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Achim ist aus der Hamburger Hafenstrasse geflohen und wagt einen Neuanfang in Costa Rica. Wird ihn dort seine Vergangenheit als Entführer des Blankeneser Champagnersozialisten Ben wieder einholen? Während Achim sich in Costa Rica eine neue Existenz aufbaut, trifft er zwei alte Bekannte, den erfahrenen Kripobeamten Gert aus Hamburg und seine frühere Reisebegleiterin Liz aus Marokko.
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Seitenzahl: 218
Veröffentlichungsjahr: 2019
Widmung
Andrea, Claudia und der Familie Kistenpfennig, die mich während der Korrekturarbeiten zu diesem Buch stets mit frischem Chai versorgten und so einen großen Anteil am Gelingen dieses Buches hatten
Alle Handlungen, Zusammenhänge, die Namen aller Personenund Unternehmen sowie die Orte dieser Handlungsind frei erfunden. Ähnlichkeiten oder gar Wortgleichheitensind rein zufällig.
*
Unerwartet
Mut
Begegnung
Wach werden
Zwei Tage später
Nachdenken über morgen
Am Strand
Im Flug
Die Zeit kommt
Abendessen
Angie
Der Idiot
Gewohnheit
Die Handlanger
Die Idee
Der Hengst
Meine Rache
Keine Freude am Paradies
Liz wurde wacher
Der Morgen im Fernen Osten
Zum Frühstück bei Liz
Erste Ermittlungen vor Ort
Der Pressevertreter
Selbstvertrauen
Die Interpretation einer Warnung
Die Erzählungen einer Freundin
Ein Flug nach London
Sprechen wir morgen weiter
Erste Notizen
Das Treffen in London
Ein Abend am Strand
Zaika of Kensington
Hastige Abreise
Zurück nach Hamburg
Ein kurzer Arbeitstag
Ein Urlaubstag
Heimkehr
Eine Nacht unter Sternen
Abteilungsbesprechung
In der Sonne
Das Verhör
Ein froher Tag in Pakistan
Der Kronzeuge
Eine unruhige Nacht
Das Startzeichen
Ein weiterer Tag des Verhörs
Die Warnung
Ein Zeuge entzieht sich
Dem Himmel so nah
Am Strand unter den Sternen
Eine Nuss knacken
Ein Schlag ins Gesicht
Die Mailbox
Ein Freund in Bayern
Ein Abschied auf Zeit
Urlaub am Tegernsee
Hochzeitsvorbereitungen
Gedanken in Dubai
Die Nacht in der Kegelbahn
Der Postkorb
Hamburg hat seine Ruhe wieder
Die Lösung bleibt vorerst geheim
Achim erstarrte als hätte er ein Gespenst gesehen, der Gast für Villa 2. Sie hatte ihn noch nicht bemerkt. Er trat schnell einen Schritt zurück hinter das Empfangsgebäude. Er war jetzt nicht mehr erstarrt sondern durch und durch wabbelig, die Beine wie Kautschuk und trotzdem blieb er aufrecht stehen und in seinen Gedanken fand er langsam, Schritt für Schritt, einen ersten Ausweg. Er würde den Service für Villa 2 zunächst an einen Kollegen abtreten und so erst einmal Zeit zu gewinnen.
Liz war im Hotel angekommen, die lange Fahrt von Panama City nach Santiago, von Santiago nach David und von dort über Golfito nach Puerto Jimenez steckten ihr noch in den Knochen, doch ihr Herz pochte vor Glück. Sie war dort angekommen, wo sie glücklich werden könnte.
Es roch nach Meer, Blüten und Wärme und die Herzlichkeit der Menschen war seit dem Verlassen von Panama City mit jedem Kilometer gewachsen. Hier würde sie frei sein. Kein Gedanke mehr an ihren letzten Auftrag in Marokko, der sie zur Mörderin gemacht hatte. Kein Gedanke mehr an Mischa, in dem sie ihren Lebensgefährten entdeckt zu haben glaubte. Obschon dieses „Kein Gedanke“ ja schon den Einstieg in den Gedanken darstellte, den sie eigentlich nie wieder denken wollte.
