Die hohe Kunst, unterm Radar zu bleiben - Susin Nielsen - E-Book

Die hohe Kunst, unterm Radar zu bleiben E-Book

Susin Nielsen

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Beschreibung

In der neuen Schule, in der fremden Stadt, bei den neuen Nachbarn heißt Henrys (13) Devise: bloß nicht auffallen. Denn wehe, es kommt raus, was sein Bruder getan hat. Weil Henry, seit ES passiert ist, nur noch Robotersprache spricht, hockt er viel beim Seelendoc. Seine Gefühle jedoch, und nicht nur die, frisst er weiter in sich hinein. Als er Alberta trifft, die zwar auch nicht normal, aber ziemlich toll ist, fragt er sich, ob da mehr daraus werden könnte. Und ob das bedeutet, dass es für ihn tatsächlich ein Leben DANACH gibt.

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Seitenzahl: 266

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DIE AUTORIN

Foto:© Tallulah Photography

Susin Nielsen begann ihre Karriere als Köchin beim kanadischen Fernsehen. Ihr Essen kam nicht gut an, aber ihr Talent für Texte: 16 Folgen der Erfolgsserie »Degrassi Junior High« stammen aus ihrer Feder. Nielsens Jugendbücher erhielten von Anfang an begeisterte Rezensionen und zahlreiche Auszeichnungen; »Die hohe Kunst, unterm Radar zu bleiben« gewann den renommierten Governor General’s Literary Award und wurde Kinderbuch des Jahres der Canadian Library Association. Die Autorin lebt mit ihrer Familie und zwei zerstörungswütigen Katzen in Vancouver.

Susin Nielsen

Aus dem Englischen

von Claudia Max

Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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1. Auflage 2016

© 2010 Susin Nielsen

Die Originalausgabe erschien 2010

unter dem Titel »The Reluctant Journal of Henry K. Larsen«

Published by arrangement with Tundra,

an imprint of Random House of Canada Limited

© 2016 für die deutschsprachige Ausgabe cbt Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Claudia Max

Lektorat: Friederike Zeininger

Umschlaggestaltung: semper smile, München,

unter Verwendung eines Motivs von Masterfile (ikonimages, Lafleur312)

TP · Herstellung: kw

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-15520-9V002

www.cbt-buecher.de

Für Göran: Oändligt är vårt äventyr

Freitag, 18. Januar

Faszinierend: Das Wort »Psychologie« leitet sich vom griechischen Wort »Psyche« ab und bedeutet Erforschung der Gedanken.

Ich möchte nicht, dass irgendjemand meine Gedanken erforscht. Das ist einfach nur gruselig. Aber Dad findet, ich habe keine andere Wahl mehr.

Cecil sieht nicht aus wie ein Psychologe. Zum einen heißt er Cecil. An seiner Tür im Gesundheitszentrum ist ein Plastikschild mit der Aufschrift DR. LEVINE angebracht, aber als ich ihn bei unserer ersten Sitzung so angesprochen habe, meinte er, ich solle ihn doch bitte Cecil nennen. Ich habe den Namen zu Hause nachgeschlagen und wisst ihr, was er bedeutet? Der Blinde.

Kein gutes Zeichen.

Cecil hat lange graue Zauselhaare, die er mit einem Zopfband zurückbindet. Einem Zopfband! Heute, bei unserer dritten Sitzung, trägt er schon wieder ein Batikshirt, dieses Mal ein lilafarbenes. Ich hätte am liebsten gesagt: Hey Cecil, die Sechziger haben angerufen. Sie wollen ihren Hippiefummel zurück!

Er fragt oft: »Wie fühlst du dich dabei?«, als wäre die Therapie eine Fernsehshow und nicht das richtige Leben. Außerdem sagt er ständig »Heiliger Strohsack«, zum Beispiel: »Heiliger Strohsack, du kommst zum zweiten Mal hintereinander eine Viertelstunde zu spät!«

Vermutlich gehört Cecil nicht gerade zur Crème de la Crème von Psychologen. Zum einen ist er kostenlos. Dad behauptet, er würde von der Provinz British Columbia bezahlt, aber das kann nicht viel sein. Sein Büro ist winzig und eng, die Möbel sind billig, abgenutzt und voller Flecken. Außerdem hat er sich offenbar seit 1969 keine neuen Klamotten mehr leisten können.

Über ES haben wir bisher noch nicht geredet. Er versucht, das Gespräch in die Richtung zu lenken und stellt diese Fragen, bei denen ich genau weiß, was er hören will. Aber ich antworte darauf nur mit Roboterstimme: »Ich. Weiß Nicht. Worauf Du Hinauswillst. Humanoid.« Dann macht er sofort einen Rückzieher.

Die Roboterstimme ist der Grund, warum ich überhaupt hier bin. Nach der Sache mit Mom kurz vor Weihnachten bekam ich wieder diese Wutanfälle und habe angefangen, nur noch wie ein Roboter zu reden. Sogar beim Umzug nach Vancouver. Robot zu sprechen nimmt die Gefühle aus allem raus. »Alles Ist. Ein. Monotoner Brei.« Es hilft mir. Am achten Tag Roboter-Henry sind allerdings alle anderen durchgedreht und Dad hat den ersten Therapietermin für mich vereinbart. Und selbst nachdem ich wieder der harmlose alte Henry war, hat er darauf bestanden, dass ich ihn einhalte.

