Die Holzschnitzerei vom Süßenbachhof - Kerstin Sonntag - E-Book

Die Holzschnitzerei vom Süßenbachhof E-Book

Kerstin Sonntag

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Beschreibung

Freiburg, 1957: Die junge Leni hat die Frauenfachschule abgeschlossen und soll ihren Verlobten heiraten. Er ist Anwalt und kann ihr eine gesicherte Zukunft bieten. Doch die Aussicht auf Bügeln, Bohnern und Kochen macht die lebenshungrige Frau nicht glücklich.

Als ihr Onkel im Schwarzwald nach kurzer, schwerer Krankheit stirbt, beschließt Leni, auf seinem Süßenbachhof zu bleiben. Sie will etwas mit ihren Händen schaffen, etwas, was bleibt, und die Holzwerkstatt ihres Onkels wiederbeleben. Lenis Familie ist entsetzt. Mit allen Mitteln versucht sie, Leni ihre Idee auszureden.

Doch sie bleibt im Schwarzwald. Endlich sieht sie eine Chance, sich und anderen zu beweisen, dass sie auf eigenen Beinen stehen kann. Denn die Sehnsucht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, ist groß.

Mutig nimmt Leni den Kampf gegen alle Widrigkeiten auf. Ihr Kindheitsfreund Thomas steht ihr dabei zur Seite. Wird sie sich den Konventionen der Zeit widersetzen können und ihren Traum verwirklichen? Und wird sie vielleicht sogar die wahre Liebe finden?

Die Holzschnitzerei vom Süßenbachhof ist eine wunderbare Reise in den Schwarzwald der 50er-Jahre.

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Personenregister

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Über die Autorin

Impressum

 

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Über dieses Buch

Freiburg, 1957: Die junge Leni hat die Frauenfachschule abgeschlossen und soll ihren Verlobten heiraten. Er ist Anwalt und kann ihr eine gesicherte Zukunft bieten. Doch die Aussicht auf Bügeln, Bohnern und Kochen macht die lebenshungrige Frau nicht glücklich.

Als ihr Onkel im Schwarzwald nach kurzer, schwerer Krankheit stirbt, beschließt Leni, auf seinem Süßenbachhof zu bleiben. Sie will etwas mit ihren Händen schaffen, etwas, was bleibt, und die Holzwerkstatt ihres Onkels wiederbeleben. Lenis Familie ist entsetzt. Mit allen Mitteln versucht sie, Leni ihre Idee auszureden.

Doch sie bleibt im Schwarzwald. Endlich sieht sie eine Chance, sich und anderen zu beweisen, dass sie auf eigenen Beinen stehen kann. Denn die Sehnsucht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, ist groß.

Mutig nimmt Leni den Kampf gegen alle Widrigkeiten auf. Ihr Kindheitsfreund Thomas steht ihr dabei zur Seite. Wird sie sich den Konventionen der Zeit widersetzen können und ihren Traum verwirklichen? Und wird sie vielleicht sogar die wahre Liebe finden?

KERSTIN SONNTAG

Personenregister

Familie Schumann:

Leni (eigentlich Helene) Schumann

Walter Schumann – Lenis Vater, gefallen 1941

Margarete Schumann, geb. Winterhalter – Lenis Mutter

Christa Schulz, geb. Schumann – Lenis ältere Schwester

Dieter Schulz – Christas Ehemann

Familie Winterhalter:

Peter Winterhalter – Margaretes älterer Bruder

Elfriede Winterhalter – Peters Ehefrau, aus Schlesien stammend

Familie Herbrechter:

Hannes Herbrechter – Lenis Verlobter

Irene Herbrechter – Hannes’ Mutter

Herbrechter Senior – Hannes’ Vater

Familie Rombach:

Thomas Rombach

Heide Rombach – Thomas’ jüngere Schwester

Monika Rombach – Thomas’ und Heides Mutter

Fritz Rombach – Thomas’ und Heides Vater

Ferner:

Inge – Lenis Freiburger Freundin

Angelika Wehrle – Lenis Schwarzwälder Freundin

Andi Ketterer – Angelikas Verlobter

Richard Wehrle – Angelikas Bruder

Georg Ramsauer – Peter Winterhalters alter Freund und Postbote

Ursel Ramsauer – Georgs ältere, unverheiratete Schwester

Waltraud Schuler – Inhaberin vom Dorflädele

Robert Kistler – Kantor der Dorfkirche

Hanna Thaler – Milchbäuerin vom Thalerhof

Gottlob Fritzenwenger – Reporter vom Südkurier

Kapitel 1

Freiburg im Breisgau, März 1957

Onkel Peter ist tot.«

Leni fiel der Löffel aus der Hand. Klirrend krachte er gegen die Glasschale. Rote Grütze spritzte hoch und benetzte ihre Sonntagsbluse. Ihr war, als hätte ihr jemand den Boden unter den Füßen weggerissen. Das Herz stolperte in ihrer Brust, sie schnappte nach Luft. Als sie den Blick hob, registrierte sie, wie alle Anwesenden ihre Mutter Margarete fassungslos anstarrten.

»Mein Gott, Mama!« Lenis ältere Schwester Christa streckte sofort ihre Hand nach dem Rundfunkempfänger aus, doch ihr Arm reichte nicht bis an die Aus-Taste. Da eilte Lenis Schwager Dieter ihr zu Hilfe, und Caterina Valentes Ich wär so gern bei dir verstummte augenblicklich.

Unterdessen reichte Christa Leni geistesabwesend ihre Serviette, damit sie sich die Kirschgrütze von der Bluse tupfen konnte, verkniff sich aber ihre übliche Nörgelei, denn ein »Pass doch auf, Helene« wäre durchaus angebracht gewesen. Wofür Leni ihrer Schwester in diesem Moment dankbar war. Warum sie gerade jetzt überhaupt einen Gedanken daran verschwendete, dass Christa die Einzige in der Familie war, die sie zuweilen bei ihrem vollen Namen ansprach, war ihr schleierhaft.

»Wann hast du von seinem Tod erfahren, Mama?« Leni bemühte sich, die aufsteigenden Tränen wegzublinzeln, die das Bild ihrer Mutter immer wieder verschwimmen ließen. Deshalb also war Mama während des Essens so still gewesen.

Wie jeden Sonntagmittag hatte sich die Familie in der Wohnung ihrer Mutter, in der auch Leni ihr eigenes Reich besaß, zum gemeinsamen Essen eingefunden. Hier in der guten Stube hatten die gerahmten Hochzeitsbilder ihrer Eltern und Fotos von Lenis gefallenem Vater einen Ehrenplatz an der Wand. Genauso wie die Alpenveilchen, deren herzförmige Blätter Leni so liebte, immer ihren festen Platz auf dem Fenstersims haben würden.

Wortlos zog die Mutter ein Telegramm aus der Tasche ihrer karierten Kittelschürze, glättete das Papier auf dem Tisch und reichte es an sie weiter. »Das kam gestern Abend. Als du mit deiner Freundin unterwegs warst«, ergänzte sie mit einem Hauch von Vorwurf in der Stimme.

»Du warst aus?«, schaltete sich Lenis Verlobter Hannes mit hochgezogener Braue ein. Im Hintergrund schlug der Gong der Pendeluhr.

»Ich bin nur kurz mit Inge auf eine Bananenmilch in die Milchbar gegangen«, erwiderte Leni rasch. Dass sie im Hinterzimmer der Bar ausgelassen zu einem wilden Bill-Haley-Song aus der Jukebox getanzt hatte, erwähnte sie lieber nicht. Ihre Mutter bekäme einen Herzanfall, wüsste sie davon.

