Die Holunderschwestern - Teresa Simon - E-Book
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Die Holunderschwestern E-Book

Teresa Simon

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Beschreibung

München 1918. Die junge Fanny – Franziska – sitzt im Zug nach München und will der Provinz entfliehen. Ihre sensible Zwillingsschwester Friederike musste sie zurücklassen. Als die reiche Witwe Dora mit ihren beiden Kindern zusteigt, ahnt Fanny noch nicht, dass ein tragisches Schicksal seinen Anfang nimmt.

München 2015. Katharina erhält einen Brief aus London: In einem Archiv wurden Tagebücher ihrer Urgroßmutter Franziska gefunden. Katharina wird neugierig. Wie kommt es, dass die Aufzeichnungen ihrer Urgroßmutter, einer einfachen Köchin, in London verwahrt werden?

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TeresaSimon

DieHolunder

Schwestern

Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

 

Das Buch

Zwei ungleiche Schwestern. Eine tragische Epoche. Eine Liebe, die nicht sein darf.

München. Die talentierte Restauratorin Katharina Raith hat sich gerade einen Traum erfüllt und ihre eigene Werkstatt eröffnet. Da steht eines Tages Alex Bluebird aus London vor Ihrer Tür und übergibt ihr die Tagebücher ihrer Urgroßmutter Fanny. Sie reichen zurück bis in Jahr 1918, als Fanny nach München kam und sich in den vornehmen Kreisen einen Namen als Köchin machte. Ihre sensible Zwillingsschwester Fritzi ließ sie in der Provinz zurück. Doch eines Tages stand Fritzi vor Fannys Tür – und setzte eine fatale Kette von Ereignissen in Gang …

Die Autorin

Teresa Simon ist das Pseudonym einer bekannten deutschen Autorin. Sie reist gerne (auch in die Vergangenheit), ist neugierig auf ungewöhnliche Schicksale, hat ein Faible für Katzen, bewundert alles, was grünt und blüht, und lässt sich immer wieder von stimmungsvollen historischen Schauplätzen inspirieren.

Lieferbare Titel

Die Frauen der Rosenvilla

 

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S. 6 und S. 414 : Else Lasker-Schüler, »Dein Herz ist wie die Nacht so hell«, aus: Sämtliche Gedichte © 2016 Fischer Taschenbuch Verlag
Copyright © 2016 by Teresa Simon Copyright © 2016 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH München, Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Catherine Beck Umschlaggestaltung: © Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Nejron Photo Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich ISBN: 978-3-641-16813-1V008
www.heyne.de

 

Für Therese und Maria

 

 

Dein Herz ist wie die Nacht so hell,

ich kann es sehn

– Du denkst an mich – es bleiben alle Sterne stehn.

Und wie der Mond von Gold dein Leib

Dahin so schnell

Von weit er scheint.

Else Lasker-Schüler(1869–1945)

 

 

Prolog

München, April 1936

Wenn du entdeckst, was ich dir angetan habe, wirst du mich hassen bis in alle Ewigkeit. Deshalb bin ich schon fort, wenn du diese Zeilen liest, hoch in den Bergen jenseits der Grenze, im Schoß von Mutter Kirche, die seit jeher gefallenen Sünderinnen Obhut gewährt hat. Du wirst mich nicht finden, dafür habe ich gesorgt, auch wenn mir das Herz blutet angesichts dessen, was ich hier zurücklassen muss.

Aber ich weiß keinen anderen Weg.

Ich kann dir nicht einmal genau sagen, was mich dazu getrieben hat, aber es brodelt schon viel zu lange in mir, jenes unselige Gemisch aus Neid, Eifersucht und ja, auch Rachsucht. Und es wurde immer giftiger, je fremder wir uns im Lauf der Jahre geworden sind. Tief in mir hat es geschwappt und alles verätzt- bis eine weitere Kränkung wie ein nachlässig weggeworfenes Streichholz genügt hat, um die Explosion herbeizuführen.

Hätte es jene unselige Nacht doch niemals gegeben!

Wie lange hatte ich sie herbeigesehnt. Und wie tief bereue ich sie inzwischen! Ich wusste, was er dir bedeutet, so geschickt du es auch verborgen hast, das hat mich schier in den Wahnsinn getrieben. Ich konnte nicht anders – verzeih mir, verzeih mir! Niemals habe ich mit den Folgen gerechnet, die ich nun zu tragen habe. Doch auch meine flehentlichsten Gebete werden sie nicht wieder ungeschehen machen, und ich kann nicht einmal mein Herz damit erleichtern, dir alles zu gestehen.

Dabei wollte ich immer so sein wie du, aber es ist mir leider nie gelungen. Du warst stets die Entschlossenere, die, die trotz aller Widrigkeiten vorangekommen ist, ohne sich dabei über Schwächere zu erheben. Dafür bewundere und liebe ich dich. Auch als ich am Boden lag, hast du dich um mich gekümmert. Dabei hast du mich vor einer großen Dummheit bewahrt, die nicht nur mein Leben ausgelöscht hätte. Wenn ich nun unser groß gewordenes Kind betrachte, erkenne ich erst, was ich dir alles zu verdanken habe. Noch mehr aber liebe ich dich für die kleinen Schwächen, die auch du manchmal zeigst: deine Ungeduld, deine Sturheit, deine trotzige Genauigkeit, vor allem jedoch deine Angst vor großen Gefühlen, in denen ich bisweilen so gern schwelge.

Nein, ich werde dir keine Schande mehr bereiten, darauf kannst du dich verlassen. Wenn ich dieses Mal gehe, dann ganz leise, ohne Abschiedsgetöse, und es wird dir vielleicht nicht gleich auffallen. Ich habe keine Angst, dass du mich jemals vergessen könntest. Dazu waren wir uns von Anfang an zu nah und werden es eines Tages vielleicht erneut sein, wenn meine Sünden gebüßt sind und wir uns an einem anderen, glücklicheren Ort wiederbegegnen.

Es tut mir leid, so unendlich leid, dass ich dir wehtun muss!

Das und nur das wollte ich dir mit diesem Brieflein sagen. Ich habe es so eingerichtet, dass es dich nicht zu früh erreicht, damit du mich nicht noch einmal umstimmen kannst. Hätte ich gekonnt, so hätte ich ein anderes Leben gelebt – allein schon deinetwegen. Aber nun ist es zu spät, um noch etwas daran zu ändern.

Du bist und bleibst mein Herzensmensch, mein Ein und Alles, und ich wünsche dir jedes erdenkliche Glück dieser Welt.

Denk nicht zu schlecht von mir!

Deine F.

 

 

1

München, Mai 2015

Heute würden ihr die Dampfnudeln gelingen. Katharina Raith hatte die Arbeit an der lädierten Biedermeierkommode schon vor einer Weile unterbrochen, gründlich ihreHände gewaschen und sich dann von der Werkstatt zum Kochen in den ersten Stock zurückgezogen. Im dritten und kleinsten Zimmer ihrer neuen Wohnung stand der letzte halb ausgepackte Karton, und einige Wände warteten noch immer auf die richtigen Bilder. In der geräumigen Küche jedoch war bereits alles so, wie es sein sollte: An der Stirnseite prangte die Kredenz aus den Zwanzigerjahren, frisch lackiert in leuchtendem Zitronengelb. Gegenüber befand sich der Herd mit ultramoderner Abzugshaube, links flankiert von einer Arbeitsplatte aus Granit, in die ein längliches Feld aus Zwetschgenholz eingelassen war, auf dem sich ganz nach Wunsch kneten und schneiden ließ. Mittelpunkt aber war der längliche Tisch, der ursprünglich aus einem sardischen Bauernhaus stammte und von Katharina so gekonnt restauriert worden war, dass die Beine nicht mehr wackelten und die schwere Platte aus Olivenholz wie geölt wirkte. Er war ihr Lieblingsmöbel. In ihren nunmehr vier Berufsjahren als Restauratorin, die auf die Meisterschule für das Schreinerhandwerk gefolgt waren, hatte sie schon einige alte Schätze aufgearbeitet, aber keiner davon lag ihr so sehr am Herzen wie dieser Bauerntisch, an dem sie jeden Morgen ihren Kaffee trank.

Die schwarze Kladde, die aufgeschlagen darauf lag, trug ihre alten Fettflecken würdevoll, wenngleich sie mittlerweile vom häufigen Umblättern brüchig geworden war. Eine Handschrift prägte die zerlesenen, teilweise eingerissenen Seiten, die schon durch viele Hände gegangen waren – die steilen, fast überkorrekten Schriftzüge ihrer Urgroßmutter Franziska Raith, genannt Fanny, die hier ihre wichtigsten Rezepte niedergeschrieben hatte. Es hatte einiges an Überredungskunst gekostet, bis Paula, Fannys jüngste und einzige noch lebende Tochter bereit gewesen war, diesen Schatz an ihre Großnichte abzutreten, die ebenso gern kochte wie die Ahnin. Inzwischen waren beide gleichermaßen glücklich über diese Entscheidung.