Cecil fährt seine sämtlichen kümmerlichen Tricks auf, um mich dazu zu bringen, über ES zu reden. Letzte Woche habe ich zum Beispiel beiläufig erwähnt, dass ich gern schreibe, und prompt hat er mir heute dieses Notizbuch gegeben. »Ich dachte, vielleicht hättest du gern einen Rückzugsort, an dem du deine Gedanken und Gefühle festhalten kannst. Tagebuchen kann ziemlich hilfreich sein.«

Ich habe ihm erklärt, dass ich nicht glaube, dass das Wort »tagebuchen« existiert. Zu Hause habe ich das Notizbuch in den Müll geschmissen.

Später hab ich es wieder rausgefischt, aber nur, weil mir langweilig war.

Die Sache ist die: Cecil weiß alles über ES. Vor meiner ersten Sitzung hatte er ein langes Gespräch mit meinem Vater und ich verwette mein Great-Dane-Poster, dass er die ganze Geschichte anschließend auch gegoogelt hat. Und nachdem er alles darüber gelesen hatte, hat er sich garantiert gefragt, warum mich meine Eltern nicht gleich nachdem ES passiert ist, also vor siebeneinhalb Monaten, zur Therapie geschickt haben.

Heiliger Strohsack!, hat er sicher gedacht. Warum haben sie so lange gewartet?

Samstag, 19. Januar

Wieder Pizza zum Abendessen. Das ist schon der dritte Abend. Wahrscheinlich ist es einer der Vorteile am Junggesellenleben.

Beim Essen haben wir unsSaturday Night Smash-Upangeschaut. Dad aß zwei Stücke Pizza. Ich habe den Rest gefuttert. Zwischendurch musste ich meine Jeans gegen meine Schlafanzughose tauschen, damit mein Bauchschwabbel mehr Platz hatte.

Nach dem Saturday Night Smash-Up habe ich Dad gebeten, mich zu messen. Immer noch einssechzig.

Ich bin mit dreizehn noch voll der Zwerg.

Mitternacht

Wegen diesem Heini nebenan stinkt mein ganzes Zimmer nach Curry.

2 Uhr morgens

Ich kann Dad schnarchen hören.

2 Uhr 30 morgens

Dieses Tagebuch ist bescheuert.

Montag 21. Januar

Faszinierend: Orcas bewegen sich in Schulen fort. Jede Schule hat ihre eigenen Lautäußerungen mit Klickgeräuschen, Pfiffen und Rufen. Die Geräusche helfen ihnen zusammenzubleiben.

Das erste Jahr an der Highschool funktioniert genauso. Im September tauchen irgendwelche verängstigten Jugendlichen aus allen möglichen Elementary Schools auf und innerhalb von Wochen bilden sie ihre Schulen. Die Sportdeppen treten Mannschaften bei; die Nerds hängen in Clubs wie »Schach« oder »Computer« herum; die Kiffer suchen sich neben dem Schulgelände ihr Plätzchen hinterm Gebüsch.

Wenn im Januar ein Neuer auftaucht, nimmt es also kaum jemand zur Kenntnis. Die Schulen haben sich schon gebildet. Mir ist das recht. Ich bin gern wie Luna, dieser Orca, der sich von seiner Schule entfernte und ein paar Jahre allein vor der Küste von Vancouver Island herumschwamm. Eigentlich machte er einen ziemlich zufriedenen Eindruck. Er hatte ein richtig gutes Leben.

Na ja. Zumindest bis er versehentlich von einer Bootschraube geschreddert wurde.

Das Problem ist Folgendes: Es gibt mindestens immer noch einen anderen Schüler, der auch allein herumschwimmt, weil ihn keine der Schulen aufnehmen will.

An der Port Salish Junior High war das mein Bruder Jesse.

An der Trafalgar ist es Farley Wong.

Ich bin ziemlich sicher, dass er gleich an meinem ersten Tag hier, also vor zwei Wochen, meine Fährte aufgenommen hat. Heute holte er dann zum entscheidenden Schlag aus.

»Sei gegrüßt und willkommen auf unserem Planeten, Erdling«, begrüßte er mich heute Morgen mit starkem chinesischem Akzent. Ich hatte gerade mein Mathebuch in den Spind geräumt, der, wie es der Zufall will, der übernächste ist. »Farley Wong.« Er streckte mir die Hand entgegen.

»Henry«, erwiderte ich und unterschlug meinen Nachnamen. Er wollte mir kompliziert die Hand schütteln, aber ich gab nach den ersten Bewegungen auf.

»Wo warst du vorher?«

»Vancouver Island«, sagte ich. Besser keine Details nennen.

»Wir haben drei Kurse zusammen«, sagte er und zählte sie an den Fingern ab. »Mathe für Begabte, Sport und Englisch für Begabte.«

Das wusste ich schon, Farley ist schließlich nicht zu übersehen. Er ist der Übernerd.