Leni warf einen Blick auf das Telegramm. Deutsche Bundespost. Empfänger: Margarete Schumann. Sie las weiter. Onkel Peter ist tot, hallte es durch ihren Kopf. Nach dem ersten Schock fühlte sie eine entsetzliche Leere in sich aufsteigen. Der ältere Bruder ihrer Mutter hatte zeit seines Lebens an einem Herzfehler gelitten, was ihn »kriegsverwendungsunfähig« gemacht hatte. Erst am Ende des Krieges wurde er für wenige Wochen zum Volkssturm eingezogen. Vor Kurzem war er an einer Lungenentzündung erkrankt, und obwohl sie es alle gehofft hatten, hatte er sich nicht mehr davon erholt.

Leni hatte den Onkel schon eine ganze Weile nicht gesehen. Die traurige Nachricht traf sie wie ein Schlag. Sie hatte Onkel Peter geliebt. Er war der Held ihrer Kindheit. Mit seiner Frau Elfriede hatte er im Schwarzwald bis vor wenigen Monaten eine kleine Holzschnitzerei und Modelmanufaktur betrieben, wobei die Tante sich vorwiegend um die Buchführung gekümmert hatte. Als Kind war Leni dort auf dem Süßenbachhof, dem Elternhaus ihrer Mutter, öfter und lange gewesen. Im Oktober 1943 brachte Mama Christa und Leni das erste Mal in den Schwarzwald, damit die Kinder ein paar unbeschwerte Tage fernab des Kriegsgeschehens erleben konnten. Das zweite Mal verließen sie Freiburg im Spätherbst 1944, rechtzeitig vor der verheerenden Bombennacht, und suchten erneut Zuflucht auf dem Land. Diesmal blieben sie zwei ganze Jahre.

In der Zeit besuchten Christa und sie die knapp sechs Kilometer entfernt gelegene und aus einem einzigen Klassenraum bestehende Dorfschule. Nach Schulschluss sausten sie im Winter unter hellem Juchzen und aufgeregtem Rufen mit dem Schlitten die verschneiten Hänge hinunter. Im Sommer half Leni, mit einem Kopftuch gegen die pralle Sonne geschützt, auf dem Feld bei der Heuernte. Mit Tante Elfriede sammelte sie Pfifferlinge im nahen Wald. Auch beim Kühemelken auf den Nachbarhöfen war sie begeistert dabei, wohingegen sie sich vor dem Ausmisten der Schweineställe lieber drückte.

Am eindringlichsten waren Leni jedoch die Erinnerungen an die besonderen Momente geblieben, in denen sie dem Onkel bei seiner Arbeit in der Werkstatt über die Schulter hatte schauen dürfen. Wenn er mit seinen geschickten Händen ihre Finger geführt und ihr gezeigt hatte, wie er mit dem Stecheisen die Motive in die Springerle-Modeln schnitzte. Und vor allem, wenn sie sich anschließend selbst im Schnitzen versuchen durfte. Auch der wunderbare Duft nach Wald und Harz, der aus dem Sägemehl hochstieg, war ihr noch gegenwärtig. Und wie sich die Späne in die Holzpantinen verirrt und ihre nackten Fußsohlen gekitzelt hatten, wenn sie durch die Werkstatt lief. Oftmals hatte sie nach dem Schnitzen auf einem Schemel in Tante Elfriedes Küche gestanden und den Teig in den kleinen Holzblock mit dem Schnitzmotiv für das Festtagsgebäck drücken dürfen.

»Möchtest du nicht noch deinen Nachtisch aufessen, Leni?« Die Stimme ihrer Mutter holte sie zurück in die Gegenwart.

Leni schüttelte den Kopf. »Ich bringe nichts mehr hinunter.« Sie gab ihrer Mutter das Telegramm zurück. Dankbar nahm sie das Stofftaschentuch entgegen, das Hannes ihr reichte, und putzte sich geräuschvoll die Nase. »Ich esse später auf«, fügte sie geistesgegenwärtig hinzu.

Ihre Mutter konnte es nicht mitansehen, wenn Essen übrig gelassen oder weggeworfen wurde. Im Krieg und in den Jahren danach hatten sie oftmals vor Hunger Bauchweh gehabt. Mama hatte nicht selten erfinderisch sein müssen, um sie und Christa halbwegs satt zu bekommen.

»Wann werden wir zur Beerdigung in den Schwarzwald fahren?«, wollte Leni mit erstickter Stimme wissen.

»Ende nächster Woche.« Mama gab sich Mühe, gefasst zu erscheinen. Ihre veilchenblauen Augen, die denen von Christa so ähnelten, schimmerten dunkel vor Kummer.

»Ich müsste mir eigentlich einen neuen Mantel besorgen.« Christa tupfte sich kurz die Augenwinkel mit der Serviettenspitze. »Meiner hat einen Riss am Saum.«

Dieter lockerte seine Krawatte, als würde er nicht genügend Luft bekommen. Bei dem Gedanken an eine neuerliche Ausgabe für seine Frau schien ihm der Atem wegzubleiben.

Mama legte Christa beschwichtigend eine Hand auf den Arm. »Ich flicke ihn dir«, erklärte sie tonlos.

Sie wirkt um Jahre gealtert, dachte Leni. Mit Sorge betrachtete sie das vom Leben gezeichnete Gesicht ihrer Mutter. Seit dem Tod ihres Vaters, der bereits wenige Monate nach Kriegsbeginn gefallen war, hatte Mama keine Zeit für Tränen gehabt. Schließlich war es ums nackte Überleben gegangen. Mama hatte Christa und Leni allein durch die harten Jahre bringen müssen. Auch die Arbeit als Näherin im Hinterzimmer der Schneiderei um die Ecke war kein Zuckerschlecken. Doch Mama beklagte sich nie, und Leni gab inzwischen ihr Bestes, die Mutter finanziell zu unterstützen. Neben ihrer Tätigkeit als Bürogehilfin in einem Bettwarengeschäft in der Schusterstraße verdiente sie sich zusätzlich ein Taschengeld mit gelegentlichem Putzen in der Nachbarschaft, damit ihre Mutter nicht jeden Pfennig zweimal umdrehen musste.

»Lass nur, ich übernehme das.« Eilig sprang sie auf, da ihre Mutter Anstalten machte, aufzustehen, um das Geschirr abzuräumen. Wie gern hätte sie Mama in den Arm genommen und getröstet. Umarmungen waren in ihrer Familie jedoch nicht üblich, und sie wollte ihre Mutter nicht in Verlegenheit bringen.

In der Küche stellte sie die Dessertschalen neben der Spüle ab. Anstatt Wasser ins Becken einlaufen zu lassen, blieb sie regungslos stehen. Sie starrte die Stubenfliege, die sich auf einem Sonnenfleck an der Kachelwand ausgiebig putzte, so lange an, bis ihr Tränen in die Augen stiegen.

Hastig wischte Leni sich mit dem Handrücken über die nassen Wangen, als sich die Küchentür mit einem dezenten Quietschen öffnete. Es war Christa, die das Milchkännchen und die Zuckerdose zum Spülen brachte.

»Alles in Ordnung?« Ihre Schwester musterte sie aufmerksam.

»Klar.« Leni versuchte sich an einem Lächeln, das jedoch misslang.

»Das mit Onkel Peter ist traurig, nicht wahr? Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie schrecklich es für Tante Elfriede sein muss, jetzt ganz allein auf dem großen Hof in dieser fürchterlichen Einöde wohnen zu müssen.« Christa strich sich eine Strähne ihres blonden Haares, das sie im Stil von Grace Kelly trug, hinters Ohr, ehe sie für eine Sekunde eine Hand auf Lenis Schulter legte. Eine seltene Geste der Geschwisterliebe. Genau wie Lenis Mutter umgab auch Christa stets ein Hauch von Unnahbarkeit.