Obwohl Fanny schon zu Beginn der Achtzigerjahre gestorben war, war die Erinnerung an sie in der Familie bis heute lebendig geblieben. Ihre Lebensweisheiten wurden gern zitiert, ihre Kochkunst gelobt. Jeder, der sie noch persönlich gekannt hatte, sprach mit liebevollem Respekt von ihr. Wenn man den Raith-Frauen ein ganz besonderes Kompliment machen wollte, dann sagte man, sie sähen ihr ähnlich. Bei Katharina traf dies in besonderem Maße zu. Sie hatte Fannys weit auseinanderstehende Augen geerbt, die je nach Stimmung und Lichteinfall zwischen Grün und Grau changieren konnten, ihre aschblonden Haare, die sie seit ein paar Wochen kinnlang trug, sowie die kurze, gerade Nase. Auch im Körperbau gab es einige Gemeinsamkeiten wie die schön geformten Schultern, die schlanken Beine und die ebenso schmalen wie äußerst empfindlichen Füße, die rasch mit Blasen gegen unbequemes Schuhwerk protestieren konnten. Nur in der Größe unterschieden sie sich, denn die Urenkelin hätte Fanny um nahezu einen Kopf überragt.

Katharina zog das karierte Küchentuch von der Schüssel und nahm den Teig heraus. Er war prächtig gegangen und zerfiel nicht in kleine Brösel wie bei früheren Versuchen, sondern bildete eine goldene Masse, die glatt und geschmeidig in der Hand lag. Vielleicht hatte sie den Hefeteig ja dieses Mal endlich lange genug aufgeschlagen. Sie stach Kugeln in Eigröße aus, legte sie auf die bemehlte Arbeitsfläche und bedeckte sie erneut, um sie für eine weitere halbe Stunde gehen zu lassen.

Die Zwischenzeit nutzte sie für eine Tasse Espresso auf dem Balkon. Nicht weit entfernt plätscherte der Auer Mühlbach, und sie blickte gedankenverloren auf den Holzboden der Küche. Mit Unterstützung ihrer Freundin und Geschäftspartnerin Isi war das einst so trübe PVC mittlerweile hellen Bambusplanken gewichen, die exotisches Flair verströmten und sich perfekt zum Barfußgehen eigneten. Katharina hasste es, sich eingezwängt zu fühlen, und hätte ihr Leben wohl am liebsten ganz ohne Schuhe verbracht. Isabel von Thalheim, genannt Isi, hatte dafür ohne Murren ein ganzes Wochenende geopfert. Da war es das Mindeste, dass sich Katharina mit Uromas sagenumwobener Mehlspeise revanchierte, die Isi für ihr Leben gern aß.

Ob sie rechtzeitig zurück sein würde?

Versprochen hatte sie es hoch und heilig, aber bei ihren Raubzügen ins bayerische Hinterland konnte man nie ganz sicher sein. Was hatte Isi von dort nicht schon alles angeschleppt! Wurmstichige Holzbänke, bucklige Bauernschränke, Wirtshaustische, die unzählige Arbeitshände und Kartenspiele im Lauf der Jahrzehnte blank gescheuert hatten. In manchen Dörfern wurden die Türen verrammelt, sobald der rote Transporter mit dem Münchner Kennzeichen erneut auftauchte. Anderenorts dagegen öffneten die Leute bereitwillig Scheunen und Dachböden, weil sie nirgendwo ihr altes Zeug besser loswerden konnten. Großer Einsatz, aber nur wenige echte Treffer, so präsentierte sich bislang die Ausbeute. Eigentlich als Zwischenlager für Aufträge gedacht, die auf die Abholung warteten, war der längliche Schuppen im Hinterhof, den der Hausbesitzer ihnen zusätzlich zur Werkstatt vermietet hatte, mittlerweile zu einer Art Sammellager verkommen. Hier stapelten sich die kuriosesten Fundstücke, Isi jedoch dachte noch lange nicht ans Aufhören.

»Ich bin nun mal ein Trüffelschwein, wenn es um Trödel geht, und erkenne Schätze, an denen andere blindlings vorbeilaufen. Irgendwann gelingt uns der ganz große Coup, das weiß ich genau.« Ihre wasserblauen Augen bekamen einen schwärmerischen Ausdruck. »Und dann wirst du mir bis zum Ende aller Tage dankbar sein!«

»Oder wir ersticken über kurz oder lang in all den nutzlosen Gerätschaften«, hatte Katharina gekontert. »Und gehen verarmt, aber stilvoll pleite.«

Isis rauchige Lache, mit der sie diesen Einwand pariert hatte, war einzigartig. Manchmal wünschte sich Katharina, selbst etwas mehr von der Lässigkeit zu besitzen, die ihrer Freundin so eigen war wie die winzigen, fast immer zerschrammten Hände und die kastanienbraune Mähne, die sie meistens wie eine Tänzerin im strengen Knoten trug. Aber schließlich war sie ja auch nicht als Comtesse auf einem verfallenen burgenländischen Schloss geboren worden, sondern hatte vor 32 Jahren in der beschaulichen Münchner Maxvorstadt das Licht der Welt erblickt. Dass sie sich trotzdem schon seit der Lehrzeit, die beide nach dem Abitur gemeinsam in den Werkstätten der Münchner Staatsoper absolviert hatten, so gut verstanden, war ein kleines Wunder, an das sich beide im Laufe der Jahre gewöhnt hatten.

Katharina vertiefte sich für die nächsten Schritte noch einmal in Uroma Fannys Rezept. Milch, Zucker und Butter kamen fingergliedhoch in den schweren Topf und wurden auf kleiner Flamme erhitzt. Sie setzte die Teigstücke nebeneinander in die Flüssigkeit, deckte sie zu und legte zusätzlich ein altes Küchengewicht darauf, damit ja kein Dampf entwich. Vorsichtig öffnete sie eines von Paulas heiligen Einmachgläsern und füllte etwas von dem Holunderkompott in eine Schüssel. Danach kratzte sie mit einem kleinen Messer das Innere einer Vanilleschote aus und gab es in den Topf mit Sahne und Milch. Zwischendrin schlug sie Eigelb mit Zucker auf, schüttete zwei Kellen Milch dazu und rührte das Gemisch vorsichtig unter.

Wann genau war Vanillesauce eigentlich fertig?

Fanny Raith hatte vor fast 100 Jahren einen einfachen Trick dazu niedergeschrieben: »Wenn man auf einem Holzlöffel eine Rose pusten kann.«

Katharina wollte es gerade ausprobieren, als sie von unten Geräusche hörte. Die Werkstatt war abgesperrt, aber es gab eine Treppe, die vom Hausgang direkt heraufführte, und sie hatte die Wohnungstür angelehnt gelassen. Sie kannte Isi nur zu gut. Wahrscheinlich hatte sie wie so oft ihren Schlüssel vergessen, und so würde sie ohne Probleme in die Wohnung kommen.

»Servus, Contessina!«, rief sie. »Essen ist fertig. Du kommst also goldrichtig …«

Doch es war nicht Isi, die plötzlich auf der Schwelle stand, sondern ein Mann, den Katharina noch nie gesehen hatte. Er war groß, hatte dunkle Haare, trug Jeans und ein graues T-Shirt. Seine markanten Züge wurde von der schwarzen Sonnenbrille noch betont.

»Sorry«, sagte er, bevor Katharina auch nur einen Ton herausbrachte. »The door was open …« Er begann zu schnuppern. »What are you cooking? It smells great …«

»Dampfnudeln«, erwiderte sie nicht gerade überfreundlich. »Was wollen Sie denn hier? Das ist eine Privatwohnung!«

»Daempfnoodeln.« In seinem Mund schienen die Buchstaben immer mehr zu werden. »What a funny word!« Er schüttelte den Kopf, dann wechselte er ins Deutsche. »Verzeihen Sie bitte meinen Überfall, aber ich bin auf der Suche nach Katharina Raith.« Sein Deutsch war flüssig, der britische Akzent jedoch unüberhörbar. »Sind Sie das möglicherweise?«

»Ja, das bin ich.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ihre Urgroßmutter hieß Franziska? Fanny Raith, geborene Haller?«

Katharinas Haut begann zu prickeln. »Ja«, sagte sie, noch immer zurückhaltend. »Das ist ebenfalls richtig. Weshalb wollen Sie das wissen? Und wer sind Sie überhaupt?«

Er lächelte erleichtert, nahm die Brille ab, und sofort erschien er Katharina jünger.

»Well«, sagte er. »Dann bin ich hier wohl endlich an der richtigen Adresse. Mein Name ist Alex Bluebird, und ich komme aus London. Nice to meet you!«

»Alex Bluebird?«, wiederholte sie kopfschüttelnd. »Noch nie gehört.«

»Das glaube ich Ihnen gern, denn bis vor Kurzem hatten auch wir nicht die geringste Ahnung von Ihrer Existenz. Aber dann ist meine Grandma hochbetagt gestorben, und in ihrem Nachlass fand sich etwas, das mein Großonkel Fanny Raith bereits 1945 zurückgeben wollte.« Er deutete auf die schwarze Aktentasche, die neben ihm stand.

»1945?«, fragte Katharina verblüfft. »Als der Krieg vorbei war?«

»That’s correct.« Sein Lächeln war erloschen. »Dazu ist es allerdings leider nicht mehr gekommen.«

»Was ist passiert?« Unwillkürlich begann sie zu frösteln.

»Eine lange Geschichte. Sie wollen sie hören?«

Sie wusste nicht genau, was sie mit der Frage anfangen sollte, aber dieser Alex Bluebird hatte etwas an sich, dem sie sich nur schwer entziehen konnte. Und was sollte ihre Urgroßmutter, die, soweit sie wusste, Deutschland nie verlassen hatte, mit einer Londoner Familie zu tun haben?

