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In Karlsruhe – der "Residenz der Rechts" - werden prominente Juristen ermordet. Bei den Ermordeten wird jeweils eine Hortensie hinterlassen. Was hat das zu bedeuten? Der Leiter der Mordkommission, Carl Ferdinand von Markowetz, und sein Team stehen vor einem Rätsel. Erst recht, weil am Tatort Schilder hinterlassen werden, die offenbar ihn meinen: "Fragen Sie C.F.v.M!" Oder doch nicht? Markowetz und sein Team ermitteln und geraten in einen Strudel krimineller und politischer Machenschaften, die bis in höchste politische Kreise in Russland reichen und zugleich tief in das persönliche Leben von "C.F.v.M" eingreifen. Dabei spielt ein alter griechischer Dialekt eine entscheidende Rolle...
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Veröffentlichungsjahr: 2025
DIETER SPLINTER
DIE
HORTENSIENMORDE
Ein Karlsruhe Krimi
Beschreibungstext
In Karlsruhe – der „Residenz des Rechts“ - werden prominente
Wie fast immer, wenn Eugen Acker vor der Tür zu seinem Büro stand, musste er ein wenig schmunzeln. An ihr hing ein Plakat des ersten James-Bond-Films mit Daniel Craig mit dem Titel „Casino Royal“. Für Eugen Acker war sein ganzes Leben ein „Casino Royal“. Am liebsten spielte er dabei mit dem höchstmöglichen Einsatz. Da waren die Gewinne entsprechend hoch. Und er hatte so gut wie noch nie verloren. Dafür sorgte er. Wenn es sein musste, mit allen Mitteln. Wie James Bond verstand er sich auf den Umgang mit Schusswaffen. Das hatte er beim rumänischen Militär gelernt. Am liebsten benutzte er wie der britische Agent mit der Lizenz zum Töten eine Walther PPK. Allerdings wegen des verlängerten Griffstückes ein Modell des US-Waffenherstellers Smith & Wesson. Es lag besser in der Hand und war darum sehr treffsicher. Alle, die für die „Organisation“ arbeiteten, benutzten diese amerikanische Waffe. Sie war zuverlässiger als jedes russische Fabrikat ähnlicher Art.
Doch Eugen Ackers eigentliche Waffe waren seine Computer. So öffnete er die Tür zu seinem Büro und blickte stolz auf die Batterie von Rechnern und Bildschirmen, die sich darin befand. Eigentlich war die Bezeichnung „Büro“ eine Untertreibung. Der riesige Raum glich mit seiner vielseitigen technischen Ausstattung eher einer Kommandozentrale. Und das war dieser Raum auch: eine Kommandozentrale. Darauf hatte er, so war es in der „Organisation“ abgesprochen, auch sehr gezielt hingearbeitet.
Eugen Acker hatte nicht nur in der Hauptstadt Bukarest seines Heimatlandes Rumänien, sondern auch am KIT in Karlsruhe Informatik studiert. Nach seinem Abschluss am KIT hatte er sich in seiner Heimatstadt Kronstadt, die auf Rumänisch Brasov heißt, mit einem Computerladen und einer Beratungsfirma für Software und Hardware selbstständig gemacht. Inzwischen hatte er zahlreiche Angestellte. Der Laden und die Beratungsfirma waren aber nur eine gut funktionierende Tarnung. Sein eigentliches Geschäftsmodell bestand darin, sich in die Computer von deutschen und österreichischen Firmen und öffentlichen Einrichtungen zu hacken und Lösegeld zu erpressen. Erst wenn das Geld auf einem Nummernkonto bei einer Schweizer Bank eingegangen oder in Form von Bitcoins entrichtet worden war, gaben er oder einer seiner Mitarbeiter die IT-Systeme der gehackten Firmen oder Unternehmen wieder frei. Eugen Acker war als Hacker ein Genie. Und da Kronstadt in Transsylvanien liegt und es bei seiner „Arbeit“ um das „Absaugen“ von Daten ging, pflegte er sich dabei mit einem Dracula-Gebiss aus Plastik vor den Monitor zu setzen. Das hatte ihm den Spitznamen „Graf Dracula“ eingebracht.
„Das wird ein seltsamer Fall!“ Carl Ferdinand von Markowetz war sich da ganz sicher. Wie er verwundert feststellte, hatte er diesen Satz gerade halblaut vor sich hingesagt. Normalerweise neigte er nicht zu Selbstgesprächen. Im Gegenteil. Er galt als äußerst beherrscht und effizient. Schließlich leitete er in der Kriminalpolizeidirektion Karlsruhe die Inspektion 1. Sie war für Kapitaldelikte, also für Mord und Totschlag, zuständig. Nur jene, die ihn wirklich gut kannten, wussten, dass sich unter der stets zur Schau gestellten Ruhe eine große Unruhe aufbauen konnte. Das kam vor allem dann vor, wenn er einen Fall als „seltsam“ einstufte.
Wie immer, wenn er vor seinem Haus stand, fiel sein Blick auf den Hortensienbusch im Vorgarten. Der Busch war größer als er. Das wollte etwas heißen. Denn von Markowetz war gut 1,90 m groß. Dazu war der Busch breit und üppig. Jetzt – Anfang August – begannen die blauen, roten und violetten Dolden der Hortensien allmählich einen weißen Farbton anzunehmen. Spätestens im September würden die Dolden in eine an Blut erinnernde rostrote Farbe übergehen, danach verwelken und in Braun gekleidet den Winter überstehen. Vor etlichen der Häuser in seiner Straße standen weitere Hortensienbüsche. Doch keiner war so stattlich und prächtig wie der vor dem Haus, in dem er mit seiner Familie wohnte. Heute allerdings konnte er sich über die Blütenpracht nicht so recht freuen. „So eine Hortensie wie die vor Ihrem Haus!“ Das hatte Carla Carlotta Carlson zu ihm gesagt. Sie war mit Yussuf Öztürk und der Spurensicherung am Tatort gewesen. Beide Hauptkommissare hatten ihm am frühen Nachmittag kurz über den bisherigen Ermittlungsstand informiert. Dann war er auch schon zur Polizeipräsidentin Franziska Gnädiger gerufen worden.
Das war ungewöhnlich. Normalerweise stand die Zusammensetzung einer Mordkommission fest. Dieses Mal war es anders. Das hing wohl mit der Prominenz und der Profession des Toten zusammen. Die Polizeipräsidentin war bekannt dafür, mögliche politische Verwicklungen, die im Zusammenhang mit einem Fall auftreten konnten, gar nicht erst aufkommen zu lassen. Darum hatte sie ihn persönlich mit der Leitung und der Zusammenstellung der Mordkommission beauftragt. „Sie sind einer unserer Besten!“ So hatte sie ihm geschmeichelt, dann auf die Bedeutung hingewiesen, die der Fall für den Ruf der Karlsruher Polizei, ja für die Polizei überhaupt habe, und ihn schließlich mit den Worten entlassen: „Stellen Sie also eine Mordkommission mit den besten Leuten zusammen, die wir haben. Ich zähle auf Sie, Herr von Markowetz, denn Sie werden die Kommission selbstverständlich leiten!“
Zwar konnte von Markowetz nachvollziehen, warum ihn Franziska Gnädiger so in die Pflicht nahm. Mit seinen achtunddreißig Jahren war er bereits Kriminalrat, weil er einige spektakuläre und knifflige Fälle gelöst hatte. Darunter auch die Entführung der kleinen Britta, der in der Öffentlichkeit großes Aufsehen erregt hatte. Doch sein guter Ruf war ihm bisweilen auch eine Last. Zum einen, weil ihm das in der Kriminalpolizeidirektion ein paar Neider beschert hatte. Zum anderen vor allem deshalb, weil Erwartungen in ihn gesetzt wurden, die zu erfüllen schwer sein konnte. Die Polizeipräsidentin hatte gerade wieder in diese Kerbe geschlagen. Wenn er jedoch ehrlich mit sich selbst war, musste er sich eingestehen, dass er sich selber am meisten Druck machte. Misserfolge hasste er mehr als alles andere.
Den Nachmittag verbrachte er darum damit, intensiv über die geeignetsten Mitglieder der Mordkommission nachzudenken, diese dann anzurufen oder persönlich anzusprechen. Das war gar nicht leicht gewesen. Etliche der Leute, die er gerne dabeigehabt hätte, waren gleich zu Anfang der Sommerferien in Urlaub gefahren. Die Schulen hatten Ende Juli in Baden-Württemberg ihre Pforten dicht gemacht. Im Frühjahr hatte die Corona-Pandemie das ganze Land im Griff. Ein „Lockdown“ war die Antwort. Auch die Schulen waren zeitweise ganz geschlossen worden, Unterricht zu Hause war angesagt. Das hatte an den Nerven der Kolleginnen und Kollegen mit schulpflichtigen Kindern gezerrt. Auch seine beiden Kinder, Maximilian und Charlotte, waren selbstverständlich davon betroffen gewesen. Da die beiden aber ohne große Schwierigkeiten mit dem Fernunterricht per Internet zurechtgekommen waren, hatte die Familie von Markowetz das Frühjahr in schulischer Hinsicht gut überstanden. Es gelang ihm, eine etwa zwanzigköpfige Mordkommission zusammenzustellen. Darunter waren Gott sei Dank auch jene, die er unbedingt dabeihaben wollte.