»Wir sitzen noch ein bisschen drüben in der Stube zusammen, um Mutter Gesellschaft zu leisten«, erklärte Christa dann.

Mit anderen Worten, sie lässt mich mit dem Abwasch allein. Doch das war Leni ganz recht. Von all den ungeliebten Haushaltspflichten war ihr der Abwasch die angenehmste, denn er hatte fast etwas Meditatives an sich. Sie konnte dabei wunderbar ihren Gedanken freien Lauf lassen. Leni wollte mit sich und ihrer Trauer allein sein. So nickte sie nur und drehte den Wasserhahn auf, um ihrer Schwester zu bedeuten, dass sie sich nun um das Geschirr kümmern würde. Als sich die Tür hinter Christa schloss, atmete Leni hörbar auf.

Während sie am Spülbecken stand, die Hände tief in den Schaum getaucht, bemerkte sie beiläufig, wie schön ihr Verlobungsring im Wasser funkelte. Unwillkürlich wanderten ihre Gedanken zu Hannes. Sie waren seit der obligatorischen Tanzstunde miteinander befreundet. Im letzten Jahr hatte Leni sich auf das Drängen ihrer Mutter hin mit ihm verlobt.

Hannes war der Typ Mann, dem die Frauen gern heimlich hinterhersahen. Er war groß, blond und strahlte Energie, Souveränität und Willenskraft aus. Das imponierte und gefiel Leni. An den Wochenenden führte er sie zu irgendwelchen Tanztees aus, die von Geschäftsfreunden seines Vaters gegeben wurden. Es war ihm wichtig, Leni schon mal in der Gesellschaft zu etablieren, meinte er. Sie fand diese Veranstaltungen todlangweilig, machte aber gute Miene zum bösen Spiel. Schließlich wollte Hannes nur das Beste für sie.

Sein Vater war ein angesehener Anwalt und erwartete, seinen Sohn bald in der Freiburger Kanzlei als Partner begrüßen zu können. Hannes musste nur noch sein Jurastudium an der Albert-Ludwigs-Universität beenden. Die Herbrechters lebten in der Wiehre in einer wunderschönen Villa, in deren Erdgeschoss sich die Kanzlei befand. Leni und Hannes würden nach der Hochzeit in die großzügige Mansarde ziehen, welche die gesamte Etage des Dachgeschosses einnahm.

Gedankenverloren sammelte Leni die von der Suppe übrig gebliebenen Flädle ein und verfrachtete sie in die Schüssel zu den gekochten Kartoffelschalen auf dem Sims. Sie würde die Reste nachher ins Erdgeschoss zum Hausmeister hinunterbringen, der sich über das zusätzliche Futter für seine Hühner freute.

Hannes war der perfekte Schwiegersohn. Zumindest in den gestrengen Augen ihrer Mutter. Auch Christa bezeichnete ihren Schwager in spe als guten Fang. An seiner Seite wäre Leni versorgt und müsste sich keine Sorgen um ihre Zukunft machen, hatte sie mit einem bedeutsamen Blick verlauten lassen. Leise seufzend trocknete Leni sich die Hände an dem bestickten Küchentuch ab.

Der Ring, um den Christa sie glühend beneidete, blitzte erneut im einfallenden Sonnenlicht auf. Es war ein filigranes, mit einem echten Diamanten besetztes Goldband. Hannes hatte achtundvierzig Mark bei seinem Hausjuwelier dafür springen lassen. Leni wusste das, weil Hannes angeblich versäumt hatte, das Preisschild vom Boden der kleinen Samtschachtel zu entfernen. Christa hatte in einer dramatischen Geste nach Luft geschnappt, als Leni ihr dies in einem seltenen Augenblick der Vertrautheit verraten hatte.

Nachdem sie in der Küche Ordnung geschaffen hatte, kehrte Leni in die Stube zurück, wo bedrückendes Schweigen herrschte. Die Männer standen mit Schnapsgläsern in den Händen am Fenster und schwiegen sich an. Leni nahm die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Roman am Sonnabend, die ihre Mutter regelmäßig für zwanzig Pfennig am Kiosk um die Ecke erstand, vom Couchtisch und ließ sich damit neben Margarete auf dem Sofa nieder. Sie blätterte ein wenig darin, doch bei dem Gedanken an Onkel Peter verschwammen die Buchstaben vor ihren Augen.

Ihre Schwester, die einen der Sessel in Beschlag genommen hatte, steckte eine Zigarette auf ihre silbern glänzende Spitze. Sie zündete sie an, inhalierte tief und blies den Rauch in Kringeln aus.

Nach wenigen Minuten hielt Leni es nicht mehr in der beklemmenden Atmosphäre des Wohnzimmers aus. Der Rauch, Christas schweres Parfüm, das Mamas feinen Duft nach Tosca überlagerte, die unterschwelligen Spannungen … Leni spürte die ersten Anzeichen einer Migräne nahen. Das unheilvolle Stechen hinter ihren Schläfen war ihr leider nur allzu vertraut. Sie legte die Zeitschrift zurück auf den Tisch.

»Ich brauch frische Luft«, verkündete sie und stand auf.

»Ich komme mit«, entschied Hannes kurzerhand und schob sein leeres Schnapsglas auf den Fenstersims zwischen die Veilchen.

Lenis Absätze klapperten so flink die Steinstufen im Treppenhaus hinab, dass Hannes fast Schwierigkeiten hatte, mitzuhalten. Im Erdgeschoss angekommen, stieß sie die Hintertür auf und steuerte eine Holzbank im gepflasterten Innenhof an. Der windschiefe Schuppen auf dem eingezäunten Gelände für die Hühner des Hausmeisters grenzte an ein Areal, das durch schmale, liebevoll bepflanzte Blumenbeete aufgelockert wurde. Ein ausladender Kastanienbaum, an dessen Stamm ein vergessener Kinderroller lehnte, spendete im Sommer Schatten.

»Was ist los, Liebling? Du bist so still.« Hannes warf ihr einen Seitenblick zu.

Leni zuckte mit den Schultern. »Jetzt hab ich das Hühnerfutter oben vergessen.«

»Dann bringst du es eben später runter.« Wie immer hatte Hannes eine praktische Lösung parat.

Versonnen betrachtete Leni die goldenen Forsythien, das Meer aus lila und gelbem Krokus, die leuchtenden Narzissen und die kleinen Gänseblümchen, die sich frech dazwischen mogelten. Im warmen Breisgau hielt der Frühling immer eher Einzug als in vielen anderen Gegenden der Bundesrepublik. Um die hübschen Hinterhof-Blumen kümmerte sich liebevoll Lenis Nachbarin Margot Schweizer, die im zweiten Stock wohnte. Sie hatte ihre drei Söhne und den Mann im Krieg verloren und schien im Gärtnern ein wenig Trost gefunden zu haben. Der kleine Hinterhof war ein idyllisches Fleckchen inmitten der Geschäftigkeit der Stadt.

Die Wohnung von Lenis Mutter, die ihnen der Chef ihres verstorbenen Vaters vermittelt hatte, befand sich in einem Hinterhaus im südlichen Teil der Herrenstraße. Jenem Bereich, der in der Bombennacht des siebenundzwanzigsten November 1944 von großen Zerstörungen einigermaßen verschont geblieben war und so seinen mittelalterlichen Charakter bewahrt hatte. Leni liebte dieses Viertel und genoss es, ihr eigenes Zimmer zu haben. Und dennoch wünschte sie sich in diesem Moment weit weg. Irgendwohin, wo niemand etwas von ihr erwartete oder forderte.

