, dass ich ihn schon nach den ersten fünf Sekunden, in denen er mir höflich die Hand gereicht, sich vorgestellt und sogar eine flüchtige Verbeugung angedeutet hatte, nicht ausstehen konnte. Wenn ich ehrlich sein soll, empfand ich dieses Gefühl noch viel intensiver als bloß pure Abneigung. Er war mir zuwider, zutiefst zuwider und bis heute kann ich Ihnen nicht erklären, wodurch diese jähe Abscheu ausgelöst wurde, es ist selbst mir ein unbegreifliches Rätsel. Mir fehlen die passenden Begriffe, es mangelt mir an treffenden Vokabeln, um Ihnen verständlich machen zu können, wovon ich spreche, was genau ich damit meine.

Aber vermutlich sind Sie mit einem solchen Phänomen vertraut, kennen es aus eigener Erfahrung: Man trifft einen wildfremden Menschen zum ersten Mal in seinem Leben und findet ihn entweder kurzerhand sympathisch oder kann ihn nicht leiden, ohne dass jener auch nur eine einzige Silbe von sich gegeben oder durch eindeutige Mimik oder Gesten ein undefinierbares Unbehagen ausgelöst hätte.

Es hat mir keine Ruhe gelassen und ich habe in psychologischen Fachzeitschriften und Artikeln recherchiert und herausgefunden, dass die ersten neunzig Sekunden darüber entscheiden, welchen Eindruck ein Mensch bei uns hinterlässt, welche Meinung wir uns über ihn bilden, dass all dies unbewusst geschieht. Wir haben keine Kontrolle über diese Wahrnehmungen, die quasi unseren sechsten Sinn ausmachen. Nun, bei mir dauerte es keine neunzig Sekunden, ich war in fünf mit ihm fertig.

Sie schmunzeln leicht, also nehme ich an, dass Sie ungefähr nachvollziehen können, welch unangenehmes Empfinden mich überkam, als Albert mich am Ellbogen sanft zu seinem Tisch drängte und mit mühsam unterdrücktem Stolz in der Stimme „Commandant Lefort, darf ich Ihnen Elaine vorstellen?“ verkündete?

Albert triefte geradezu vor Ehrfurcht, so, als wenn es sich bei Monsieur Lefort um eine berühmte Persönlichkeit, ja einen ganz außergewöhnlichen Menschen handeln würde, der mit besonderer Aufmerksamkeit und Hochachtung behandelt werden müsste. In der Rückschau werden Sie mir gewiss zustimmen, dass die Eigenschaften „berühmt“ und „ganz außergewöhnlich“ auf niemanden passender zugeschnitten sein könnten, als auf Monsieur Lefort, n’est-ce pas?

Wie auch immer, da stand ich nun also, von Albert energisch vorgeschoben, an Monsieur Leforts Tischchen, das zum größten Teil von der sorgfältig zusammengefalteten Le Monde bedeckt war und ansonsten nur mehr spärlichen Platz für seine Tasse Kaffee sowie die unvermeidliche Keramikvase mit geschmackloser Plastikrose übrig ließ, hatte sittsam meine Hände am Rücken verschränkt, wie es sich für Bedienstete in gehobenen Kreisen geziemte und neigte meinen Kopf zur Begrüßung gerade so weit, dass er die Bewegung als höfliche Floskel anerkennen oder sie aber wegen ihrer Unbedeutsamkeit ignorieren konnte. Diese Form des untertänigen Grußes hatte man mich seinerzeit in einem feudalen Hotel am Place Vendome gelehrt, unter zu Hilfenahme eines schlagkräftigen Bambusrohres, das mit einem pfeifenden Zischen immer genau dann auf meinen ungeschützten Nacken niedersauste, wenn ich entweder mein Kinn zu tief senkte oder meine Nase zu hoch hielt. Ich möchte hier keinen Namen nennen, aber Sie wissen bestimmt, welches Hotel ich meine, jenes, in dem die Lady aus Großbritannien mit ihrem Geliebten …

Warum ich nicht mehr dort meine Arbeit verrichte und stattdessen den Abstieg in das um Klassen weniger angesehene Café Moncœur angetreten habe? Sehen Sie, im nächsten Jahr um dieselbe Zeit habe ich bereits meinen fünfzigsten Geburtstag und somit gleichzeitig die angeblich besten Jahre einer Frau unwiderruflich hinter mich gebracht. Auch in jenem noblen Hotel vertritt die nonchalante Geschäftsführung die Meinung, dass weibliches Personal jenseits der dreißig nicht gerade eine Augenweide für die erlesene Klientel der zahlenden Gäste darstellt und daher keinesfalls zu den Stärken eines erfolgreichen Marketingkonzepts gehört.