»Ja«, sagte Katharina, schloss die Kladde mit den Rezepten und schob sie zur Seite. »Das möchte ich allerdings, wenn Sie schon die Mühe eines so weiten Wegs auf sich genommen haben.«

»Ich musste unbedingt persönlich kommen«, sagte er, was ihre Neugier nur noch weiter anstachelte. Beim Reden fielen ihm die Haare in die Stirn, und er strich sie mit einer ungeduldigen Geste zurück. »Alles andere wäre mir verkehrt erschienen. Und jetzt habe ich Sie einfach so überfallen …«

»Es klingt, als hätten Sie gute Gründe dafür.« Katharina dachte an die Freundin und das Versprechen, das sie einlösen wollte. Aber Isi würde sicherlich Verständnis haben, wenn etwas derart Spannendes passierte. »Setzen Sie sich doch bitte.« Sie überwand ihre Schüchternheit. »Darf ich Ihnen etwas anbieten?«

Er nahm Platz am Tisch. Die Aktentasche legte er auf den Stuhl neben sich.

»A coffee would be …« Er hielt inne. »Eine Tasse Kaffee wäre wunderbar. Und vielleicht …« Sein Blick glitt sehnsüchtig zum Herd.

»Sie möchten meine Dampfnudeln probieren? Aber gerne doch!«

Katharina hob vorsichtig den Deckel hoch. Sie waren perfekt geworden, golden, duftend, wohlgeformt. Zum Glück hatte sie den Topf mit der Vanillesauce abgeschaltet, bevor er gekommen war, aber sie besaß noch immer genau die richtige Temperatur.

Sie richtete eine großzügige Portion für ihn an.

»Möchten Sie dazu vielleicht Holunderkompott? Nicht ganz klassisch, aber in meiner Familie essen wir die Dampfnudeln immer mit Holunderkompott. Es ist eine spezielle Rezeptvariante meiner Urgroßmutter.«

Er zog die Brauen fragend nach oben.

»Ho-what?«

Jetzt musste sie tief in ihrem Gedächtnis kramen. Isi hatte es einmal für ihre Tante Berthe übersetzt, die nach dem Krieg nach Arizona ausgewandert war und bei ihrem Münchenbesuch gar nicht genug davon bekommen konnte – und plötzlich war es wieder da.

»Stewed elderberry«, sagte sie. »Ich glaube, so müsste es in Ihrer Sprache heißen.«

Alex Bluebird war plötzlich ganz still geworden.

»Ihre Sprache war früher einmal auch unsere Sprache«, sagte er schließlich belegt. »Ein Zweig meiner mütterlichen Familie stammt aus Deutschland. Über Generationen haben sie in Regensburg und München gelebt, bevor sie vor den Nazis fliehen mussten.«

Jetzt war Katharina froh, dass sie an der Kaffeemaschine zu hantieren hatte. Schließlich stellte sie zwei Tassen, seinen Teller mit den Dampfnudeln und der Vanillesauce sowie das Kompottschälchen auf den Tisch. »Guten Appetit«, sagte sie und fügte hinzu: »Enjoy your meal!«

»Und Sie?«, fragte er.

»Ich warte noch auf meine Freundin, die eigentlich jeden Moment zurück sein müsste. Fangen Sie doch bitte an! Ich sehe Ihrer Nasenspitze an, dass Sie es kaum erwarten können.«

Bereits nach dem ersten Löffel entspannte sich sein Gesicht, und als er weiteraß, sah er fast glücklich aus. Jetzt hatte sie Zeit, sich in Ruhe seine Augen anzusehen, die goldbraun wie Bernstein waren und leicht melancholisch wirkten.

»Diese Süße und dazu das Herbe der dunklen Beeren«, stieß er zwischendrin aus. »Einfach göttlich!«

Katharina beobachtete ihn weiter, während sie ihren Kaffee trank.

»Und jetzt will ich alles wissen«, sagte sie, nachdem sein Teller leer war. »Wieso sind Sie extra aus London gekommen? Und was konnte Ihr Großonkel meiner Urgroßmutter nicht mehr geben? Was hat Fanny Raith überhaupt mit England zu tun? Meines Wissens ist sie dort doch niemals gewesen.«

Alex legte den Löffel beiseite. Sein Blick wurde ernst, fast feierlich. Dann öffnete er die Aktentasche und zog einige vergilbte Fotos aus einer Mappe. Das erste zeigte einen Mann in Uniform mit kurzen, dunklen Locken, der gewisse Ähnlichkeit mit ihm besaß.

»Diese Zeugnisse der Vergangenheit sind viel zu kostbar, um sie fremden Händen anzuvertrauen«, sagte er. »Geschweige denn, um sie auf den Postweg zu bringen und somit der Gefahr auszusetzen, unterwegs verloren zu gehen. Wir können uns glücklich schätzen, dass sie überhaupt noch existieren, wo so vieles andere doch zerstört wurde.«

Katharina spürte plötzlich einen Kloß im Hals, ohne zu wissen, worauf sich Alex bezog.

»Das ist Ruben Rosengart«, fuhr er langsam fort, als koste ihn jedes Wort Kraft. »Der jüngere Bruder von Fannys Freundin Alina, verehelichte Cantor. Mein Großonkel.«

Jetzt sah Katharina ihn noch gespannter an.

»Ruben hatte sich als Freiwilliger für die US-Army verpflichtet. Er war dabei, als die amerikanischen Streitkräfte im Frühling 1945 München eingenommen haben«, fuhr er fort. »Dort wollte er sich auch mit Fanny Raith treffen, die er seit Kindertagen kannte, aber bevor es dazu kam, wurde sein Jeep in die Luft gesprengt.«

»Er hat es nicht überlebt?«, fragte Katharina betroffen.

Alex Bluebirds rechtes Lid begann zu zucken. Er war also offenbar ebenso angespannt und aufgeregt wie sie.

»Der feige Anschlag konnte nicht aufgeklärt werden«, sagte er. »Es gibt dazu jede Menge Theorien und einen ganzen Sack voller Indizien. Aber bedauerlicherweise bis heute keinen überführten Täter.«

Er legte zwei weitere Fotografien auf den Tisch.

»Alina mit ihrem Mann Leo Cantor, einem Münchner Kunsthändler auf ihrer Hochzeitsreise in Venedig im April 1920. Leider kam er nur wenige Jahre später bei einem Autounfall ums Leben.«

Eine strahlende junge Frau in einem eleganten Mantel mit Pelzkragen auf der Piazetta, das dunkle Haar im modischen Bubikopf der Zwanzigerjahre frisiert. Neben ihr ein stattlicher Mann, ebenfalls in Mantel und Hut, offenbar einige Jahre älter als sie.

»Und das sind Fanny und Alina um 1933 vor Fannys Schwabinger Wirtshaus. Zum bunten Eck, so hat sie es genannt. Ein mutiger Name in braunen Zeiten, wie ich finde. Ihre Urgroßmutter muss eine wunderbare Frau gewesen sein. Haben Sie sie noch gekannt?«

»Als sie starb, war ich erst drei«, sagte Katharina, die den Blick kaum von dem Foto lösen konnte. »Aber meine Mutter und meine Großmutter, die leider auch nicht mehr lebt, haben oft von ihr erzählt. Ja, ich trage ein Bild von ihr in mir, aber es ist leicht verschwommen.«

Sofort war das Gefühl wieder da, das stets mit der Erinnerung an die Uroma verknüpft war: heimelige Wärme und der Geruch nach Vanille. Für einen Moment wandte Katharina den Kopf zu Seite, weil sie einem Fremden nicht so viel von sich preisgeben wollte. Dann jedoch sah sie sich das Foto noch einmal genauer an.

Beide Frauen trugen ein schlichtes Dirndl mit Schürze, doch während Fanny die Arme vor der Brust verschränkt hatte und so selbstbewusst und stolz dastand, als wäre sie darin schon zur Welt gekommen, wirkte die zarte Frau neben ihr in der bayerischen Tracht wie verkleidet. Hatte sie sich die Haare gefärbt?

Auf diesem Foto wirkten sie viel heller.

Alinas Mund war leicht verzogen, als bemühe sie sich um ein Lächeln, das nicht ganz gelingen wollte. Die schlanken Hände spielten mit dem weißen Schürzenband. Zwischen ihnen duckte sich ein dünnes dunkelhaariges Kind in einem geblümten Kleid, das schüchtern an der Kamera vorbeischaute.

»Die Kleine zwischen ihnen ist Grandma Maxie«, sagte Alex Bluebird. »Damals muss sie ungefähr zehn gewesen sein. Sehen Sie, wie sie den Kopf einzieht, als würde sie versuchen, sich unsichtbar zu machen? Im späteren Leben war sie dann alles andere als scheu. Aber über jene Jahre hat sie niemals mit uns geredet.«

Nur ein wenig jünger als damals Oma Clara, dachte Katharina. Und ziemlich genauso alt wie Großtante Marie. Ob die Kinder auch Freundinnen gewesen waren? Aber ein Mädchen aus so reichem Haus und die Töchter einer einfachen Köchin ….

»Wie passt das denn zusammen?«, fragte sie laut. »Diese elegante Dame und meine Urgroßmutter, die ihr Leben lang Köchin war, soviel ich weiß … das waren zu jener Zeit doch zwei ganz verschiedene Welten!«

Bluebirds Blick wurde warm.

»Sie werden es besser verstehen, wenn Sie das hier gelesen haben«, sagte er und legte zwei dickere schwarze Kladden auf den Tisch. »Und verzeihen Sie bitte, dass meine Mutter und ich es auch getan haben, obwohl uns bewusst war, dass es sich um sehr persönliche Aufzeichnungen handelt. Aber wir mussten einfach wissen, was damals in München passiert war.«

Schon auf den ersten Blick erkannte Katharina, dass es die gleiche Sorte Kladde war wie jene, die Fannys Rezepte enthielt. Sie streckte die Hand aus und berührte sie vorsichtig. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Vor Aufregung wurde ihr eiskalt. Alex Bluebird, der zu spüren schien, was in ihr vorging, nickte ihr aufmunternd zu.