Eigentlich hatte Achim ja keinen Grund sich vor Liz zu verstecken. Nun ja, sie hatte ihn in Marokko als Punk kennengelernt. Sicherlich kein Aushängeschild für das Hotel, aber so ganz unappetitlich konnte er ja auch damals nicht gewesen sein, sonst hätte sie ihn nicht bis nach Mauretanien mitgeschleppt? Und wäre er nicht damals in der Badewanne eingeschlafen, dann wären sie vielleicht immer noch Reisegefährten?
Er würde sie ansprechen, offen, aber in seiner Freizeit und ein wenig abseits vom Betrieb hier an der Rezeption. Eigentlich war sie eine willkommene Abwechslung, denn Achims eigentliches Problem, Gert, war gerade nach Hamburg abgereist und hatte seinen Zettel, mit der überraschenden Botschaft wohl bereits gelesen oder, so Achims immer stärker werdende Hoffnung, er hatte den Zettel vielleicht gar nicht bemerkt oder konnte ihn nicht zuordnen oder nahm gar den Inhalt dieses Zettels nicht ernst?
Was hatte ihn da eigentlich geritten, wozu diese Selbstoffenbarung, dachte Achim bei sich. Gab es etwa doch ein Gewissen oder war er immer noch so labil, nur diesmal eben auf eine andere Art, nicht mehr der labile Punk, sondern diesmal eben ein labiler Hotelangestellter?
Als Liz ihr Zimmer in der Villa 2 verließ, um einen Hauch von Strand in sich aufzunehmen, noch bevor sie sich duschen und von der langen Reise und Flucht vor ihrer Vergangenheit ausruhen würde, verspürte sie plötzlich dieses unangenehme, oft eingebildete aber doch nicht ganz zu vernachlässigende Gefühl, beobachtet zu werden. Bereits seit ihrer Ankunft hatte sie dieses Gefühl und war es seither nie richtig los geworden, ja, es hatte in ihr sogar von Minute zu Minute zugenommen.
Sie war über sich selbst verwundert, denn als Profi konnte sie eigentlich ihre Gefühle sehr gut kontrollieren und war auch jederzeit in der Lage eine Verfolgungssituation zu erkennen und aufzulösen. Nur jetzt, hier, war dieses Gefühl des beobachtet werdens irgendwie subtiler und doch penetranter.
„Einen schönen Aufenthalt bei uns wünsche ich Ihnen“, hörte sie eine bekannte Stimme hinter sich sprechen. Sie drehte sich um und konnte das Gesicht nicht zuordnen. Ein Gesicht, das sie sehr gut zu kennen glaubte, das sie auch in jüngster Vergangenheit getroffen hatte und trotzdem nicht sofort erkannte. Ein Gesicht, das sie irritierte, ohne unsympathisch zu sein und trotzdem ein Widerstreben bei ihr auslöste und dann plötzlich sprach das Gesicht: „Darf ich noch Liz sagen oder soll ich mich an die Form halten, hier bin ich ja nicht Mitreisender sondern Bediensteter?“.
Es war ihr einstiger Reisebegleiter, ihr Mordopfer, der Punk aus Marokko. Ohne Piercings, Haare ab und gewaschen, sprichwörtlich zum Leben wiedererweckt, aufgewacht, nicht mehr luschig, ein auf den ersten Blick attraktiver junger Mann, wenn auch ein wenig schüchtern. Er stand da und fügte nun lächelnd ein „Hola Liz, que tal“ hinzu.
Sie stand da wie angewurzelt. Die Stimme, das Gesicht, das war er wirklich und er hatte ihr Spiel mit seinem Leben überlebt! Im gleichen Augenblick trafen sich in ihrem Innern Angst und Freude. Sie war also keine Mörderin, zumindest hatte sie jetzt noch nie selbst Hand angelegt. Sie hatte also kein Menschenleben auf dem Gewissen, denn bei allen anderen war sie ja nur der Lockvogel gewesen und konnte sich einreden, von den Mordplänen der anderen nichts gewusst zu haben und vor sich selbst die Unwissende spielen, um so ihr Gewissen zu beruhigen. Der Junge selbst jedenfalls, schien nichts zu ahnen.