Als Frau tut man also alles, was in seiner Macht steht, um den gefürchteten Tag X so lange wie möglich hinauszuzögern, versucht beinahe verzweifelt, den Körper unter Aufbietung größtmöglicher Disziplin und Kasteiung schlank und in Form zu halten und unterwirft sein Gesicht allerlei trickreichen Behandlungen, in dem hoffnungslosen Bemühen, Schlaffheit und Falten im Zaum zu halten. Dennoch kommt der Tag, und er kommt so sicher wie das Amen in der Kirche, an dem man ausgetauscht wird und wehmütig und deprimiert Dienstkleidung, Kellnertasche sowie Schlüssel an ein vor gesunder Jugend strotzendes, aller Wahrscheinlichkeit nach blondes Mädchen übergibt. Immerhin sind sie in diesem Hotel so fair, bereits beim Einstellungsgespräch klar und deutlich darauf hinzuweisen, dass weibliches Personal mit einem absehbaren Ablaufdatum versehen ist, wohingegen an männlichen Bediensteten jahrelange Erfahrung und distinguierte Reife samt grauer Schläfen besonders geschätzt werden. Derartige Informationen haben sich durchaus als Vorteil erwiesen, kann man doch seinen eigenen Abgang von langer Hand vorbereiten und sich mit den wenig schmeichelhaften Tatsachen zeitgerecht auseinandersetzen.

Aber ich schweife ab, meine persönliche Bitterkeit tut hier nichts zur Sache, schließlich war ich sehr froh darüber, in einem nahtlosen Übergang im Moncœur eine neue Anstellung gefunden zu haben. Es ist ein reizendes Café, wie für den Montmartre geschaffen, auch die Gäste finde ich hier weitaus sympathischer als die exaltierte, versnobte Gesellschaft im ach so feinen Ri…

Wie gesagt, Albert stellt mich also vor, ich nicke leicht mit dem Kopf und Commandant Lefort lächelt freundlich, aber nichtssagend und streckt mir zur Begrüßung seine gepflegte Hand entgegen, die ich kurz und nicht zu kräftig drücke. Und schon waren meine bedeutsamen fünf Sekunden vorbei.

An dieser Stelle finden Sie in Büchern gerne Phrasen wie ‚Es war etwas Böses in seinen Augen, das mich vor Furcht erstarren ließ‘ oder ‚Ich ekelte mich vor seinen kalten, schweißnassen Fingern und der laue Händedruck ließ mich schaudern‘, aber nichts von all dem traf in diesen ersten Augenblicken des Kennenlernens auf mich zu. Wenn ich diese Szene vor meinem geistigen Auge noch einmal Revue passieren lasse, scheint mir, als wäre er eingehüllt gewesen in eine allumfassende, negative Aura, die mir anfangs nicht behagte, später dann schier unerträglich war. Er strahlte etwas aus, das ich am ehesten noch als Kaltherzigkeit bezeichnen würde, vielleicht war es aber auch simple Kälte oder Unbarmherzigkeit, vermischt mit einem Hauch von Zynismus. Natürlich bestand zu diesem Zeitpunkt noch die Möglichkeit, nein, eher die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich abgrundtief täuschte, aber so war nun eben mal mein erster Eindruck von ihm und heute wissen auch Sie, dass ich mich keineswegs geirrt habe.

* * * * *

Jerome Lefort war etwas ungehalten über die brüske Störung, als Albert mit einem devoten „Commandant Lefort, darf ich Ihnen Elaine vorstellen?“ an seinen Tisch trat und ihn aus Gedanken riss, die nicht im Mindesten etwas mit seiner gegenwärtigen unmittelbaren Umgebung zu tun hatten.

Er war gefangen gewesen in einem fein gesponnenen Netz aus zarten, beinahe durchscheinenden Fäden, die sich um das bedeutungsschwere Zitat eines deutschen Dichters woben. Lefort war alles andere als ein philosophischer Zeitreisender, war weder feingeistig noch musisch veranlagt, allein schon aufgrund seines bodenständigen Berufes hob er niemals ab in Sphären, die von Weisheit oder künstlerischem Schaffen geprägt waren. Es war keineswegs so, dass er ungebildet oder engstirnig gewesen wäre, ganz im Gegenteil, er konnte sogar ein abgeschlossenes Studium der Juristerei für sich verbuchen. Vielmehr war es so, dass er tiefsinnige Aphorismen nicht in Einklang bringen konnte mit den rohen Vorkommnissen, die ihn Tag für Tag an zumeist blutige Schauplätze führten, die grausames Zeugnis über die schwarzen Tiefen des menschlichen Daseins legten.