Ich weiß, ich weiß. Ich sollte besser die Klappe halten. Pop-Pop reißt gern Witze darüber, dass ich so viele Sommersprossen habe, dass es aussieht, als hätte ich mich hinter einem Fliegengitter gesonnt. Und ja, meine Haare sind rot und lockig. Und ja, ich bin klein. Und ja, ich muss meine Kleider in »Sondergrößen« kaufen, was ein netterer Ausdruck für »Fetti-Klamotten« ist.

Aber ich mache aus meiner Nerdigkeit keinen Kult. Farley sieht aus wie eine dieser Nerdfiguren, die man in Geschenkartikelläden kaufen kann. Die Gläser seiner Brille sind so dick wie das Glas von Colaflaschen. Er trägt kurzärmlige Hemden undPlastikschutzhüllenin den Brusttaschen, damit die Stifte nicht sein Hemd beschmieren. Seine Hosen haben eine ordentliche Bügelfalte. Er zurrt sie mit einem Gürtel fast bis zu den Brustwarzen hoch.

Und er rennt mit einem Aktenkoffer herum!

»Wollen wir zusammen zum Englischkurs gehen?«, fragte er. »Ich kenne eine Abkürzung.« Er schaute mich mit seinen brillenvergrößerten Augen hoffnungsvoll an.

Ich bin nicht blöd. Ich weiß, dass es sozialem Harakiri gleichkommt, mit Farley gesehen zu werden. An der Highschool dreht sich alles um den ersten Eindruck. Da braucht man sich nur anzuschauen, was Jesse passiert ist.

Andererseits …

Farley war seit sieben Monaten der erste Typ, der mit mir wie mit einem normalen Menschen redet. Ich hörte mich also sagen: »Ja, klar.«

Farley erzählte auf dem Weg zum Kurs ununterbrochen von einer Show namens Battlestar Galactica.

»Ich hab die ganze Serie auf DVD. Sie ist verdammt genial.« Je länger er redete, umso mehr Speichel sammelte sich in seinen Mundwinkeln.

Als wir um die Ecke bogen, rannte ein dicker Typ, dessen Jeans ihm fast an den Knien hing, absichtlich-zufällig gegen Farley. Ich kannte ihn; sein Spind ist gegenüber von meinem.

»Schicke Hose, Farleypupser«, sagte er. Dann verpasste er mir einen Tritt. Nicht übermäßig hart, aber trotzdem. »Sorry«, sagte er. »Dachte mir, ich könnte mal wieder einen Rothaarigen treten.«

»Ich kenne die Folge von ›South Park‹ auch«, gab ich zurück. »Ist doch alter Kram. Ziemlich lahmer Witz, findest du nicht?«

Okay. Das hab ich nicht gesagt. Aber ich habe es gedacht.

»Das ist Troy Vasic«, sagte Farley, nachdem der Typ davongeschlendert war. »Nimm dich vor ihm in Acht.« Danach schwieg er, bis wir zu unserem Kursraum kamen. »Na ja, vermutlich gibt es an jeder Schule einen Troy Vasic.«

Stimmt, dachte ich.

An Jesses Schule hieß er allerdings Scott Marlin.

Den Rest des Tages klebte Farley wie ein Blutegel an mir. Nachmittags hatten wir zusammen Sport. Ich bin nicht besonders sportlich, aber im Vergleich zu Farley könnte ich an den Olympischen Spielen teilnehmen. Er ist unterirdisch. Das Lustige ist, es scheint ihm völlig egal zu sein. Wir haben Volleyball gespielt, und als er den Ball irgendwann mal übers Netz kriegte, brüllte er »JA!«, obwohl der Ball außerhalb des Spielfelds aufkam.

Und wisst ihr was? Er zurrt auch seine Sporthosen bis zu den Brustwarzen hoch.

Man könnte also sagen, dass Farley mein erster neuer Freund ist. Aber es ist ungefähr dasselbe wie beim ersten Auto. Es bringt einen von A nach B, aber sobald es einem gehört, träumt man ständig von dem Tag, an dem man sich ein besseres leisten kann.

23 Uhr

Der Wasserfleck an meiner Zimmerdecke sieht wie ein Kugelfisch aus.

1 Uhr morgens

Ich glaube, ich werde eine kleine Geschichte über Jesse schreiben. Cecil würde vermutlich einpullern, wenn er das wüsste. Aber dazu kommt es nicht, weil ich es ihm nie erzählen werde.

Warum Jesse Larsen nie von einer Fischschule akzeptiert wurde

Von Henry K. Larsen

In der ersten Woche an der Junior High gab es »Kennenlernaktivitäten« zwischen den neuen und den älteren Schülern – Bowling-Partys, Pizza-Partys, solche Sachen. Die Schule wollte den Neuen damit vermitteln, dass sie willkommen waren. Am Freitag musste jeder neue Schüler auf die Bühne der Aula und vor versammelter Mannschaft ein paar Worte sagen.

Als Jesse an der Reihe war, erzählte er, dass er gern auf seiner PS3 spielte, Manga Comics las und das Saturday Night Smash-Up der Global Wrestling Federation anschaute.

Es war vielleicht ein bisschen uncool, aber kein Drama. Jesse kapierte deshalb überhaupt nicht, warum alle wie verrückt lachten.

