Die Hummerkönige - Alexi Zentner - E-Book

Die Hummerkönige E-Book

Alexi Zentner

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Beschreibung

Sie sind die Familie Kings, die Könige von Loosewood Island. Dieser ungestümen Insel zwischen Nova Scotia und Maine. Karg ist es hier, ursprünglich, rau. Doch die Kings sind mit dem Reichtum des Meeres gesegnet und widmen sich hier seit nunmehr dreihundert Jahren dem Hummerfang. Als Brumfitt Kings, der erste der Familie auf die Insel kam, konnte er, so heißt es, das letzte Stück zu Fuß zurücklegen. Denn es gab hier so viele Hummer, sie bildeten mit ihren Panzern eine Brücke und bahnten ihm einen Weg durch das Wasser. Heute will sich Cordelia Kings auf Loosewood Island und als Hummerfischerin behaupten. Sie will beweisen, dass sie die Königin der Insel sein kann: sich selbst, ihrem Vater – und ihrem verheirateten Steuermann. Doch das erweist sich als schwieriger als gedacht, denn seit jeher lastet ein Fluch auf den Kings – und der fordert Opfer, und beeinflusst das Leben der Familie nicht minder als das unergründliche, alles verschlingende Meer …

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Zum Buch

Sie sind die Familie Kings, die Könige von Loosewood Island. Dieser ungestümen Insel zwischen Nova Scotia und Maine. Karg ist es hier, ursprünglich, rau. Doch die Kings sind mit dem Reichtum des Meeres gesegnet und widmen sich hier seit nunmehr dreihundert Jahren dem Hummerfang. Als Brumfitt Kings, der Erste der Familie, auf die Insel kam, konnte er, so heißt es, das letzte Stück zu Fuß zurücklegen. Denn es gab hier so viele Hummer, sie bildeten mit ihren Panzern eine Brücke und bahnten ihm einen Weg durch das Wasser. Heute will sich Cordelia Kings auf Loosewood Island und als Hummerfischerin behaupten. Sie will beweisen, dass sie die Königin der Insel sein kann: sich selbst, ihrem Vater – und ihrem verheirateten Steuermann. Doch das erweist sich als schwieriger als gedacht, denn seit jeher lastet ein Fluch auf den Kings – und der fordert Opfer und beeinflusst das Leben der Familie nicht minder als das unergründliche, alles verschlingende Meer …

Zum Autor

ALEXI ZENTNER wuchs im kanadischen Kitchener, Ontario, auf. Seine Kurzgeschichten wurden u. a. mit dem O. Henry Prize und dem Narrative Prize ausgezeichnet. Sein Debütroman »Das leise Flüstern des Schnees« war für zahlreiche der renommiertesten Literaturpreise nominiert und erschien in 12 Ländern und 10 Sprachen. Alexi Zentner lebt mit seiner Frau und den beiden gemeinsamen Töchtern in Ithaca, New York. Er hat sowohl die kanadische als auch die amerikanische Staatsbürgerschaft.

Alexi Zentner

Die Hummerkönige

Roman

Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence

Die englische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel The Lobster Kings bei W. W. Norton & Company.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2017

Copyright © 2014 by Alexi Zentner

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by btb Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © (Wasser, Boot) mauritius images/Radius Images/Atli Mar Hafsteinsson;

© (Leuchtturm, Landschaft) Masterfile/robertharding

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

AH · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-20849-3V001www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

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Dieses Buch ist allen Männern und Frauen gewidmet, die vom Wasser leben.Und Laurie, Zoey und Sabine.

Prolog

Wir sind die Kings, und wenn es auf Loosewood Island so etwas wie eine Königsfamilie gibt, kommen wir dem am nächsten. Es heißt, als der Erste von uns, der Maler Brumfitt Kings, vor fast dreihundert Jahren Loosewood Island betrat, war das Meer so voller Hummer, dass er den Weg von Irland nur zur Hälfte mit dem Schiff zurücklegen musste: Den Rest ging er zu Fuß, die Hummer bauten ihm mit ihren Rücken eine Straße. Wie Jesus wandelte er übers Wasser, nur dass er kein Brot fand. Hummer gab es im Überfluss. 1720 war das Meer voll von ihnen, und das in Größen, wie sie heute niemand mehr kennt. Um seinen ersten Hummer zu fangen, brauchte Brumfitt kein Boot und keine Ausrüstung, er ging einfach bei Ebbe hinaus und holte sich einen Zehn- oder Zwanzigpfünder, vielleicht war das Ding auch noch schwerer. Er fing anderthalb Meter große Exemplare. Als ich ein Kind war, hörte ich die alten Männer unten am Hafen und bei Tisch erzählen, dass ihre Großväter seitlich an die Bootsschuppen genagelte Hummerscheren gesehen hätten, die groß genug gewesen seien, um den Kopf eines Mannes zu zerdrücken. Heute sind die Hummer kleiner, doch die Kings sind immer gut mit ihnen gefahren. Während meiner Schulzeit wurde uns erklärt, die Hummer seien früher Billigfleisch gewesen, um sich den Magen zu füllen, aber das ist kaum zu glauben. Daddy und ich, wir gehen beide auf Hummerfang, und er hat uns drei Mädchen mit dem Hummergeld großgezogen. Ziemlich gut hat er uns großgezogen. Carly, die Jüngste, unterrichtet seit ein paar Jahren in Portland. Daddy hat sie aufs Colby College geschickt, für einen Haufen Geld, mit dem er auch ein drittes Boot hätte kaufen können. Rena, die Mittlere, ist wie so viele von der Insel, die die USA und Kanada gleichermaßen als Eigentum betrachten, auf beiden Seiten der Grenze zur Schule gegangen, zuerst auf die Schwesternschule der Dalhousie University in Halifax, dann hat sie sich an der University at Albany, die zur SUNY gehört, zur Bilanzbuchhalterin ausbilden lassen. Heute ist sie verheiratet und zurück auf der Insel, wo sie einen Fischladen leitet und uns die Bücher führt. Ihr Mann Tucker ist eigentlich Architekt, arbeitet jedoch als Achtermann mit auf Daddys Boot. Ich bin die Dritte und Älteste, war auch auf dem College und habe Kunst studiert, aber so gern ich male, wollte ich doch nie etwas anderes als Loosewood Island auf die Leinwand bannen, wollte immer nur hier sein, über dieselben Strände und Wege gehen, dieselbe berühmte Landschaft malen, die auch Brumfitt Kings gemalt hat, und, Mädchen hin oder her, aufs Meer hinaus und wie Daddy und dessen Daddy vor ihm leben, wie alle Kings bis zurück zu Brumfitt. Die Könige des Ozeans. Die Hummerkönige. Ich habe zwei Schwestern, aber ich bin es, die mit Daddy auf Hummerfang fährt, Cordelia Kings, die Thronerbin.