Das ferne Bimmeln der elektrischen Stadtbahn von der Salzstraße, wo Christa und Dieter in unmittelbarer Nähe des Bertoldsbrunnens einen Lebensmittelladen betrieben, drang in ihr Bewusstsein.

Mit einem tiefen Seufzen hob Leni das Gesicht der Sonne entgegen, um die tröstliche Wärme aufzusaugen.

Hannes verschränkte seine Finger mit ihren. »An was denkst du?«

Sie wich dem forschenden Blick seiner grauen Augen aus. »Nichts Besonderes.«

»Nach der Beerdigung sollten wir den Tag für die Hochzeit festlegen, Liebling. Meine Eltern fragen ständig, wann sie mit der Planung beginnen können. Und deine Mutter wäre auch sehr glücklich, wenn wir endlich Nägel mit Köpfen machen würden.«

»Ich weiß.« Ein Knoten bildete sich in Lenis Magen. Mama wäre erleichtert, auch ihre jüngste Tochter versorgt und unter der Haube zu wissen. Nicht wenige Male hatte sie versucht, Leni die Hochzeit schmackhaft zu machen.

Wir müssen dankbar sein, sagte ihre Mutter immer wieder. Wir haben den Krieg überlebt, haben ein Dach über dem Kopf und warmes Essen auf dem Tisch. Und in Hannes hast du einen ehrenwerten Mann gefunden. Leni würde es gut in der Herbrechter-Villa haben. Sie solle froh sein über das verheißungsvolle Leben, das Hannes ihr an seiner Seite bot. Mama hatte recht. Aber warum fühlte es sich dann so verkehrt an?

Weil es nicht das ist, was du willst, flüsterte ein kleines Teufelchen in Lenis Kopf. Die Aussicht, dem Personal Anweisungen zu geben, schmückendes Beiwerk an der Seite eines Mannes zu sein und allgemein die Aufgabe, Hannes ein schönes Heim zu schaffen, deprimierte sie zutiefst. Ebenso der Gedanke, für den Rest ihres Lebens Akten zu sortieren, Papiere abzuheften oder in den Stenoblock diktierte Briefe abzutippen. Auch für keinen der anderen Berufe, die Hannes für sie als seine zukünftige Ehefrau geeignet hielt, konnte sie sich erwärmen. Zumal er ohnehin keinen Hehl daraus machte, dass sie zu Hause bleiben würde, sobald Kinder kämen.

Aber war das wirklich alles, was Leni vom Leben zu erwarten hatte? Onkel Peters Tod hatte ihr wieder einmal deutlich gemacht, wie kostbar das Leben doch war – und wie kurz!

Mit einem Mal erschien ihr alles furchtbar trostlos. Unbewusst ballte Leni ihre freie Hand zur Faust, als eine Welle der Sehnsucht sie übermannte. Sehnsucht nach Freiheit. Nach einem selbstbestimmten Leben.

»Ach, da wäre noch etwas, Liebling«, ergriff Hannes erneut das Wort. »Ich möchte nicht, dass du in Zukunft noch mal ausgehst, wenn ich nicht dabei bin. Nur damit wir uns da richtig verstehen«, ergänzte er lächelnd und steckte ihr eine widerspenstige Locke, die sich aus der Haarklammer gelöst hatte, zärtlich hinters Ohr.

Kapitel 2

Schwarzwald, März 1957

Die kleine Dorfkirche war bis auf den letzten Platz besetzt. Die Menschen waren aus dem Ort, den umliegenden Weilern und von den Nachbarhöfen herbeigeströmt, um Peter Winterhalter das letzte Geleit zu geben. Leni konnte die unzähligen Trauerkränze am Grab ihres Onkels kaum zählen. Hin und wieder glaubte sie, in einigen Trauergästen ehemalige Spielkameraden zu erkennen. Doch aus den Kindern von einst waren längst Erwachsene geworden, und so sah sich Leni größtenteils Fremden gegenüber.

Nach der Beisetzung traf sich die Trauergesellschaft auf dem Süßenbachhof zum Leichenschmaus. Das Haus glich einem Bienenstock. Es herrschte ein reges Kommen und Gehen. Freunde und Nachbarn brachten Kuchen oder deftige Vesperplatten und blieben auf einen Malzkaffee. Andere sprachen dem Obstbrand zu, genehmigten sich ein Viertele und nutzten die Gelegenheit für einen kleinen Schwatz, für den sie sonst in ihrem geschäftigen Alltag keine Zeit fanden. Kinder polterten die Treppe hinauf und wieder hinab und sprangen den Leuten zwischen den Füßen herum. Türen schlugen, und ein Hund, den jemand vor dem Haus angebunden hatte, heulte herzzerreißend, weil man ihn allein gelassen hatte.

Eingequetscht zwischen Hannes, ihrer Schwester und dem Schwager saß Leni auf der Holzbank vor dem bullernden Kachelofen in der Stube. Ihre Mutter wich unterdessen nicht von Tante Elfriedes Seite, die sich vor Beileidsbekundungen und mitgebrachten Speisen kaum retten konnte. Leni selbst bekam keinen Bissen hinunter. Nicht einmal von Tante Elfriedes berühmtem Rosinenhefezopf wollte sie probieren, so sehr hatte sie der Abschied von Onkel Peter mitgenommen.

Abwesend nippte sie an ihrem Malzkaffee, wechselte hier und da mit jemandem ein höfliches Wort und schwelgte mit Christa in Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit auf dem Hof. Sie fühlte sich in der großen Gesellschaft nicht wohl. Die aufgeräumte, beinahe ausgelassene Stimmung verwunderte sie. Wie in aller Welt brachten sie es fertig, fröhlich zu sein, wenn Onkel Peter tot war? Sie sehnte sich danach, dem lärmigen Treiben zu entfliehen. Schließlich entschuldigte sie sich und hastete die ausgetretenen Holzstufen hoch zu der Schlafkammer, die sie sich mit Mama teilte.

Sie pfefferte die schicken Pumps in den Schrank, tauschte den schrecklich engen Rock, den Mama ihr anlässlich der Beerdigung aufgedrängt hatte, gegen ein praktischeres Exemplar aus Tweed und schlüpfte in bequeme Halbschuhe. Schon fühlte sie sich gleich viel wohler. Dann schnappte sie sich ihren Wollmantel und schlich aus dem Haus.

Wie gut, dass sie Mamas Rat befolgt und für den Schwarzwald wärmere Kleidung eingepackt hatte. Fröstelnd steckte sie das Kinn tiefer in den hochgestellten Kragen. Hier auf der Hochebene war vom Frühling noch kaum etwas zu sehen, außer ein paar Forsythien, deren gelbe Blüten im Ostwind zitterten, und einigen Schneeglöckchen, die aus den stellenweise noch verschneiten Grasflächen hervorblitzten. Der Himmel wirkte wie aus Blei gehämmert. Dichte Wolken umtanzten die tannenbewachsenen Berggipfel. Sacht fielen ein paar vereinzelte Flocken und segelten zu Boden, wo sie jedoch sofort tauten.

Leni ging ein paar Schritte. Mit leiser Wehmut betrachtete sie das Anwesen. Der Süßenbachhof, ein ehemaliger Bauernhof, schmiegte sich in eine sanfte Senke vor einer mit Laub- und Nadelbäumen bewachsenen Anhöhe. Hinter dem Haus wand sich ein winziges Bächlein ins Tal, der Süßenbach, von dem der Hof einst seinen Namen erhalten hatte. Im rückwärtigen Teil des Wohnhauses hielt die Tante zur Selbstversorgung ein paar Hühner. Die Holzschnitzerei war in der wenige Meter entfernten Scheune untergebracht, die durch den Bauerngarten vom Haupthaus getrennt wurde. Leni kannte das Gelände wie ihre Westentasche.