Jetzt musste sie nur noch aus ihm heraus quetschen, was er wusste. Seine Stimme klang erst einmal vorsichtig aber durchaus positiv. Hatte er von dem Schlafmittel damals in Marokko nichts gemerkt, dann würden sie sicherlich wieder gute Freunde werden. Sollte er es wissen, dann war ihr erträumtes Versteck in Costa Rica geplatzt. Besser wäre es also, wenn er nichts ahnen würde. Mit „guten“ Freunden hatte sie ja langjährige professionelle Erfahrung und so einen Junior würde sie allemal um den Finger wickeln.
Vielleicht konnte er ihr sogar nützlich sein. Süß sah er aus, so plötzlich bieder und gewaschen, Typ „treue Seele“ und wie hoffnungsvoll er dreinblickte. Was war mit ihm, dem Prototypen der „Generation No Future“ so Plötzliches passiert?
Liz war neugierig wie sich die Dinge entwickeln würden und die Freude nicht alleine zu sein, also doch nicht alles verloren zu haben, ließen sie spüren, dass sie sich jetzt und hier wieder näher kommen würden.
Ihn gleich auszuhorchen wäre der falsche Weg und so wie er aussah, würde er ohnehin sofort sein Herz ausschütten, ganz ohne ihr Zutun, sie musste ihn nur ein wenig kitzeln und dann würde alles aus ihm heraussprudeln. „Du bist damals nicht zum vereinbarten Treffen gekommen und ich hatte Dir ja schon vorher angedroht, Dich gegen einen besser gebräunten Jüngling einzutauschen“, lachte Liz. Ihr Lachen war unbeschreiblich, eben ihres. Achim fühlte sich sofort wieder zu ihr hingezogen und ja, sie hatte recht, er war ja in der Badewanne eingeschlafen, voll gedopt wie er immer noch glaubte.
Irgendwann würden sie sich noch ausführlicher unterhalten. Sie würde ohnehin erst einmal zu sich kommen wollen, duschen, essen, das Hotel besichtigen, schlafen und er, er hatte ja morgen frei. „Morgen habe ich frei“, meinte er, „und wenn ich nicht wieder in der Badewanne einschlafe, dann könnte ich Dich ja etwas in der Gegend herumführen. Gebräunte Jünglinge gibt es hier auch“. Sie lachte und erwiderte, „Na, Du hast ja an Farbe zugelegt und einen privaten Führer nimmt man als Tourist doch gerne an. Wie wär’s mit nach dem Frühstück am Strand?“
Gert war bereits in Mexiko Stadt angekommen. Die Landung war planmäßig verlaufen und doch, noch an Bord der Maschine war den Passagieren mitgeteilt worden, dass an einen Weiterflug vorerst nicht zu denken war. Der Popocatepetl spuckte wohl Asche und der Flughafen war daher auf unbestimmte Zeit gesperrt worden. Da es in Hamburg noch Nacht war, schickte er nur eine kurze SMS an die Kollegen im Büro in Hamburg: „Zwangspause in Mexiko, Gert“.
Die würden sicherlich auch die Fernsehnachrichten sehen und wissen, was in Mexiko los war. Gert war es ohnehin recht einen kleinen Zwischenstopp in Mexiko auf Staatskosten einzulegen und in den Erinnerungen an seine Jugend zur See zu schwelgen.
Mariachis, wie hier in der Hauptstadt, hatte es damals in Veracruz auch gegeben und damals in seiner frühen Jugend war es dieser Hauch von Exotik und Freiheit, der ihm ein Gefühl unendlichen Glücks gegeben hatte, nach der erlebten Tristesse zuhause, wo er als Flüchtlingskind in den Oberschwäbischen Sumpfgebieten gestrandet war. Das Allgäu war zwar landschaftlich unendlich schön, menschlich für ihn aber eine Niederlage, eine Hochburg der Verschlagenheit, Missgunst und Beschränkung.