Dann schlug sie die erste Kladde auf.

Dieselbe steile, penible Schrift – ja, das hatte ihre Urgroßmutter zweifelsfrei mit eigener Hand geschrieben …

Weiden, Oktober 1918

Jetzt, da wir die Mutter zu Grabe tragen mussten, hält mich nichts mehr hier. Selbst die Schläge, die der Vater mir angedroht hat, sollte ich nicht endlich zur Vernunft kommen, ändern etwas an meinem Entschluss. Nicht einmal Fritzi könnte mich noch umstimmen. Ich muss weg aus diesem Weiden, bevor es mich noch erstickt, und so habe ich seit Wochen meine Flucht bis in jede Einzelheit geplant. Ich schäme mich, während ich diese Worte niederschreibe, weil ich mich ihr gegenüber wie eine Verräterin fühle, aber ich kann nun einmal nicht anders …

 

 

2

Weiden, Oktober 1918

Jetzt, da wir die Mutter zu Grabe tragen mussten, hält mich nichts mehr hier. Selbst die Schläge, die der Vater mir angedroht hat, sollte ich nicht endlich zur Vernunft kommen, ändern etwas an meinem Entschluss. Nicht einmal Fritzi könnte mich noch umstimmen. Ich muss weg aus diesem Weiden, bevor es mich noch erstickt, und so habe ich seit Wochen meine Flucht bis in jede Einzelheit geplant. Ich schäme mich, während ich diese Worte niederschreibe, weil ich mich ihr gegenüber wie eine Verräterin fühle, aber ich kann nun einmal nicht anders.

Georg, der in München Teilhaber einer ansehnlichen Baufirma geworden ist, konnte ich zum Glück als Verbündeten gewinnen, aber unseren ältesten Bruder von meinen Plänen zu überzeugen war schwierig. Er war erst einverstanden, mir zu helfen, nachdem er für mich in München eine Stelle als Weißnäherin gefunden hatte, die ich nach meiner Ankunft sofort antreten muss. Gott, wenn er wüsste, wie sehr ich dieses öde Sticheln eigentlich hasse! Doch sonst käme für ein Mädchen wie mich nur eine Anstellung als Dienstmagd oder Fabrikarbeiterin in Betracht, und das eine wollte ich so wenig wie das andere. Eigentlich hatte ich ja Köchin werden oder wenigstens als Bedienung im hiesigenBräuwirtarbeiten wollen, doch beide Wünsche hatten die Eltern mir abgeschlagen.

»Ein Wirtshausluder, dem die Männer hinterherglotzen? Aber gewiss nicht eine meiner Töchter!«, hatte der Vater gebrüllt, und die Mutter hatte wieder jenes traurige Gesicht aufgesetzt, das einem das Atmen ganz schwer machte. »Kochen und spülen kannst du auch daheim. Also, worauf wartest du noch? Deine Geschwister wollen alle etwas zu essen haben!«

Die Lehrzeit bei der alten Zieglerin, die dann folgte, war für mich die reinste Schinderei. Ich bin einfach nicht dazu geboren, Monogramme auf Kopfkissen oder Taschentücher zu sticken und winzige Säume zu nähen, doch jetzt kann ich von diesen Kenntnissen profitieren: Da die meisten Leute sich nichts Neues mehr leisten können, wird alles gewendet und geflickt, was an Bettzeug und Unterwäsche noch halbwegs brauchbar ist. Weißnäherinnen sind gefragter denn je, und so ist Adele Barth, wohnhaft zu München in der Westenriederstraße 12, auch bereit, mich in Lohn und Brot zu nehmen …

Franziska hörte die leichten Schritte ihrer Schwester und schob die Blätter schnell unter das Kopfkissen. Über kurz oder lang würde sie sich eine ordentliche Kladde für ihre Aufzeichnungen kaufen, um alles beisammenzuhaben, was ihr durch den Kopf ging, aber solch ein stabiles Heft kostete Geld, und im Moment musste sie jeden Pfennig zurücklegen.

Fritzi, wie ihre Zwillingsschwester Friederike in der Familie gerufen wurde, war acht Minuten nach ihr geboren und wirkte oft, als würde sie im Gehen träumen. Feingliedriger als Fanny, galt sie als sensibel und empfindlich, hatte schon als Kind diverse Krankheiten durchstehen müssen und war der heimliche Liebling von Vater Paulus, der stolz auf seine hübsche Tochter mit den aschblonden Zöpfen, der zierlichen Nase und den klaren hellgrünen Augen war.

Auch Fannys Haar zeigte jenes silbrig schimmernde Blond, das aussah, als hätten sich Nebelstreifen auf ein Weizenfeld gelegt, aber ihre Augen waren dunkler, spielten mehr ins Grau und blickten eher skeptisch als verträumt in die Welt. Für Eitelkeit war in ihrem Leben wenig Platz. Aber es gab durchaus einige junge Männer, die ihr hinterherpfiffen, wenn sie mit ihren Einkaufskörben schnellen Schritts vom Haller-Haus hinter der Mauer zum Marktplatz ging. Normalerweise tat Fanny dann so, als würde sie es nicht bemerken. Ebenso ließ ihr scharfer Blick jede Anzüglichkeit ersterben, die ihr unterwegs zugeraunt wurde.

Die stolzen Sechspfünder aus dem massiven Holzofen, der gegenüber dem Haus auf der anderen Straßenseite errichtet worden war, bestanden zu jeweils gleichen Teilen aus Weizen, Roggen und Dinkel und zeichneten sich durch besondere Haltbarkeit aus. Noch ofenwarm verkauft, da äußerst begehrt, waren sie länger als zwei Wochen verzehrbar, wenn man sie trocken und kühl lagerte. Aber natürlich schmeckten sie frisch am allerbesten, vor allem, wenn sie mit Butter oder Schmalz bestrichen waren. Über fünfzehn Jahre hatte Anna Klara Haller, die niemals das Bäckerhandwerk erlernt, sondern die spezielle Rezeptur selbst ausgetüftelt hatte, diese großen Laibe drei- bis viermal in der Woche gebacken und in immer kürzerer Zeit verkauft. Seit der Mobilmachung hatte sie ihr Backwerk nicht nur mehr gegen die staatlich eingeführten Lebensmittelmarken an die Kunden gebracht, sondern es auch immer öfter eingetauscht gegen Fett und Wolle, Nähnadeln, Stoff, Schuhe oder anderes, was man für eine große Familie so brauchte, denn es gab in Weiden offiziell von allem immer weniger zu kaufen.

Doch nun war die Mutter viel zu früh an einer verschleppten Lungenentzündung gestorben und der Ofen, der die Familie über die Kriegsjahre gerettet hatte, erloschen. Ob Rosl, die ältere Schwester, ihn wieder anfeuern würde, war ungewiss, obwohl die Kunden schon wieder ungeduldig nach dem Haller-Brot fragten. Fanny kannte ebenfalls sein Geheimnis, denn die Mutter hatte alle drei Töchter eingeweiht. Während Rosl und sie aufmerksam zugeschaut und sich alles gemerkt hatten, war Fritzi jedoch in Gedanken wohl wieder einmal anderswo gewesen.

»Du darfst nicht fortgehen!« Jetzt stand sie zitternd an Fannys Bett. »Nicht ohne mich. Ich weiß nämlich, was du vorhast.«

Fanny stellte sich weiterhin schlafend, aber die Schwester ließ nicht locker.

»Wir sind doch Zwillinge, und Zwillinge müssen zusammenbleiben.« Jetzt klang sie flehend. »Spürst du denn nicht, was uns beide verbindet? Eine ist nichts ohne die andere.«

Ihr taten schon alle Glieder weh, aber Fanny rührte sich trotzdem nicht. Seitdem sie denken konnte, waren sie stets unzertrennlich gewesen: gleich gekleidet, gleich frisiert, Hand in Hand unterwegs, sobald sie auf eigenen Füßen stehen konnten. Die Zwillinge, so hatten alle sie gerufen und stets so behandelt, als ob in ihnen ein einziger Wille wohnen würde. Dabei hatte sich spätestens seit der Einschulung gezeigt, wie unterschiedlich sie vom Wesen her waren: Fritzi hibbelig und unstet, in einem Augenblick von einer Sache hellauf begeistert, im nächsten wieder gleichgültig, während Fanny alles langsamer, dafür aber gründlich anging. Sie hatte den Unterricht geliebt, Bestnoten in Schönschrift und Heimatkunde erhalten und sich auf die Spiele im Schulhof gefreut, obwohl ihr lange nicht klar gewesen war, warum andere Schülerinnen sie plötzlich links liegen ließen. Vielleicht hatte bereits in jenen jungen Jahren Fritzis maßlose Eifersucht begonnen, weil sie ihre Zwillingsschwester mit niemandem teilen wollte.

Kein anderes Mädchen sollte Fanny zu nah kommen oder gar ihre Freundin werden. Am liebsten hätte Fritzi einen brennenden Kreis um Fanny gezogen, der alle Bewerberinnen abhielt. Dass sie dabei sehr weit ging, bekam Fanny erst nach und nach mit. Zöpfe anderer Mädchen fielen Fritzis schneller Schere zum Opfer, sie goss absichtlich Tinte über fremde Schürzen und hatte eine der Mitschülerinnen kurzerhand so heftig in die Nase gebissen, dass sie genäht werden musste.