Mit einem Mal waren die vergangenen Jahre wie weggewischt. Es schien, als wäre sie nie fort gewesen, so schmerzhaft vertraut war ihr das vom Wetter gezeichnete Haus. An diesem kalten Märztag wirkte es mit seinem tief herabgezogenen Walmdach, das als Schutz gegen Schnee und Wind bis zum Boden reichte, und den jahrhundertealten Holzschindeln düster und unwirtlich. Doch Leni liebte den hübschen Anblick im Sommer, wenn an den Balkonen Geranien in satten Farben blühten und Wäsche an einer langen zwischen den Obstbäumen gespannten Leine flatterte.

Sie blieb vor dem beigefarbenen Opel ihres Onkels stehen. Wie eh und je parkte er schräg neben dem gestapelten Brennholz. Als wäre Onkel Peter gerade nach Hause gekommen. Unvorstellbar, dass er den Wagen niemals mehr fahren oder nie mehr Kaminholz auf dem Vorplatz hacken würde. Wenn sie die Zeit doch nur zurückdrehen könnte …

»Leni?«

Der Klang der männlichen Stimme in ihrem Rücken riss sie aus ihren Betrachtungen. Mit einem leisen Schrei wandte Leni sich um und fand sich einem unbekannten jungen Mann gegenüber.

»Entschuldige.« Er ließ einen Zigarettenstummel fallen und trat die Glut mit dem Absatz aus. »Ich hatte nicht vor, dich zu erschrecken.«

Wer war der Mann? Es gelang ihr nicht, ihn zuzuordnen, und doch brachte irgendetwas an seiner Erscheinung eine Saite in ihr zum Klingen. Ihr Blick glitt über seine kräftige Gestalt in dem abgetragenen Anzug, der an den Schultern spannte. Sein kastanienbraunes Haar hing ihm in einer rebellischen Locke in die Stirn, und die Augen, von der Farbe dunkler, geschmolzener Schokolade, schienen Leni förmlich zu durchbohren.

»Entschuldige«, ahmte sie ihn nach, wobei sich ein winziger Hauch von Sarkasmus in ihre Stimme schlich. »Kennen wir uns?« Sie reckte das Kinn und musterte ihn herausfordernd.

Der Unbekannte schmunzelte, und Leni fiel auf, wie dieses Lächeln jegliche Strenge und Schwermut von seinen Zügen wischte.

»Ich bin Thomas Rombach«, beantwortete er ihre Frage. »Erinnerst du dich nicht an mich?«

Rombach? Leni runzelte die Stirn. »Vom Sägewerk Rombach?« War das der Junge, der sie früher gern geneckt und mit dem sie so manchen Streich ausgeheckt hatte? Der ältere Bub, den sie damals glühend verehrt hatte? Sie hoffte inständig, dass er den frischen Wind für ihre jäh einsetzende Wangenröte verantwortlich machte. In Gedanken überschlug sie rasch, wie lange sie sich nicht mehr gesehen hatten. Es war etliche Jahre her. Aus dem hübschen Burschen von einst war ein fescher Mann geworden.

Er nickte und machte Anstalten, sie zu umarmen, ließ dann aber die Arme sinken. Stattdessen schob er die Fäuste in die Hosentaschen. Sie erinnerte sich, dass er dies früher schon immer gern getan hatte. »Das mit deinem Onkel tut mir sehr leid«, sagte er, ein mitfühlendes Funkeln in den dunklen Augen. »Er war ein feiner Kerl. Wir haben ihn alle gerngehabt.«

»Danke. Ich kann es irgendwie noch kaum …« Sie war im Begriff, weiterzusprechen, doch das lauter werdende Stimmengewirr, Geschirrklappern und Gelächter, das aus den gekippten Fenstern der Wohnstube drang, ließen sie innehalten. »Ist das zu fassen?« Sie schüttelte den Kopf. »Wie können sie so ausgelassen sein?«

»Ich weiß es auch nicht. Ich hab das noch nie verstanden.« Sekundenlang starrte Thomas in die Ferne. Sein Blick war ernst, als er ihn wieder auf Leni richtete. »Deinem Onkel hätte es vermutlich gefallen. Ich glaube, ich habe den Mann nie übellaunig erlebt. Peter Winterhalter wusste, wie man Feste feiert.«

»Oh ja, das wusste er.« Verbunden in der Erinnerung, tauschten sie ein kleines Lächeln.

Da offenbar keiner von ihnen Lust verspürte, sich wieder der Trauergesellschaft anzuschließen, begannen sie in einträchtigem Schweigen ein Stück hügelabwärts den Feldweg entlangzulaufen. Wohltuende Stille umfing sie. Das Knirschen von Sand und Steinchen begleitete ihre Schritte. Ein Greifvogel zog mit weit ausgebreiteten Schwingen seine Kreise über ihren Köpfen. Sein lang gezogener, klagender Schrei ließ Leni erschauern. Sie zurrte den Gürtel ihres Mantels fester um ihre Taille und rieb sich die Arme.

»Wann wird es hier oben im Hochtal eigentlich Frühling?« Mit einem Mal sehnte sie sich nach der Wärme des Breisgaus.

»Früher warst du nicht so zimperlich.« Ein Hauch von Erheiterung flackerte in Thomas’ Zügen auf. »Ich erinnere mich an einen Winter, wo es tagelang geschneit hat. Die einzige Straße war unpassierbar und das Dorf von der Außenwelt abgeschnitten. Aber das hat dich alles nicht interessiert, du warst vom Schlitten gar nicht mehr runterzubekommen.«

»Stimmt«, pflichtete sie ihm lachend bei. »Meine Füße waren zu Eisklötzen gefroren, aber das Rodeln habe ich geliebt! Bis ich dann ungebremst in eine hüfthohe Schneewehe gesaust bin und du mich ausgraben musstest.« Auf einmal blitzten die Bilder der Vergangenheit vor ihrem inneren Auge auf.

»Mir blieb ja nichts anderes übrig«, entgegnete er mit einem Hauch von Spott in der Stimme. »Bei dem Geschrei, das du veranstaltet hast.«

Leni schoss von Neuem das Blut in die Wangen. Sie hatte entsetzliche Angst gehabt, als die weiße Last über ihr zusammengebrochen war, und hatte befürchtet, lebendig begraben zu werden.

»Wenn ich mich recht erinnere, ist das hier an dieser Weggabelung passiert, oder nicht?« Mit dem Daumen deutete er auf ein moosbewachsenes steinernes Kreuz, das sie soeben passiert hatten.

»Ich glaub ja.« Ein wenig peinlich war es ihr im Nachhinein schon, dass er sich so gut daran erinnerte. Dennoch fand sie den Gedanken an dieses Vorkommnis lustig, wenn sie jetzt darüber nachdachte. Thomas hatte ja nicht geahnt, dass er an jenem Tag zum Objekt ihrer Jungmädchenschwärmerei geworden war und sie am liebsten noch einmal in eine Schneewehe hineingefahren wäre. Nur damit er sie aufs Neue rettete. »Wir hatten viel Spaß. Nicht nur im Winter.«

»Ich weiß.«

Erneut tauschten sie ein Lächeln.