Gerade hatte er seinen Gehirnwindungen gestattet, freie Assoziationen zu dem Wort „Herz“ zuzulassen, hatte fasziniert in sich hineingehorcht, um lautlos die regelmäßigen und ruhigen Schläge seines eigenen Herzens zu zählen, als Albert die neue Kellnerin an seinen Tisch führte. Dementsprechend gleichgültig warf er gezwungenermaßen einen Blick auf Elaine, die er in Sekundenschnelle als zwar durchaus ansehnlich, doch für ihn als weibliches Wesen nicht weiter von Belang einstufte.

Sie war das, was Josephine als vollschlank bezeichnen würde, nicht wirklich schlank, eher dicht an der Grenze zur Molligkeit. Elaine trug ihr dunkles Haar mit vereinzelten bordeauxroten Strähnen in einem weich fallenden Pagenkopf, den ein gewitzter Coiffeur mit einigen wenigen zerzausten Stirnfransen aufgepeppt hatte, wodurch der im Grunde eher langweiligen Frisur ein gewisser Pfiff verliehen wurde. Ausstaffiert mit der Uniform eleganterer Cafés als das Moncœur – faltenfreie weiße Bluse, züchtig knielanger schwarzer Rock, dazu schwarze, flache Pumps, bequem, aber glücklicherweise nicht direkt hässlich – gab sie das Bild einer kompetenten, unaufdringlichen Serveuse ab, die ihre Arbeit diskret und verlässlich verrichtete.

Zur Begrüßung streckte sie ihm nicht auffordernd die Hand entgegen, sondern nickte nur leicht mit dem Kopf, musterte ihn aber aufmerksam aus runden, dunkelbraunen Augen, die ihn an den Blick eines nicht unbedingt scheuen Rehes erinnerten. Automatisch hielt ihr Lefort seine Hand zum Gruße hin, die sie kurz und nicht zu kräftig drückte, eine wohldosierte Geste, die sie sich möglicherweise durch strenge Ausbildung mit anschließender jahrelanger Erfahrung angeeignet hatte. Sein höfliches Lächeln mit gemurmeltem Namen war unverbindlich und entsprang anerzogenen Benimmregeln.

Ich mag sie nicht, dachte Lefort und erschrak über sein vorschnelles Urteil, das er mit keinem einzigen vernünftigen Argument begründen konnte.

Außerdem entsprach es für gewöhnlich keinesfalls seinem Charakter, impulsiv oder leichtsinnig den Stab über andere Menschen zu brechen. Nicht zuletzt seine Besonnenheit und die schier unerschöpfliche Geduld, mit der er stets hinter die meist verlogenen Fassaden von Kriminellen geblickt hatte, bescherten ihm auf lange Sicht beruflichen Erfolg in Form zahlreicher Festnahmen oder unerwarteter Geständnisse.

Lefort nahm Alberts Geplapper nur am Rande wahr, er war damit beschäftigt, sich auf Anhaltspunkte zu konzentrieren, die ihm Hinweise darauf geben könnten, aus welchen Gründen er diese ihm völlig unbekannte Frau auf Anhieb nicht mochte. Er forschte vergebens, fand nicht die winzigste Kleinigkeit, an der er seine überraschende Antipathie ihr gegenüber festmachen konnte.

Glücklicherweise bemerkte Albert sein Desinteresse, zog sich mit Elaine in den inneren Schankraum zurück und überließ Lefort sich selbst an seinem Tischchen im Freien direkt vor dem Café.

Jerome Lefort, ehemaliger Commandant des Dezernates für Schwerverbrechen, sah den beiden geistesabwesend nach und grübelte noch einige Zeit über Elaines Blick, Haltung, Mimik, Gestik und Ausstrahlung, bevor er kurzum beschloss, dass er zwar keinen besonderen Grund für seinen Widerwillen ihr gegenüber nennen konnte, dies jedoch letztendlich egal war.

Er mochte sie einfach nicht. Punkt.

* * * * *

Natürlich ließ er sich nicht dazu herab, ein paar Worte mit mir zu wechseln oder zumindest Höflichkeitsfloskeln auszutauschen, aber das haben Sie sich wahrscheinlich schon gedacht. Nur weil ich bereits wusste, wie er hieß, interpretierte ich sein unverständliches Murmeln als „Lefort“.

Ich war sehr froh darüber, dass ich ihm nicht durch leutselige Gesprächigkeit Anlass dazu geboten hatte, mich mit seiner wortlosen Ignoranz zu demütigen. Vielleicht hielt er seinerseits mich in diesem ersten Augenblick des Kennenlernens für überheblich oder arrogant, weil ich mich ihm nicht anbiederte, aber das war mir egal. Die herablassende Art, mit der er seinen forschenden Blick auf mich richtete, machte mir eines sofort klar: Meine Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit, sie kam gleichsam als Echo aus den Tiefen seiner Seele zurück.