Die Airline hatte alle Passagiere im Camino Real untergebracht und Gert genoss den Luxus der alten Zeiten und die etwas düstere angestaubte Atmosphäre. Das Camino war ein Zweckbau aus den frühen 70-ern, damals sicherlich als moderne Architektur gerühmt und auch heute noch der Treff wichtiger Persönlichkeiten, Staatsbesuche, Rotarier und alleinstehender Damen mittleren Alters, die an der Hotelbar geschäftig warteten, eben ein typisches Business-Hotel. Trotzdem strahlte das Hotel Ruhe aus. Es lag gegenüber dem Chapultepec Park, nicht zu weit von der Zona Rosa, kurze Wege nach Polanco und es ließ sich hier aushalten und irgendwie war Gert auch froh noch nicht mit der Wahrheit in Costa Rica konfrontiert zu werden.
Was hatte sein junger Hamburger aus dem Hotel wohl mit den Entführern Bens gemein? Woher kannte er die Adresse des Hauses in Wedel? Gert konnte sich nicht vorstellen, dass er in den Mord verwickelt war, aber wieso wusste er davon, wieso hatte er ihm die Anschrift in Wedel gegeben oder gab es noch eine dritte Person, die er noch nicht kannte und die ihm den Zettel zugesteckt hatte?
Nach all den bürokratischen Hürden in Hamburg hatte Gert darauf gedrängt, endlich losfliegen zu können und Klarheit in den Sachverhalt zu bekommen und nun war er froh, doch noch ein paar Tage Aufschub zu haben. Inständig hoffte er, dass der Junge mit dem Mordfall Ben doch nichts zu tun hatte.
Gert schloss die Augen, er schlief nicht sofort ein, schaltete doch noch den Fernseher an, HBO Mexico. Dann schlief er plötzlich doch, der Fernseher lief weiter. Als er wieder aufwachte, wehte im Fernseher auf HBO die Deutsche Flagge. Er stutzte, Nachrichten waren das nicht. In der Mitte der Deutschen Fahne klebte die Kondom-schachtel eines bekannten Herstellers und darunter ein Slogan, der übersetzt bedeutete: „Die Erfahrungen aus der sexuellen Revolution und die deutsche Wertarbeit haben unser Produkt geprägt“.
Noch nie war Gert mit einem so lauten Lachen aufgewacht wie heute. Sofort erinnerte er sich daran, dass sein nun schon erwachsener Sohn einmal einen Ferienjob in der Fabrik dieses Herstellers und zwar in der Abteilung „Qualitätskontrolle Kondome“ absolviert hatte und sie ihn immer kräftig damit aufzogen, wie und mit welcher Kollegin er die Kondome wohl testen dürfte. Nun, leider war es ein recht stupider Job mit irgendeinem Testmaschinchen, aber so hatten sie gelernt, wie die Qualitätsnorm der Branche damals lautete: „Fünf Löcher sind OK, mehr als fünf Löcher sind Ausschuss und werden deshalb in die Dritte Welt verkauft“. Die Frage, die Gert sich beim Anblick dieser Werbung stellte, war: „Haben die hier mehr als fünf Löcher oder gehört Mexiko doch schon zu den Ländern, in denen Kondome entsprechend der in Deutschland geltenden Qualitätsnorm nur weniger als fünf Löcher haben dürfen?“
Auch Liz war schlafen gegangen und auch Sie dachte über Achim nach. „Mein kleiner Punk“, wie sie ihn in Marokko genannt hatte, passte nicht mehr. Was so ein paar Äußerlichkeiten doch bewirken konnten und was für ein hübscher Kerl doch aus ihm geworden war. Und fast wäre sie zu seiner Mörderin geworden und all das nur für Mischa, den sie zu lieben geglaubt hatte und der sie so schlecht behandelt hatte, so schlecht wie noch keiner ihrer Auftraggeber.
Keiner ihrer Kunden hatte sie so missachtet. Keine Entschuldigung wollte sie gelten lassen, Mischa war eben ein Auftragskiller und alles was sie zu seiner Entschuldigung bislang förmlich an den Haaren herbeigezogen hatte, galt nicht mehr, seit er sie dermaßen beleidigt hatte. Es gab keinen Weg mehr zurück und das war auch gut so! Die Jahre als Lockvogel hatte sie überlebt und wie sich jetzt herausgestellt hatte, sogar ohne dabei je wirklich selbst zum Täter geworden zu sein. Welch ein Glück, dass Achim noch lebte!