Als ein gurgelndes Bächlein ihnen den Weg versperrte, reichte Thomas ihr die Hand, um ihr über das Wasser hinwegzuhelfen. Seine schwieligen Finger fühlten sich warm und kräftig an. Beiläufig bemerkte Leni die lange gezackte Narbe, die seinen Handrücken überzog und im Ärmel seines Jacketts verschwand und die ihr früher nie aufgefallen war. Seine Hände und sein durchtrainierter, muskulöser Körper verrieten ihr, dass er harte körperliche Arbeit verrichtete.

»Schau nur, jetzt kämpft sich die Sonne durch«, wies sie ihn rasch auf die größer werdende Wolkenlücke hin, um ihre jähe Scheu zu überspielen. Erste schüchterne Sonnenstrahlen brachten die Feuchtigkeit auf der Wiese zum Glitzern und Funkeln, und mit einem Mal schien die Natur zu erwachen. Von irgendwoher ertönte das eifrige Hämmern eines Spechts, und auch das Zwitschern der Vögel wurde eindringlicher. Um wie viel freundlicher und lebendiger alles wirkt, wenn die Sonne scheint, dachte Leni. Während sie ihren schweren Mantel aufknöpfte, glitt ihr Blick über die Wiesen, Wälder, die sanften Hügel und Täler. Damals, als Kind, hatte sie der Umgebung nicht viel Beachtung geschenkt. Heute jedoch zog die erhabene Schönheit der Landschaft sie in ihren Bann. Sie lauschte dem Rauschen der Baumwipfel und dem Murmeln des Bachs in ihrem Rücken.

»Ich wusste gar nicht, wie sehr ich all das hier vermisst habe«, sagte sie leise, mehr zu sich selbst.

»Vielleicht hättest du schon früher zurückkommen sollen.«

Thomas’ Blick war auf ihr Gesicht geheftet, als sie sich ihm wieder zuwandte.

»Ja, das hätte ich«, stimmte sie ihm mit leisem Bedauern zu. Was würde sie darum geben, Onkel Peter ein letztes Mal in die Arme schließen zu können!

»Lebst du noch in Freiburg? Was machst du heute so? Erzähl mir von dir«, bat Thomas.

»Ach, da gibt es nichts Spannendes zu berichten«, entgegnete sie, während sie ihren Spaziergang fortsetzten. »Ich habe die Schule abgeschlossen und arbeite derzeit im Büro«, fasste sie knapp zusammen. »Meine Mutter und ich leben nur noch zu zweit in unserer Wohnung, seit Christa ausgezogen ist. Du erinnerst dich doch an Christa, meine Schwester?«

»An die hübsche Blonde? Natürlich.« Thomas hob eine Braue.

Leni ignorierte den Stich, den seine Bemerkung ihr versetzte. Sie ärgerte sich, dass sie ihn überhaupt nach Christa gefragt hatte. Schon damals hatte sie leise Eifersucht verspürt, wenn die beiden, die im gleichen Alter waren, die Köpfe zusammengesteckt und über Dinge gelacht hatten, für die Leni, wie sie behauptet hatten, noch viel zu jung gewesen war.

»Sie ist verheiratet und führt mit ihrem Mann ein Lebensmittelgeschäft. Dieter und Christa sind auch hier. Vielleicht hast du sie ja gesehen.« Leni strich sich eine Strähne ihres mahagonifarbenen Haars, das sich schlichtweg weigerte, sich bändigen zu lassen, und genau wie die moosgrünen Augen ein Erbe ihres Vaters war, aus dem Gesicht.

»Du scheinst ebenfalls glücklich vergeben zu sein?« Offenbar hatte Thomas ihren Ring registriert.

Sofort tauchte Hannes’ Bild vor ihrem geistigen Auge auf. Hannes, der jetzt in der Stube mit all den anderen Bier oder ein Viertele trank und sich sicher blendend unterhielt. Redegewandt wie er war, glänzte er immer in Gesellschaft. Sie nickte.

»Und du?«, erkundigte sie sich rasch, um den peinlichen Augenblick zu überspielen.

»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Da gibt es niemanden«, erwiderte er, und Leni wunderte sich über die plötzliche Schroffheit in seiner Stimme.

Vom Tal her drang das Läuten der Kirchenglocken zu ihnen.

»Wie geht es deiner Schwester Heide?«, lenkte sie die Unterhaltung in eine andere, hoffentlich unverfängliche Richtung. Sie erinnerte sich noch gut an das etwa ein Jahr jüngere Mädchen, das ihr auf Schritt und Tritt gefolgt war. Leni hatte die Kleine mit dem dicken, bis zur Hüfte reichenden Flechtzopf gerngehabt, die ihr vom ersten Augenblick an Zuneigung und Aufmerksamkeit schenkte. Etwas, das Leni bei ihrer eigenen Schwester vermisste. Heide musste mittlerweile auch die Schule abgeschlossen haben. Womöglich war sie sogar verheiratet und hatte bereits einen Stall voller Kinder. So wie es hier auf dem Land eben üblich war. »Was macht sie inzwischen?«

»Heide ist tot«, kam es knapp zurück. Thomas’ Lippen wurden zu einem harten, schmalen Strich.

Entsetzt schlug Leni die Hand vor den Mund. »Ach du lieber Gott! Das tut mir furchtbar leid, Thomas.« Ihr Herz flog ihm zu. »Wie … wann ist das passiert?«

Er streifte sie mit einem düsteren Blick, und der tiefe Schmerz, den sie in seinen Augen las, ließ sie innerlich zusammenzucken.

»Ist schon eine Weile her. Kurz vor ihrem zwölften Geburtstag«, sagte er tonlos.

Leni überschlug in Gedanken rasch die Zeit. Es musste 1948 passiert sein, rund drei Jahre nach ihrem letzten Besuch im Schwarzwald. Und in all der Zeit, die seitdem vergangen war, hatte Leni nichts davon geahnt. »Thomas, das ist furchtbar.« Ihre Kehle schmerzte beim Schlucken. »War sie krank?«

Er überging ihre Frage. »Ich sollte besser los«, sagte er stattdessen rau. »Im Sägewerk wartet Arbeit auf mich. Ich begleite dich zum Hof zurück.«

»Oh. Gute Idee«, pflichtete sie ihm konsterniert über den jähen Themenwechsel bei. »Die anderen werden sich bestimmt schon wundern, wo ich bleibe.« Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme zitterte, so sehr erschütterte sie die Nachricht von Heides Tod. Sie konnte nicht fassen, dass das niedliche Mädchen mit den dunklen Augen nicht mehr am Leben war. Dass es nie eine Chance gehabt hatte, erwachsen zu werden.

Schweigend traten sie den Rückweg an. Leni grübelte unaufhörlich über Heide nach. Was mochte wohl geschehen sein? Sie fühlte sich mit Thomas auf eine unerklärliche Weise verbunden. Es war traurig, dass Onkel Peter verstorben war, doch wie furchtbar musste es für die Rombachs sein, ihr jüngstes Kind verloren zu haben! Sie machte sich im Geiste einen Knoten ins Taschentuch, Tante Elfriede bei Gelegenheit danach zu fragen.

Als irgendwo in der Ferne ein Motorroller über die Landstraße knatterte und sie aus ihren Gedanken riss, wagte Leni einen Blick in Thomas’ Richtung. Er starrte auf den Boden zu seinen Füßen, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Sein abweisender Gesichtsausdruck hielt Leni davon ab, die Unterhaltung wiederaufzunehmen.

Sie hätte gern mehr Zeit mit dem Jugendfreund verbracht. Ob sie einander vor ihrer Abreise noch einmal sehen würden? Es war unwahrscheinlich. Lenis Familie plante, in zwei Tagen bereits wieder zurück nach Freiburg zu fahren. Dieter wollte den Laden nicht so lange geschlossen lassen, und Leni hatte von ihrem Chef nur bis einschließlich übermorgen Urlaub bekommen. Auch auf Mama warteten in der Schneiderei Aufträge. Abgesehen davon würde Hannes vermutlich ein großes Theater machen, wenn Leni sich mit einem ihm fremden Mann – und sei es auch nur ein Jugendfreund – zum Plaudern treffen würde.