Auch als sie älter wurden, änderte sich wenig an dieser Einstellung. Fritzi schien ihren Zwilling als Eigentum zu betrachten, als etwas, das mit ihr so eng verbunden war, dass nichts anderes dazwischen passte.

»Was musst du dich ständig mit anderen herumtreiben«, maulte sie, wenn Fanny auf der Kirmes zu einem anderen Mädchen in die Schiffschaukel stieg. »Du hast doch mich. Und so schön wie mit mir kann es mit ihnen ohnehin nie sein!«

Irgendwann hielt Fanny diese erzwungene Nähe kaum noch aus, und sie begann, vom Weglaufen zu träumen. Aus vagen Fantasien wurden im Lauf der Zeit immer konkretere Ziele, besonders als die alte Zieglerin sie nicht weiterbeschäftigen konnte. Sollte sie nun im dumpfen Mief der Kleinstadt ersticken und für einen Hungerlohn Seite an Seite mit Fritzi in der Gärtnerei ackern, statt fern von zu Hause für eine bessere Zukunft zu kämpfen? Schließlich hatte sie den Mut aufgebracht, Georg um Hilfe zu bitten – und er hatte sie ihr gewährt.

Weg von hier, das war der einzige Gedanke, dem sie nun seit Wochen Platz in ihrem Kopf ließ. Augen zu, nicht nach links und rechts schauen, sondern nichts wie weg! Seit einer kleinen Ewigkeit wartete der gepackte Koffer unter ihrem Bett. Ein bisschen Wäsche lag darin, selbstgestrickte Socken, vier Blusen, zwei Röcke, einige Schürzen. Davor stand das Paar eingelaufener Schnürstiefel, das einzige, das ihre empfindlichen Füße vertrugen. Dazwischen fand sich der bestickte Leinenbeutel mit den getrockneten Holunderblüten und eine Flasche schwarzer Holundersaft, die sie in ihre dicke Strickjacke eingeschlagen hatte, damit sie unterwegs nicht zerbrach. Der Mantel und das neue Kleid, an dem sie so lange fleißig genäht hatte, hingen im Schrank. Der Frühzug nach Regensburg, wo sie dann in den Schnellzug nach München umsteigen musste, war immer pünktlich. Und niemand auf der ganzen Welt konnte sie daran hindern, ihn morgen zu nehmen.

Irgendwann schlief sie doch ein, träumte aber wirr. Als sie aus dem Schlaf aufschreckte, war es noch dunkel, vielleicht die beste Gelegenheit, unbemerkt aus dem Haus zu kommen. Seit dem Tod der Mutter war sie wegen Fritzis nächtlicher Unruhe in die Kammer umgezogen, in der jene früher immer genäht hatte, das machte ihr Vorhaben leichter. Fanny stand leise auf, wickelte ein wollenes Tuch um das Nachthemd, zog Holzpantinen an und schlich nach draußen zum Abort, auf dem sie immer die Luft anhielt. Zurück im Zimmer, wusch sie ihre Hände gründlich mit Kernseife, spritzte sich Wasser ins Gesicht und putzte sich die Zähne. Danach steckte sie sich die Haare vor dem halbblinden Spiegel auf, zog Leibchen und Strümpfe an und schlüpfte in das dunkelblaue Kleid. Der feste Wollstoff, echte Vorkriegsware, den ihr eine in Not geratene Soldatenwitwe unter der Hand verkauft hatte, scheuerte auf ihrer Haut, so steif fühlte er sich an, aber er wärmte wenigstens. Jetzt kam der graue Mantel darüber, der früher der Mutter gehört hatte und eigentlich zu weit war, doch sie hatte keine andere Wahl. Fanny setzte ihren einzigen brauchbaren Hut auf, nahm die verbeulte Handtasche in die eine und den Koffer in die andere Hand.

So ging sie in die Küche.

Dort war es kalt, weil das Feuer über Nacht ausgegangen war. Den Ofen eigens für die Zubereitung eines Malzkaffees anzuschüren traute sie sich nicht. So begnügte sie sich mit einem Glas Wasser aus dem großen Krug und öffnete die Brotbüchse. Der letzte Laib, den die Mutter noch gebacken hatte! Mit geschlossenen Augen roch sie daran und genoss ein letztes Mal den Duft nach Kindheit und Zuhause, bevor sie entschlossen ein paar Schnitten absäbelte, diese dünn mit Schmalz bestrich und anschließend in Backpapier wickelte, um sie als Reiseproviant mitzunehmen. Jetzt waren die kurzen Briefe an der Reihe, die Fanny einige Male umgeschrieben hatte, bis sie endlich damit zufrieden gewesen war. Den für den Vater legte sie an seinen Platz am Tischkopf. Der für Fritzi, die jeden Morgen einen strammen Fußmarsch zur Gärtnerei vor sich hatte, kam in der Kredenz auf das halbleere Marmeladenglas, damit die Naschkatze ihn auch ganz gewiss fand. Als Letztes steckte sie noch drei Äpfel ein und verließ das Haus.

Draußen blieb sie vor dem Holunderstrauch stehen, den der Vater am Zaun gepflanzt hatte, als seine Zwillingsmädchen nach einer langen und schwierigen Geburt gesund zur Welt gekommen waren. Seit Fanny denken konnte, hatte er das Haus beschützt. Die Mutter hatte ihnen von klein auf die Sagen und Märchen erzählt, die sich um den Strauch rankten, der Frau Holle geweiht war und selbst auf den kargsten Böden wuchs. Niemals hatte jemand aus der Familie seine Blüten oder Beeren gepflückt, ohne vorher um Erlaubnis zu bitten. Jetzt, im Spätherbst, wo alles abgeerntet war, sah er unscheinbar und sogar leicht verkrüppelt aus, doch sobald der Frühling kam, würde er erneut in weißem Blütenduft erstrahlen.

»Gib gut acht auf sie alle!«, flüsterte Fanny und schlang für einen Augenblick ihre Arme um seinen knorrigen Stamm. »Besonders aber auf meine Fritzi. Du weißt ja, wie unvernünftig sie manchmal sein kann und wie leicht sie krank wird. Jetzt, wo ich weg bin, musst du dich um sie kümmern!«

Dann löste sie sich wieder von ihm, nahm Koffer und Tasche und machte sich auf den Weg zum Bahnhof. Sie ging mit gesenktem Kopf, ohne die wenigen Passanten anzusehen, die so früh schon unterwegs waren. Ein paar Pferdefuhrwerke begegneten ihr, einige Radfahrer kreuzten ihren Weg, aber kein einziges Automobil, die in Weiden ohnehin noch so selten waren, dass man sie an zwei Händen abzählen konnte. Regen lag in der Luft, der bald auch als Schnee herunterkommen konnte. Es war eine karge Gegend, in der die Hallers seit Generationen lebten, früher Bauern mit kleinen, wenig ertragreichen Höfen, die eine Aufteilung nur noch ärmlicher gemacht hätte. Der Großvater war nach Weiden gezogen, hatte es aber mit seiner kleinen Böttcherwerkstatt und den vielen Kindern nur fertig gebracht, gerade so zu überleben. Ab und zu jedoch schaffte es einer aus den armen Familien, verließ seine Heimat und machte anderswo sein Glück – und genau das war Georg Haller gelungen, Fannys ältestem Bruder. Er hatte eine nicht nur schöne, sondern auch noch wohlhabende Frau aus München geheiratet und mit ihr eine kleine Tochter bekommen, die sein ganzer Stolz war.

Dabei hätte sein Start ins Leben schwieriger kaum sein können. Er war gerade mal fünf Jahre alt, als er an Kinderlähmung erkrankte, und wäre fast daran gestorben, so wie sein jüngerer Bruder Max. Georg jedoch überlebte, wenngleich sein linkes Bein steif blieb und ihn zu einem leichten Hinken zwang, auf das man ihn allerdings keinesfalls ansprechen durfte. Wenigstens hatte die verhasste Behinderung ihn vor dem Kriegseinsatz bewahrt, der Millionen anderer Männer das Leben gekostet hatte.

Sie krampfte ihre Finger um das grüne Zugbillet, das er ihr geschickt hatte. Georg hatte auf der zweiten Klasse bestanden, um sie vor den Soldatenhorden zu schützen, die in der »Holzklasse« unterwegs waren. Man hörte von verzweifelten Manövern im Westen, zu denen die letzten Reservisten mobilisiert würden, um das Ruder doch noch herumzureißen. Besondere Hoffnungen setzte die Oberste Heeresleitung dabei auf die Flotte, die im Ärmelkanal gegen die Royal Navy kämpfen und den Krieg für Deutschland entscheiden sollte. Doch das Meer lag unendlich weit entfernt von Weiden, und hier, wie vielerorts im Reich, waren die Menschen nach vier Jahren schwerster Entbehrungen zu hungrig und zu erschöpft, um noch daran zu glauben.

Ein stolzer Preis von 12 Mark!