Immer noch auf den Hortensienbusch blickend kramte er seinen Schlüssel aus der Hosentasche. Bevor er ihn in das Schloss stecken konnte, ging die Tür auf. Überrascht schaute er auf. Vor ihm stand seine Frau Sarah. Seine nachdenkliche Miene hellte sich sofort auf: „Du bist schon da!“, sagte er erfreut. Dabei umarmte er sie und küsste sie zärtlich. Sie erwiderte seinen Kuss und schaute ihm danach prüfend ins Gesicht. „Hast du was? Ist was Besonderes los?“ Er war immer wieder erstaunt, wie schnell seine Frau seine jeweilige emotionale Situation erfasste. „Lass mich erst einmal reinkommen. Ich muss unbedingt aus meinen verschwitzten Klamotten raus!“ Wie so häufig im Sommer war es auch jetzt in Karlsruhe brütend heiß und schwül. Das Hemd klebte ihm am Leib. „Gut“, sagte sie, „willst du duschen? Ich mache uns derweil die Reste von gestern warm.“ Er nickte dankbar, hängte seinen Schlüssel ans Schlüsselbrett, durchquerte Wohn- und Esszimmer und stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf. Dort befanden sich ihr Schlafzimmer, ihre beiden Arbeitszimmer und ihr gemeinsames Bad. Er entkleidete sich, stellte sich unter die Dusche und ließ erst lauwarmes, dann eiskaltes Wasser über seinen sehnigen und muskulösen Körper laufen. In seiner Jugend war er Zehnkämpfer und sogar einmal badischer Jugendmeister in dieser Sportart gewesen. Er war stolz darauf, immer noch gut in Form zu sein. Dafür besuchte er auch mindestens zweimal pro Woche einen Fitnessclub und joggte ein bis zwei Mal. Seine Kraft und Ausdauer waren ihm bei zahlreichen Einsätzen zugutegekommen.
Als er frisch geduscht und bekleidet mit Bermudashorts und einem weiten T-Shirt auf die Terrasse kam, hatte Sarah den Tisch gedeckt und eine Flasche mit kühlem Riesling auf den Tisch gestellt. Unter der Sonnenmarkise war es immer noch deutlich zu warm. Von Markowetz gab seiner Frau einen flüchtigen Kuss auf ihr rotblondes Haar und setzte sich. „Danke, dass du dich um das Essen gekümmert hast.“ Eigentlich wäre er heute mit Küchendienst dran gewesen. „Hast du etwas von Max und Lotte gehört?“, fragte von Markowetz seine Frau. Er goss ihr und sich ein Glas Wein ein und griff nach dem Salat. Ihre Kinder Maximilian und Charlotte waren zweieiige Zwillinge, elf Jahre alt und hatten im altehrwürdigen Bismarck-Gymnasium in Karlsruhe gerade die fünfte Klasse hinter sich gebracht. Nun waren sie, wie in den vergangenen Jahren auch, für die ersten drei Wochen der Sommerferien bei seinen Eltern in Freiburg. Dort war sein Vater Juraprofessor gewesen, aber inzwischen im Ruhestand. Seine Mutter, ein paar Jahre jünger als sein Vater, leitete als Ärztin das Gesundheitsamt des Landkreises Breisgau-Hochschwarzwald.
Sarah sagte: „Bevor du kamst, habe ich kurz mit deiner Mutter telefoniert. Deine Eltern sind heute mit Max und Lotte auf den Schauinsland gefahren. Als ich anrief, war dein Vater mit ihnen auf dem Münsterplatz, um ein Eis zu essen. Wie immer volles Programm!“ Sarah trank einen Schluck Wein und fragte dann kurz und knapp: „Was ist los?“ Dabei sah sie ihren Mann aus ihren blaugrünen Augen forschend an.
Von Markowetz machte es kurz: „Dietrich Bolsenhauser ist tot. Er wurde heute Morgen von seiner Haushälterin gefunden. Wir gehen von einem Tötungsdelikt aus. Ich leite die Mordkommission. Die Polizeipräsidentin hat mich heute höchstpersönlich damit beauftragt und mächtig Druck gemacht.“ Sarah war schockiert. „Unser Bolsenhauser?“ „Ja!“, antworte ihr Mann knapp.
Mit Dietrich Bolsenhauser verband die beiden ihre ganz persönliche Geschichte. Nach Abitur und Wehrdienst hatte von Markowetz in Heidelberg, sehr zum Wohlgefallen seines Vaters, ein Jurastudium begonnen. In seinem vierten Semester war ihm in einer Vorlesung über Strafrecht von Professor Dr. jur. Dietrich Bolsenhauser zum ersten Mal Sarah begegnet. Sie hatte den Vorlesungssaal in der „Heuscheuer“ – dort fanden die meisten der Juravorlesungen statt – zusammen mit zwei Kommilitoninnen betreten. Alle drei waren sehr ansehnlich. Doch Carl Ferdinand von Markowetz hatte nur Augen für Sarah gehabt. Sie war groß, sportlich, hatte einen rotblonden Lockenschopf, eine Stupsnase, Sommersprossen und eine beachtliche Oberweite. Außerdem blickte sie selbstbewusst und zugleich zurückhaltend um sich. Die drei Frauen hielten in dem voll besetzten Hörsaal nach drei Plätzen Ausschau. Nur neben von Markowetz waren noch Plätze frei. Sarah hatte sie zuerst erspäht, schaute die anderen beiden Frauen kurz an und deutete mit dem Kinn auf die freien Plätze. „Hoffentlich setzt sich die mit dem rotblonden Wuschelkopf neben mich!“, hatte er voller Hoffnung gedacht. Sein Wunsch war in Erfüllung gegangen. Doch dann war er plötzlich sehr schüchtern gewesen. Das passte eigentlich gar nicht zu ihm. Die Beziehung mit seiner Jugendliebe hatte er während seiner Zeit bei der Bundeswehr beendet, danach ließ er nichts anbrennen. Zwei kurze Beziehungen hatte er noch gehabt und eine ganze Reihe von flüchtigen sexuellen Bekanntschaften. Die hatten ihm den Ruf eines Casanovas eingebracht. Bei der ersten Begegnung mit Sarah aber hatte sein Charme Ladehemmung. Er tat so, als ob er den Ausführungen Bolsenhausers konzentriert folgen würde, blickte dabei aber immer wieder verstohlen auf Sarahs Profil und schielte in den Ausschnitt ihres T-Shirts. Nach der Vorlesung drehte Sarah ihren Kopf zu ihm, sah ihn schalkhaft an und sagte dann: „Ich denke, dass du und ich jetzt in die Mensa gehen und etwas essen sollten. Dann kannst du mir gegenübersitzen, mich von vorn direkt ansehen und mir dabei auch noch ohne Schielen auf den Busen gucken!“ Von Markowetz war puterrot angelaufen – und ihr dann neugierig gefolgt. Nachdem sie ein Paar geworden waren, gestand ihm Sarah, dass auch er ihr auf Anhieb gefallen hatte. Seitdem nannten sie ihre erste Begegnung „unseren Bolsenhauser-Bang“.
Noch während des Studiums zogen sie zusammen. Während Sarah jedoch auf den üblichen Abschluss mit zwei Examina hinarbeitete, beendete von Markowetz sein Jurastudium in der schnellstmöglichen Zeit nach dem Ersten Staatsexamen. Danach war er, was seinem Vater zunächst missfiel, zur Polizei gegangen, hatte die Ausbildung zum gehobenen und dann höheren Dienst durchlaufen und war dann schnell aufgestiegen. Sarah war inzwischen beim Landgericht in Karlsruhe die Vorsitzende Richterin in einem Strafsenat. Freunde von Carl Ferdinand und Sarah von Markowetz witzelten bisweilen, dass er dafür sorgte, dass seiner Frau die Arbeit nie ausginge. Da Sarah aber der Strafkammer vorsaß, in der Wirtschaftsstraftaten verhandelt wurden, war das so gut wie ausgeschlossen.
Der Wecker auf seinem Handy gab die vertrauten morgendlichen Töne von sich – das mit der Trompete geblasene Signal zur Attacke durch die amerikanische Kavallerie. Sarah hatte es aufgegeben, ihn zu einem weniger martialischen Weckruf zu überreden. Carl Ferdinand von Markowetz stand auf alte Westernfilme, insbesondere jene mit John Wayne.
Das Handy zeigte 6.30 Uhr. Von Markowetz machte den Wecker aus und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Im Bad hörte er Wasser rauschen. Sarah duschte schon. Obgleich der Hornist der amerikanischen Kavallerie angriffslustig und lauthals dazu aufgefordert hatte, die Aufgaben des Tages zu attackieren, verspürte Markowetz noch gar keine Lust dazu. Seine morgendliche Erektion erinnerte ihn daran, wie schön es gestern Abend mit Sarah gewesen war. Er hatte mit seinem uralten Spruch „Erst macht er ihr den Hof, dann macht er ihr die Küche“ den Tisch abgeräumt und das Geschirr in die Spülmaschine gestellt. Danach hatten sie noch länger mit den Kindern per Skype gesprochen. Beide berichteten aufgeregt von den Erlebnissen des Tages. Schließlich war die Sprache auf den bevorstehenden Familienurlaub gekommen. Der sollte sie am Ende des Monats nach Ostfriesland führen. Nach dem Gespräch mit Maximilian und Charlotte hatten Sarah und er noch eine ganze Weile auf der Terrasse gesessen und die Flasche mit dem Riesling ausgetrunken. Schließlich waren sie zeitig zu Bett gegangen und hatten sich lang und zärtlich geliebt.