Als sie den Hof erreichten, war Leni unschlüssig, wie sie sich von Thomas verabschieden sollte. Zu gern hätte sie ihn umarmt, aber sie spürte nach wie vor eine gewisse Distanziertheit von seiner Seite. Doch er nahm ihr die Entscheidung ab und streckte ihr eine Hand entgegen, die sie mit neuer Befangenheit ergriff.

»Thomas, ich …« begann sie, besann sich dann jedoch anders. »Mach’s gut.« Was hätte sie sonst noch sagen können? Er wusste bereits, wie unendlich leid es ihr tat, dass er seine Schwester verloren hatte. Es waren ohnehin nur Worte, die den unsäglichen Schmerz nicht mildern konnten.

»Ade, Leni.« An seinem Mundwinkel zupfte ein flüchtiges Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. »Es war schön, dich wiederzusehen.«

Mit weit ausholenden, energischen Schritten verließ er den Hof und überquerte die Wiese, auf der einst im Sommer die Ziegen im kniehohen Gras saftige Kräuter geknabbert hatten. Leni sah ihm mit leisem Bedauern nach, bis ihn der Saum des Waldes verschluckte.

*

Tannennadeln zerbrachen knisternd unter Thomas’ Schuhsohlen. Mit grimmiger Miene eilte er durch den lichten Schatten am Waldrand. Fast so, als wäre er auf der Flucht. Nun, irgendwie trifft das auch zu, dachte er in einem Anflug von Sarkasmus. Er bemühte sich, konzentriert zu atmen. Ein und aus, ein und aus, um das vertraute Gefühl des tiefen Unbehagens loszuwerden, das seine Brust einengte. Trotz der kühlen Luft prickelte Schweiß in seinem Nacken. Egal, wie schnell er sich voranbewegen würde, egal, was er tun oder sagen würde, diese Sache, die wie eine dunkle Wolke über ihm hing, ließ sich niemals abschütteln. Er wünschte, Leni hätte das Thema nicht angeschnitten. Aber sie hatte ja keine Ahnung gehabt, in was für ein Wespennest sie mit ihrer harmlosen Frage stechen würde. Und wie immer, wenn die Sprache auf seine Schwester kam, war er unfähig gewesen, sich normal zu verhalten. Jedes Mal, wenn Heides Name fiel, fing sein Herz an, wild gegen die Rippen zu schlagen, und er verspürte den Drang, davonzulaufen.

Natürlich hatte er Lenis besorgte, fragende Seitenblicke bemerkt. Doch er hatte ihr die Wahrheit nicht sagen können. Er konnte sie einfach nicht aussprechen. Konnte mit alldem nicht umgehen. Es rief zu viele schmerzhafte Erinnerungen wach. Daher hatte er die Flucht nach vorn angetreten und die Arbeit vorgeschoben, um sich aus dem Staub zu machen. Wütend kickte er mit der Schuhspitze einen Stein aus dem Weg.

Dabei hätte er noch so viele Fragen an Leni gehabt. Sie hatte nicht viel von sich und ihrem Leben in Freiburg preisgegeben. Allerdings musste er sich eingestehen, dass er ihr dazu auch nicht viel Möglichkeit gegeben hatte. Sie ahnte ja nicht, wie sehr er sich gefreut hatte, die beiden Schumann-Töchter nach so langer Zeit wiederzusehen. Während der Totenmesse hatte er ganz hinten am Eingang stehen müssen, da alle Bänke in der Kirche belegt gewesen waren. Aber er hatte Christa sofort wiedererkannt. Sie hatte sich kaum verändert und wirkte wie die jüngere Ausgabe ihrer Mutter. Und aus dem ehemaligen Wildfang Leni war eine hübsche junge Frau geworden, hatte er überrascht festgestellt.

Die Schwestern saßen zwischen ihrer Mutter und Elfriede Winterhalter in der vordersten Reihe. Leni tupfte sich die Augen mit einem Taschentuch, während der Pfarrer eine emotionale Rede auf Peter hielt. Nach der Zeremonie hatte Thomas Leni noch einmal kurz erspäht, als sie einen Strauß Blumen am Grab niedergelegt hatte, ehe sie sich gemeinsam mit ihrer Familie zum Süßenbachhof aufgemacht hatte. Er hatte sich ihnen nicht aufdrängen wollen.

Davon abgesehen hatte Lenis Anblick ihn schmerzlich daran erinnert, wie sehr seine Schwester Heide an dem etwas älteren Mädchen gehangen hatte. Noch lange, nachdem die Schumanns das Dorf verlassen hatten und nach Freiburg zurückgekehrt waren, hatte Heide von Leni geschwärmt. Seine Schwester hatte sehnsüchtig darauf gewartet, dass ihre Freundin eines Tages zurückkehren würde. Doch dies war nie geschehen. Und nun, da Leni anlässlich der Beerdigung ihres Onkels wieder hier war, lebte Heide nicht mehr. Welch eine bittere Ironie des Schicksals.

Ein Schuss riss ihn aus seinen Gedanken. Der Knall hallte weit durch den Wald. Thomas blieb stehen. Er lauschte auf das verdächtige Knacken von Ästen und Zweigen, auf ein Rascheln im Dickicht des Unterholzes. Es war schon das zweite Mal in diesem Monat, dass ein Schuss gefallen war. Dabei herrschte noch Schonzeit. Der Verdacht lag nahe, dass ein Wilderer am Waldsaum sein Unwesen trieb. Auf der Lichtung waren die grasenden Tiere leichte Beute. Gemeinsam mit Michael, dem Förster, hatte Thomas unlängst nach verräterischen Spuren gesucht. Sie hatten mehrfach platt gedrücktes Gras und eingetrocknetes Blut auf den Halmen entdeckt. Hoffentlich würden sie den Kerl bald erwischen, denn das Gebiet lag nicht weit von der Pferdekoppel seiner Eltern. Die Tiere könnten erschreckt werden und in ihrer Panik den Zaun niedertrampeln. Das war schon einmal geschehen. Auf diese Weise hatten sie einen ihrer wertvollen Kaltblüter verloren. Auch wenn sie für den Transport der gefällten Baumstämme auf der Straße Langholzlastwagen einsetzten, so waren die kräftigen Pferde im Wald zum Holzstrecken und Manövrieren der Stämme doch unerlässlich. Thomas liebte das Holzrücken mit den Tieren, nicht nur, weil er den stillen, heilsamen Wald dem lärmenden Sägewerk vorzog. Die Schwarzwälder Kaltblüter mit ihrem sanften Charakter, ihrer Kraft und Zähigkeit waren ihm ans Herz gewachsen. Wann immer er mit ihnen arbeitete, fühlte er sich von innerem Frieden erfüllt. Er musste dringend noch einmal mit Michael losziehen, um dem Wilderer das Handwerk zu legen.

Thomas zerrte an seinem Hemdkragen, als würde er nicht genügend Luft bekommen. Manchmal hatte er den Eindruck, gegen Windmühlen anzukämpfen. Er stieß ein Knurren aus. Konnte es nicht erwarten, diesen albernen Anzug loszuwerden, der ihm unangenehm am Rücken spannte und ihn einengte.