Nicht einmal im Traum hätte Fanny zu hoffen gewagt, jemals so nobel zu reisen. Als der Zug schließlich einfuhr, kostete es sie regelrecht Überwindung, nicht in die einfachen grauen Wagen zu steigen. Stattdessen lief sie am Bahnsteig weiter nach vorn, wo die Waggons mit den komfortableren Abteilen auf Passagiere warteten. Der Schaffner war ihr beim Einsteigen behilflich, als sei sie eine feine Dame, was ihr die Röte in die Wangen trieb und den Kloß in ihrem Hals nur noch weiter anschwellen ließ. Der Koffer war kaum sicher im Gepäcknetz verstaut, und sie saß auf ihrem behaglich gepolsterten Platz, da begannen sie auch schon zu fließen, jene Tränen, die sie bislang so tapfer zurückgehalten hatte …

*

München, Mai 2015

»Du glaubst nicht, was ich heute gefunden habe …«

Isis Stimme erstarb, als sie den Fremden erblickte, der neben Katharina am Tisch saß. Die fuhr erschrocken von ihrer Lektüre hoch und starrte sie mit großen Augen an.

»’tschuldigung«, murmelte Isi irritiert und setzte zwei verbeulte Melkeimer auf dem Boden ab. »Konnte ja nicht ahnen, dass ich störe. Ich habe die Dampfnudeln schon vor dem Haus gerochen, und da bin ich schnell nach oben gerannt …«

»Du störst ganz und gar nicht«, sagte Katharina, die sich nur langsam wieder fangen konnte. »Denn für dich habe ich sie ja gemacht – bis ich ganz überraschend Besuch bekam. Das ist Mr. Bluebird aus London. Er hat mir die Tagebücher meiner Urgroßmutter gebracht.«

Isi kam mit leuchtenden Augen näher. »Das klingt ja aufregend! Ist es die, die so gut kochen konnte? Aber wieso London? Ich verstehe nicht ganz …«

»Ihre Freundin ist auch gerade erst dabei, die ganze komplizierte Geschichte zu entwirren.« Er war aufgestanden und verneigte sich leicht. »Alex Bluebird. Aber das wissen Sie ja bereits.«

»Isabel Thalheim, angenehm.« Das »von«, das eigentlich zu ihrem Namen gehörte, war seit 1919 in Österreich offiziell verboten, und Isi führte es für gewöhnlich auch in Deutschland nicht. Katharina hörte es dennoch jedes Mal im Raum schwingen, wenn sie sich vorstellte. »Wir betreiben gemeinsam die Restaurationswerkstatt im Erdgeschoss.« Sie lächelte stolz.

»Da würde ich mich sehr gern einmal näher umschauen«, sagte er. »Falls ich wiederkommen darf. Denn jetzt muss ich leider aufbrechen. Ich habe noch andere wichtige Termine in Ihrer schönen Stadt.«

»Natürlich dürfen Sie das«, sagte Katharina. »Sie müssen es sogar, ich habe noch so viele Fragen an Sie.«

»Das heißt, Sie reisen nicht sofort wieder zurück?« Wie selbstverständlich hatte Isi das Gespräch an sich gezogen.

»Ein paar Tage bleibe ich auf jeden Fall«, sagte er. »Unter Umständen auch länger. Es gibt da ein paar interessante Kunstauktionen, die ich nicht verpassen möchte.«

»Sie haben mit Kunst zu tun?«, fragte Isi neugierig weiter.

»Ich bin Geschäftsführer einer Galerie in London, die sich auf Werke des frühen 20. Jahrhunderts spezialisiert hat, und immer auf der Suche nach interessanten Objekten.« Er zog seine Brieftasche hervor, reichte eine Visitenkarte ihr, die andere Katharina. »Sorry, dass ich erst jetzt daran denke«, sagte er. »Ist sonst nicht meine Art, so unhöflich zu sein. Aber unser Zusammentreffen hat auch mich stark bewegt. Grandma hat so vieles über die Vergangenheit für sich behalten. Vielleicht könnten wir gemeinsam mehr Klarheit gewinnen.«

Katharina nickte.

»Über diese mobile Nummer können Sie mich jederzeit erreichen«, fuhr er fort. »Falls Ihnen nach weiteren Fragen zumute sein sollte. Oder Ihnen etwas einfällt, das Sie mir erzählen wollen.«

Er griff nach seiner Aktentasche.

»Wissen Sie, dass ich Sie beneide, Frau Thalheim?«, fragte er, schon halb im Gehen.

»Weshalb?«

»Weil Sie jetzt gleich diese köstlichen Daempfnoodeln kosten dürfen. Es war mir ein großes Vergnügen, Frau Raith!«

»Was war das denn?« Isis starrte ihm hinterher, während Katharina zum Herd ging und nach den Dampfnudeln sah.

»Hast du doch gehört: Alex Bluebird aus London.«

»Und weiter?«

»Ich muss mich selbst erst einmal sortieren. War alles ein bisschen viel auf einmal.« Sie füllte zwei Teller, trug sie an den Tisch und holte danach das Holunderkompott.

»Toller Typ!«, sagte Isi nachdenklich. »Hast du seine Augen gesehen?«

»Habe ich. Und jetzt lass uns endlich essen.«

Obwohl Katharina nach außen hin ruhig wirkte, war sie innerlich vollkommen aufgewühlt. Isi an ihrer Stelle hätte jetzt vermutlich einfach drauflosgeplappert, sie jedoch brauchte ein wenig Ruhe.

Sie begannen zu löffeln, und Isi verzog genießerisch das Gesicht.

»Eine Sensation«, sagte sie. »Ehrlich! Und so lieb von dir. Aber was ist mit den Tagebüchern?«

»Ich habe erst ein paar Seiten überflogen«, sagte Katharina. »Da erzählt sie von Weiden.«

»Stammen sie denn wirklich von deiner Uroma?«

»Ja, es ist definitiv ihre Schrift. Aber leider gar nicht einfach zu entziffern. Wer weiß, unter welchen Bedingungen sie entstanden sein mögen. Bei der Niederschrift der Rezepte scheint sie mehr Muße gehabt zu haben, so ordentlich, wie sie da geschrieben hat.«

»Und wieso London?« Nachdenklich schwebte Isis Löffel in der Luft.

»Keine Ahnung«, erwiderte Katharina wahrheitsgemäß. »Bluebird hat gesagt, das würde ich alles nach der Lektüre verstehen.« Sie legte ihr Besteck zur Seite. »Meine Oma Clara lebt ja nicht mehr, ebenso wie ihre jüngere Schwester Marie. Von Fannys drei Töchtern ist also nur noch Tante Paula übrig. Warum ist er eigentlich nicht zu ihr gegangen?«

»Weil er sie nicht ausfindig machen konnte?«, schlug Isi vor. »Du kannst sie ja jetzt informieren. Und deine Mutter am besten gleich mit. Schließlich gehört sie ja auch zu Fannys Nachkommenschaft.«

»Da magst du recht haben. Schließlich heißt Paula ja Brandl nach ihrem verstorbenen Mann.« Katharina zog die Nase kraus.

Den zweiten Teil des Satzes ließ sie unkommentiert, weil sie nicht über ihre Mutter reden wollte und vor allem wenig Lust auf deren beißende Kommentare hatte. Ihr Vater ergriff jede Gelegenheit, um sich von Anzug und Krawatte zu befreien, die er als Anzeigenchef einer großen Zeitung im Job notgedrungen tragen musste, und werkelte stattdessen lieber in Uraltklamotten in seinem Hobbykeller herum. Dagegen war die Frauenärztin Dr. Christine Raith-Abendroth allem Handwerklichen gegenüber skeptisch eingestellt. Sie wurde nicht damit fertig, dass sich ihre einzige Tochter einer akademischen Karriere verweigert hatte, wie sie es auszudrücken pflegte, und »nur« Restauratorin geworden war. Vielleicht war daher Paula, die niemals an ihr herumnörgelte, sondern sie einfach liebhatte, für Katharina von klein auf zu einer Art Ersatzmutter geworden, zu der sie all ihre Freuden und Nöte getragen hatte.

»Natürlich werde ich Tante Paula alles erzählen«, fuhr Katharina fort. »Aber nicht am Telefon.«

»Genauso machst du es.« Isi musterte sie gespannt. »Kann ich dir jetzt endlich verraten, was ich heute für uns erreicht habe? Sonst platze ich nämlich.«

»Also«, sagte Katharina wenig enthusiastisch. »Was ist es dieses Mal? Doch nicht etwa diese ramponierten Melkeimer?«

»Vergiss die Eimer! Es geht um eine komplette Ladeneinrichtung aus den Zwanzigerjahren, die in einer Scheune steht«, sagte Isi stolz. »Ein echtes Prachtstück! Schon seit Februar bearbeite ich den Bauern, dass er sie uns doch bitte unbedingt verkaufen soll. Jetzt ist er offenbar endlich so weit.«

»Und was sollen wir damit?«

»Lebst du auf dem Mond? So was ist jetzt der allerletzte Schrei. Da reißen sich Kneipen darum, Cafés, hippe Läden – die richten wir wieder her und verkaufen sie danach hochpreisig. Damit verdienen wir richtig Geld, Katharina! Ich hab natürlich schon mal Fotos gemacht, schau doch nur …«

Isi zog ihr Handy heraus und legte es auf den Tisch.

»Ja, ich weiß, es ist vergammelt, voller Taubenscheiße und verdammt wacklig dazu, aber es ist ein kompletter Kramerladen! Wenn wir das wieder hinbekommen, kann es umwerfend aussehen. Ich hab da neulich in einer Bar zwei Typen kennengelernt, die wollen ein schickes italienisches Lokal aufmachen und suchen genau so etwas …«

»Wie viel?«, unterbrach Katharina ihre Schwärmereien.

Isis Unterlippe schob sich nach vorn.