Bisweilen fragte sich von Markowetz, ob sie überhaupt so viel Glück verdienten. Sarah und er würden einander nie im Stich lassen. Davon war er nach all den gemeinsamen Jahren überzeugt. Gewiss war es nach der Geburt der Zwillinge stressig gewesen. Sarah konnte davor gerade noch das Zweite Staatsexamen abschließen. Er war Kommissar-Anwärter gewesen. Doch Dank seiner Schwester Gudrun waren sie gut durch diese erste Zeit gekommen. Seine Schwester war zwei Jahre älter als er und mit einem Mathematikprofessor verheiratet, der am KIT lehrte. Die beiden hatten inzwischen sechs Söhne. Zwei waren schon auf der Welt, als seine Zwillinge geboren wurden. Gudrun hatte ihren Erfahrungsvorsprung in Rat und Tat an ihn und Sarah weitergegeben.
Während der Abwesenheit seiner Kinder duschte von Markowetz morgens immer in deren Bad unter dem Dach. Dort befanden sich auch ihre Zimmer. So stieg er die Stufen in den zweiten Stock hinauf, wand sich aus Boxershorts und T-Shirt, schabte sich die Bartstoppeln aus dem Gesicht und stellte sich unter die Dusche. Dabei kam ihm erneut die Frage in den Sinn: „Wie habe ich so viel Glück bloß verdient?“ Nicht den Hauch eines Anfluges von „kaputter Kriminaler“ wie er in den einschlägigen Romanen so oft vorkam. Stattdessen: Glücklich verheiratet, zwei prächtige Kinder, alle gesund, aufgrund von zwei Einkommen genug Geld, um das Haus abzubezahlen und sich dabei auch noch einen überdurchschnittlichen Lebensstandard leisten zu können. Und dann: ein gutes Verhältnis zu den Eltern und Schwiegereltern, zu Schwester und Schwager und deren Kinder. Dazu einen Beruf, den er liebte. Natürlich hatte er hart gearbeitet und tat es weiterhin. Doch er wusste nur zu gut, dass er in ein privilegiertes Milieu hineingeboren worden war. Ob all das so bleiben würde? Sein Glück, die wohlgeordneten und gut bürgerlichen Verhältnisse? So viel heile Welt? Er dachte unwillkürlich an seinen neuen Fall. Irgendwie beschlich ihn dabei ein ungutes Gefühl, das er nicht einordnen konnte.
Es wischte den Gedanken beiseite, kleidete sich an und ging in die Küche, um das Frühstück zu machen. Er brühte starken italienischen Kaffee auf und bereitete zwei Schalen mit Müsli, Obst und Milch vor. Er hatte die gefüllten Schalen kaum auf den Esstisch gestellt, als Sarah in das Wohn- und Esszimmer trat, sich von hinten an ihn schmiegte und zu ihm sagte: „Hallo, Cowboy! Gut geschlafen?“ Er nahm sie in die Arme und meinte dabei: „Wie ein Bär! Dafür hast du ja auch gesorgt!“ Sie küssten sich und wären wohl gleich am liebsten wieder miteinander ins Bett gegangen. Doch Sarah musste am Vormittag eine Gerichtsverhandlung leiten. Und das erste Treffen der Mordkommission war für acht Uhr angesetzt. So nahmen sie ihr Frühstück zügig zu sich und verabredeten, dass Sarah heute besser allein mit ihren Kindern und seinen Eltern Kontakt aufnehmen sollte. Wenn er an einem neuen Fall arbeitete, konzentrierte sich seine ganze Aufmerksamkeit darauf. Sarah konnte gut damit umgehen.
Gegen 7.30 Uhr verließen die beiden das Haus, umarmten und küssten sich zum Abschied, schwangen sich auf ihre Fahrräder und machten sich auf den Weg. Erst fuhren sie noch ein Stück hintereinander auf der Erzberger Straße, wo ihr Haus stand, Richtung Süden. Sarah auf ihrem E-Bike vorneweg. Dann trennten sich ihre Wege. Sarah fuhr Richtung Osten zum Landgericht in der Hans-Thoma-Straße, von Markowetz Richtung Westen zur Hertzstraße 8/10a. Dort war der größere Teil der Kriminalinspektionen untergebracht. Darunter auch die Kriminalinspektion 1. Eigentlich fuhr von Markowetz nicht gerne Fahrrad. Ihm war sein BMW 320i als Fortbewegungsmittel wesentlich lieber. Doch die Entfernung zu seiner Dienststelle betrug keine zweieinhalb Kilometer und sein ökologisches Gewissen wollte beruhigt sein.
Als sie aus dem Haus gegangen waren, hatte das Thermometer schon fast zwanzig Grad angezeigt. Von Markowetz fuhr darum gemächlich. Er wollte nicht verschwitzt ankommen. Vor dem Dienstgebäude schloss er sein Fahrrad an ein dafür vorgesehenes Gestell und eilte mit langen Schritten in sein Büro. Auf dem Weg nickte er freundlich einigen Kollegen zu, die wie er in das Gebäude strebten. In seinem Büro angekommen, machte er sich erst einmal noch eine Tasse Kaffee. So viel Zeit und Ruhe musste sein.
4. August 2020, früher Vormittag, Karlsruhe
Pünktlich um acht betrat von Markowetz den Vortragsraum der Kriminalpolizeidirektion. Um die Abstandsregeln einhalten zu können, die die Corona-Schutzmaßnahmen geboten, hatte er diesen Raum gewählt. So standen zwanzig Tische getrennt voneinander in einem Rechteck aufgereiht, drei jeweils an den Kopfenden und sieben jeweils rechts und links. Durch die geöffneten Fenster drang die Hitze des noch jungen Tages. Die Kolleginnen und Kollegen waren schon alle da und saßen an ihren Plätzen. Gerade hatte jemand wohl einen Scherz gemacht. Einige der Anwesenden lachten. Von Markowetz konnte sich denken, wer der Urheber des Gelächters gewesen war. Er war davon überzeugt, dass in den meisten größeren Gruppen die Rollen häufig wie in Schulklassen verteilt waren. „Wenn jetzt gerade der Klassenclown zu Gange gewesen ist, bin ich wohl der Streber aus der ersten Bank!“, dachte von Markowetz mit einem Anflug von Selbstironie. Als er am Kopfende des Raumes am mittleren Tisch Platz nahm, verstummten alle Gespräche. Gespannte Blicke richteten sich auf ihn. Wenn sich eine Mordkommission zum ersten Mal traf, lag immer so etwas wie Jagdfieber in der Luft. Von Markowetz tat das, was die anderen schon getan hatten: Er nahm seinen Mund- und Nasenschutz ab.
„Guten Morgen, Kolleginnen und Kollegen!“ Er schaute in die Runde. „In dieser Zusammensetzung sind wir zum ersten Mal beieinander. Ich gehe aber davon aus, dass Sie sich alle untereinander kennen, mehrere von Ihnen schon miteinander gearbeitet haben und wir keine Vorstellungsrunde zu machen brauchen.“ Beifälliges Nicken. „Ich bin dankbar, dass Sie alle hier sind. Wir werden alles brauchen, was jeder und jede von Ihnen einbringen kann. Angesichts der Prominenz des Opfers wird das Interesse der Öffentlichkeit an diesem Fall besonders groß sein.“ Noch einmal sah er von einem zum anderen.
Rechts neben ihm saß Carla Carlotta Carlson. Ihr Name hatte ihr die Abkürzung „Tripple C“ oder einfach „TC“ eingebracht. Ihre Mutter war Italienerin, ihr Vater Schwede. TC, in Stuttgart geboren, war bei Pflegeeltern aufgewachsen. Ihre leiblichen Eltern waren zwar miteinander verheiratet gewesen, hatten sich aber kurz nach ihrer Geburt getrennt. Zu ihrer leiblichen Mutter, die in Genua lebte, hatte TC kaum Kontakt. Der Vater war irgendwo in Schweden verschollen. TC war Anfang dreißig und gerade Kriminalhauptkommissarin geworden. Ihre dunkle Haut hatte sie von ihrer italienischen Mutter, die blauen Augen von ihrem Vater geerbt. Sie trug ihre schwarzen Haare kurz. Von Markowetz‘ Mutter hätte die Frisur als „Bubikopf“ bezeichnet. TC war bekannt dafür, dass sie zwei Leidenschaften frönte. Sie aß für ihr Leben gern Kuchen der Konditorei Café Endle. Für viele Karlsruher war das die beste Konditorei weit und breit. Ihre zweite Leidenschaft war das Kickboxen. Von Markowetz hatte einmal erlebt, wie sie mit einem Boxhieb und zwei schnellen Tritten einen großen Kerl, der auf sie losgegangen war, von den Beinen geholt und kampfunfähig gemacht hatte.