Seine melancholische Stimmung verstärkte sich, als er das Ende des Wäldchens erreichte und sein Blick die Wassermühle erfasste. Mit dem dazugehörigen Bach bildete sie die Grenze des elterlichen Grund und Bodens. Dahinter war das Sägewerk zu sehen, vor der Halle der Holzplatz mit den gefällten Baumstämmen. Das Wohnhaus der Rombachs mit der Holzfassade und dem dunklen Schindeldach versteckte sich im Schatten von hohen Tannen. Das Gelände wirkte bedrückend. Hoffnungslos. Thomas konnte den Anblick kaum ertragen. Kein Wunder, dass Marianne seine Entscheidung nicht hatte akzeptieren können.

»Niemals könnt ich hier in der Einöd leben!«, hatte sie ausgerufen, ihn entsetzt angesehen und dabei ihren erdbeerblonden Lockenkopf geschüttelt. »Nein, Thomas. Wenn du mich heiraten willst, dann musst du mit mir nach Freiburg kommen.«

Sie hatte einen anderen gesellschaftlichen Hintergrund gehabt als er. Ihr Vater war Lehrer in Lörrach, die Mutter unterrichtete Handarbeiten. Marianne wollte unbedingt in die Großstadt. Sie wollte dort sein, wo das Leben pulsierte. Wollte Petticoats tragen, ausgehen, tanzen. Die Welt bereisen. Seit am ersten April 1955 die Lufthansa den Linienflugverkehr auf der Strecke Hamburg–München gestartet hatte, hatte sie davon geträumt, Stewardess zu werden. Ihr Vorhaben war jedoch an den Bewerbungsgesprächen, in denen die Kandidatinnen Hemingway aus dem Deutschen ins Englische zurückübersetzen mussten, gescheitert. Auch eine zweite Fremdsprache beherrschte Marianne leider nicht. Thomas hatte insgeheim aufgeatmet. Vielleicht würde sie nun doch bei ihm bleiben. Doch sie stellte rasch klar, dass sie eines ganz gewiss nicht wollte: in einem abgelegenen Dorf im Schwarzwald als Ehefrau eines Sägewerkers versauern. So hatte sie Thomas vor ein Ultimatum gestellt.

Er hatte sich entschieden. Hatte schlicht keine Wahl gehabt.

Und Marianne war gegangen. Sie hatte ihn verlassen und kein einziges Mal mehr zurückgeblickt. War aufgebrochen in ein neues Leben, in dem er keine Rolle spielte. So viele Träume und Pläne hatten sie gehabt. Doch seine Entscheidung hatte die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft zerstört. Es brach ihm das Herz. Zum zweiten Mal.

Nachdem Marianne verschwunden war, war er in den Wald gegangen, dorthin, wo ihn niemand finden würde, und hatte bis zur Erschöpfung Holz gehackt. Obwohl Tränen hinter seinen Lidern brannten, hatte er sich nicht gestattet, sich gehenzulassen. Zum letzten Mal hatte er geweint, als sie Heide zu Grabe getragen hatten. Danach vergoss er nie wieder eine Träne. Der Schmerz wurde durchs Weinen nicht weniger, das hatte er längst begriffen. Nachdem er den ersten Schock über Mariannes Weggang überwunden hatte, entschied er, sich künftig von jeglichen Gefühlen abzuschotten. Nichts und niemanden mehr an sich heranzulassen. Auf diese Weise lebte es sich wesentlich angenehmer. So war es besser für sein Seelenheil.

Das Problem war, dass er jedes Mal, wenn er das Werksgelände sah, an diesen unsäglichen Tag denken musste, der ihrer aller Leben zerstört und ihm die Hoffnung auf eine normale Zukunft genommen hatte. Seit jenem verhängnisvollen Tag, an dem sie Heide verloren hatten, war sein tief verwurzelter Glaube erschüttert. Seine Eltern waren rechtschaffene, hart arbeitende Menschen. Sie hatten diesen Schicksalsschlag nicht verdient. Da war sein Vater mit knapper Not im Krieg dem Tod entronnen, nur um dann ein Dreivierteljahr nach seiner Heimkehr aus russischer Gefangenschaft seine Tochter zu verlieren. Nicht zum ersten Mal fragte Thomas sich, wie ein Mensch all das ertragen konnte. Als er die Halle betrat, wo ihn das schrille Geräusch der Sägen begrüßte, spürte er den altvertrauten, harten Knoten in seinem Bauch.

Kapitel 3

Lenis erste Enttäuschung über den abrupten Abschied hatte sich inzwischen ein wenig gelegt. So unbefriedigend es auch war, zu wissen, dass sie sich vermutlich so schnell nicht wiederbegegnen würden, sah sie doch ein, dass sie Thomas’ Rückzug akzeptieren musste. Er hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass er nicht über Heide sprechen wollte. Oder konnte.

Mit einem leisen Seufzen stieß sie die schwere Eingangstür des Hauses auf und trat in den langen Flur, wo sie der Geruch nach Holzfeuer, Tabak und abgestandenem Essen empfing. Hannes würde fragen, wo sie so lange geblieben war, Christa sie hingegen wie üblich kritisch mustern. Wahrscheinlich auf der Suche nach irgendetwas, das ihr einen Anlass gab, ihren Hang zum Nörgeln auszuleben. Leni hatte wenig Lust, Erklärungen abzugeben. Und sie wollte auch nicht in Gesellschaft all dieser Menschen sein, die ihr zum größten Teil völlig fremd waren. Und so kehrte sie um.

Sie verließ das Haus und marschierte hinüber zur Manufaktur. Wo könnte sie besser von Onkel Peter Abschied nehmen als in seiner geliebten Werkstatt? Sie bückte sich, um unter dem tönernen, mit Heidekraut bepflanzten Blumentopf neben dem Eingang nachzusehen. Der alte, schmiedeeiserne Schlüssel war noch immer da. Manche Dinge änderten sich nie. Der Gedanke war irgendwie tröstlich. Unwillkürlich hielt sie den Atem an, während sie die Tür zur Werkstatt aufschloss. Mit einem leisen Knarren gab sie nach.

Leni tastete nach dem Schalter und erwartete fast, Onkel Peter an seiner geliebten Hobelbank vorzufinden, als der Lampenschein den Raum in helles Licht tauchte. Für einen köstlichen Moment nahm sie das vertraute Duftpotpourri aus Staub, Leim und Holz in sich auf, das in der Luft hing. Es war frisch in der Werkstatt. Normalerweise würde an einem Tag wie diesem der kleine gusseiserne Kanonenofen in der Ecke vor sich hin bullern und für heimelige Wärme sorgen.

Sie schritt durch den Raum, vorbei an Hobelbank, Säge und Arbeitstischen, auf denen ihr Onkel die unzähligen Werkzeuge zur Holzbearbeitung aufbewahrt hatte. Wehmütig lächelnd nahm sie das eine oder andere Werkzeug in die Hand. Sie hob eine der Engelfiguren vom Regal, fuhr mit dem Zeigefinger die perfekt geschwungenen Linien nach, bewunderte die fein geschnitzten Züge und wie warm sich das glatt polierte Holz in ihrer Hand anfühlte. Anschließend wandte sie sich den Springerle-Modeln zu, die sie schon immer fasziniert hatten, und suchte sich eine aus. Fast andächtig betrachtete sie das Motiv, eine brennende Kerze auf Tannenzweigen. Vor ihrem geistigen Auge erschien Onkel Peter, wie er mit konzentrierter Miene auf seinem Schemel saß, ein Birnbaum-Klötzchen in den Schraubstock vor sich gespannt, die runde Brille fast bis auf die Nasenspitze herabgerutscht, und mit der scharfen Schneide seines filigranen Werkzeugs Nadel um Nadel in das Holz schnitt.