Als er von der Bühne stieg, nahm ihn der Direktor beiseite und sagte: »Jesse Larsen, HSA.«

»Was?«

»HSA. Hosenstallalarm!«

Jesse schaute an sich herunter. Sein Hosenstall hatte während seiner ganzen Rede offen gestanden.

Auch das – kein Drama.

Leider doch.

Mom hatte Jesse in der Woche zuvor erklärt, dass sie seine Sachen nur noch waschen würde, wenn er sie in den Wäschekorb warf. Was Jesse nicht auf die Reihe bekommen hatte. Und als er an diesem Morgen feststellte, dass er keine sauberen Unterhosen mehr hatte, entschied er, dass keine Unterwäsche immer noch besser sei als schmutzige Unterwäsche.

Ganz richtig. Er ging ohne Unterwäsche in die Schule. Das heißt, jeder einzelne Mitschüler an der Port Salish sah keine Unterwäsche in seinem Hosenschlitz.

Sie sahen seinen Ihr-wisst-schon-was: seine Familienjuwelen, seine Nüsse, seine Klöten. Seinen Sack.

Jemand in der ersten Reihe machte mit seinem Telefon Fotos. Ich war auf der Grundschule und hatte noch kein Smartphone, viele andere in meiner Klasse aber schon. Und so sah ich, wie jeder andere Schüler in Port Salish oder sonstwo, in der nächsten Stunde den fotografischen Beweis.

Die Schule reagierte natürlich hysterisch. »Das ist Mobbing und wir werden nicht zulassen, dass irgendein Kind gemobbt wird«, bla bla bla.

Die Fotos wurden relativ schnell gelöscht, zumindest die auf Facebook. Aber alles andere – was die Erwachsenen nicht sehen konnten oder nicht sehen wollten – ging danach erst richtig los.

Scott Marlin verpasste Jesse den Spitznamen, der ihn die ersten zwei Jahre an der Highschool verfolgte und den er erst loswurde, als er der Sache ein für alle Mal ein Ende machte.

Schlappsack.

Fast zwei ganze Jahre lang wurde der Junge, der bis dahin Jesse gewesen war, Schlappsack genannt. Manche Mitschüler nannten ihn sogar vor den Lehrern so, die es für irgendeine Serienfigur hielten.

Ich behaupte nicht, dass Jesse stinknormal war. Scott hätte ihn auch wegen anderer Sachen hänseln können. Wegen seiner Pickel, die schlimm waren. Wegen seiner übertriebenen Begeisterung für die Global Wrestling Federation. Wegen der Art, wie er kicherte, wenn er nervös war.

Aber der Schlappsack-Vorfall war der Knaller. Er war das Streichholz an der Bombe, die uns letzten Juni um die Ohren flog.

Oder wie es Mr Schell, mein Lehrer vom Englisch-für-Begabte-Kurs, ausdrücken würde: »Das, Henry, bezeichnet man als das erregende Moment.«

Donnerstag, 24. Januar

Ich nehme alles zurück. Farley hat doch seine Schule.

Es war um die Mittagessenszeit und wir standen vor unseren Spinden. Troy lungerte mit ein paar Freunden auf der anderen Seite des Gangs herum. Als er seinen Spind schloss und sich umdrehte, trug er eine »Nerdbrille« – eine von diesen billigen Scherzartikelbrillen mit dickem schwarzem Plastikgestell und aufgeklebten vergrößerten Augen auf den Gläsern.

Das heißt, sie ließ ihn sehr wie Farley aussehen.

»Hey, ihr zwei«, sagte Troy und versuchte, Farleys chinesischen Akzent nachzuäffen. »Alles fit im Schritt?«

Seine Prollfreunde wieherten los. Ein paar Mädchen begannen ebenfalls verhalten zu kichern. Man sah ihnen an, dass sie es zu unterdrücken versuchten, aber es war schwierig. Troys Imitation war ziemlich gut.

Und das war Farleys geniale Antwort: »Wie lustig, leider hab ich glatt vergessen zu lachen.«

Allerdings vergaß niemand sonst zu lachen, denn der echte Farley klang sehr wie Troys nachgeäffter Farley. Ich musste ein unbeabsichtigtes Schnauben hinunterschlucken.

Troy und seine Freunde marschierten davon. Von hinten sahen sie wie Drillinge aus – die Hosenbeine ihrer Jeans knautschten an den Knöcheln, der Bund hing irgendwo auf dem Hintern, sie ließen die Schultern hängen.

»Was für’n Haufen Neandertaler«, sagte ich, als ich mich wieder zu Farley wandte. Da entdeckte ich diesen Ausdruck auf seinem Gesicht.

Ich kannte diesen Ausdruck. Ich hatte ihn oft auf Jesses Gesicht gesehen, wenn er wieder mal Stress mit Scott gehabt hatte. Es war ein vielschichtiger Gesichtsausdruck. Teils Ich hasse Troy, teils Ich hasse mich selbst.