Links neben ihm saß Kriminalhauptkommisar Yussuf Öztürk. Seine Eltern waren vor vielen Jahren als „Gastarbeiter“ aus der Türkei gekommen und hier geblieben. Yussuf – er war einer der wenigen Kollegen, die von Markowetz duzte – war in Karlsruhe geboren worden. Nach dem Abitur an einem Karlsruher Gymnasium war Yussuf zur Polizei gegangen. Am Anfang seiner Kariere war er bei einem Sondereinsatzkommando. Ein Grund dafür war seine enorme Physis. Er war noch größer als von Markowetz, weit über hundert Kilo schwer und ein Berg von einem Mann. Seine sportliche Kariere als Gewichtheber hatte er erst vor kurzem mit Mitte dreißig aufgegeben. Drei Mal war er hintereinander - im Superschwergewicht - deutscher Meister geworden. In den Sportzeitungen wurde er abwechselnd als „Kran aus Karlsruhe“ oder, in Anspielung auf seine türkische Herkunft, als „Bär vom Bosporus“ betitelt. Bei den Einsätzen seines SEK war er immer vorneweg gegangen. Wenn er einen Raum betrat, wurde dieser von seiner Statur beherrscht. Deshalb waren die Festzunehmenden meistens so eingeschüchtert, dass sie sich widerstandslos Handschellen anlegen ließen.
Einmal allerdings war diese Taktik nicht aufgegangen. Er bekam aus nächster Nähe zwei Schüsse in die Brust, die von seiner kugelsicheren Weste aufgefangen wurden. Andere hätte der Aufprall der Geschosse umgehauen. Yussuf aber war nur kurz zurückgetaumelt. Dann riss er den dem Mann, der auf ihn geschossen hatte und sich aus dem Staub machen wollte, an der Schulter herum und schickte ihn mit einem Fausthieb an die Schläfe in das Reich der Träume. Das brachte Yussuf den Spitznamen „Old Shatterhand“ ein. Doch war sowohl ihm als auch seinen Vorgesetzten nach diesem Vorfall beim SEK klar, dass seine enorme Erscheinung nicht bloß ein Vorteil war. Er wechselte zur Kriminalpolizei und nahm dort anfangs von Markowetz unter seine Fittiche. Der war zwar älter als er, aber wegen seines Jurastudiums später bei der Polizei gelandet. Inzwischen hatte von Markowetz Yussuf bezüglich der Kariere überholt. Das tat ihrer Freundschaft aber keinen Abbruch. Im Gegenteil. Sie schätzten einander sehr.
Links von Yussuf saß Michael Beste, seines Zeichens Erster Kriminalhauptkommissar. Beste galt in der Kriminaltechnik – der Kriminalinspektion 8 – als Koryphäe. Er wusste das auch und pflegte sich ihm Unbekannten – in Anspielung auf seinen Nachnamen – mit den Worten „Ich bin der Beste!“ vorzustellen. Außerdem war er offen homosexuell und dazu ein Witzbold, wobei er selber am liebsten über Homosexuelle Witze machte. Er verbat es sich aber, wenn andere das taten.
Links neben Michael Beste saß noch ein Michael: Nachname Lembowski, ebenfalls aus der Kriminaltechnik und als Oberkommissar engster Mitarbeiter von Michael Beste. Er war fast genauso gut als Kriminaltechniker wie Michael Beste, machte aber davon nicht so viel Aufhebens wie dieser und überließ in Gruppen das Reden meistens ihm.
An den Tischen, die dann reihum folgten, saßen buntgemischt Männer und Frauen unterschiedlichen Alters und mit verschiedenen Dienstgraden aus allen weiteren Inspektionen der Kriminalpolizeidirektion Karlsruhe. Von Markowetz hatte bei der Zusammenstellung der Mordkommission deshalb alle Inspektionen einbezogen, weil er bei der Bearbeitung dieses Falles möglichst breit aufgestellt sein wollte.
Gleich neben TC saß am ersten Tisch in der Reihe rechts Annemarie Löffler. Sie war Mitte fünfzig. Mit ihren hochgesteckten, ergrauenden Haaren und ihrer randlosen Brille wirkte sie wie eine strenge Oberlehrerin. Wer sie genauer kannte, wusste aber nur zu genau, dass sie eher der Typ „Mutter der Kompanie“ war. Mit TC teilte sie die Vorliebe für Torten vom Café Endle. Diese setzte „die Löffler“, wie sie hinter vorgehaltener Hand respektvoll genannt wurde, auch als Seelentröster ein. Meistens versehen mit dem Hinweis: „Ein Stück Torte ist ein Stück Trost, das man kaufen kann!“ Oder kurz: „Torten sind Tröster!“ Bei den Treffen der Mordkommission führte sie Protokoll, kümmerte sich um die Akten und um all jene Dienste, ohne die keine Mordkommission auskam.
Von Markowetz genau gegenüber saß schließlich EKHK Friedrich Landau, Leiter der Kriminalinspektion 7. Die war zuständig für die Einsatz- und Ermittlungsunterstützung sowie den Kriminaldauerdienst. Rein äußerlich konnte zwischen ihnen beiden der Unterschied kaum größer ausfallen. Landau war untersetzt und bullig. Sein rötliches Gesicht zierte eine dicke Knollennase und wurde von einer ausgeprägten Glatze gekrönt. Während Markowetz dem „Von“ in seinem Namen durch seine fein geschnittenen Gesichtszüge und dem vollen blonden und lockigen Haarschopf schon rein äußerlich einen aristokratischen und distinguierten Ausdruck verlieh, spielte um die fleischigen Lippen von Friedrich Landau ein zynischer, bisweilen sogar verbitterter Zug. Er war Single, seine Beziehungen hielten nie lange. Manche führten das bei Gesprächen in der Kantine auf seine ruppige Art zurück. Er war gut zehn Jahre älter als von Markowetz und hatte eigentlich erwartet, dass man ihm die Leitung der Kriminalinspektion 1 übertragen würde. Er war stattdessen erst vor kurzem zum EKHK befördert und zum Leiter der Kriminalinspektion 7 ernannt worden.
Natürlich war sich von Markowetz über das Konkurrenzverhältnis zwischen ihnen im Klaren. Trotzdem wollte er Friedrich Landau unbedingt bei dieser Mordkommission dabeihaben. Hinter dessen ruppiger Art steckte ein messerscharfer Verstand. Zudem war Landau ein erfahrener Ermittler, der sich in einen Fall verbeißen konnte wie ein Terrier in eine Wade. Er ließ einfach nicht locker.
Von Markowetz schenkte sich kaltes Wasser aus der Flasche, die vor ihm stand, in ein Glas, trank es auf einen Zug aus und setzte seine kurze Einführung fort: „Prof. Dr. Dietrich Bolsenhauser, der Ihnen allen aus der Zeitung oder anderen Medien bekannt sein dürfte, wurde gestern Morgen tot in seinem Haus aufgefunden. Frau Carlson und Yussuf Öztürk sowie die Spurensicherung unter Leitung von Michael Beste“ – er schaute kurz in dessen Richtung – „waren vor Ort. Ich bitte die Genannten den bisherigen Stand der Ermittlungen darzustellen.“ Von Markowetz konnte bisweilen sehr formal und gestelzt daherreden.
TC nahm die Fernbedienung für den Beamer in die Hand, stand auf und ließ hinter sich auf der dafür vorgesehenen Fläche ein Bild erscheinen. Es zeigte ein zweistöckiges Haus mit markanten Fenstersimsen, grünen Fensterläden und einem roten Walmdach. Vor dem Haus, das viereckig und wuchtig auf einer Anhöhe stand, befand sich eine zur Straße hin abschüssige Rasenfläche. Diese war von sattem Grün. Offenbar hatte der Besitzer des Anwesens genug Geld, um auch im Hochsommer dafür sorgen, dass der Rasen sich nicht bräunlich verfärbte. In der offenen Garage links neben dem Haus stand ein schwarzer SUV von Mercedes. Zur ebenfalls grün gestrichenen Eingangstür des Hauses führten drei Stufen. Diese waren links und rechts jeweils von einem üppigen Hortensienstrauch eingerahmt. Die Hortensiendolden erstrahlten in Rot, Weiß und Blau.
Alle Anwesenden schauten neugierig, manche auch beeindruckt oder gar mit einem Anflug von Neid auf die Villa. „Dies ist das Haus Nr. 7 in der Pablo-Picasso-Straße auf dem Geigersberg. Bekanntermaßen eine noble, wenn nicht sogar die nobelste Wohngegend in Karlsruhe.“ So leitete TC ihre Präsentation ein. Einige nickten beifällig. „Das Haus gehört Dietrich Bolsenhauser, Professor für Strafrecht an der Uni in Heidelberg. Am gestrigen Montagmorgen ging in der Leitstelle um 8.05 Uhr ein Notruf ein. Schon wenige Minuten später war eine Streife vor Ort. Die beiden Kollegen waren zufällig in der Nähe. Sie fanden diese Szene vor.“
TC blendete das nächste Bild ein. Es zeigte Dietrich Bolsenhauser in einem großen Ohrensessel sitzend. Sein Kopf war auf die Brust gesunken und nach rechts geneigt. Die dunklen Augen starrten ins Leere. Das volle, schwarzgraue Haar verdeckte fast die ganze Stirn. Aus dem Mund, der offenstand, war offenbar viel Speichel geflossen. Der hatte besonders den rechten Mundwinkel des Toten weißlich verfärbt. Der rechte Arm hing ausgestreckt neben der Sessellehne herunter. Darunter lag eine Zeitung. Deutlich war die Titelseite von „Der Sonntag“ zu sehen. Die linke Hand des Toten ruhte, zu einer leichten Faust geballt, im Schoß. Darin steckte eine Hortensie. Ihr Stiel war so lang, dass ihre blaue Blüte über das rechte Bein des Toten hinausragte. Die Beine waren leicht angewinkelt, der linke Fuß unter den rechten geschoben. Hinter dem Ohrensessel ragten dicht befüllte Bücherregale in die Höhe.