Daddy sagt gern, dass du die Vergangenheit und die Zukunft der Kings auf Brumfitts Bildern findest. Du musst nur wissen, wo du hinzusehen hast. Manchmal frage ich mich, ob sich Brumfitt eine Zukunft mit mir auf dem Wasser vorstellen konnte und ob er tatsächlich vorausgesagt hat, dass eines Tages eine Frau die Krone der Kings übernehmen würde. Als ich Daddy von meinen Zweifeln erzählt habe, hat er nur gelacht und gesagt, Brumfitt habe alle Erinnerungen von Loosewood Island gemalt, auch die, zu denen es erst noch komme, ich müsse mir nur die richtigen Bilder ansehen. Aber das ist das Problem. Wenn ich spätabends wach bin und mich wegen des Erbes und der Bürde sorge, eine Kings zu sein, fühlt es sich zu sehr wie Teesatzleserei an, zu sehr nach Glückskeksen, die Bilder Brumfitts zu studieren: Auf ihnen finde ich alles Mögliche, was ich will. Jede erdenkliche Zukunft ist in den Gesammelten Werken Brumfitt Kings’ verborgen, ich muss die Bilder bloß in der korrekten Anordnung lesen.

Ein Teil meiner Grüblerei heute liegt an der Hitze, die sich über die Insel gesenkt und mich aus dem Haus getrieben hat. Es ist spät, so spät, dass es bald schon wieder früh ist, und ich habe es aufgegeben, mich in den verdrehten, verschwitzten Laken hin und her zu werfen. Stattdessen sitze ich vorn auf der Hafenmauer, und Trudy, mein Hund, läuft hinter mir auf und ab. Ich wünschte, ich könnte ihm erklären, dass ich einfach nur rastlos bin, wegen der Hitze nicht schlafen kann und wir nicht mit der Kings’ Ransom zum Hummerfangen hinausfahren wollen. Ich höre Trudy hinter mir keuchen, aber ich zwinge mich, aufs Wasser hinauszusehen und das Wetterleuchten am Himmel zu verfolgen, statt mich umzudrehen und zu tun, was ich wirklich tun möchte: den schiefen Ellbogen Häuser anstarren, die den Hafen einfassen. Das bei der Schulter ist Daddys Haus, er hat das Licht unten im Arbeitszimmer angelassen. Am Handgelenk wohnt Rena. Seit Stunden schon ist es bei ihr dunkel, meine Schwester, ihr Mann und die Zwillinge schlafen. Und da ist auch Kennys Haus. Kenny Treat, seit fünf Jahren mein Achtermann, liegt mit seiner Frau im Bett.

Draußen über dem Wasser ergießt sich das Leuchten in zackigen, verzerrten Linien, als zeichnete jemand einen Kreislauf in die Nacht, lautlos, ohne Donner, von Regen keine Spur. Wenn ich ein Brumfitt-Bild aussuchen sollte, das zu diesem Wetter passt, würde ich Gottes Zorn nehmen, aber Gottes Zorn erklärt nicht die Schwindelanfälle, die Daddy zuletzt hatte, und es sagt mir auch nicht, was dran ist an dem Gerede, dass James Harbor mit seinem Drogenhandel in unsere Breiten vordringt. Und in all den Büchern auf meinem Regal findet sich nicht ein Bild Brumfitts, das mir sagt, was ich über Kenny Treat hören will oder wie ich mit meinen Schwestern umgehen soll. Es gibt kein Brumfitt-Bild, das die Hitze dieser Nacht verscheucht. Keine verborgenen Nachrichten im Wetterleuchten. Ich bin allein mit Trudy, sitze auf der Hafenmauer, und das Lichterspiel am Himmel spiegelt sich im Wasser. Aber die Blitze – ja, da meldet sich der erste Donner –, die sagen mir auch ohne Brumfitt, dass ein Gewitter aufzieht.

Meine erste Erinnerung trägt mich zurück auf ein Boot. Ich war noch klein genug, dass Daddy mir aus einem Zweig eine Angelrute geschnitzt hatte, aber vielleicht war es auch nur ein Stock mit einem Stück Schnur. Jedenfalls erfüllte es seinen Zweck: Ich warf meinen Haken aus und erwischte Daddys Unterlippe. Das Metall drang ganz durchs Fleisch, Blut kam aus Daddys Mund, und der silberne Blinker glitzerte in der Sonne. In meiner Erinnerung habe ich geweint, als er mich anschrie, doch er sagt, es war andersrum: Er hat mich angeschrien, weil ich geweint habe, was sehr nach meinem Vater klingt. Warum wir, er und ich, allein auf dem Boot waren und was meine Schwestern zu der Zeit machten (»Wahrscheinlich warteten sie zu Hause bei deiner Momma darauf, dass dein Bruder geboren wurde«), weiß er nicht mehr, obwohl er praktisch für jeden Tag während der letzten vierzig Jahre sagen kann, welches Wetter herrschte und wann wir Ebbe hatten. Er sagt, deshalb hat er Momma geheiratet: damit er jemanden hatte, der sich für ihn an Dinge wie Geburtstage erinnerte. Anders spricht er über meine Mutter nicht mehr. Als wäre sie eine Art Streich, den er sich erlaubt hat.

Wir waren nicht mit Daddys Hummerboot, der Queen Jane, draußen. Das weiß ich noch. Das Boot war klein, ein Skiff oder etwas Geliehenes, und ich hatte nasse Füße von dem Wasser, das unten drin herumschwappte. Ich erinnere mich, dass mir kalt war, aber auch da irre ich mich laut meinem Vater. Es war Anfang Juni, sagt er, die Zeit, wenn die Hummer sich zwischen die Felsen drücken und ihnen neue Panzer wachsen. Loosewood Island hat ein paar Eigenheiten, was die Hummersaison angeht, hier gibt es einen Fangstopp von Juni bis Mitte August. Also hatte mein Vater nichts anderes zu tun, als die Hummerkörbe, die Fallen, mit denen wir arbeiten, und die Queen Jane zu überholen. Da lag noch viel Stillstand vor ihm, genug Zeit, um mit mir fischen zu fahren.