Als mich Albert stumm, aber bestimmt in den Schankraum dirigierte, konnte ich in meinem Rücken spüren, dass er uns von seinem Platz im Freien aus beobachtete. Selbstverständlich stand sein angestammtes Tischchen direkt vor dem Café auf dem Bürgersteig, sodass man fast darüber stolperte und einen leichten Haken nach links schlagen musste, wenn man aus- und einhetzte, um die schwer beladenen Tablets durch die beengten Lücken zwischen Stühlen und Tischen zu balancieren. Man konnte ihn also nicht übersehen, er war fortwährend präsent, sicherte sich unser aller Aufmerksamkeit auf diese subtile Art und Weise und tätigte seine Bestellungen affektiert wie selbstverständlich nur mehr durch das Heben einer Augenbraue oder des rechten Zeigefingers.

Meine einzige Sorge galt in diesem Augenblick Alberts Gesundheit: Ich hoffte mit jeder Faser meines in Kürze fünfzig Jahre alten Herzens, dass er nicht krank werden oder ausgerechnet während meiner Schicht ausfallen möge und ich davon verschont bliebe, diesen Commandant Lefort zu bedienen.

Sie denken jetzt sicher, ich wäre überempfindlich, geradezu hitzköpfig oder bildete mir alles nur ein, aber ich versichere Ihnen, genauso empfand ich es damals und wie ich heute weiß, lag ich völlig richtig.

Die Chemie zwischen uns stimmte einfach nicht.

* * * * *

Es war ein angenehm sonniger Tag, noch hielt sich die brütende Sommerhitze zurück, doch man erahnte bereits die Kraft der Sonne, die von nun an jeden Tag ein wenig mehr Paris einnehmen würde. So lange, bis die Stadt Ende des Sommers unter Staub und Trockenheit stöhnte, Millionen von Touristen sich nur mehr schleppend über die Boulevards quälten oder wegen der kühlen Räume den Louvre oder andere Museen bevölkerten, die Seine mit bräunlichen Schaumkrönchen verziert war und Müllcontainer dermaßen schauderhaft stanken, dass jeder noch so unergiebige Regentropfen mit frenetischem Jubel begrüßt wurde.

Entgegen seiner üblichen Gewohnheiten beschloss Lefort nach einem prüfenden Blick auf die Uhr spontan, dass ihm vor dem Mittagessen noch ausreichend Zeit blieb, um einen Spaziergang entlang des Boulevard de Clichy zu machen und gemütlich über die Moulin Rouge zurück nach Hause zu spazieren. Es drängte ihn danach, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen, sie vielleicht ein wenig zu ordnen, Zusammenhänge zu hinterfragen, warum sämtliche seiner grauen Zellen sich auf das Wort „Herz“ gestürzt hatten und es nicht mehr aus ihren Klauen ließen. Elaine hatte er längst vergessen, so sehr war er davon in Anspruch genommen, den aus der Gesamtheit des Sinnspruches gefilterten vier Buchstaben und ihrer Tragweite auf den Grund zu gehen.

Bei oberflächlicher Betrachtung schrieb man das Herz wohl dem wichtigsten Organ zu, von dem man wusste, dass es für das nackte Überleben eines Lebewesens unabdingbar war, egal ob Mensch oder Tier. Die medizinischen Tatsachen waren simpel und auch jedem Laien verständlich: Funktionierte das Herz nicht, starb der Mensch.

Mit Sicherheit war dies der ausschlaggebende Grund dafür, dass das Herz das am besten studierte und medizinisch wie technisch am gründlichsten erforschte Organ war. Schließlich versorgte es den Körper mit lebensnotwendigen Essenzen wie Sauerstoff und Blut. Nahm dieses von der Natur so sorgsam ausgeklügelte System groben Schaden, waren die Konsequenzen für den Menschen meist tödlich.

Daher verwunderte Lefort auch die zentrale Rolle des Herzens nicht, die ihm nicht nur in der Medizin, sondern in übertragenem Sinne ebenso in Literatur und Musik zugeteilt wurde.

Noch nie hatte er sich glücklicherweise in seinem Leben Gedanken über sein eigenes Herz machen müssen, es hatte bis jetzt seit vierundsechzig Jahren sein Tagewerk einwandfrei verrichtet, niemals geschwächelt oder besondere Achtsamkeit erfordert. Die jährlichen Gesundheitschecks erst während seines Polizeidienstes und später dann im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen zugeschnitten auf das reifere Alter hatte es stets mit Bravour gemeistert, ohne dass er ihm je sportlichen Aktivitäten zugemutet hätte. Allerdings hatte er es genauso wenig alkoholischen Exzessen oder extremen Belastungen ausgesetzt, hatte es geschont; er musste gestehen, er hatte es gewissermaßen eigentlich nicht besonders beachtet.