»Ich habe von Geburt an schlecht gesehen«, sagte Farley. »Und ich kann nichts dagegen tun.«

»Wenigstens bist du nicht mit zwei Köpfen auf die Welt gekommen, wie dieser Mexikaner im neunzehnten Jahrhundert«, sagte ich zu ihm und schloss meinen Spind ab. »Oder mit Hypertrichose.«

»Was ist Hypertrichose?«

»Das ist, wenn dein Körper abartige Mengen Haare produziert, selbst im Gesicht. Man sieht wie ein menschlicher Werwolf aus.«

Farley sah mich fragend an. »Woher weißt du so etwas?«

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Wie sollte ich erklären, dass die Vorstellung von Spaß in unserer Familie in Wortspielen besteht. Oder dass wir uns nach Saturday Night Smash-Up am liebsten die Quizshow Jeopardy! angeschaut und immer versucht haben, die Fragen vor den Kandidaten zu beantworten. Oder dass wir auf dem Klo am liebsten das Guinness-Buch der Rekorde lesen.

Ich erklärte es also nicht, sondern zuckte bloß die Achseln. »Ich merk mir alles Mögliche.«

Farleys Augen hinter den Brillengläsern wurden noch größer. »Du kommst mit«, sagte er. Dann packte er mich am Arm und zog mich den Gang hinunter.

»Wo gehen wir hin?«

»Wir brauchen noch ein Mitglied. Und du bist genau das, was uns noch fehlt.«

»Mitglied bei was?«

Aber er gab keine Antwort. Er führte mich einfach die Treppe hoch und in ein Klassenzimmer im zweiten Stock.

Dort saßen schon sechs andere und verzehrten ihr Mittagessen. Sie hatten in der Mitte des Raums acht Tische so zusammengeschoben, dass sie sich in zwei Viererreihen gegenübersaßen. Auf den Tischen stand eine schwarze Kiste mit roten Knöpfen. Sie erinnerte mich irgendwie an einen dilettantischen Science-Fiction-Film.

»Hallo allerseits«, sagte Farley, inzwischen außer Puste, »das ist Henry. Er wird unserem Team beitreten.«

»Welchem Team?«, fragte ich.

»Reach For The Top. Es ist eine Art Jeopardy! für Schüler, allerdings tritt man gegen Teams an, nicht gegen Einzelkandidaten.«

Das hieß also, ein Team, das Nerds anzieht wie Hundekacke Fliegen.

Vor dem ersten Juni wäre damit ein Traum für mich in Erfüllung gegangen. Ich steh auf so was. Aber ich habe gesehen, was mit Jesse in der Highschool passiert ist. An der Highschool ändern sich die Spielregeln.

Als Kind kann man seine Macken ausleben. Man kann den Leuten alle möglichen schrägen Sachen erzählen. Man kann in der Öffentlichkeit singen. Man kann mit einer Unterhose über der Jeans in den Park gehen und tun, als wäre man Great Dane oder ein anderer Wrestler, den man toll findet. Das weiß ich, weil Jesse und ich es ständig gemacht haben.

Aber wenn man älter wird, ändert sich das alles. Man lernt, dass man am besten unterm Radar bleibt. Ich weiß, dass ich meine blöden roten Haare und meine blöden Sommersprossen nicht ändern kann. Aber ich kann meine Marotten unterdrücken.

Ich versuchte deshalb »Danke, muss nicht sein« zu sagen, aber bevor ich die Worte herausbekam, stellte mir Farley schon die anderen Teammitglieder vor. »Henry, das sind Parvana, Shen, Ambrose, Jerome, Koula und Alberta.« Sie lächelten alle und sagten Hallo.

Außer Alberta.

Ihr Kopf blieb in einer Klatschzeitschrift vergraben. Ich kannte sie; wir haben zusammen Hauswirtschaftslehre. Ich habe sogar einmal mit ihr geredet. Wir saßen uns beim Nähen gegenüber und ich habe sie gefragt: »Warum heißt du Alberta? Warum nicht Saskatchewan oder Manitoba oder wie eine andere kanadische Provinz?«

Und ihre Antwort war: »Wow, Neuer. Wie lustig. Den hab ich ja noch nie gehört.«

Ungezogen.

Kennt ihr das Lied aus »Sesamstraße« – bei dem es darum geht, dass etwas anders ist als die anderen? Alberta ist dieses Etwas. Bis auf sie passten alle in diesem Raum in ein Reach-For-The-Top-Team.

Stellt euch einfach vor:

Der Junge namens Ambrose hatte eine verranzte mehrfarbige Strickmütze an. Im Klassenzimmer. Außerdem trug er neongrüne Socken.

Der Typ namens Shen umklammerte einenZauberwürfel. Noch Fragen?

Parvana trug ein T-Shirt mit der Aufschrift Den Langweilern gehört die Welt!

Koula schnaubte. Ich meine nicht ein- oder zweimal; ich meine ununterbrochen. Ruhige kleine Schnauber, alle paar Sekunden. Als hätte er einen Tick.

Jerome trug Jogginghosen und ein Shirt, das ständig hochrutschte und schwabbelige weiße Speckrollen entblößte, und es schien ihm total egal zu sein. Ja, ja, ausgerechnet ich reiße die Klappe auf, aber wenn ich zehn Kilo zu viel draufhabe, dann hat Jerome mindestens fünfzig zu viel. Und ich würde meinen Bauchschwabbel nie im Leben raushängen lassen!!

Und dann Alberta.