Er schnitt die Schnur mit dem Messer ab, das er immer an seinem Gürtel trug (oder an der Öljacke, wenn er arbeitete), und sagte mir, ich solle aufhören zu weinen. Seine Stimme war jetzt sanft und ruhig, der Blinker hing ihm blutig von der Lippe. Ich legte meine Angelrute ins Boot, schniefte und rieb mir mit dem Ärmel über die Nase. Eine Weile probierte er mit dem Haken herum, um zu sehen, ob er ihn durch das Einstichloch wieder herausbekam, aber ich hatte ihn sauber erwischt, und der Widerhaken war bis auf die andere Seite gestoßen. Die durchtrennte Angelschnur wehte wie eine Luftschlange in der leichten Brise. »Da hast du aber einen Kaventsmann gefangen, mein Schatz«, sagte er zu mir. Der Haken in seiner Lippe ließ seine Worte zu einem blutigen Murmeln werden, er lächelte, und der Blinker wackelte in der Sonne. Das Metall blitzte, und ich verspürte den Drang, danach zu greifen, eine kleine Elster, behielt die Hände aber unten. Daddy holte die Ausrüstungskiste hervor und suchte darin herum, ruhig und überlegt, als hätte er meinen Haken nicht in sich stecken. Das Blut floss, tropfte, tropfte, tropfte sein Kinn herunter in die Bilge des Bootes. Dort vermischte es sich mit dem Meerwasser, das mir die Füße nassgemacht hatte, und vernebelte es in seltsamen Wolken. Mein Vater nahm eine Zange aus der Kiste und sagte: »Damit wird es gehen.«

Vorsichtig zog er an seiner Lippe und führte die Zange an den Haken. Eine Sekunde lang dachte ich, er wollte ihn einfach herausreißen, aus dem Fleisch, und hätte ich nicht so viel Angst gehabt, hätte ich wieder zu weinen begonnen. Aber er benutzte den Drahtschneider und kniff den Haken ab, legte den Blinker zur Seite und holte das noch in der Lippe steckende Stück heraus, indem er den Widerhaken fasste und das abgekniffene Ende nach innen aus dem Fleisch zog. Kaum dass er sich von dem Haken befreit hatte, floss das Blut stärker. Trotzdem war er so vorsichtig, zunächst den Blinker und das scharfe Ende des abgekniffenen Hakens in den Ausrüstungskasten zu legen, damit niemand versehentlich darauf trat. Es war genau die sorgfältige Bedächtigkeit, die ihm auch als Hummerboot-Kapitän bei Unglücken und Rettungsaktionen zugutekam. Erst dann zog er sein Hemd aus, legte es zu einer Bandage zusammen und drückte es sich auf die Lippe.

»Wir fahren am besten zurück, mein Schatz«, sagte er zu mir. »Es wäre nicht schlecht, wenn sie das saubermachten und prüften, ob es genäht werden muss. Es ist eh bald so spät, dass deine Momma nach uns schaut. Nach mir, meine ich, damit ich ihr mit deinen Schwestern helfe. Und wer weiß«, er zwinkerte mir zu, »vielleicht ist das Baby ja schon unterwegs.«

Diese Erinnerung, wie ich mit Daddy geangelt habe, vermischt sich mit der, wie ich meinen neugeborenen Bruder zum ersten Mal sah, wobei ich natürlich weiß, dass es zwei unterschiedliche Ereignisse waren. Es muss etwa eine Woche nach dem Angelausflug gewesen sein, dass Scotty aus dem Krankenhaus kam. Die kleinen, hässlichen Stiche in Daddys Lippe wurden nur zum Teil von seinem sprießenden Bart verdeckt. Ich erinnere mich, wie ich an Deck der Queen Jane stehe und meinem kleinen Bruder zum ersten Mal begegne. Aber das ergibt keinen Sinn: Wie kann Momma da nicht bei dem Baby gewesen sein? Nun, damals fühlte es sich ganz normal an, ohne Momma draußen auf der Queen Jane zu sein und auch ohne meine Schwestern. Ich bin sicher, es war sonst niemand an Bord. Ich bin sicher, da waren nur Daddy, mein Bruder und ich.

Daddy saß auf dem Kapitänssitz und wiegte das Baby. Scotty schrie, es war die typische Art Quengeln eines Neugeborenen, und ich dachte: Er mag es hier nicht, mag das Boot nicht, er möchte nicht auf dem Wasser sein. Bereits in diesem Moment begriff ich, dass er meinen Schwestern glich: Scotty gehörte genauso wenig auf die Queen Jane wie sie. Als mir das bewusst wurde, hob mich Daddy auf seinen Schoß, und ich dachte: Daddy sieht es auch. Ich erinnere mich, wie es sich anfühlte, mich an ihn zu drücken und auf Scotty hinunterzuschauen, spüre die Freude darüber, diese Erkenntnis mit Daddy zu teilen, und den Glauben daran, dazu auserwählt zu sein, mit ihm aufs Wasser hinauszufahren. Daddy war ein liebevoller Vater, aber ganz sicher kein verschmuster, und auf seinem Schoß zu sitzen war ein seltenes Privileg. Ich fühlte mich wie ein einfacher Bürger, der auf dem Thron Platz nehmen durfte.

Scotty schrie immer weiter, und Daddy warf mir einen Blick zu, nickte zu ihm hin und sagte: »Sieh ihn dir an, Cordelia. Das ist dein Bruder. Sieh ihn dir an, denn er trägt die Last unserer Geschichte auf den Schultern, des Geschlechts der Kings.«

Obwohl ich weiß, dass ich mich nicht mit dieser Genauigkeit an seine Worte erinnern kann, weil ich erst dreieinhalb war, als Scotty geboren wurde, und sie nicht wirklich verstanden hätte, höre ich sie doch noch, eins nach dem anderen. »Sieh ihn dir an«, sagte Daddy. »Sieh dir diesen kleinen Jungen an, Cordelia, denn er ist unsere Vergangenheit und unsere Zukunft, und der Tag wird kommen, da er das Geschäft der Familie übernimmt. Aufs Meer wird Scotty Kings hinausfahren, und er wird der König von Loosewood Island sein.« Er beugte sich zu mir, küsste mich auf den Kopf und fragte mich, ob ich Scotty halten wolle. Ich nickte, wollte es aber nicht wirklich. Er war nur ein Baby, dachte ich, klein und laut, und hatte noch nichts verdient, und trotzdem erkannte Daddy ihm bereits zu, was doch mir als Erstgeborener zustand, Mädchen hin oder her. So wie ich Daddys Arme um mich spürte, mit denen er mich und Scotty hielt, spürte ich auch etwas anderes mit einer ebensolchen Sicherheit: Dieser immer lauter schreiende Junge war nicht dazu geboren, das Meer zu beherrschen.