Auf den ersten Blick sah es so aus, als ob der Tod Dietrich Bolsenhauser beim Lesen der Vorderseite der Sonntagszeitung ereilt habe. Dann hätte er die Zeitung mit der rechten Hand gehalten und dabei vielleicht zuvor noch kurz an der Hortensienblüte gerochen. Diese hatte er augenscheinlich aus der Vase genommen, die auf einem Beistelltisch links neben dem Ohrensessel stand. In der Vase befanden sich, kunstvoll arrangiert, weitere verschiedenfarbige Hortensien. „Hortensienliebhaber stirbt Sekundentod in seiner Leseecke“ – so würde es wohl ein Reporter formulieren, dachte von Markowetz, wenn der erste Eindruck stimmen würde. Der wurde aber gleich zunichtegemacht. Denn rechts vom Sessel stand eine Stehlampe, die noch brannte. Der obere Teil der Lampe schimmerte nur matt im Sonnenlicht, das von links durch ein großes Fenster hereindrang. Der untere Teil der Lampe bestand aus einer nach unten gebogenen Leseleuchte. Sie beschien ein Schild, das mit einem breiten Klebestreifen an der Brust auf dem Hemd des Toten befestigt war. Auf dem Schild stand: „MORD ?? Fragen Sie CF von M!“
Ohne etwas zu sagen, blendete TC nacheinander drei weitere Aufnahmen des Toten ein. Sie zeigten die Szenerie noch einmal von rechts, von links und von schräg oben. TC wartete schweigend noch eine kleine Weile. Schließlich ließ sie das letzte Foto eingeblendet und wandte sich den Anwesenden zu.
„Gegen 8.45 Uhr waren Yussuf Öztürk und ich am Tatort. Neben den beiden Kollegen vom Polizeirevier Durlach fanden wir Anna Kovacs, die Haushälterin von Dietrich Bolsenhauser, vor. Sie hat den Notruf abgesetzt. Laut ihren Angaben ist sie am vergangenen Sonntag abends mit dem Flieger aus ihrer Heimat Kroatien zurückgekehrt. Sie war dort im Urlaub und hat ihre Mutter und andere Verwandte besucht.“ „Und hoffentlich kein Covid 19 mitgebracht!“, murmelte Friedrich Landau halblaut, aber deutlich vernehmbar vor sich hin. In Kroatien waren in den letzten Tagen die Corona-Fallzahlen wieder deutlich angestiegen. TC ließ sich nicht irritieren. „Gestern Morgen hat Frau Kovacs, laut eigener Aussage, kurz vor acht Uhr das Haus in der Pablo-Picasso-Straße betreten, um ihre Arbeit zu beginnen, dann aber ihren Arbeitgeber tot aufgefunden. Wegen des Schildes…“.
Einige Beamtinnen und Beamten unterdrückten ein Lachen. Yussuf hob den Daumen seiner rechten Hand und grinste breit. Er war bekannt dafür, dass er alle immer wieder mit dem Satz nervte: „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. Es heißt nicht ‚wegen dem …‘, sondern wegen des …‘!“ Offenbar hatte der türkischstämmige Öztürk auch Carla Carlotta Carlson korrektes Deutsch beigebracht.
„Wegen des Schildes auf dem Toten hat sich Frau Kovacs gar nicht erst darum bemüht, festzustellen, ob Dietrich Bolsenhauser tatsächlich tot ist. Zudem sagte sie: ‚Ich schaue im Fernsehen immer gerne Krimis. Da heißt es immer, man soll den Tatort nicht verunreinigen‘. Das hat Frau Kovacs gesagt und hinzugefügt: ‚Außerdem habe ich in meinem Leben schon oft genug Tote gesehen, um zu erkennen, ob jemand tot ist oder nicht. Da muss ich den Toten nicht auch noch anfassen.‘ Nachdem Anna Kovacs am Anfang offenbar geistesgegenwärtig gehandelt hat, war sie danach ziemlich durch den Wind. Jedenfalls haben wir sie von den beiden Kollegen der Streife nach Hause bringen lassen und sie für heute zur Befragung als Zeugin einbestellt. Andere Kollegen vom Revier Durlach hatten übrigens inzwischen das Haus weiträumig abgesperrt. Und etwa fünfzehn Minuten nach Yussuf und mir waren Michael Beste und Michael Lembowski mit ihrem Team da. Wir haben dann alle gründlich das Haus durchsucht und Spuren gesichert. Sie finden bzw. Ihr findet unsere Berichte abgespeichert unter der Datei „Dietrich Bolsenhauser“. Auf wichtige Einzelheiten wird Michael Beste nachher noch zu sprechen kommen. Vorab lässt sich aber eindeutig feststellen, dass die Situation, in der der Tote aufgefunden wurde, Rätsel aufgibt. Da hat das Schild auf dem Toten sozusagen Recht. Wie wissen noch gar nicht, ob es sich tatsächlich um ein Tötungsdelikt handelt. Auch die Todesursache ist noch völlig unklar.“
Yussuf Öztürk warf ein: „Wie üblich in solchen Fällen, haben wir das Institut für Rechtsmedizin in Heidelberg eingeschaltet. Als wir denen gesagt haben, dass es keinerlei äußere Zeichen eine Gewaltanwendung gibt, kam dann gleich der Leitenden Oberarzt Dr. Oliver Heidenreich. Er hat sich den Toten vor Ort genau angesehen und gemeint, dass möglicherweise Gift im Spiel sei. Mehr könne er aber erst nach der Obduktion sagen. Die ist von der Staatsanwaltschaft schon veranlasst worden und soll heute stattfinden. TC und ich werden darum nachher gleich nach Heidelberg fahren, um dabei zu sein.“ Dankbare Blicke richteten sich auf die beiden. Bei Obduktionen war keine Beamtin und kein Beamter gerne dabei. Es war aber dienstlich nötig und rechtlich vorgegeben. Von Markowetz war froh, dass sich Heidenreich persönlich in den Fall eingeschaltet hatte. Heidenreich war nicht nur ein ausgezeichneter forensischer Mediziner, sondern auch ein ausgewiesener Toxikologe.
TC setzte wieder ein: „Völlig unklar ist im Moment noch, ob der Tod im Sessel eintrat oder ob die Leiche dorthin geschafft wurde. Wenn Letzteres der Fall gewesen ist, muss ein Einzeltäter entweder sehr kräftig gewesen sein oder es waren mindestens zwei Täter. Bolsenhauser war etwa 1,80 m groß und zwischen 80 und 85 kg schwer. So jemanden bewegt man nicht so leicht von A nach B. Schleifspuren irgendwelcher Art haben wir in der Wohnung jedenfalls nicht gefunden.“ Sie schaute Michael Beste auffordernd an.
Der ergänzte sogleich: „Andere Spuren, die von Bedeutung sein können, waren allerdings jede Menge da, vor allem Fingerabdrücke. Offenbar hatte Dietrich Bolsenhauser am Freitag, am Samstag oder am Sonntag Gäste. Jedenfalls standen in der Küche noch jede Menge Gläser herum. Geschirr und Besteck war schon in der Maschine gespült worden. Beides befand sich noch darin. Offenbar sollte sich die Haushälterin, Frau Kovacs, um die Gläser kümmern. Von denen haben wir selbstverständlich Fingerabdrücke genommen und schon einmal durch die Datenbank gejagt. Bisher alle negativ. Vorsorglich haben wir alle Gläser mitgenommen. Falls es sich um einen Mord mit Gift handeln sollte, das flüssig eingenommen wurde, werden wir den Restinhalt aller Gläser untersuchen. Wir haben auch die Essensreste mitgenommen und mit einigen Analysen begonnen. Bisher auch sie alle negativ. Dietrich Bolsenhauser lebte allein, hatte aber offenbar eine Freundin. Jedenfalls waren im Bad jede Menge Utensilien, die Frauen so brauchen.“ Offenbar kokettierte Michael Beste mit dieser Bemerkung ein wenig mit seiner Unwissenheit bezüglich Frauen und zugleich mit seiner eigenen sexuellen Orientierung. Und dann schob er noch einen Spruch nach: „Jedenfalls war Dietrich Bolsenhauser zwar alleinstehend, aber nicht allein liegend. Im Schlafzimmer waren beide Betten benutzt und noch nicht gemacht.“
Yussuf Öztürk trug seinen Stuhl zurück an seinen Tisch und nahm Platz. Von Markowetz tat es ihm nach. TC, die zuletzt an der Wand gelehnt hatte, schaltete den Beamer aus. Dann befestigte sie mit Magneten die Fotos, die sie gerade gezeigt hatte, an der dafür vorgesehenen Wand. Schließlich setzte sie sich ebenfalls zurück in die Runde, in der inzwischen ein Gemurmel begonnen hatte. Als sich Öztürk erhob und zur Flipchart trat, die links neben der Projektionsfläche stand, erstarben die Gespräche. Neben seiner massigen Gestalt wirkte die Flipchart, die immerhin eine Größe von DIN A2 hatte, höchstens wie DIN A4.