»Na ja, ganz billig ist es nicht …«

»Die Zahl, Isi!«

»Der alte Bauer will zehntausend dafür haben«, gestand sie ein. »Weil es doch komplett ist. So was findet sich nur noch ganz selten. Aber wir können ihn bestimmt noch runterhandeln. Du weißt ja, darin bin ich ziemlich gut.«

»Zehntausend Euro?«, wiederholte Katharina ungläubig. »Für ein paar alte Bretter voller Taubenscheiße, in die wir womöglich wochenlange Arbeit investieren müssen – und das ohne Auftrag? Ich glaube, jetzt hast du endgültig den Verstand verloren!«

Isis Mundwinkel sanken nach unten. »Vielleicht hast du ja recht«, räumte sie ein. »Aber ich bin nun mal total verliebt in diesen alten Laden. Und wenn du ihn dir erst einmal angeschaut hast, wirst du das auch sein. Das ist unsere Chance, Katharina!« Sie berührte ihren Arm. »Hör ein einziges Mal auf dein Trüffelschwein in Sachen Holz! Du wirst es nicht bereuen. Außerdem habe ich ja noch die kleine Rücklage aus der Erbschaft von Onkel Waldemar. Die könnten wir dafür hernehmen.«

Katharina machte sich frei.

»Und die neue Sägemaschine, die wir so dringend brauchen? Sollte das Geld nicht eigentlich dafür bestimmt sein?«

»Dann kaufen wir sie eben später«, sagte Isi. »Andres borgt uns seine sicherlich auch weiterhin, wenn du ihn nur lieb genug darum bittest. Dir kann er doch keinen Wunsch abschlagen.« Sie verdrehte schelmisch die Augen. »Ich frage mich ohnehin, warum ihr kein Paar seid. Wie versonnen er dich immer anschaut …«

»So ein Quatsch! Andres und ich sind gute Freunde«, raunzte Katharina. »Nichts weiter. Kapier das bitte endlich.«

Dass es ganz kurz einmal anders gewesen war, ging nicht einmal Isi etwas an. Welch verrückte Hoffnungen sie sich damals gemacht hatte, weil alles so romantisch zwischen ihnen begonnen hatte! Seine witzigen Mails, die liebevoll gebrannten CDs mit italienischer Musik, die plötzlich in ihrer Jackentasche steckten. Ihre anregenden Gespräche über Kunst und Design, die sie während abendlicher Isarspaziergänge geführt hatten, seine leidenschaftlichen Küsse – damals war sie überzeugt gewesen, in ihm den Mann fürs Leben gefunden zu haben. Doch nach ein paar selig verliebten Wochen war Andres wieder zu seiner Ex zurückgekehrt. Es war ihr schwergefallen, weiterhin halbwegs unbefangen mit ihm umzugehen, was der Job in seiner Werkstatt natürlich erforderte. Irgendwann war es dann leichter geworden. Doch an die Romanze dachte Katharina möglichst selten, denn das abrupte Ende machte ihr noch immer etwas aus, obwohl seitdem fast fünf Jahre verstrichen waren und sie sehr wohl bemerkte, wie sehr Andres es inzwischen zu bereuen schien.

»Okay, okay!« Isi hob die Hände. »Aber unser charmanter Exchef steht auf dich, davon rücke ich nicht ab. Wenn du etwas sagst, legt er den Kopf immer leicht schief, um ja nichts zu verpassen. Das macht er sonst nur, wenn er von etwas beeindruckt ist.«

Sie hatte auf alles eine Antwort, das musste man ihr lassen.

»Ich widme mich jetzt erst mal wieder der Biedermeierkommode. Und du wolltest doch die Thonetstühle nach Solln ausliefern.«

»Mach ich gleich«, sagte Isi. »Bin schon so gut wie weg.«

Katharina begann, die Teller in die Spülmaschine zu räumen. »Anschließend kommt dann Tante Paula an die Reihe …«

»Aber morgen«, fiel Isi ihr ungeduldig ins Wort, »da könnten wir doch gemeinsam den alten Laden inspizieren. Es ist ein kleines Dorf kurz nach Wasserburg, ganz romantisch, wirst schon sehen! In einer guten Stunde sind wir dort. Und wir sollten am besten möglichst früh aufbrechen. Der Bauer hat mir nämlich nur eine kurze Bedenkzeit eingeräumt.«

»Du gibst wohl nie auf?« Gegen ihren Willen musste Katharina lachen.

»Erst wenn wir beide reich und berühmt sind«, versicherte Isi mit großem Ernst.

*

Katharina packte die schwarzen Kladden, die Alex Bluebird ihr gebracht hatte, in den Rucksack. Den ganzen Nachmittag über waren ihr sein unvermutetes Erscheinen sowie Fannys Aufzeichnungen nicht mehr aus dem Kopf gegangen und hatten sie immer wieder von der Arbeit abgelenkt. Inzwischen konnte sie es kaum noch erwarten, die Tagebücher Tante Paula zu zeigen, die sie bereits erwartete. Für kürzere Fahrten hatte sich Katharina im letzten Sommer die rote Vespa geleistet, die ihr immer ein Gefühl von Freiheit gab, wenn sie mit ihr durch München düste. Ihr kleines Gefährt entpuppte sich allerdings als echte Italienerin, die Regen nicht mochte und aufmucken konnte, wenn es ihr zu feucht wurde. War das Wetter jedoch so warm und sonnig wie heute, schnurrte sie wie eine zufriedene Katze.

Katharina ließ die Mariannenbrücke hinter sich, bog nach rechts in die Steinsdorfstraße ein und fuhr entlang der glitzernden Isar, bis sie die Prinzregentenstraße erreicht hatte. Die tief stehende Sonne tauchte das Haus der Kunst, an dem sie niemals vorbeifahren konnte, ohne an seine wenig glorreiche Zeit im Dritten Reich zu denken, in goldenes Licht. Wenigstens verliehen ihm überlebensgroße Plakate in grellen Farben äußerlich einen Touch von Moderne, wenngleich die Innenräume für Katharina nach wie vor den Dunst der Vergangenheit ausstrahlten, egal, was in ihnen gerade gezeigt wurde.

Viele Leute waren an diesem unerwartet frühsommerlichen Abend unterwegs. Auf der von klassizistischen Gebäuden gesäumten Ludwigstraße, in die sie als Nächstes abbog, stauten sich die Autos von Ampel zu Ampel, aber die meisten Fahrer waren offenbar gut gelaunt und verzichteten auf sinnlose Hupkonzerte. Sie machte einem Fahrradkurier Platz, der mit verzerrtem Gesicht an ihr vorbeidüste, und hielt dann auf das Siegestor zu. Hier begann für sie der vertraute Kiez, und obwohl sie schon mehr als zehn Jahre nicht mehr in der Maxvorstadt lebte, fühlte es sich noch immer wie ihr Zuhause an. Sie ließ die Ludwigskirche hinter sich, blieb ein kurzes Stück auf der Schellingstraße und hielt schließlich vor dem alteingesessenen Brillenladen an.

Der Optiker hatte ihr versprochen, eine Zeiss-Speziallupe zu besorgen, die sie für filigrane Arbeiten in der Werkstatt ab und zu gebrauchen konnte. Sie probierte sie gleich im Laden aus. Jetzt wirkte die Holztheke auf einmal wie ein abstraktes Gemälde, so überscharf war die Maserung zu erkennen. Katharina schluckte nur ein klein wenig, als er den Preis eintippte, bezahlte, stieg danach wieder auf und fuhr ein paar Meter. Dann war sie schon in der Türkenstraße angelangt und konnte ihre Vespa parken.

Dies war ihre Lieblingsstraße, seit sie denken konnte, wenngleich sie gerade im letzten Jahrzehnt ihr Gesicht stark verändert hatte. Scheinbar über Nacht waren alteingesessene Läden verschwunden, ein von vielen innig geliebtes Szenekino hatte seine Schließung erleben müssen, und auch den sagenumwobenen Plattenladen an der Ecke gab es nicht mehr. Wie so viele andere hatte sie dort ihr Taschengeld in die ersten Lieblingsscheiben investiert. Immer mehr Menschen mussten wegziehen, weil sie die gestiegenen Mieten nicht mehr bezahlen konnten, und dennoch war Katharinas Sympathie für diese schmale Straße mit dem geflickten Belag ungebrochen. Hier war sie geboren und aufgewachsen, hier hatte ihre Urgroßmutter Fanny mit ihren Töchtern gewohnt, und hier war seit vielen Jahrzehnten auch Tante Paula zu Hause.

Sie hatte ihr Blumengeschäft erst aufgegeben, als das Rheuma sie im letzten Jahr dazu gezwungen hatte. Jetzt war einer der austauschbaren Coffeeshops dort eingezogen, wo sie früher ausgefallene Blumensorten an eine treue Kundschaft verkauft hatte, und nur die alten Delfter Rosenfliesen an den Wänden erinnerten noch an jene Zeiten. Zum Glück bewirtschaftete sie bis heute ihren Schrebergarten am Ackermannbogen, der ihr neben selbstgezogenen Tomaten, Radieschen und Zucchini die herrlichsten Rosensorten bescherte. Außerdem wuchs am Zaun ein knorriger Holunderstrauch, der seit Jahren die ganze Familie mit seinen Blüten und Früchten versorgte.

Paulas Wohnung lag direkt gegenüber ihrem ehemaligen Blumenladen. Katharina schnupperte genießerisch, als sie nach sechs steilen Stiegen die kleine Wohnung betrat. Es roch verschwenderisch nach Rosen und ein wenig morbide nach Lilien, beides Düfte, die sie mit ihrer Großtante verband.