Und an das Folgende erinnere ich mich auch, obwohl ich weiß, dass es so nicht gewesen sein kann: wie Daddy aufstand, aus dem Boot stieg und über das Wasser zur Küste ging, mit mir und Scotty auf dem Arm. Über das Meer ging er und brachte mich nach Hause zu Momma, Rena und Carly. Ich erinnere mich sogar noch an die Art, wie er mich gehalten hat, als wäre ich ein Baby, selbst mit Scotty in meinen Armen, und ich erinnere mich auch noch, dass ein Teil von mir die Augen schließen und es einen Traum sein lassen wollte. Aber statt die Lider zu senken, sah ich hinunter auf Daddys Füße, die ein Kräuseln über die Oberfläche des Meeres schickten und auf die Felsen zustrebten, die Küste von Loosewood Island, mich und Scotty in seinen Armen.

Die Frau Brumfitt Kings’, des Ersten der Kings, war ein Wunder. Brumfitt war halb Schotte, halb Ire, und als er den Ozean überquerte und nach Loosewood Island kam, sah er bekannte Vögel: Möwen und Seeschwalben, Eiderenten und Kormorane. Tölpel, die mit ihren ewig weiten Flügeln aus dreißig Metern Höhe in die Wellen hinunterstießen und mit einem Fisch wieder auftauchten, wie es kein anderer Vogel vermochte. Und es gab noch andere Arten. Er beschrieb sie in seinen Tagebüchern und zeichnete einige so zwanglos detailliert, dass ihn die Kunsthistoriker dafür gepriesen haben. Ich habe jedoch nie einen dieser Vögel auf Loosewood Island gesehen, sie auch in Büchern nicht finden können und bin hin- und hergerissen zwischen dem Glauben an etwas Wahres in seinen Skizzen und der Vorstellung, dass Brumfitt eine blühende Fantasie hatte.

Er hinterließ ein Dutzend Tagebücher, ledergebunden und voll mit seiner engen Spinnenbeinschrift und seinen zart schattierten Fisch-, Vogel- und Hummerzeichnungen. Es sind die ersten schriftlichen Zeugnisse der Kings. Die meisten von Brumfitts Dingen, die sich noch in unserem Besitz befinden, zwei Gemälde, Skizzen, eine begonnene Leinwand und persönlicher Krimskrams, sind an Museen ausgeliehen, seine Tagebücher jedoch hat Daddy zu Hause behalten. Alle ein, zwei Jahre schreibt jemand von einer Uni einen Brief, weil er auf die Insel kommen und Brumfitts Aufzeichnungen studieren möchte. Meist sind es Kunsthistoriker, und sie interessieren sich vor allem für die Bände acht bis zwölf, die mich eher an Kontorlisten erinnern. Es sind die Tagebücher, die Brumfitt nach seiner Heirat und der Geburt seiner beiden Söhne führte. Gelegentlich ist eine Studie für ein Bild darin, das ich wiedererkenne, aber meist sind es Aufzeichnungen über Fänge, Einkäufe, das Wetter. Hier und da findet sich auch die Skizze einer Pflanze oder eines Fischs. Es gibt Notizen zum Mischen von Farben, Studien von Vögeln, Fischen und Küstenstreifen, Bemerkungen über die tägliche Schinderei, die es bedeutete, auf Loosewood Island zu leben, seine Finanzlage sowie Listen mit notwendigen Reparaturen und Bauplänen. Mich persönlich interessieren mehr die ersten sieben Tagebuchbände, die Loosewood Island so zeigen, wie Brumfitt die Insel vorfand und sich das Leben dort zunächst ausmalte. Als Mädchen verbrachte ich viel Zeit damit, die Bände in einen Sessel beim Fenster gekuschelt zu durchstöbern und Brumfitts gequälte Schreibweisen und Sätze zu entziffern, die sich kaum verbanden und nie aufhörten.

Am Ende des siebten Bandes, in seinem letzten Eintrag, bevor er ein halbes Jahr später Band acht begann, in dem er sich den Trümmern des Lebens zuwandte, beschreibt er, wie er seine Frau kennenlernte. Kunsthistoriker behaupten, sie sei eine Indianerin aus einem der örtlichen Stämme gewesen, wobei es eine Debatte darüber gibt, aus welchem: War sie eine Micmac, Abenaki, Malecite, Passamaquoddy, Penobscot oder Beothuk? Ich kann mir allerdings kaum vorstellen, dass Brumfitt tatsächlich eine Indianerin geheiratet hat. Die Idee kommt mir so weit hergeholt vor wie Brumfitts eigene Geschichte, denn zu der Zeit war die eingeborene Bevölkerung mit gutem Grund wild entschlossen, die weißen, an ihren Küsten landenden Männer auszulöschen. Nein, seinem Tagebuch nach war seine Frau weder eine Weiße noch eine Indianerin, sondern ein Geschenk des Meeres.

Brumfitt lebte bei seiner Heirat bereits acht Jahre auf Loosewood Island. Als die Trawler übers Meer zu kommen begannen, fischten sie die Saison durch und kehrten anschließend mit ihrem gepökelten und getrockneten Kabeljau nach Hause zurück. Bald begriffen die Fischereiunternehmen jedoch, dass es besser wäre, jemanden vor Ort zu haben, der sich um die Trockengestelle kümmerte und eine ständige, ganzjährige Niederlassung unterhielt, die den Männern auf See zugutekäme. Brumfitt meldete sich für die Aufgabe, und zunächst war er der Einzige, der fest auf der Insel wohnte. Er schien in der Abgeschiedenheit Loosewood Islands aufzublühen, brachte ein paar Stunden des Tages damit zu, sich um seine Aufgaben für die Firma zu kümmern, zu kochen, Feuerholz zu machen und sich anderen Überlebensnotwendigkeiten zu widmen, den Rest seiner Zeit zeichnete er. So ging es drei Jahre. Während der Saison arbeitete er auf dem Meer und an Land, und wenn die Trawler ihre Heimreise antraten, winkte er ihnen zum Abschied zu. Nach dem dritten Jahr blieb eine Handvoll weiterer Männer mit ihm zurück, und im nachfolgenden Jahr holten sie ihre Frauen aus England und Irland und gründeten Familien in ihrer rauen neuen Heimat.

Nach acht Jahren auf Loosewood Island fand sich Brumfitt von Ehemännern, Frauen und Kindern umringt, war aber selbst noch allein. Wie er in seinem Tagebuch schreibt, ging er eines Abends ans Ufer, um den Himmel im Schein der Leere zu malen, und musste unerwartet weinen. Die Insel allein, das begriff er, reichte nicht aus zum Glücklichsein. Ihn verlangte nach einer Frau.