„Das Fazit der bisherigen Ermittlungen“, sagte Öztürk und blickte dabei in die Runde, sind mehr Fragen als Antworten.“ Er hatte die Angewohnheit, am Anfang von Ermittlungen das Wichtigste für alle lesbar aufzuschreiben. Manche nannten ihn darum hinter vorgehaltener Hand „Professor Öztürk“. Yussuf Öztürk wusste das, ließ sich davon aber nicht beirren, sondern begann mit seiner Aufzählung. „Diese Fragen lauten:
Handelt es sich überhaupt um Mord?“
Er schrieb die Frage auf das erste Blatt der Flipchart und tat dies dann auch mit allen anderen Fragen, die er nacheinander aussprach, aber von denen er manche nur in Stichworten festhielt:
„Wenn es ein Mord war, was ist die Todesursache?
Wo trat der Tod ein?
Handelt es sich um eine Inszenierung?
Wenn ja, warum? Und was hat die Hortensie zu bedeuten?
Wenn es Mord war, warum war Dietrich Bolsenhauser das Opfer?
Wer hat Bolsenhauser zuletzt lebend gesehen? War es einer seiner Gäste? War es die Dame seines Herzens?
Gibt es ein Mordmotiv? Ist es in der beruflichen oder politischen Tätigkeit des Opfers zu finden? Oder in seinem privaten Umfeld?
Warum das Schild? Was bedeutet CF von M?“
Yussuf Öztürk schwieg einen Moment. Dann fragte er in die Runde: „Habe ich eine Frage vergessen, außer der offensichtlichen, die ich nicht aufzuschreiben brauche, nämlich: wer war’s?“ Als aus der Runde keine Antwort kam, setzte er sich wieder. Unter seinem Gewicht gab der Stuhl ein Ächzen von sich.
Von Markowetz legte sich fest: „Ich denke, dass wir von einem Tötungsdelikt ausgehen können. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand wegen eines makabren Scherzes solch eine Inszenierung veranstaltet. Die Frage dahinter ist vermutlich: Ist die Polizei schlau genug? Da will jemand zeigen, dass er besser ist als wir.“
Friedrich Landau warf ein: „Meines Erachtens geht es nicht bloß um die Polizei im Allgemeinen, sondern um Sie persönlich. Warum sonst der Hinweis auf dem Schild ‚Fragen Sie CF von M? Das sind Ihre Initialen. Gibt es zwischen Ihnen und Bolsenhauser eine persönliche Verbindung?“
Alle Blicke richteten sich auf von Markowetz. Der konnte das mit dem „Bolsenhauser-Bang“ in dieser Runde schlecht ausplaudern. Darum antwortete von Markowetz bloß lakonisch: „Während meines Jurastudiums in Heidelberg habe ich bei ihm Vorlesungen über Strafrecht gehört. Mehr Bekanntschaft war da nicht.“ Landau befriedigte diese Auskunft nicht: „Ja, aber warum steht CF von M auf dem Schild? Hat da jemand eine Rechnung mit Ihnen offen?“
Wieder schauten ihn alle an. Von Markowetz bewegte seinen Kopf abwägend hin und her. Gerade wollte er zu einer Erwiderung ansetzen als TC ihm zur Hilfe kam: „Das CF von M könnte auch Carl Friedrich von Münchhausen heißen. Vollständig hieß der bekannte Lügenbaron übrigens Hieronymus Carl Friedrich von Münchhausen. Will uns da jemand vielleicht einen Bären aufbinden, wie einst der Lügenbaron Münchhausen in seinen erfundenen Geschichten? Warum steht da MORD mit zwei Fragezeichen? Warum in Großbuchstaben? Vielleicht ist es doch kein Tötungsdelikt? Und dann doch bloß ein mehr als übler Scherz, eine makabre Lügengeschichte. Und wenn es ein Mord ist, dann könnte es sich um eine sehr außergewöhnliche, möglicherweise sehr schwer nachweisbare Tötung handeln. Und dann geht es darum, uns alle und nicht bloß von Markowetz an der Nase herumzuführen und saublöd aussehen zu lassen!“
Diese Argumentation hatte etwas. Etliche nickten zustimmend, selbst in den Blick von Friedrich Landau stahl sich so etwas wie Anerkennung. Wer wusste schon, ohne bei Wikipedia nachzuschauen, welche Vornamen der Baron von Münchhausen hatte? Es konnte ja keiner der Anwesenden wissen, dass sich TC gerade gestern mit ihrem Lebensgefährten Alexander zufällig über Münchhausen unterhalten hatte. Mit Alexander lebte sie in der Beiertheimer Allee in einer Vier-Zimmer-Wohnung zusammen. Von dort hatte er es nicht weit zum Goethe-Gymnasium, wo er die Fächer Deutsch und Geschichte unterrichtete. In einer sechsten Klasse hatte er im Deutschunterricht am Schuljahresende die Lügengeschichten des Barons von Münchhausen durchgenommen. Manchmal ging Alexander ihr mit seinem lexikonartigen Wissen ziemlich auf die Nerven. Man musste ihm nur ein Stichwort liefern, dann neigte er immer gleich dazu eine Vorlesung zu halten. Bisweilen war das aber auch ziemlich lehrreich. Jetzt hatte sie jedenfalls mit ihrem unfreiwillig erworbenen Wissen glänzen können.
Von Markowetz war ebenfalls beeindruckt, wollte aber das Augenmerk aller zurück auf die Fakten lenken: „Vermutlich würde sich der Verursacher der Inszenierung über das Ableben von Dietrich Bolsenhauser freuen, wenn er uns gerade hören könnte. Sie scheint uns ja alle sehr zu faszinieren. Wir sollten uns erst einmal auf die Tatsachen konzentrieren.“
„Das stimmt zwar“, meinte Michael Beste, „doch klar ist, dass die Aufschrift auf dem Schild rätselhaft ist und wir wohl das Rätsel lösen sollen. Außerdem sollten wir uns schon fragen, ob in der Verwendung von Hortensien bei der Inszenierung um den Tod von Bolsenhauser ein Hinweis steckt.“ „Ja,“ warf Friedrich Landau bärbeißig ein, „lasst Blumen sprechen! Oder auch: Sag es durch die Blume!“ „Schlagfertig ist er, das muss man ihm lassen!“, dachte von Markowetz. Michael Beste schaute auf seine Notizen: „Ich habe ein wenig recherchiert. Hortensie ist zunächst einmal ein Frauenname. Ihn gab es schon, bevor die Blume ebenfalls so genannt wurde. Der Name leitet sich von dem lateinischen Wort ‚hortus‘ ab, was Garten bedeutet. Der Frauenname bedeutet ‚die gerne im Garten ist‘. Ein Franzose hat im 18. Jahrhundert diesen Frauennamen der Blume verpasst. Interessant ist aber vor allem, dass sich hartnäckig das Gerücht hält, bestimmte Teile der Hortensie würden, wenn man sie raucht, eine cannabisartige Wirkung entfalten. Zuletzt hat das vor kurzem ein Journalist in einer Münchner Zeitung behauptet. Er heißt Christian Falsenhuber und lebt in München. CF von M würde auch auf ihn passen. Würde man übrigens die Hortensie tatsächlich rauchen, würde aus der Pflanze Blausäure frei. Die ist hochgiftig. Wir haben aber am Tatort und an der Leiche selber keinerlei Spuren von Blausäure feststellen können. Ich lehne mich jetzt trotzdem mal aus dem Fenster: Wenn es sich um ein Tötungsdelikt handelt, ist es eine Tötung mit Gift. Vielleicht ist doch irgendwie Blausäure im Spiel. In hoher Dosis wirkt Blausäure schnell tödlich. Es muss oral aufgenommen oder eingeatmet werden. Wenn die Tötung durch Blausäure erfolgt ist, muss die Vergiftung durch jemand erfolgt sein, der sich leicht Zugang zum Haus verschaffen konnte und das Vertrauen von Bolsenhauser hatte. Nach einer ersten Einschätzung von Dr. Heidenreich ist Bolsenhauser am Sonntag zwischen 20.00 und 22.00 Uhr gestorben. Genaueres wissen wir aber erst nach der Obduktion.“
Von Markowetz sprach aus, was alle dachten: „Das sehe ich auch so. Bevor wir die Aufgaben konkretisieren und verteilen, sollten wir uns noch kurz über Bolsenhauser unterhalten. Weiß jemand etwas über ihn, was in den letzten Wochen und Monaten nicht in der Zeitung stand?“
Alle, die schon länger bei der Kriminalpolizeidirektion arbeiteten und aus Karlsruhe stammten, sahen unverhohlen Anneliese Löffler an. Die galt im Hause als der heimliche Karlsruher Stadtanzeiger. Wenn jemand in und über Karlsruhe Bescheid wusste, dann war sie es. Sie spürte, dass sich viele Blicke auf sie richteten. Sie errötete leicht, sah dann aber selbstbewusst von ihrem Laptop auf, in dem sie bisher das Protokoll festgehalten hatte: „Also, wenn ich mich recht erinnere, gab es vor ungefähr fünf Jahren ein Scheidung bei den Bolsenhausers. Zeitweilig war da ein ziemlicher Rosenkrieg im Gange. Der Auslöser war ein Klassiker. Die Gattin erwischt den Gemahl in flagranti mit der Sekretärin, die zwanzig Jahre jünger ist als sie. Und das auch noch im Ehebett. Irgendwie hat es dann aber eine finanzielle Einigung gegeben, die zumindest dazu führte, dass er in dem einst gemeinsam bewohnten Haus blieb. Sie zog mit den Kindern, die jetzt wohl studieren, in eine gemeinsame Bleibe irgendwo in Durlach. Bei dem Rosenkrieg stellte sich übrigens heraus, dass Bolsenhauser auch sonst jede Menge Affären hatte.“
Von Markowetz ließ diese Informationen unkommentiert stehen und wandte sich mit einer Frage an Yussuf Öztürk und Carla Carlotta Carlson: „Wann soll heute die Haushälterin zur Zeugenvernehmung kommen? Wie hieß sie noch gleich?“ „Anna Kovacs“, antwortete TC. Und Yussuf fügte hinzu: „Um zehn.“
„Gut“, fuhr von Markowetz fort und blickte in die Runde, „gibt es noch Fragen?“ Mittlerweile war die schwülwarme Luft ganz im Vortragsraum angekommen. Einige hatten schon ihre Hemdsärmel hochgekrempelt, andere fächerten sich mit Papier Luft ins Gesicht. Offenbar wollten alle möglichst bald dem nichtklimatisierten Raum entkommen und ihrer Arbeit nachgehen. Fragen gab es genug, die nun erst einmal zu klären waren. So machte sich von Markowetz daran, die Aufgaben zu benennen und zu verteilen:
„Herr Landau, würden Sie bitte mit ein paar Leuten alles zu Dietrich Bolsenhauser zusammentragen? Lebenslauf, Befragung der Nachbarn, der ehemaligen Frau und der Kinder, ehemalige Freundinnen und Geliebte und der jetzigen Freundin des Opfers. Rekonstruktion der letzten 48 Stunden vor seinem Tod. Es wäre auch wichtig herauszufinden, wer bei Bolsenhauser zu Gast war. Ich habe eine Idee, wer das gewesen sein könnte, und werde mich darum kümmern.“ Friedrich Landau nickte nur.