Im Grunde hatte er auch in diesem Augenblick keinen konkreten Anlass, an Gesundheit und Funktionstüchtigkeit seines Herzens zu zweifeln, doch bei näherer Betrachtung fortgeschrittenen Alters und latenter Unsportlichkeit überkamen ihn leise Befürchtungen und an der Fußgängerampel zur Rue Puget nutzte er die rote Phase, um unauffällig mit rechtem Daumen und Zeigefinger an seinem linken Handgelenk nach dem Puls zu tasten. Das zarte Pochen unter der dünnen, trockenen Haut erschien ihm regelmäßig und ruhig, nicht zu schnell, aber auch nicht zu langsam. Einen kurzen Moment lang konnte er nichts spüren und jäh erschrak er. Hatte es eine Sekunde lang ausgesetzt? War dies eine Herzrhythmusstörung? Sollte er sich sicherheitshalber doch von einem Kardiologen etwas genauer untersuchen lassen oder spintisierte er?

Lefort schüttelte verärgert den Kopf, was war bloß los mit ihm? Er neigte weder zu ängstlicher Selbstbeobachtung noch zu besorgter Übervorsicht und hatte auch durchaus nicht vor, sich innerhalb weniger Stunden in einen furchtsamen Tattergreis zu verwandeln.

Richtig herzerfrischend, mein Lieber, wie du in kürzester Zeit vom knallharten Mordermittler zum knieschlotternden Angsthasen mutierst, dachte er schmunzelnd und holte gleichzeitig zu einem schnelleren Schritt aus, als wolle er sich selbst das Gegenteil beweisen – es war alles in bester Ordnung mit ihm. Dennoch ertappte er sich dabei, wie er aufmerksam den sich mit seiner Geschwindigkeit beschleunigenden Herzschlägen lauschte und sie lautlos zählte, obwohl ihm klar war, wie dämlich er sich benahm.

Unterbrochen wurde er in seinen verworrenen Gedankengängen von einer jungen Mutter, die einen überbreiten Kinderwagen vor sich herschob und erfolglos versuchte, zwei weitere Kleinkinder, die übermütig auf dem schmalen Bürgersteig umhertobten, im Zaum zu halten. Lefort wurde in seinem flotten Marsch gebremst, es gelang ihm nicht, die Familie zügig zu überholen und so trottete er hinter ihnen her, froh um die unfreiwillige Verschnaufpause, in der er wieder ein wenig zu Atem kommen konnte. Um nicht erneut von unerfreulichen Herzensangelegenheiten übermannt zu werden, wandte er seine Aufmerksamkeit den Schaufenstern der bunt zusammengewürfelten Boutiquen und Souvenirläden entlang der Rue Puget zu. Sein Tempo verlangsamte sich von ihm unbemerkt, er sah den fröhlichen Kindern bei ihrem ausgelassenen Treiben zu und plötzlich bedauerte er, dass er wegen seiner Kinderlosigkeit natürlich auch keine Enkelkinder zu erwarten hatte.

Sein Blick streifte den kleinen Blumenladen Fleurs de Plaisir, dem er in all den Jahren, die er nun schon gemeinsam mit Josephine in dieser Straße lebte, noch niemals einen Besuch abgestattet hatte. Was vermutlich daran lag, dass er seiner Frau ebenfalls in all den Jahren, die er sie kannte, noch niemals Blumen geschenkt hatte.

Ein flüchtiges, rotes Blinken stahl sich in seinen Augenwinkel und er senkte den Kopf, um den Blumentopf näher zu betrachten, der am Boden neben dem Eingang zu Fleurs de Plaisir zum Verkauf ausgestellt war, und von dem er glaubte, das rote Aufblitzen vernommen zu haben. Auf den ersten Blick konnte er nichts anderes erkennen als eine Menge hellgrünen, gezackten Blattwerks, das ganz offensichtlich unter der Hitze der Stadt litt und welk an den Seiten beinahe bis zum staubigen Asphalt reichte. Lefort ging ein wenig in die Hocke und beugte sich nach vor, um das erbärmliche Gewächs genauer unter die Lupe zu nehmen. Und tatsächlich: versteckt unter einem gebogenen Blatt lugten zwei schrumpelige, blutrote Blüten hervor, die an hauchdünnen, bräunlichen Fäden von einem dürren Stängel baumelten. Jerome Lefort, einst unerschütterlicher Kommissar für Kapitalverbrechen, zog scharf die Luft durch fest zusammen gebissene Zähne ein und jetzt hörte er sein Blut bedrohlich dröhnend in den Ohren pochen.

Die beiden Blüten hatten die perfekte Form eines bauchigen, winzigen Herzens.