Der Abend war klar und ruhig, und die Sterne und der Mond bildeten auf dem kabbligen Wasser Lichtreflexe. Brumfitt liefen die Tränen herunter, ein leichter Nebel begann sich vom Himmel zu senken, und mit einem Knistern, als bräche Eis, wurde das Meer mit einem Mal spiegelglatt und schien sich von der Insel zurückzuziehen. Felsen, die sich gewöhnlich nur knapp aus dem Wasser reckten, lagen nackt und trocken da, Krabben und Seesterne schreckten vor der unerwarteten Luft zurück. Brumfitt spähte in den Nebel hinaus, ging vor bis zu der Linie, wo die Erinnerung an den Ozean das Land beginnen ließ, und sah zu der Stelle, an der das Wasser innegehalten hatte. Nach Brumfitts Beschreibung war es so, als würde es gestaut, als hätte es sich nicht einfach mit der Ebbe zurückgezogen, sondern als hätte etwas Großes, Mächtiges dort eine Glaswand errichtet, die dem Meer Einhalt gebot. Vollkommen ruhig lag es da. Kein Wind, keine Welle störte die Stille, und dann sah Brumfitt draußen bei den Sea Clift Rocks etwas brodeln und sprudeln, zum Leuchten des Mondes und dem Glitzern der Sterne hinauf. Wie ein Seidenschal vom Balkon der Geliebten fiel der Nebel vom Himmel und klärte die Luft, bis, schrieb Brumfitt, das brodelnde Wasser plötzlich in die Höhe schoss, als bliese ein Wal sein Nasenloch frei.

Und dann sah er sie. Er sah seine Frau.

Es war ein Wunder.

Sie wuchs aus der Gischt, und ihr Blick war auf ihn gerichtet, als wüsste sie, dass er auf sie wartete.

Die unsichtbare Hand, die den Ozean zurückhielt, öffnete die Finger, und das Wasser wogte vor, die ersten Wellen schlugen ihm bis an die Waden und durchtränkten seine Schuhe, doch er bemerkte es kaum, so gebannt starrte er die Frau an, die da auf ihn zuglitt. Dabei war es nicht so, dass sich die Frau selbst bewegt hätte, schrieb Brumfitt ins Tagebuch, nein, sie wurde gehoben. Er schrieb zwei Versionen: Einmal saß sie, einmal stand sie, saß auf einem Thron, stand auf einer Kutsche, aber in beiden Fällen hoben die Wellen sie, und das Wasser tropfte von ihr. Sie trug ein Kleid aus Austernschalen und Korallen, um den Hals eine Perlenkette und wurde mit einer Mitgift in seine Arme gespült.

Die Mitgift war folgende: Wenn Brumfitt sie heiratete, würden seine Kinder und Kindeskinder, genau wie deren Kinder und Kindeskinder und immer so weiter mit dem Reichtum des Meeres gesegnet sein.

Ich weiß noch, wie ich die Geschichte in seinem Tagebuch las, Brumfitts Handschrift wirkte gehetzt im Vergleich zur ruhigen Üppigkeit seiner Zeichnungen. Ich war fasziniert. Es war so romantisch. Manchmal stellte ich mir vor, selbst Brumfitts Braut zu sein, die Königin des Meeres, die ihm ihre Mitgift brachte, den Reichtum des Meeres. Dann wieder tat ich so, als würde eines Tages mein eigener Prinz an Land gespült, der aus den Wellen trat und mich in die Arme nahm. Es war mein ganz eigenes, persönliches Märchen.

Woran ich als Kind nie dachte, war, dass das Geschenk, wie in allen Märchen, einen Preis hatte.

Auf jedem Segen lastet ein Fluch.

Als Brumfitt heiratete, war die Mitgift seiner Frau der Reichtum des Meeres – und der Preis, den jede neue Generation der Kings dafür zu zahlen hatte, war dieser: ein Sohn.

Als Momma Daddy heiratete, wusste sie, was es hieß, die Frau eines Hummerfängers zu sein. Momma war ein Einzelkind, ihr Vater der Letzte der Grummans auf der Insel, der Rest war aufs Festland gezogen und fischte Kabeljau und Schellfisch. Momma kannte Daddy, seit sie denken konnte. Sie war fünf Jahre jünger und lange zu jung gewesen, hatte höchstens mal einen Blick im Vorbeigehen zugeworfen bekommen, doch als Daddy aus Vietnam zurückkehrte, stellte er fest, dass Mary Grumman zu der Art Frau herangewachsen war, die gut vor dreihundert Jahren ans Ufer der Insel hätte gespült werden können.

Momma war eine hübsche Braut, auch wenn sie nicht direkt einem Märchen entstiegen war wie Brumfitts Frau. Das Hochzeitsfoto über der Anrichte im Esszimmer sieht aus wie von Brumfitt gemalt: Momma und Daddy stehen auf dem steinigen Strand beim Hafen, es ist Mitte Juli, die Welt ist sonnendurchtränkt, und Momma trägt das elfenbeinfarbene Hochzeitskleid ihrer Mutter. Daddy, der Spätentwickler, steckt in dem Anzug, den er zum Schulabschluss bekommen hat, und die Ärmel sind so kurz, dass die weißen Manschetten viel zu weit darunter hervorschauen. Daddy blickt in die Kamera, den Rücken zum Meer, aber Momma, die an ihm lehnt, hält den Körper leicht gedreht und den Blick auf den Ozean hinter ihm gerichtet, als übte sie schon für ihr Eheleben mit einem Hummerfischer und wartete bereits darauf, dass er vom Fang heimkehrte.

Die Leute sagen immer, Rena und Carly erinnern sie an Momma und dass ich nach Daddy komme und durch und durch eine Kings bin. Aber wenigstens auf dem Hochzeitsfoto sehe ich ihr ähnlich. Sie ist auf die Weise schön, die auch an mir nicht völlig vorbeigegangen ist, ist schlank und kräftig, ein Seil in Form einer Frau, mit Sommersprossen und einer Haut, die selbst den grauen Monaten mit Graupel und Eis widersteht. Ihr Haar, von der Sonne rot getönt, ist geflochten und zu einer Krone zusammengerollt, was ihr eine Eleganz gibt, die ich nie erreicht habe. Sie ist barfuß und hält den Saum ihres Kleides mit einer Hand in die Höhe, damit die Wellen es nicht erreichen. Ihr Lächeln wirkt so gelöst, dass ich mich manchmal frage, ob sie überhaupt wusste, dass sie fotografiert wurde.