Doch was würde sie mit ihm morgen besprechen; alte Reiseerlebnisse austauschen, sich ihm selbst offenbaren? Nein, sie würde ihn plaudern lassen und zuhören und ihn zu den richtigen Schlüssen führen, den Schlüssen mit denen sie und er weiterleben könnte, unerkannt und ohne selbst preiszugeben, wer sie wirklich war. Sie würde Achim nicht erlauben, ihr auf die Schliche zu kommen und auch sonst niemandem. Und die beste Ablenkung von der eigenen Person war es immer, sich ganz auf die Persönlichkeit des jeweiligen Gegenübers zu konzentrieren und diesem zu helfen. Helfer werden nicht hinterfragt, denn sie gehören immer zu den Guten. Achim ist eine treue Seele und mit einer treuen Seele kann man sich immer arrangieren, dachte sie. Ich kann ihm helfen erwachsen zu werden, aber behutsam, langsam, vorsichtig und ja nicht zu sehr erwachsen. So gesehen war er eine angenehme Urlaubsbekanntschaft und hübsch war er ja auch.
„Darf ich Dich zu einer Bootsfahrt einladen“, hörte sie von hinten Achims Stimme. Er hatte also wirklich keine Ahnung, sonst würde er sich wohl der Gefahr, die von ihr ausging, nicht erneut aussetzen. „Nun, Du als Bootsführer, das ist neu, nach so viel Wüste, die wir zusammen erlebt haben und bei allem, was neu ist, bin ich natürlich dabei“, war ihre Antwort. Und schon saß sie mit Achim im Schlauchbot. Ein starker Motor trieb sie voran.
Ein wenig mulmig war ihr schon, als sie durchs Riff hinaus und zur nächsten Bucht wieder durchs Riff hinein fahren mussten, denn ein Einheimischer war Achim sicherlich noch nicht geworden, aber er hatte beide Male offensichtlich die richtige Stelle im Riff erwischt. Einem waschechten Hamburger waren wohl die nautischen Kenntnisse von Geburt an mitgegeben. Das war wohl Teil seines genetischen Codes.
„Eine Bucht für uns allein“, pries Achim sich selbst. Der Weg durchs Riff schreckte regelmäßig die paar Touristen der Gegend ab und ein Boot mit einem hiesigen Guide zu buchen, war den meisten Ökotouristen einfach zu teuer und so saß er mit Liz am Strand. Ein blütenweißer Sandstrand wie aus dem Bilderbuch für sie beide ganz alleine und natürlich mit dem großen Picknick-Korb, den das Hotel für sie hergerichtet hatte. „So lässt es sich leben“, Liz entfuhr ein kleiner Seufzer. Die Anspannung der langen Reise, vielleicht auch das letzte Stück Trennung von Mischa, entwichen aus ihrer Seele.
Eilig, so dass sie die Details nicht alle sofort zuordnen konnte, erzählte ihr Achim vom Grund seiner Flucht nach Marokko, dem „Wie“ er zum Entführer wurde, der Flucht vor sich selbst und von seiner Umkehr, ausgelöst durch sein Nahtod-Erlebnis in Mauretanien, vom Tod seiner alten Freunde, die nie wirkliche Freunde waren und auch davon, dass er einen zweiten Fehler gemacht hatte, als er dem Polizisten einen Tipp gegeben hatte und dass er nun inständig hoffte, dass der Polizist den Tipp hoffentlich nicht verstanden hatte.
Ein einziger Widerspruch, den er selbst nicht verstehen konnte und der Liz zeigte, dass Achim im Gegensatz zu ihr selbst und allen Menschen in ihrer sonstigen Umgebung wohl doch noch ein Gewissen hatte. Angenehm, niedlich und praktisch, dachte sie bei sich selbst.