Sie hat eine kurze braune Punkfrisur – ziemlich wie die von Great Dane, nur die Farbe ist anders. In der Nase und über der Augenbraue trägt sie goldene Piercings. Manche würden sie vielleicht als moppelig bezeichnen, aber als jemand, der sich das auch schon ein- oder zweimal anhören musste, ziehe ich das Wort »wohlgerundet« vor. Sie trug einen Schottenrock mit einer großen goldenen Sicherheitsnadel, der knapp über dem Knie endete, schwarze Strumpfhosen und lila Doc Martens. Darüber ein weißes T-Shirt mit dem Schriftzug einer Traktorfirma.

Sie ist das Gegenteil eines Nerds.

Schließlich kam mein Sozialkundelehrer, Mr Jankowitsch, in den Raum. Er ist ein erwachsener Nerd. Man braucht sich bloß seine Füße anzuschauen: Er trägt Birkenstocks und weiße Baumwollstrümpfe. Sogar im Winter!

»Trainer, das ist Henry«, erklärte ihm Farley. »Er wird dem Team beitreten.«

Nein, werde ich nicht, hätte ich am liebsten gesagt, aber Mr Jankowitsch gab mir keine Chance. »Hey, Henry. Das ist ja eine tolle Neuigkeit. Setzt euch.«

Ich konnte keinen Rückzieher mehr machen. Ich hätte Farley gern den Hals umgedreht und das schien er auch zu wissen, denn obwohl er mir gegenübersaß, vermied er jeden Blickkontakt. Mr Jankowitsch gab jedem von uns ein Kabel mit einem roten Knopf am Ende, das wir in die schwarze Kiste steckten. Wenn man auf den Knopf drückte, surrte er und auf dem Kasten leuchtete eines der roten Lichter auf.

Jerome, Koula, Shen und ich saßen Ambrose, Parvana, Farley und Alberta gegenüber.

Mr Jankowitsch fing an, uns mit Fragen zu bombardieren. Sie waren in unterschiedliche Kategorien aufgeteilt wie Offene Fragen, Teamfragen, Blitzfragen und »Wer bin ich«-Fragen. Hier sind die Fragen, an die ich mich noch erinnere:

1) Wofür stehtURLim Internet? (Ich hatte keinen Schimmer. Aber Shen und Farley wussten es: Uniform Resource Locator, also die Webadresse.)

2) Welchen Fluss überquerte Julius Caesar? (Den Rubikon. Das wusste ich.)

3) Welche Insel eroberten Caesar und seine Legionen 55 v. Chr.? (Keine Ahnung. Aber Parvana wusste, dass es Großbritannien war.)

4) Wofür steht Cd im Periodensystem der Elemente? (Cadmium. Hätte Shen nicht als Erster gedrückt, hätte ich das geraten.)

5) Richtig buchstabieren. Wie schreibt man Standard, Rhythmus, Dichotomie, Fantasie? (Ich wusste Fantasie, bei den anderen drei war Shen schneller.)

6) Wie viele Milchzähne haben Menschen? Wie viele bleibende Zähne? (Zwanzig und zweiunddreißig. Beantwortet von meiner Wenigkeit.)

7) Welcher Hollywoodstar ist mit José Ferrer, Rosemary Clooney und Debby Boone verwandt? (George Clooney. Das wusste Alberta. Sie hat sich nur zu Fragen über Filmstars und Popmusik gemeldet.)

Ich geb’s zu: Die Mittagspause war superschnell vorbei. Als Farley und ich zu unseren Spinden zurückgingen, sagt er: »Die nächste Übung ist am Dienstag. Häng dich rein oder häng weiter rum.«

»Ich werde dem Team nicht beitreten«, erklärte ich.

»Oh doch, wirst du«, meinte er, als wir zu unseren Spinden kamen.

»Warum bist du dir da so sicher?«

Wie auf Kommando kam Alberta um die Ecke, sie hatte eine vollgekritzelte Mappe unterm Arm.

»Hi«, sagte ich.

Sie schaute mich nur finster an und ging weiter.

Ungezogen.

Farley grinste. »Deshalb bin ich mir sicher.«

Ich merkte, wie mein Gesicht rot anlief, was nicht gerade toll aussieht, wenn man sowieso schon rote Haare und Sommersprossen hat. »Die? Bitte. Die ist doch voll eingebildet.«

Aber Farley lächelte selbstgefällig. »Bis nachher in Sport«, sagte er und lief vor sich hin summend den Gang hinunter.

Samstag, 26. Januar

Faszinierend: Posttraumatische Belastungsstörung (oder PTBS) ist eine schwerwiegende Angststörung, die nach einem traumatischen Ereignis auftreten kann.

Das behauptet jedenfalls Cecil. Er hat bei unserer Sitzung gestern nach der Schule viel über PTBS geredet. Weshalb ich ihm mit Roboterstimme geantwortet habe. Weshalb er die Taktik geändert hat.

»Schreibst du überhaupt in dein Tagebuch?«, fragte er.

»Nein«, log ich.

»Oh. Schade.«

»Find ich nicht.«

Gefühlt starrte er mich ungefähr eine Minute an. Ich starrte zurück. »Erzähl mir was über dein T-Shirt«, sagte er schließlich. »Wer ist der Typ?«

»Das ist Great Dane.«

Cecil schaute mich verständnislos an.