Auf dem Foto trägt Momma sie nicht, aber Daddy hat ihr zur Hochzeit eine wunderbare, gleichmäßige Perlenkette geschenkt. Eine wie die, sagte Daddy, die Brumfitts Frau getragen hat, als sie aus dem Meer stieg. Vor meiner Geburt, erzählte Momma, sei sie nachmittags den Strand entlanggegangen, habe nach Daddy und der Queen Jane Ausschau gehalten und dabei alle paar Minuten die Kette berührt, um sich daran zu erinnern, dass er bald kommen würde.

»Ich wusste, solange ich diese Perlen trug, würde Daddy immer nach Hause kommen«, erklärte sie mir. »Es war ein Pakt zwischen mir und dem Ozean, zwischen mir und Brumfitt. Ich trug die Perlen, und Brumfitt brachte deinen Daddy nach Hause. Trotzdem, an manchen Tagen, wenn sich der Himmel hässlich verfärbte und ich spürte, wie das Wetter die Insel jagte, konnte ich kaum atmen, bis ich die Queen Jane durch die Hafeneinfahrt kommen sah. Da sorgte ich mich trotz der Perlen und lief den Strand hinauf und hinunter.«

»Warum hast du damit aufgehört?«

Momma lachte. Ich erinnere mich daran, weil das nicht oft geschah. Als fändest du zwei Perlen in einer Auster. An manchen Tagen wäre es sogar gleich eine ganze Kette gewesen, aufgefädelt und in einer einzigen Schale. »Ich habe Kinder. Ich habe euch drei Mädchen, dazu Scotty. Da bleibt mir nicht die Zeit, den Strand entlangzulaufen und mir wegen Daddy Sorgen zu machen. Die Dinge ändern sich.«

Sie waren drei Jahre verheiratet, als Momma schwanger wurde, und als sich die Dinge zu ändern begannen, änderten sie sich schnell: vier Kinder in vier Jahren, und alle kamen glatt und schnell heraus, wie Kegel, die in einer Reihe aufgestellt wurden, um gleich wieder umgeworfen zu werden. Erst ich, dann Rena, Carly und zuletzt Scotty, der Junge, auf den Daddy gewartet hatte. Daddy beschäftigte sich mit Boot und Fang, Momma mit dem Haus, so ging es bei uns. Nicht, dass Daddy nicht hier und da auch angepackt hätte, er war nicht die Art Mann, die sich zierte, wenn es ums Wäschezusammenlegen, Spülen oder sogar Windelwechseln ging, aber es gab Monate im Jahr, in denen er noch vor Sonnenaufgang aus dem Haus ging und erst nach Einbruch der Dunkelheit wieder zurückkam, Zeiten, in denen es den Anschein hatte, als wäre er tagelang mit dem Boot draußen. Im Sommer war er mehr zu Hause, wenn sich die Hummer aus ihren Schalen pellten und zwischen die Felsen krochen, um ihr zartes Fleisch zu schützen, und es auf der Insel vor allem Touristen gab, auch im Spätwinter und zu Anfang des Frühlings, wenn keine Saison war oder Sturm und Eis dafür sorgten, dass er nur wenige Male im Monat hinausfuhr. Aber wann immer er auf Fang fahren konnte, war Daddy unterwegs.

War er spätabends noch draußen, holte Momma uns in ihr Bett und sang uns vorm Schlafengehen etwas vor. Das Ehebett war schmal, besonders nach heutigen Maßstäben, aber man hatte es an das vererbte Kopfende angepasst, das alt genug war, um von Brumfitt persönlich zu stammen. Ich bin sicher, damals wurde das Haus allein mit einem Holzofen geheizt, und der kalte salzige Meereswind pfiff durch sämtliche Ritzen. Da war es gut, sich in so einem schmalen Bett aneinanderzukuscheln. Die Matratze war nicht direkt mit dem geschnitzten Kopfende verbunden, das an der Wand befestigt war, unten breit, darüber nach innen zulaufend, bevor es erneut in die Breite ging und sich oben, von Schnörkeln umwuchert, zu einer königlichen, vergoldeten Muschel rundete, wobei das Gold an einigen Stellen von den generationenlangen Berührungen der Kings fast bis aufs Holz abgerieben war. Wenn Momma uns bettfertig hatte, in unseren Schlafanzügen, mit geputzten Zähnen und noch feuchten Haaren vom Baden, dimmte sie das Licht und steckte Rena, Carly, Scotty und mich unter die Decken. Mit dem vergoldeten Kopfteil über uns sahen wir ganz wie Könige auf einem Thron aus. Meine Schwestern und Scotty kuschelten sich unter die Decken und warteten darauf, dass Momma zu singen begann. Mir selbst war es da nie wirklich behaglich. Ich wünschte immer, mit Daddy draußen auf dem Meer zu sein, statt im Haus festzusitzen.

Ich weiß, dass andere Mütter ihren Kindern Geschichten vorlasen, Momma sang sie uns vor. Sie sang Die Nixen von Dover, Große Schiffe, große Segel und Mulrooney macht den Hof, und wir sangen mit. Sie sang Die Fischausnehmer, Die hohe Welle und MacAuleys Klage, und wir hörten still zu, wie die hohen, sanften Wogen über uns hinwegwuschen. Sie sang Der Bootsmann, Neun Schiffe für neun Töchter und Die Klagefelsen, und das Letzte sang sie auf Gälisch, wobei sie zwischendurch stockte und nach einem Wort oder Ausdruck suchte, an das oder den sie sich nicht erinnern konnte. Ihre Großmutter habe ihr das auch so vorgesungen, erzählte sie uns, als sie, Momma, in unserem Alter gewesen sei. Zuletzt sang sie immer noch den Dieb auf dem Ozean:

»Der Dieb auf dem Ozean,

Ein König, der den Kopf aufrecht trägt.

Stiehl einen Fisch aus dem Ozean,

Ohne Reue, wenn dir die letzte Stunde schlägt.«

Ich dachte, der König mit dem erhobenen Kopf, das sei Brumfitt Kings, und ich erinnere mich, ich muss damals acht oder neun gewesen sein, wie ich eines Abends, nachdem meine Geschwister, eingelullt von Mommas Stimme, im dunklen Zimmer eingeschlafen waren, wie ich da Momma nach dem Lied fragte.