Zunächst hatte sie noch gezögert und war nicht nur, ob der Länge der Geschichte, die Achim ihr erzählt hatte, beinahe nervös geworden. Doch dass Achim ihren versuchten Mordanschlag nicht als Mordanschlag, sondern als Überdosierung diverser Drogen und damit als selbstverschuldet erinnerte, ja dem ganzen sogar noch etwas Positives abgewinnen konnte, war für sie ein Glücksfall nahe dem Hauptgewinn in der Lotterie. „Nahtod-Erlebnis“ hatte er es genannt. Es war für ihn ein Zeichen zur Umkehr.
„Ich habe ihn also nicht nur nicht ermordet, nein, ich habe ihn sogar geläutert“, dachte sie bei sich selbst. Wie dankbar sie ihm doch war, dass er ihr die Chance gab, sich für ihr Tun auch noch vor sich selbst zu entschuldigen. Und selbst vor ihm brauchte sie sich nun nicht einmal zu entschuldigen, denn er wusste nicht nur von nichts, nein, für ihn schien das Wiederaufwachen in der Badewanne, ihr misslungener Mordanschlag, ein Zeichen des Himmels gewesen zu sein, ein Anstoß ein besserer, weil nützlicher, Mensch zu werden.
Sie überlegte kurz, ob sein Wissen noch eine Gefahr für irgendjemanden bedeuten könnte? Immerhin wusste er ja, dass alle seiner damals vermeintlichen Freunde aus Hamburg an einer Überdosis gestorben waren. Aber es schien ihm erneut nicht klar zu sein, dass das alles kein Zufall war und er eigentlich auch hätte ausgeschaltet werden sollen und dieses, das alles zu wissen und trotzdem nicht richtig einordnen zu können, gab ihr Sicherheit.
Ach, wie sie diesen seinen Glauben liebte und wie schön romantisch „ihr Achim“ doch war, noch war. Würde sich das irgendwann einmal ändern? Nein, sie würde ihm helfen so viel von seinem Glauben als möglich zu bewahren, immerhin half ihm das, ein besserer Mensch zu werden und das sollte man niemandem verwehren.
Für sie selbst war eine Welt voller guter Menschen ohnehin die bessere, denn je mehr Schafe, desto besser für die Wölfe, dachte sie bei sich selbst und erschrak fast über die Selbstverständlichkeit, mit der sie diese Haltung lebte und über ihre eigenen zynischen Gedanken.
Nervös stimmte sie allerdings der von Achim in einem Nebensatz erwähnte Zettel für den Polizisten, doch wollte sie jetzt nicht zu sehr bohren und wahrscheinlich hatte der ohnehin keine Folgen. Was wird wohl schon ein Beamter mit einem Zettel im Gepäck anfangen, vermutlich wegwerfen und höchstens kurz irritiert sein?
Falls allerdings Achims Nachricht an den Hamburger Polzisten wirklich von diesem gelesen würde, würde sie Achim wohl doch noch etwas helfen müssen, damit er nicht über seine eigene Naivität stolpern würde. Aber das würde ihr leicht fallen, denn dabei würde sie sich selbst helfen und es würde seine Bindung zu ihr, der erfahrenen Freundin, nur stärker werden lassen.
Er würde ihr nicht aus der Hand gleiten. Ihn auszuschalten war keine Option und auch nicht notwendig. Das würde auch nicht mehr in ihr neues Leben passen. Diesen Gedanken jedenfalls wollte sie jetzt nicht weiterdenken. Zu sehr gefiel sie sich in ihrer neuen Rolle als Helfer, ja und irgendwie auch als Aussteiger. Würde sie in alte Handlungsmuster zurückfallen, würde das ihren eigenen Neuanfang gefährden und sie müsste sich dann einen neuen Zufluchtsort suchen, dann wohl möglich in Asien und diese Vorstellung gefiel ihr nicht. Das wäre wirklich nur ein letzter Notanker, eigentlich keine Lösung.