„Herr Beste und Herr Lembowski, Sie bitte ich, die gesammelten Spuren weiter auszuwerten, vielleicht finden Sie ja Hinweise auf den Einsatz von Gift. Bitte auch das Übliche: Telefonverbindungen sowohl vom Festnetz wie vom Handy, Bankkonten des Verstorbenen, Laptop und/oder Computer.“ Die beiden nickten ebenfalls bloß.
„Carla Carlotta Carlson und Yussuf Öztürk fahren heute gleich im Anschluss nach Heidelberg, um bei der Obduktion dabei zu sein. Ich werde Anna Kovacs als Zeugin vernehmen. Das Protokoll der Vernehmung sowie das dieser ersten Besprechung wird unter „Dietrich Bolsenhauser“ archiviert und kann dort jederzeit eingesehen werden. Ich bitte darum, alle relevanten Ergebnisse und Protokolle sobald wie möglich ebenfalls dort einzustellen, damit alle Zugriff darauf haben. Wenn es keine weiteren Fragen gibt, sehen wir uns morgen um 8.00 Uhr wieder.“
Die Mitglieder der Mordkommission legten ihre Masken an und verließen den Vortragsraum. Friedrich Landau drehte sich auf der Schwelle nochmals um, sah von Markowetz aus wenigen Metern Entfernung direkt an und sagte so laut, dass es sicherlich noch einige mitbekamen: „Ich denke immer noch, dass Sie mit dem CF von M auf dem Schild gemeint sind!“ Dann machte er auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum.
Yussuf Öztürk, TC und Anneliese Löffler, die noch im Raum waren, sahen von Markowetz ebenfalls fragend an. Der zuckte aber nur mit den Achseln und sagte zu Yussuf: „Ich wäre dankbar, wenn du mich nach der Obduktion kurz anrufen und mich informieren könntest, was sie ergeben hat.“ „Ja, mach‘ ich!“, antwortete der nur knapp. Er und TC verabschiedeten sich von Anneliese Löffler und von von Markowetz und verließen ebenfalls den Raum.
Anneliese Löffler, die ihren Laptop schon unter dem Arm hatte, fragte: „Chef, soll ich Ihnen einen Kaffee in Ihr Büro bringen?“ „Ja, das wäre prima. Und seien Sie bitte nachher bei der Zeugenvernehmung der Anna Kovacs dabei. Die kommt ja um zehn.“ Er schaute auf die Uhr an seinem linken Handgelenk: „Bis dahin ist noch genug Zeit für ein Telefonat.“
4. August 2020, vormittags, auf dem Weg nach Heidelberg
Yussuf Öztürk lehnte sich lässig an den Dienstwagen und rauchte eine Zigarette. Er trank keinen Alkohol, aber dieses Laster gönnte er sich hin und wieder. Auf den Alkohol verzichtete er weniger aus religiösen als aus sportlichen Gründen. Zwar verstand er sich als Muslim, allerdings nicht als ein besonders frommer. Öztürk schaute auf seine Armbanduhr. Gerade dachte er - „Warum brauchen Frauen immer so viel länger als Männer, um ihr Geschäft zu verrichten?“ – da ging die Tür auf und Carla Carlotta Carlson kam heraus. An der linken Schulter baumelte eine schwarze Handtasche an einer langen Kette. Den Arm hatte sie leicht angewinkelt. Darüber hing eine Jacke. Bei der Obduktion würde es kühl sein. Die rechte Hand hatte sie in die Vordertasche ihrer Jeans gesteckt. Wie er trug sie ihre Dienstwaffe in einem Holster an ihrer rechten Hüfte. Sie schlenderte auf ihn zu. Ihre straffe, aber üppige Brust, die sich deutlich unter ihrem weißen T-Shirt abzeichnete, wippte dabei leicht. TC gefiel ihm - als fähige Kollegin und als Frau.
Öztürk zog ein letztes Mal an seiner Zigarette und warf den Rest auf den Boden, wo er sie austrat. Er nahm seine Jacke von der Schulter, die auch er wegen des kühlen Sezierraumes im Institut der Rechtsmedizin dabeihatte. Er öffnete die rechte hintere Tür des Dienstwagens und warf seine Jacke auf den Rücksitz. „Wer fährt?“, fragte TC. Bei der Frage ging Yussuf auf, dass sie beide noch nie in einem Fahrzeug nebeneinander gesessen hatten. Offenbar waren sie bisher immer getrennt oder mit anderen zu ihren gemeinsamen Einsätzen gefahren. „Fahr du!“, meinte Yussuf, der sich inzwischen wieder umgedreht und zu seiner vollen Größe aufgerichtet hatte. Er gab ihr den Autoschlüssel. „Beim Schalten würde ich dir mit dem Ellbogen in die Seite boxen.“ Er grinste schief. „Okay“, sagte sie, ging um den Wagen herum, warf ebenfalls ihre Jacke sowie ihre Handtasche auf den Rücksitz, setzte sich auf den Fahrersitz und startete den Motor des Mercedes. Als er seinen massigen Körper neben sie auf den Beifahrersitz gezwängt hatte, verstand sie, was er meinte. Seine breiten Schultern berührten fast die ihren. Schließlich legte sie den Rückwärtsgang ein, lenkte den Wagen aus der Parklücke und fuhr los.