»Nein, mein Schatz«, sagte sie und brachte mich den Flur hinunter in mein Zimmer, »das ist nicht Brumfitt Kings, sondern ein König. Irgendein König.« Scotty, Rena und Carly ließ sie in ihrem Bett, Daddy würde sie in ihre Zimmer tragen, wenn er vom Fang nach Hause kam. »Der Dieb auf dem Ozean ist nicht speziell Brumfitt und nicht Daddy, nicht mal Scotty. Es ist jeder Mann oder Junge, der zum Fang hinausfährt.«

»Oder Mädchen«, fuhr ich auf. Ich war manchmal bissig zu Momma. Das musste ich, um ihrem Griff zu entkommen. Obwohl auch Daddy darauf drängte und sagte, wenn ich mit hinaus aufs Meer wolle, dann gehöre ich dorthin, widersetzte sie sich. Oh, aber Scotty, der sollte hinaus. Bereits als er vier, fünf, sechs war, schickte Momma ihn mit auf die Queen Jane, wo er doch zu Hause bei Rena und Carly genauso glücklich gewesen wäre, mit einer Schürze, Mehl und Eier verrührend. Ich dagegen, ich musste mich aus dem Haus kämpfen, musste für mein Geburtsrecht kämpfen, eine Kings zu sein.

Momma sagte nichts, gab mir aber keinen Kuss auf die Stirn, als sie mich zudeckte, und als sie sich wieder aufrichtete, begriff ich, dass ich noch eine Frage hatte. »Was passiert, wenn einen der Ozean erwischt?«

Sie holte tief Luft, um ruhig zu bleiben, was mir sagte, dass ich nichts mehr fragen, sondern schlafen sollte. War mein Vater noch draußen, hatte sie, wenn Carly, Rena und Scotty im Bett lagen, wenig Geduld übrig. »Wenn einen der Ozean wobei erwischt?«

»Beim Stehlen. Wenn er einen beim Stehlen erwischt«, sagte ich. »Stiehlt er dann zurück?«

Sie stand aufrecht da und sah auf mich herunter. Sie stand so gerade, als übte sie, mit einer Tasse Wasser auf dem Kopf zu gehen, und ihre Hände glitten zu den Perlen um ihren Hals, bevor sie antwortete. »Pssst, Liebes. Es ist Zeit zu schlafen«, sagte sie. »Für heute ist es genug.« Beim Lichtschalter hielt sie kurz inne, und ich hatte das Gefühl, dass sie etwas sagen wollte, doch dann wandte sie sich ab. Noch bevor ich ihre Schritte auf der Treppe hörte, saß ich im Bett und rief nach ihr. Ich hörte, wie verzweifelt meine Stimme klang, doch als sie wieder hereinkam, konnte ich nicht sagen, warum ich sie gerufen hatte. Also bat ich sie um ein Glas Wasser.

Sie berührte meinen Arm und nahm das Glas vom Nachttisch, das dort bereits auf mich wartete. »Cordelia, weißt du, was meine Großmutter immer zu mir gesagt hat?« Ich schüttelte den Kopf und nippte an dem Wasser. Es fühlte sich aber nicht genug an, einfach nur daran zu nippen, und so nahm ich ein paar kräftige Schlucke und musste husten. Momma stellte das Glas zurück auf den Nachttisch. »Is i mhàthair bhrisg a nì ’n nighean leisg, was bedeutet: Auf eine umtriebige Mutter folgt eine träge Tochter«, sagte sie mit einer Stimme, die mir signalisierte, dass es ihr nichts ausmachte. Sanft drückte sie mich zurück ins Kissen, zog mir die Decke hoch bis zu den Schultern, beugte sich herab und ließ ihre Lippen auf meiner Stirn ruhen. Ich spüre heute noch, wie sicher, wie warm und wie trocken ich mich fühlte. Es gibt Momente in der Kindheit, die sich kurz anfühlen, aber ewig währen.

Ich holte meine Hand unter der Decke hervor, legte sie meiner Mutter um den Hals und spürte ihre Perlen unter den Fingerspitzen. »Es tut mir leid, Momma«, flüsterte ich.

»Nun«, sagte sie, »vielleicht schaust du beim nächsten Mal erst, ob da nicht bereits ein Glas steht, das auf dich wartet.«

Ihre Lippen bewegten sich beim Sprechen über meine Stirn, aber ich machte mir nicht die Mühe, sie zu korrigieren. Ich entschuldigte mich nicht dafür, sie zurückgerufen zu haben, und auch nicht dafür, dass ich aufgebraust war, als ich gesagt hatte, ebenso gut könne ein Mädchen der Dieb auf dem Ozean sein. Ich entschuldigte mich, weil ich wusste, dass ich nicht die Wahl hatte. Mädchen hin oder her, in meinen Adern flutete und ebbte das Blut der Kings. Nichts würde mich davon abhalten, aufs Meer hinauszufahren. Ich war dafür geboren.

Brumfitt Kings schreibt in seinem Tagebuch, dass er eine Nixe gesehen hat, wobei es kein sanftes Wesen wie aus einem Kinderfilm war. Sie war blass, und der Fischschwanz endete nicht ordentlich an der Taille, sondern die Schuppen kletterten hoch bis zu den Schultern, die Augen standen vor, und das Gesicht war flach wie bei einem Fisch. Als er die Hand ausstreckte, zeigte sie ihm die Zähne, die eher die eines Hais waren. Sie schnappte nach seiner Hand und brachte eine von Brumfitts Fingerspitzen zum Bluten. Brumfitt schrieb, dass er danach fast eine Woche nicht aufs Wasser hinausfuhr. Er hätte sich nicht so ängstigen sollen, meinte Daddy, schließlich kam seine Frau aus dem Meer (was wohl bedeutet, dass wir alle Fischblut in unseren Adern haben), und das hätte ihm einen gewissen Schutz geben sollen vor dem, was er da sah.

Es gab andere Geschichten über Nixen, aber keine wie die Brumfitts. Sie beschrieben schöne weibliche Wesen, die den Seemännern etwas vorsangen und sie verführten. Die Jungs mochten den Witz, dass du, wenn du einer Meerjungfrau ins Wasser hinterherspringst, vor dem Ertrinken wenigstens noch siehst, ob sie tatsächlich die kleinen Muscheloberteile tragen.

Wenn Daddy seine Nixengeschichte erzählte, machte er keine Witze. Mit sechs hatte er am Wasser gespielt, Muscheln und Steine gesammelt und was er sonst noch fand. Dabei hielt er dem Meer den Rücken zugewandt, entgegen jeder Regel, und plötzlich schlug eine Welle über ihm zusammen und spülte ihn unter Wasser.