* * * * *

Können Sie sich ernsthaft vorstellen, dass ein intelligenter, mit allen Wassern gewaschener Ermittler, der Zeit seines Lebens die tiefsten Abgründe von Menschen erforscht hatte, tagtäglich mit Bildern im Kopf davon eingeschlafen war, zu welchen Grausamkeiten der hochgelobte homo sapiens fähig war – dass ein solcher Mann über dem Anblick einer kümmerlich verdorrten Staude den Verstand verlieren konnte? Besitzen Sie genügend Phantasie, um eben diesem Mann eben jene Taten zuzuschreiben, dessen Aufklärung dereinst sein höchstes Lebensziel gewesen war?

Ich muss zugeben, dass ich auf diesem Auge sehr lange blind gewesen bin, auch als das Offensichtliche zwar schleichend, aber dennoch immer klarer zu Tage trat, als er sich zu verändern begann.

Selbst als die Indizien sich zu verdichten schienen, ja sogar, als Josephine zum ersten Mal ins Café kam, um mit Albert ein vertrauliches Gespräch zu führen und ich an ihrer besorgten Miene ablesen konnte, dass etwas nicht stimmen musste – ja selbst da verwehrte ich mich der Erkenntnis, dass er Schuld hatte.

Ich schrieb die Vorkommnisse Zufällen zu, wie sie nun mal das Leben für uns ab und an bereit hält, ermahnte mich, mein Urteilsvermögen nicht von meiner grundsätzlichen Abneigung gegen ihn beeinflussen zu lassen und bemühte mich, mal für Dieses, mal für Jenes unverrückbare Erklärungen zu suchen, die ihn von jeglichem Verdacht frei sprachen.

Zu bizarr erschien mir die Vorstellung, er könne ein Täter sein, zu absurd die Idee, der ehrenwerte Commandant Lefort könne mit einem Mal die Seiten gewechselt haben.

Und doch nistete sich in meinem Hinterkopf ein dünnes Stimmchen ein, das mich von Zeit zu Zeit mit lauerndem Unterton fragte: Was, wenn er …? Das hartnäckige Stimmchen gemahnte mich, alle Möglichkeiten im Auge zu behalten, nicht den Blick fürs Ganze zu verlieren. Das erschien mir ein kluger Rat und ich blieb wachsam und beobachtete ihn so unauffällig es mir möglich war. Immer war ich mir der Tatsache bewusst, dass ich nur einen kleinen Bruchteil seines Tages miterlebte, während er seine Au laits bei uns schlürfte und ich in Wahrheit keinen blassen Schimmer davon hatte, was er während der restlichen Zeit trieb, welches Leben er mit seiner Frau führte, welcher Mensch er tatsächlich war.

Nun aber wurde ich eines Besseren belehrt.

Ich hätte mir meine sorgsamen Theorien zu seiner Verteidigung ersparen können; klüger wäre gewesen, ich hätte mich auf seine Anklage konzentriert.

* * * * *

Jerome Lefort zuckte innerlich zusammen.

Er erkannte, dass Josephine den Blumentopf, den er ihr wie eine kostbare Trophäe stolz entgegen hielt, schlicht und einfach unmöglich fand.

Natürlich sprach sie es nicht aus, doch ihr abfälliger Blick, mit dem sie die armseligen Blätter und verschrumpelten Blüten musterte, sprach Bände. Für diesen Kümmerling würde sie unter keinen Umständen ein geschütztes Plätzchen auf ihrer Terrasse oder im Wintergarten finden. Diese Pflanze störte Josephines ästhetisches Empfinden für natürliche Schönheit schmerzhaft.

„Für dich, mein Herz“, wagte Jerome wider besseren Wissens einen Vorstoß, streckte ihr den Topf hin und lächelte sie schelmisch an. Noch während er sprach, bemerkte er seinen fatalen Fehler und siedend heiße Röte stieg ihm ins Gesicht. Der abrupte Wechsel in Josephines Mienenspiel von missbilligender Verachtung zu maßlosem Erstaunen bestätigte seine Befürchtungen. Sie würde ihre Überraschung nun auf jeden Fall kundtun.

„Jerome, was ist passiert?“

Ihre Frage war eher eine Feststellung und dennoch war ihrem Unterton zu entnehmen, dass sie nun lückenlose Aufklärung erwartete.

Er versuchte es mit einer platten Lüge.

„Nun, mein Schatz, natürlich weiß ich, wie seltsam es dich anmuten muss, dass ich dir zum ersten Mal, seit wir uns kennen, Blumen schenke. Und das, obwohl ich mich doch von Anfang an deutlich deklariert hatte, dass Blumen jedweder Art für mich keine Form eines adäquaten Geschenkes für dich darstellen. Als ich aber heute dieser herzallerliebsten Blüten gewahr wurde, konnte ich nicht widerstehen. Mit dieser Pflanze möchte ich dir sagen, dass ich dich stets in meinem Herzen trage.“

Zu dick aufgetragen, zu schwülstig und völlig untypisch für ihn, befand er selbstkritisch. Doch er hoffte, mit dieser Ansprache an Josephines Zuneigung zu appellieren und so davon abzulenken, dass er die Herzblüten nicht für sie, sondern in Wahrheit für ihn selbst erstanden hatte.