»Wie schön, dass du Zeit für mich hast!«, sagte sie nach der innigen Umarmung.

»Du bist mir doch immer herzlich willkommen«, erwiderte Paula. »Magst du einen Tee?«

Paula war fast zwei Jahrzehnte später als ihre beiden Schwestern zur Welt gekommen und damit nur unwesentlich älter als Christine, Katharinas Mutter. Zudem hatte sie sich so gut gehalten, dass man ihr die 72 Jahre nicht ansah. Zwar zogen sich inzwischen Silberfäden durch die nussbraunen Haare, aber bis auf ein paar Lachfältchen wirkte ihr Gesicht noch immer frisch. Sie hatte den lässigen Look der Siebziger nie abgelegt und zudem ein Faible für Schals entwickelt, dem sie ungehemmt frönte. Nur die vom Rheuma verkrümmten Hände, die ihr oftmals starke Schmerzen bereiteten, verrieten ihr wahres Alter. Seit Freds Tod vor fünf Jahren schien sie ein wenig geschrumpft zu sein, aber noch immer war ihr Lächeln einladend und warm.

»Später vielleicht«, sagte Katharina. »Ich komme nämlich nicht ohne Grund.« Sie leerte den Inhalt ihrer Beuteltasche auf den Küchentisch aus. »Du glaubst nicht, was heute passiert ist. Schau doch mal!«

Noch im Stehen legte Paula ihre Hand auf die oberste Kladde. »Meinst du die?«, fragte sie und klang plötzlich heiser. »Die sehen ja aus wie Mamas altes Kochbuch …«

»Ich bin sicher, sie sind von deiner Mutter!«, erklärte Katharina bewegt. »Ein gewisser Mr. Bluebird aus London hat sie mir heute persönlich gebracht. Sagt dir der Name was?«

Paula schüttelte den Kopf.

»Und Ruben? Alina? Oder Maxie? Hast du von denen schon mal was gehört?«

Zwischen Paulas Brauen erschien eine scharfe Falte. »Könnte sein«, erwiderte sie nachdenklich. »Mama hat sie vielleicht erwähnt. Aber an Genaueres erinnere ich mich leider nicht mehr.«

»Ich denke, das wird sich ändern«, sagte Katharina. »Denn vor dir liegen Fannys Tagebücher. Eigentlich hätte Bluebird sie ja dir bringen müssen, weil Oma Clara und Tante Marie nicht mehr am Leben sind und du doch die dritte Tochter bist. Aber ich denke, er hat dich wegen deines Nachnamens Brandl einfach nicht gefunden. Und Mama war ihm als Raith-Abendroth vielleicht auch nicht sicher genug. Deshalb ist er wohl bei mir gelandet.«

»Clara hätte die Tagebücher lesen sollen«, sagte Paula noch immer belegt. »Ihr hätte das alles bedeutet.«

Was meinte sie damit?

Katharina wartete auf weitere Erklärungen, doch die blieben seltsamerweise aus. Stattdessen ließ sich Paula auf den nächsten Stuhl sinken, dann strich sie noch einmal über die oberste Kladde und schloss dabei kurz die Augen. Schließlich jedoch schob sie sie energisch weg.

»Bist du denn gar nicht neugierig?«, fragte Katharina verblüfft.

Paula schüttelte den Kopf. »Ich hatte die beste Mutter der Welt«, sagte sie. »Jeder Tag mit ihr war für mich wie ein Geschenk. So soll es auch bleiben.«

»Aber das wird es ganz sicher«, versicherte Katharina. »Du lernst sie nur noch besser kennen. Schon der Anfang, wo sie von Weiden schreibt, ist mir ans Herz gegangen …«

»Dann lies du sie.« Entschlossen schob Paula den kleinen Stoß weiter zu Katharina. »Schließlich hat der Engländer sie ja dir gebracht.«

»Das werde ich! Aber ich dachte, du …«

»Ich habe meine Erinnerungen. Mehr brauche ich nicht.«

Verdutzt suchte Katharina nach den richtigen Worten, auf die Schnelle jedoch fielen ihr keine ein. Paulas abweisende Miene verriet ihre Entschlossenheit. Jetzt weiterzubohren hatte keinen Sinn, das wusste Katharina aus Erfahrung. Doch sie verstand nicht, warum ihre Großtante so reagierte.

»Ganz, wie du willst«, sagte sie und packte die Kladden wieder ein. »Aus der Welt sind sie ja nicht. Vielleicht war heute einfach nicht der richtige Tag. Falls du deine Meinung ändern solltest, brauchst du dich nur bei mir zu melden.«

War das die Andeutung eines Nickens gewesen?

Nicht einmal dabei war sich Katharina sicher. Um Großtante Paula nicht noch weiter zu verärgern, brachte sie das Gespräch auf den Schrebergarten, sonst immer die beste Methode, um sie aufzuheitern. Aber selbst das funktionierte heute nur bedingt, so als ob sich etwas auf Paulas Seele gelegt hätte, das sich so schnell nicht wieder vertreiben ließ. Daher verabschiedete sich Katharina bald und begab sich auf den Heimweg.

Inzwischen war es dunkel geworden, und als sie zu Hause ankam, war sie müde und hungrig. Sie musste die Lampen einschalten, machte sich ein Schinkenbrot und schenkte sich ein Glas Wein ein.

Was war nur mit Paula los gewesen?

So halsstarrig kannte sie ihre tapfere, meist sonnige Verwandte sonst gar nicht! Sollte sie Paula anrufen, um nachzuhaken?

Sie entschied sich dagegen. Das konnte sie ebenso gut auch morgen erledigen, sobald ihre Landpartie mit Isi beendet war. Jetzt war sie viel zu neugierig, um noch länger mit der Lektüre zu warten. Katharina machte es sich auf dem Sofa gemütlich, zog den blauen Wollfaden heraus, mit dem sie markiert hatte, wie weit sie schon gekommen war, und begann zu lesen.

 

3

Im Zug nach München, Oktober 1918

Ich kann nicht mehr aufhören zu weinen. Von der Landschaft, die im Morgendunst vorbeifliegt, bekomme ich so gut wie nichts mit. Wenigstens bin ich allein im Abteil, kein einziger Soldat weit und breit, der sich mir unzüchtig nähern könnte. Der beleibte Herr im Lodenmantel, der nach der Station Marktredwitz schwungvoll die Tür aufgestoßen hat, ist bei meinem Anblick zurückgezuckt. Er wählte einen Sitzplatz weit hinten und verzog sich beim nächsten Halt in einen anderen Waggon.

Sonst hilft es mir immer, alles aufzuschreiben. Mein Tagebuch ist mein Freund und Vertrauter. Heute aber will sich mein seelischer Wirrwarr einfach nicht ordnen lassen. Ich bin unendlich traurig, dass unsere Mutter gestorben ist, und weine gleichzeitig auch um Fritzi, von der ich noch nie getrennt war. Ich weine, weil ich Angst habe, dass der Vater mit mir brechen wird. Und weil ich mich auf einmal doch vor der großen Stadt fürchte, in der ich ganz allein zurechtkommen muss. Dabei wollte ich unbedingt von daheim fort – doch jetzt macht mir sogar das Schnaufen der Lokomotive Angst.

Worauf habe ich mich nur eingelassen?

Die Mutter hat zu Lebzeiten oft den Kopf geschüttelt, weil ich so ganz anders bin als die restlichen Geschwister, ausgenommen vielleicht Georg, aber der ist ja ein Mann, und für Männer gelten sowieso andere Regeln. Immer diese Neugierde, die alles und jedes erforschen möchte! Nichts war je vor mir sicher, kein Vogelskelett, kein Blatt, kein Stein, alles wollte ich erkunden und habe es immer gehasst, dabei an Grenzen zu stoßen, vor allem, wenn andere sie mir vorgegeben haben. Irgendetwas tief in mir kann einfach nicht gehorchen, wenn ich etwas nicht einsehe. Ich weiß, dass ich sperrig sein kann, so hat es der Lehrer einmal ausgedrückt. Und ich weiß auch, dass jemand wie Fritzi es einfacher haben wird, weil sie weglächeln kann, wogegen ich mich sträuben muss.

Wie kann es sein, dass ich sie so liebhabe und es trotzdem kaum in ihrer Nähe aushalte? Eigentlich sollte ich froh sein, dass ich endlich in mein neues Leben unterwegs bin, doch jetzt, da der Zug mich von Fritzi fortträgt, beginne ich sie bereits zu vermissen. Sie ist wie ein Stück von mir, das ich niemals ablegen kann, etwas unendlich Vertrautes, obwohl wir immer unterschiedlicher werden, je mehr Zeit vergeht. Ich muss weg von ihr, sonst droht diese Nähe mich noch zu verschlingen, und gleichzeitig schäme ich mich dafür, weil ich weiß, wie tief ich sie damit verletze. Es tut so weh, dass ich kaum noch Luft bekomme, und ich fühle mich schuldig, schuldig, schuldig …

Die Schrift auf dem zerknitterten Papier ist verwischt. Wahrscheinlich werde ich später kein Wort mehr entziffern können. Noch nie zuvor im Leben war mir so elend zumute.

Soll ich einfach aussteigen und zurückfahren, auch wenn dann alle mit Fingern auf mich zeigen?

Nein, dafür ist es jetzt zu spät. Georg und Adele Barth erwarten mich in München. Wenn ich dort nicht zum Dienst antrete, bin ich nicht nur eine Verräterin, sondern auch noch eine Betrügerin und werde ganz allein dastehen …