Der Start in Mexiko hatte sich erneut verschoben, doch nun rauchte der Popocatepetl endlich schwächer. Größere Evakuierungsmaßnahmen waren nicht notwendig geworden und so wurde der Flugbetrieb nach einem weiteren Tag des lustvollen Wartens wieder aufgenommen. Immerhin hatte Gert so drei Extra-Tage in seinem geliebten Mexiko bekommen und endlich auch mal die Zeit gehabt, sich Mexiko Stadt anzusehen. Mexiko kannte er vor allem aus seiner Zeit bei der Handelsmarine, lange bevor er überhaupt an den Polizeidienst gedacht hatte und damals lernte er natürlich nur die Küstenstädte und nie die Hauptstadt selbst kennen. Nun war es ihm endlich gelungen auch Teotihuacán einen ganzen Tag lang zu besuchen und auch der Stadt selbst und dem Templo Mayor des alten Tenochtitlán die gebührende Aufmerksamkeit zu widmen.
Man war oft geneigt die Blutrünstigkeit der Azteken als Ursache für die Gewaltexzesse im heutigen Mexiko herzunehmen. Dieses so frohe und freundliche Volk irritierte Gert immer wieder aufs Neue, sobald er die Zeitung öffnete und die lange Liste der täglichen Mordtaten überflog. Nirgends, so schien es, floss so schnell so viel Blut und im selben Augenblick wusste Gert, dass diese Annahme leider nicht stimmte. War man in Guatemala, in Afrika oder gar in Papua-Guinea, am falschen Ort zur falschen Zeit, so nahm das Leben rasch ein vorzeitiges Ende.
Bei der Handelsmarine hatte Gert gelernt, zu was Menschen alles fähig waren und die Zeit bei der Polizei hatte ihn gelehrt, dass wir im „zivilisierten Westen“ nicht so viel besser waren, nur vielleicht ein wenig glücklicher in Bezug auf unsere Handlungsalternativen.
Nun saß er also wieder im Flugzeug. Noch ein letzter Blick auf den Moloch Mexiko Stadt, den Popocatepetl und schon schwebte er gen Süden, in Richtung Costa Rica. Elisabeth, seine Frau, hatte ihm noch einen Gruß an Achim, unseren Urlaubsfreund und Hotelhausmeister mitgegeben und sie beide hofften inständig, dass sich alles aufklären ließ, ohne dass Achim selbst dabei Schaden nahm.
Mit seiner Dienststelle war Gert übereingekommen, dass er zunächst informell herausfinden sollte, wer ihm den Zettel mit der Anschrift des Hauses in Wedel, in dem sich die Entführung Bens wohl zugetragen haben musste, zugesteckt hatte.
Zum zweiten wollten sie natürlich wissen, ob dieser jemand irgendetwas mit der Entführung zu tun hatte und Personen kannte, die involviert waren, denn bis jetzt kannten sie keinen der Entführer und auch das Motiv hinter der Entführung war weiterhin unklar.
Achim wird mir weiterhelfen, wenn er kann, dachte Gert bei sich und wusste irgendwie, dass er im schlimmsten Fall nur Randfigur gewesen war. Zu allem anderen war er ein zu lieber Junge.
Gert fielen die Augen zu, die letzte Nacht in der Zona Rosa war doch zu lang gewesen und er wohl zu alt. Noch zwei Stunden Schlaf bis zur Landung in Costa Rica und dann einen Fahrer auf Staatskosten bis ins Hotel. Dort würde er sich besser fühlen, eine Nacht schlafen und anschließend mit den Recherchen beginnen.
Mit seiner Dienststelle hatte Gert vereinbart, dass er einen offiziellen Antrag auf Unterstützung durch Interpol erst stellen würde, wenn es genügend Anhaltspunkte gäbe, die die Schuld hiesiger Personen belegten und das, so hoffte er, würde wohl nicht notwendig werden. Achim wird schon eine Erklärung parat haben, so dachte Gert bei sich und schlief nun leichter ein.
Nach weiteren zwei dicht gedrängten Arbeitstagen würde Achim wieder Zeit für Liz haben und Liz nahm sein Angebot, Ihr einen Ort in der Umgebung und das hier übliche Leben der einfachen Menschen vorzuführen, erneut an. Und so verabredeten sie sich diesmal nicht zum Frühstück am Strand sondern mitten unter den Einheimischen zum Abendessen im Dorf.