Wie unter Zwang hatte er bei Fleurs de Plaisir zu diesem Topf gegriffen, unfähig, den Blick von den Blüten zu wenden, felsenfest überzeugt davon, dass sie mit Hebbels Sinnspruch in Zusammenhang stehen mussten, denn so viele Herzen in wenigen Stunden konnten doch wahrlich kein Zufall sein. Da musste ein tieferer Sinn dahinter stecken.

„Was ist passiert?“, wiederholte Josephine unbeeindruckt von seiner pathetischen Liebeserklärung. Die Arme hatte sie abwehrend vor der Brust verschränkt, um ihre dezent bemalten Lippen spielte ein leises Schmunzeln und ihre Augen blitzten in amüsierter Vorfreude auf Leforts Ausreden-Manöver.

„Nein, mein Schatz, ich habe dich nicht betrogen und versuche nicht, mein schlechtes Gewissen mit Blumen zu beschwichtigen. Das wäre denn doch ein wenig billig, findest du nicht?“, lachte er gekünstelt.

„Das habe ich auch nicht vermutet, meine Lieber“, seufzte Josephine mit einem liebevollen Lächeln, „doch es muss etwas passiert sein, warum du mir dieses hässliche Ding ins Haus schleppst und als Liebesbeweis zu tarnen versuchst.“

Es war an der Zeit, den missverstandenen, leicht gekränkten Ehemann zu spielen.

„Ich entdeckte die Pflanze am Boden beim Eingang von Fleurs de Plaisir, während ich hinter einer kinderreichen Familie hertrotten musste“, setzte er an, „ich habe solche Blüten noch nie gesehen und fand sie durchaus reizend. Dann fiel mir ein, wie sehr ich dich von Herzen liebe und dachte, es wäre vielleicht eine nette Geste, sie dir zu schenken.“

Josephine glaubt ihm nicht, das spürte er, doch sie hatte ihm auch nichts entgegenzusetzen und daher entschloss sie sich, ganz wie es ihre Art war, zu einer diplomatischen Lösung.

„Ich liebe dich, Jerome“, antwortete sie schlicht, „auch ohne Blumen oder sonstigen Firlefanz. Wenngleich ich mich über dieses spontane Mitbringsel von dir sehr freue, weigere ich mich, ihm einen Platz zwischen den samtenen Orchideen oder in der Orangerie anzubieten. Auch wenn es von deinem Herzen kommt“, fügte sie besänftigend dazu, um ihren Worten die Schärfe zu nehmen.

„Aber in deinem Arbeitszimmer herrschen perfekte Lichtverhältnisse und eine angenehme Raumtemperatur, sodass sich das Pflänzchen dort mit Sicherheit wohler fühlen wird, als unter all den exotischen Palmen und Bäumchen im Wintergarten“, beendete sie das Thema entschlossen.

Jerome gab sich nicht allzu enttäuscht, wusste er doch, dass er nicht noch mehr übertreiben durfte, wollte er nicht Josephines Misstrauen bis zur Ungläubigkeit verstärken.

„Schade, dass sie dir nicht gefällt“, meinte er achselzuckend, „aber ich finde auch, dass du Recht hast. Sie würde nicht zu unseren anderen Pflanzen passen und ich werde sie in meinem Büro unterbringen.“

Er schnappte den verschmutzten Plastiktopf, um sich diese einmalige Chance nicht entgehen und seinen Worten unverzüglich Taten folgen zu lassen. Während er den Flur entlang zu seinem Arbeitsraum ging, rief ihm Josephine hinterher.

„Mon chérie, du bist mir doch nicht böse?“

Ohne sich umzudrehen, schüttelte er den Kopf.

„Ich werde ihr einen neuen, wunderschönen Topf kaufen und sie mit frischer Erde und Dünger versorgen“, versprach sie seinem Rücken.

„Das wäre schön“, meine Jerome gleichgültig, worauf sich Josephine bemühte nachzusetzen: „Aber dann musst du dich selber um die Pflanze kümmern, du weißt ja, das Spürnasenbüro ist dein Revier mit intimer Atmosphäre und absolut tabu für mich. Ich würde es nie wagen, es in deiner Abwesenheit zu betreten.“

Darüber mussten sie beide grinsen und mit einem Mal entspannte er sich und genoss die Leichtigkeit, mit der es Josephine gelang, auch unangenehme Situationen ins Lot zu bringen.