»Von der GWF.«

Der nächste verständnislose Blick.

»Die Global Wrestling Federation? Saturday Night Smash-Up? Monday Night Meltdown?« Im Stillen dachte ich, Heiliger Strohsack, in welchem Jahrhundert lebst du denn?

»Oh. Davon hab ich schon mal gehört. Aber ich habe keinen Fernseher«, sagte er, und zwar ein bisschen überheblich, wenn ihr mich fragt.

»Saturday Night Smash-Upist meine Lieblingsshow«, erklärte ich ihm. Genau genommen war es die Lieblingsshow meiner ganzen Familie. Mom hat immer eine große Schüssel Popcorn gemacht und wir haben uns samstags alle vor den Fernseher gesetzt, sogar in den Monaten bevorESpassiert ist. Jeder von uns hatte seinen Lieblingswrestler: Moms war El Toro, Dads war Twister, Jesse und ich hatten denselben.

»Erzähl mir alles über Great Dane«, sagte Cecil.

»Er wiegt 99 Kilo. Es klingt wie eine Menge, aber in der GWF ist er echt mickrig. Er trägt enge rote Hosen mit weißem Rand und weiße Schnürstiefel und er hat eine kurze blonde Punkfrisur. Sein Oberkörper sieht aus wie der von Popeye. Und sein Markenzeichen ist der Body Splash.«

»Der Body Splash?«

Ich gab mir wirklich Mühe, es Cecil zu beschreiben. »Angenommen der Gegner liegt auf der Matte. Great Dane steigt auf die Seile um den Ring. Er beugt sich weit vor …« Für diesen Teil stellte ich mich auf meinen Stuhl, um Cecil zu zeigen, was ich meinte. »Dann springt er. Einen Moment lang sieht es aus, als würde er fliegen. Und dann klatscht er mit dem Bauch auf die Brust seines Gegners. PFLATSCH!«

Um dem ganzen Nachdruck zu verleihen, legte ich mich flach auf den Boden seines winzigen Büros. Es war widerlich da unten – Armeen von Wollmäusen und ein Teppich, auf dem alte Essenreste klebten. »Stellen Sie sich den Buchstaben T vor«, sagte ich, stand schnell auf und klopfte mich ab. »So soll es von oben aussehen.«

»Heiliger Strohsack«, sagte Cecil. »Klingt gewalttätig.«

Ich verdrehte die Augen. »Mehr als das. Es gibt Handlungsstränge und alles. Es ist megaaufregend. Hohe Einsätze. Gut gegen Böse.«

»Warum magst du Great Dane am liebsten?«

»Weil«, sagte ich ein bisschen ungeduldig. »Er ist einer von den Guten. Er ist ein Babyface. Und er muss immer gegen die Heels kämpfen – das sind die riesigen potthässlichen bösen Typen.«

»Gewinnt er?«

»Manchmal. Meistens verliert er.«

»Er ist also ein Underdog.«

»Ja.«

Aus irgendeinem Grund fing Cecil an, ständig zu nicken, als hätten wir eine tiefschürfende Unterhaltung.

»Man weiß nie, was als Nächstes passiert«, fuhr ich fort. »Wrestler, die jahrelang die Heels waren, werden plötzlich Babyfaces und umgekehrt. Immer, wenn man denkt, man weiß, wie einer von ihnen tickt, wechselt er die Seite.«

»Dann ist also niemand hundertprozentig gut oder böse«, sagte er. »Genau wie im wirklichen Leben.«

»Klar! Stalin hat bestimmt auch ab und zu mal einer alten Dame die Tür aufgehalten oder seine Mutter umarmt. Und vielleicht hat Mutter Teresa ein Kind verhauen oder einen Schokoriegel geklaut.«

»Ich wette, Great Dane war auch Jesses Favorit. Stimmt’s?«

Von einem Moment auf den anderen bekam ich Gänsehaut. Wie hatte Cecil das rausgekriegt? Es war gruselig. »Ich verweigere die Aussage«, erklärte ich.

»Weißt du überhaupt, was das bedeutet?«

»Das hab ich in einer Fernsehshow gesehen. Es bedeutet Ich antworte nicht auf die Frage und Sie können mich auch nicht dazu zwingen.«

Cecil lächelte. »Okay. Die Sitzung ist sowieso so gut wie vorbei.« Er stand auf und drückte mir die Hand. »Ich glaube, wir sind heute einen guten Schritt weitergekommen, Henry.«

Ich hätte am liebsten gefragt Wie jetzt? Wir haben doch bloß über Wrestling geredet!!

Ich hab nichts gegen Cecil. Er ist schon irgendwie okay. Aber mein Vater hat mal einen Witz erzählt, der perfekt auf Cecil passt: »Kommen zwei Psychologen zu einer Bushaltestelle gerannt. Der Bus ist jedoch gerade abgefahren. Sagt der eine Psychologe zum anderen: »Willst du darüber reden?«

23 Uhr

Wir hatten heute Abend wieder Pizza. Ich hab mich zusammengerissen und nur vier Stücke davon gegessen.