Liz hatte nach der ganzen Reiserei nichts weiter vor und entspannte sich überwiegend am Pool oder unternahm lange Strandspaziergänge. Sie beobachtete die Sonnenaufgänge und wollte einfach nur ausspannen und die Seele baumeln lassen. Nach der langen und umständlichen Reise, den Umwegen um ihre Spuren zu verwischen, um ein für alle Mal unerkannt zu verschwinden und dem Schock, von Ihrem ganzen Glück, von Mischa, derartig gekränkt und seelisch misshandelt worden zu sein, dafür waren zwei Tage Entspannung zu kurz.
Für Achim verging die Zeit wie im Flug, denn im Hotel gab es viel zu tun und er hatte keine Zeit für jegliche Art überflüssiger Gedanken. Kurz vor Feierabend ging er noch kurz an der Rezeption vorbei, um sich bei den Kollegen bis zum nächsten Tag zu verabschieden. Marisol, seine netteste Kollegin, sie hatte sogar eine Hotelfachschule in Kanada besucht, was bei den hier ansässigen Angestellten außergewöhnlich war und sie war außerdem nicht nur nett, sondern auch wunderhübsch anzusehen, obwohl er das immer wieder besser vermied, da er Angst hatte, dabei rot zu werden oder gar zu stammeln, wünschte ihm noch schnell „Gute Nacht“, um dann wie beiläufig zu fragen: „Wer ist denn Deine ständige Begleiterin, woher kennst Du unseren Gast, kam sie wegen Dir?“
Achim maß dieser Frage keine größere Bedeutung zu, was vermutlich ein Fehler war, aber trotz seiner durchaus vorhandenen Sensibilität, fehlte ihm doch die eine oder andere Antenne für seine Mitmenschen. „Ich habe sie einmal auf einer Reise durch Marokko kennen gelernt und dass sie jetzt hier aufgetaucht ist, ist wohl ein Zufall“, wich Achim ihrer direkten Frage aus. „Ach übrigens“, Marisol meinte ihm noch das Neueste aus dem Hotel berichten zu müssen: „Achim, sabes lo que ha passado hoy“? Ja, sie hatte wirklich ein verwirrend merkwürdiges Erlebnis gehabt und Achim sollte es darüber für einen Moment fast schwindelig werden. „Achim, weißt Du was heute passiert ist“ sagte Marisol und er hatte eigentlich weder Zeit noch Lust sich jetzt den Hoteltratsch anzuhören, aber er wollte Marisol gegenüber auch nicht unhöflich sein und deshalb blieb er kurz bei ihr stehen und lauschte. „Du erinnerst Dich doch an das nette Ehepaar aus Hamburg, das uns vor zwei Monaten besucht hat?“ Achim wurde jetzt starr, „Ja, und die sind vermutlich zurück in Hamburg“. „Nein“, sprach Marisol und Achim musste sich fast festhalten, glücklicherweise hatte er sich ohnehin schon am Rezeptionstisch angelehnt, so dass sein kurzes Schwanken niemandem außer ihm selbst aufgefallen war. „Nein“, wiederholte Marisol, „Du erinnerst doch diese komische plötzliche Buchung von einem Herrn Humbold, den hier keiner kannte und der nur telegraphisch reserviert und sofort am nächsten Tage auch schon im Voraus per Eilüberweisung bezahlt hat“. „Ja, und was hat der Humbold mit den Hamburgern zu tun?“, entwich es Achim fast schon erleichtert. „Nun“, so Marisol, „dieser Humbold ist heute angekommen und er ist nicht Herr Humbold sondern er ist der Gert aus Hamburg und er sagte, dass mit dem Namen Humbold sei wohl ein Fehler des Reisebüros gewesen, dabei hat er doch überhaupt nicht über ein Reisebüro gebucht!“ „Das ist wirklich komisch“, stammelte Achim nun und er wusste mit einem Mal, dass Gert nicht privat sondern beruflich zurückgekommen war, sonst hätt er diese Tarnung als „Herr Humbold“ nicht gebraucht.