Er stellte das Gewächs mitten auf seinem mit Mappen und losen Blättern übersäten Schreibtisch ab, wissend, dass spätestens bis zum Abend Josephine einen kunstvoll eleganten und sündhaft teuren Übertopf angeschafft, die Pflanze mit Hilfe ihres grünen Daumens auf Vordermann gebracht und den perfekten Standplatz für sie gefunden haben würde.

Jerome nahm sich vor, vor dem zu Bett Gehen ein Gläschen Cognac zu genießen und sich in sein Arbeitszimmer zurückzuziehen, um seiner eigenartig erregten Stimmung nachzuhängen und auf den Grund zu gehen, in der er sich seit wenigen Stunden befand.

Ihn beschlich das diffuse Gefühl, dass etwas mit ihm passierte, das er nicht benennen konnte und nicht unter Kontrolle hatte. Ganz so, wie Josephine es vermutet hatte.

* * * * *

Dass die Herzblume der eigentliche Auslöser für Leforts darauffolgenden Wahnsinn gewesen sein musste, erfuhr ich erst viel später, als Josephine in ihrer Besorgnis begann, regelmäßig Albert im Café zu besuchen, nämlich immer dann, wenn sie sich sicher war, dass ihr Mann nicht zufällig ebenfalls erscheinen würde. Eines Tages sprach sie auch mich auf Leforts seltsame Verhaltensänderung an und sie offensichtlich dermaßen in seelischer Not war, dass sie ihre Bedenken über Bord warf und kurzerhand beschloss, sich mir ebenfalls anzuvertrauen.

So wie ich Monsieur Lefort in fünf Sekunden nicht ausstehen konnte, benötigte ich ebenfalls nur fünf, um Madame Lefort mehr als nur sympathisch zu finden. Wir waren auf einer Wellenlänge, wir tickten im gleichen Takt, wenn Sie verstehen, was ich meine.

Josephine ist eine äußerst bemerkenswerte Frau, die sehr viel Wert nicht nur auf ihre Kleidung, sondern auch auf Figur und Pflege legt. Nicht dass sie sich auffällig herausputzen würde, nein, im Gegenteil, sie besticht durch schlichte, aber moderne Eleganz und benimmt sich weder geziert noch überkandidelt. Sie strahlt innere Ruhe und Gelassenheit aus, vermittelt den Eindruck eines Menschen, der mit sich und dem Rest der Welt auch dann im Einklang lebt, wenn mir nichts, dir nichts Turbulenzen auftreten.

Ich war und bin noch heute beeindruckt von ihrer Persönlichkeit, ihrem positiven Charisma und wünschte mir manchmal sogar, ein wenig von ihr abschauen zu können.

Irgendwie passte sie so gar nicht in das Viertel rund um den Montmartre, schon gar nicht konnte ich mir vorstellen, dass sie mit Jerome einen Steinwurf entfernt von der Moulin Rouge in einer Dachwohnung eines alten Hauses lebte. Dennoch fügte sie sich nahtlos in das Straßenbild zwischen schmuddeligen Cafés, heruntergekommenen Künstlern und Galerien mit hochtrabenden Namen ein. Wenn sie eilig die Rue Norvins entlang auf unser Café Moncœur zuschritt und ich sie früh genug erspähte, genoss ich es, sie zu beobachten – ihr fein geschnittenes, ernstes Gesicht, der aufrechte Gang, die Körperhaltung, die signalisierte, dass man es mit einer stolzen, aber keinesfalls arroganten Madame zu tun hatte, die den Widrigkeiten des Lebens mit Contenance begegnete.

Verzeihen Sie, ich gerate ins Schwärmen, aber wenn ich an Josephine denke, geht die Begeisterung mit mir durch. Denn Menschen ihres Schlags sind selten geworden und ich schätze mich glücklich, Madame Lefort kennengelernt zu haben.

Leider waren die Umstände, unter denen wir nähere Bekanntschaft schlossen, für uns alle furchtbar, aber für Josephine Lefort waren sie die schlimmste Katastrophe ihres Lebens.

* * * * *

Nach einigen qualvollen Stunden, in denen er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln versucht hatte, erholsamen Schlaf herbeizuzwingen und dabei durch sein unruhiges Umherwälzen und entnervtes Seufzen Josephine sogar kurz geweckt hatte, hielt er es im Bett nicht länger aus, füllte großzügig den Cognacschwenker und machte es sich in seinem ergonomisch perfekt geformten Drehstuhl im Büro bequem. Wie er richtig vermutet hatte, hatte sich Josephine am Nachmittag der Pflanze angenommen, die nun, ausgestattet mit einem schicken, farblich auf die Blüten abgestimmten Keramiktopf und versorgt mit feuchter, dunkler Erde, keineswegs mehr einem unscheinbaren Kümmerling glich, sondern vielmehr ihre satten Blätter gehoben hatte, um die darunter liegenden herzförmigen Blüten stolz zur Schau zu stellen.