Als sie schließlich auf der A5 Richtung Heidelberg unterwegs waren, meine TC endlich: „Komischer Fall. An der Leiche keine Spuren äußerer Gewalteinwirkungen. Ein gestandener Jurist und OB-Kandidat mit einer Hortensie in der Hand. Und dann dieses Schild mit den kryptischen Hinweisen. Ich kann mir keinen Reim darauf machen.“ Yussuf schwieg. Sie konnten beide nur das aufwärmen, was sie zuvor beim ersten Treffen der Mordkommission selbst gesagt oder erfahren hatten. Trotzdem brach er schließlich sein Schweigen: „Naja, vielleicht ist der Täter ja eine Täterin. Keine Ahnung. Jedenfalls bin ich auf die Obduktion und deren Ergebnis gespannt. In einem der schlauen Lehrbücher über Kriminalistik steht bekanntlich ‚Mittel vor Motiv‘. Das gilt hier bestimmt. Wenn es eine Tötung ist, müssen wir erst einmal wissen, welches Mittel dafür eingesetzt wurde. Vielleicht sagt uns das etwas über das Motiv.“
TC nickte. Nach kurzem Zögern wechselte sie das Thema: „Sag mal, du kennst doch unseren Chef besser als jeder anderer bei uns. Ich schätze ihn. Er kann was. Er behandelt alle mit Respekt. Keine der Frauen bei uns wird von ihm angemacht oder von oben herab behandelt. Er hat aber auch etwas Distanziertes. Manche meinen, er hielte sich für was Besseres. So nach dem Motto: Adel verpflichtet! Apropos Adel. Wie kommt das ‚Von‘ überhaupt in seinen Namen?“
Öztürk überlegte, ob er TC sagen sollte, was er dazu wusste. Als Friedrich Landau seine letzte Feststellung hinknallte und dann den Raum verließ, hatte er von Markowetz kurz angeblickt. In den Augen seines Freundes lag ein Schmerz, den er nur zu gut kannte. Wenn das ‚Fragen Sie CF von M‘ persönlich gemeint war, dann wusste jemand genau, wie er Carl Ferdinand von Markowetz treffen konnte. Dieser hatte Yussuf einmal in einem sehr vertraulichen Gespräch seine Familiengeschichte erzählt. Da waren sie längst gut miteinander befreundet. Wenn von Markowetz seine Familiengeschichte weitergeben wollte, sollte er es selber tun. Darum hielt sich Yussuf Öztürk zurück und gab nur eine grobe Auskunft: „Alter pommerischer Landadel oder so ähnlich. Seine Familie hat einmal ein großes Gut in Hinterpommern besessen und es, wie so viele andere in ähnlichen Verhältnissen, durch den Zweiten Weltkrieg verloren.“
Sie fuhren eine Weile schweigend weiter. Die A5 war, wie so oft, stark befahren. Als sie das Walldorfer Kreuz hinter sich gebracht hatten, brach TC erneut das Schweigen. „Darf ich dich was Persönliches fragen?“ Yussuf antwortete lapidar: „Klar, schieß los.“ Jetzt zögerte TC doch ein wenig, weil sie nicht übergriffig sein wollte, fragte dann doch: „Bist du eigentlich verheiratet?“ „Glücklich geschieden, keine Kinder. Was das Persönliche sonst anbelangt … seit ein paar Monaten bin ich mit einer Lehrerin liiert. Sie unterrichtet an der Gartenschule. Wir haben getrennte Wohnungen. Das wird auch so bleiben. Sie ist ebenfalls geschieden, keine Kinder. So, Ende der Lebensbeichte. Und bei dir?“ Carla Carlotta Carlson schmunzelte. „Nun, ich bin seit ein paar Jahren mit Alexander zusammen. Ebenfalls Lehrer. Lieber Kerl, und er weiß sooo viel!“
Sie verdrehte die Augen. Beide lachten, verfielen dann erneut in kurzes Schweigen, das Yussuf mit einem Vorschlag beendete: „Bevor wir bei der Obduktion dabei sind, brauche ich was zu essen. Mit leerem Magen halte ich das nicht aus. In der Bergheimer Straße in Heidelberg gibt es einen Griechen. Der hat ordentliche Portionen und das Essen ist gut. Von da ist es nicht mehr weit zum Institut für Rechtsmedizin in der Voßstraße.“ „In Ordnung“, antwortete TC und bog beim Heidelberger Kreuz auf den Zubringer ab, der in die Bergheimer Straße mündet. Vor dem Restaurant angekommen, parkte sie und stellte den Motor ab. Mit dem Schlüssel in der Hand wollte sie schon aussteigen, wandte sich dann aber doch noch einmal an Yussuf und fragte ihn unvermittelt: „Sag mal, würdest du jemand eine Hortensie schenken?“ Yussuf überlegte kurz und sagte dann: „Meiner Mutter vielleicht für den Garten. Anderen Frauen bestimmt nicht, eher Rosen oder so.“ Er öffnete die Wagentür und fügte, bevor er aus dem Wagen stieg, hinzu: „Und einem Mann schon gar nicht, erst recht nicht, wenn er bereits mausetot ist.“
4. August 2020, vormittags, Karlsruhe
Während Carla Carlotta Carlson und Yussuf Öztürk auf dem Weg nach Heidelberg waren, rief von Markowetz Bernhard Kämpfer an. Sie waren Studienfreunde. Kämpfer machte seinem Namen alle Ehre. Er hatte bei der letzten Bundestagswahl das Direktmandat für die CDU im Wahlkreis Karlsruhe-Stadt gewonnen und galt als einer der Hoffnungsträger der CDU. Manche sahen in ihm sogar einen möglichen Bundeskanzler. In Karlsruhe war er CDU-Kreisvorsitzender. Er hatte maßgeblich dafür gesorgt, dass Dietrich Bolsenhauser für seine Partei als OB-Kandidat nominiert worden war.
Nach einer kurzen Begrüßung war Kämpfer am Telefon gleich zur Sache gekommen: „Ich kann mir schon denken, warum du anrufst. Schrecklich, das mit Bolsenhauser. Bist du mit dem Fall betraut?“ Auch von Markowetz hatte keine Zeit zu verschenken: „Ja, ich leite die Mordkommission. Hör mal, ich hab‘ da ein paar Fragen, die du mir wahrscheinlich beantworten kannst. Allerdings nicht am Telefon. Können wir uns möglichst bald treffen? Am besten nicht in der Öffentlichkeit und auch noch nicht offiziell in der Kriminalpolizeidirektion.“ Kämpfer war für so viel Diskretion dankbar. Nach kurzem Nachdenken schlug er vor: „Ich habe heute um zwölf im Rathaus einen Termin. Wie wär‘ es gegen halb zwei in St. Stephan?“ „Ungewöhnlicher Ort, aber warum nicht?“ Sie hatten sich kurz verabschiedet und dann beide fast zeitgleich aufgelegt.
Von Markowetz hatte das Telefonat gerade beendet als Anneliese Löffler nach kurzem Anklopfen in sein Büro trat. Sie trug auf einem Tablett eine große Tasse mit dampfenden Kaffee herein, dazu Milch, Zucker und auf einem kleinen Teller Kekse mit Schokoladenüberzug auf einer Seite. Er liebte diese Kekse, vor allem, wenn er an seinem Schreibtisch arbeitete und dabei konzentriert nachdachte. Anneliese Löffler hatte sich schon gut auf seine Gewohnheiten und kleinen Marotten eingestellt. Sie hätte ihm zwar lieber, das wusste er, ein Stück Torte gebracht. Da er aber gleich beim ersten Mal, als sie ihn dazu überreden wollte, energisch auf seinen Lieblingskeksen bestand, hatte sie alle weiteren Versuche unterlassen.
Er sah vom Schreibtisch zu ihr auf. „Danke, Anneliese!“ „Bitte, gern geschehen.“ Sie meinte das wirklich. So viel Zuwendung, wenn man es immer wieder mit Mord und Totschlag zu tun hatte, tat gut. Sie stellte das Tablett auf dem Schreibtisch ab. Bevor sie hinausging, sagte sie noch kurz: „Ich bringe Anna Kovacs nachher zu Ihnen. Ich nehme an, dass Sie die Zeugin hier in Ihrem Büro vernehmen wollen und ich das Protokoll aufnehme.“ „Ja, so machen wir es.“, antwortete er mit einem kurzen Nicken.
Als seine Sekretärin die Tür zu seinem Büro hinter sich geschlossen hatte, goss er Milch in seinen Kaffee, tat wenig Zucker hinein, rührte um, gönnte sich einen großen Schluck und schob sich einen Keks in den Mund. Während er kaute, las er auf dem Bildschirm seines Computers die Protokollnotiz, die Yussuf Öztürk gestern nach der kurzen Vernehmung der Zeugin Kovacs verfasst hatte:
Zunächst hatte Yussuf die Angaben von Bolsenhausers Haushälterin zum Auffinden der Leiche festgehalten und nach ihrem Alibi gefragt: „Die Zeugin Anna Kovacs gibt an, am Sonntag, 2. August 2020 kurz vor 20.00 Uhr per Flugzeug aus Zagreb, ihrer Heimatstadt, zurückgekehrt und auf dem Baden-Airpark gelandet zu sein.“ Dann folgte ein Vermerk, dessen Inhalt er schon kannte: „Da Frau Kovacs unter Schock steht, haben Frau Carlson und ich sie gebeten, am 4. August 2020 um 10.00 Uhr in die Kriminaldirektion zu kommen und ihre Zeugenaussage offiziell zu Protokoll zu geben. Danach haben wir sie von zwei Kollegen aus Durlach nach Hause bringen lassen.“
Von Markowetz schaute auf die Uhr. Bis zur Vernehmung der Zeugin Anna Kovacs waren noch gut fünfzehn Minuten Zeit. Er schob sich einen zweiten Keks in den Mund und öffnete das nächste Dokument. Yussuf hatte gestern, als er selber wohl schon zu Hause bei Sarah gewesen war, noch das Alibi von Anna Kovacs überprüft. „Tüchtiger Mann!“, dachte von Markowetz. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Person, die die Leiche angeblich gefunden auch den Mord begangen hatte. Im Aktenvermerk von Öztürk war zu lesen: „Die Überprüfung des Alibis von Frau Anna Kovacs ergab keine Unstimmigkeiten. Die Fluggesellschaft bestätigte, dass die Zeugin sich an Bord ihrer Maschine befand. Die Nachfrage bei den Kollegen von der Bundespolizei ergab, dass Frau Kovacs nach dem Verlassen des Flugzeugs auf verschiedenen Überwachungsvideos zu sehen ist. Kopien dieser Videos wurden als Beweismaterial angefordert. Die Bestätigung der Fluggesellschaft liegt per E-Mail vor.“