Dad hat nur ein Bier zu seiner Rapiflux-Tablette getrunken. Mit Rapiflux hat er vor ungefähr vier Monaten angefangen. Erst dachte ich, es ist was für die Verdauung oder so, aber dann habe ich auf Dads Laptop nachgeschaut. Rapiflux ist ein anderer Name für Fluoxetin. Was wiederum ein anderer Name für Prozac ist. Was, laut Website, »das Wohlbefinden steigert und depressiven Stimmungen entgegenwirkt«.

Wir aßen die Pizza vor dem Fernseher, da klingelte das Telefon. Wir haben ein billiges Telefon ohne Display, aber ich wusste auch so, wer es war.

»Hallo?«

»Hi, Henry.«

Jep. Mom.

»Wie geht’s meinem Kleineren?« So nennt sie mich schon mein ganzes Leben. Jesse war der Kleine. Wenn sie einen dritten Sohn gehabt hätte, wäre er bestimmt der Kleinste gewesen.

»Gut.«

»Wie ist es an der neuen Schule?« Das fragt sie mich jedes Mal.

»Gut.«

»Lass mich raten – dein Lieblingsfach ist Englisch?«

»Ja.«

»Du warst schon immer gut mit Wörtern.«

Danach entstand ein langes Schweigen, was mein Englischlehrer, Mr Schell, als gutes Beispiel für Ironie bezeichnen würde.

»Wie geht’s Dad?«

Ich blickte zu Dad, der auf die Wand hinter dem Fernseher starrte. »Gut«, sagte ich. »Gleich fängt Saturday Night Smash-Up an.«

Darauf folgte eine weitere lange Pause und dann sagte sie: »Es tut mir leid, Henry.« Und wie bei jedem Anruf fing sie an zu weinen. Und wie bei jedem Anruf reichte ich das Telefon an meinen Vater weiter, weil ich ihre Tränen satt habe.

Dad ging in sein Zimmer und schloss die Tür. Ich lauschte, wie seine Stimme lauter und leiser wurde. Manchmal schreit Dad bei diesen Anrufen, aber heute Abend sprach er ruhig und nach zwanzig Minuten oder so setzte er sich wieder neben mich auf die Couch. Er lächelte mich breit an. Es war das absolut verlogenste Lächeln, aber der Versuch war ehrenwert. »Was hab ich verpasst?«

Ich erzählte ihm, dass Great Dane den Kampf gegen Vlad the Impaler verloren hatte, der ihn mit einem Bionic Elbow niedergerungen hatte (das heißt, er hat Great Dane seinen Ellbogen in den Schädel gerammt) Vlad verabreichte Dane auch den Testicular Claw, im Klartext: er quetschte ihm die Eier. Es ist verboten, aber Vlad passte einen Moment ab, als sich der Schiedsrichter wegdrehte, deshalb wurde er nicht erwischt.

Jetzt ist Dad in seinem Zimmer und ich in meinem. In der Annonce stand Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung. Ich wohne in dem halben Zimmer. Das war vermutlich ein Tippfehler und der Vermieter meinte eigentlich Abstellkammer.

Unser Haus ist ein dreistöckiger grauverputzter Sechzigerjahre-Kasten direkt am Broadway, der meistbefahrensten Straße in Kitsilano. Es trägt den Namen Cedar Manor, aber den pompösen Namen verdient es so was von überhaupt nicht. Im Gegenteil, wenn ich die vermeintliche »Villa« mit einem Wort beschreiben müsste, würde es »hässlich« lauten. Der orangefarbene, grüne und braune Teppichboden in den Fluren sieht aus, als wäre er seit der Fertigstellung noch nie gereinigt worden. Die Wände sind verdreckt. Die Beleuchtung besteht aus surrenden Neonröhren.

Aber ich will nicht klagen. In Vancouver zu leben ist sehr viel teurer als in Port Salish und da Dad keine eigene Firma mehr hat und Mom nicht arbeitet und die Marlins eine Klage eingereicht haben, kann ich mich wahrscheinlich glücklich schätzen, dass wir nicht im Stanley Park bei den Obdachlosen wohnen.

Außerdem sind wir hier in Vancouver anonym. In Port Salish kannte jeder jeden. Früher fand ich das toll. Aber nachdem ES passiert ist, war es ein Fluch.

Ich würde trotzdem lügen, wenn ich behaupten würde, unser Haus würde mir nicht fehlen. Es war ein richtiges stinknormales Haus mit Garten und allem Drum und Dran. Es war keine Villa, aber Jesse und ich hatten jeder unser eigenes Zimmer, was gut war, Jesse war nämlich ein Schwein. Ich dagegen bin ordentlich und sauber. »Das grenzt schon an Zwanghaftigkeit«, habe ich Mom mal zu Dad sagen hören, als sie dachte, ich würde es nicht hören.

Na und? Wenn ich nun mal auf Sauberkeit stehe? Mein Zimmer hier ist nur halb so groß wie das in Port Salish, aber mein Poster von Great Dane hängt genau in der Mitte über meinem Bett, das ich jeden Morgen mache und zwar mit superakkuraten Kanten. In meinem Schrank habe ich eines dieser faltbaren Stoffregale zum Aufhängen für meine zusammengelegten Unterhosen und Socken. Alles andere – Jeans, Sweatshirts, T-Shirts, meistens in Blau- oder G