Er sagte, es sei keineswegs so gewesen, wie er es erwartet habe. Zuerst sei er in eine die Lunge versengende Schwärze gesunken, habe dann jedoch festgestellt, dass er atmen konnte. Die Fische hingen wie an Drähten aufgereihte Vögel um ihn herum und störten sich offensichtlich nicht an seiner Anwesenheit. Er ging über felsigen Grund auf einen Hang zu, der hinunter in die finstere Tiefe führte, und sah vor sich glänzende Lichtpunkte zu einem hellen Leuchten verschmelzen. Das Licht strahlte aus Fenstern, und die Fenster saßen in einer Burg, ganz und gar nicht wie die, die er sich beim Spiel mit seinen Zinnsoldaten vorstellte. Diese Burg war eher etwas Lebendiges, als wäre sie vom Grund des Ozeans hier herauf beschworen worden, und die Brüstungen pulsierten im Rhythmus der Wellen. Daddy betrat die Burg, und obwohl Licht aus den Wänden zu strömen schien, schwamm ihm dunkles, trauriges Geflüster entgegen.

Er ging durch Korridor auf Korridor, aber die Türen rechts und links waren alle verschlossen. Und doch, sagte er, habe er nie das Gefühl gehabt, sich verirrt zu haben, und als er endlich den Eingang in die große Halle sah, aus dem es hell hervorleuchtete, hörte er das Klingen von Gläsern und wusste bereits halb, was ihn dort drinnen erwartete: eine einsame Meerjungfrau.

Sie war nicht wie Brumfitt Kings’ Nixe, sagte Daddy, sie hatte langes, dunkles Haar, das gar nicht wie Seetang aussah, und ihr Schwanz konnte jede oder keine Farbe haben, das Licht ließ ihn leuchten. Die Meerjungfrau hieß ihn willkommen und sagte, das sei jetzt seine Burg, er sei der König und er solle sich doch vorbeugen, damit sie ihm die Krone aufsetzen könne, um ihn so in seinem Königreich zu begrüßen. Als er das tat und die Nixe die Hand nach ihm ausstreckte, sagte er, hörte er einen Hund bellen und sah seine Mutter in den Raum platzen. Sie zog ihn in ihre Arme, weg von der Meerjungfrau. Daddy sagte, meine Großmutter habe ihn über den felsigen Ozeanboden getragen, den Hang hinauf, und das Wasser schien für sie nicht zu existieren. »Sssch, sssch, sssch«, habe sie gesagt, die Worte im Rhythmus der Wellen, die über ihnen brachen. Daddy spürte, wie sie ihn zurück ins Meer saugen wollten, doch jedes »Sssch« seiner Mutter trieb das Wasser zurück, so dass es nicht mehr an ihm zerren konnte. So ging es durch einen dunklen Salzwassertunnel, bis die beiden durch die Oberfläche brachen, das Wasser sich zu einer Glasfläche glättete und die Sonne auf dem hell strahlenden Ozean explodierte: Alles verschwand, und er sah nur noch Licht, Licht, Licht.

Meine Großmutter, die starb, als ich elf war, wies gern darauf hin, dass mein Vater einige Teile der Geschichte unterschlug. Zum Beispiel, dass er sich in einem Krankenhauszimmer befand, als er endlich die Augen wieder öffnete. Und dass sie keine Meerjungfrau gesehen hatte, sondern den Neufundländer eines Fischers, der hinter Daddy hersprang und seinen leblosen Körper aus der Brandung zog. Wenigstens für Minuten sei Daddy tot gewesen. Aber Daddy bestand auf seiner Version. Er lief über die ganze Insel und erzählte jedem, der fragte, wie es ihm ging, und auch denen, die nicht fragten, er sei tief im Ozean gewesen und habe dort eine Meerjungfrau getroffen.

Carly denkt, er erzählt die Geschichte als eine Art Lehrstück: dass wir alle einen Ort haben, an den wir gehören, und dass Daddys Ort über dem Wasser ist, auf Loosewood Island.

Ich denke, sie besagt etwas anderes, nämlich das, was alle Geschichten besagen, die er erzählt: dass das Meer voller Magie ist, genau wie Loosewood Island. Nur leider hat einiges von dieser Magie so scharfe Zähne wie Brumfitts Nixe.

Brumfitt Kings ist wahrscheinlich kein Name, den du täglich in Gesprächen hörst, aber bekannt genug, dass ein Gutteil der Touristen nur wegen ihm nach Loosewood Island reist. Die Übrigen kommen aus den gleichen Gründen, aus denen Touristen überallhin fahren: um etwas Schönes, Neues zu sehen, an einem fernen Ort so zu tun, als wären sie reich, oder einfach, um aus sich herauszutreten und sich vorzustellen, ein anderes Leben zu leben. Jedes Jahr gibt es Touristenpaare, die sich in die Insel verlieben und beschließen, dass wir unbedingt ein gehobenes Kaffeehaus brauchen, eine Jazzkneipe oder einen Laden, der ausschließlich Olivenöl verkauft, und schon stürzen sie sich in ihr neues Geschäft. Es sind immer Paare, wobei, seit ich erwachsen bin, auch schon Männerpaare dabei waren. Gewöhnlich brauchen diese Leute nur einen Winter, um festzustellen, dass der Grund, aus dem sie sich in Loosewood Island verliebt haben, nicht die Insel war, sondern das, was sie nicht war. Der Grund war das Leben, das sie hinter sich lassen wollten. Trotzdem, einige werden ansässig, andere bleiben Touristen mit Geschäftsinteresse, die ihren Laden während der Sommermonate aufmachen und für den Rest des Jahres stilllegen. Es gibt etliche Inselbewohner, die gut davon leben, sich um die im Winter leerstehenden Cottages, Häuser und Geschäfte zu kümmern.

Selbst die Besucher, die nicht wegen Brumfitt Kings kommen, haben meist durch ihn von der Insel gehört. Das Gros der Touristen, ob sie nun Brumfitt-Kings-Fans sind oder nicht, besucht die Insel in den Sommermonaten, die wahren Brumfitt-Pilger dagegen sind weniger berechenbar. Einige kommen sogar im Januar und Februar, du erkennst sie an den großformatigen Büchern, die sie mit sich herumschleppen, um Brumfitts Bilder mit den Inselansichten zur Deckung zu bringen. Wir Inselbewohner waren dafür, das Brumfitt-Kings-Museum ganzjährig geöffnet zu halten, und haben uns daran gewöhnt, dass Touristen durch unsere Gärten stolpern und sich auf der Suche nach der genauen Stelle verlaufen, wo Brumfitt Morgendämmerung und Gebrochener Mast ohne Hoffnung auf Land gemalt hat. Die einzigen Leute, die sich über die Brumfitt-Kings-Touristen aufregen, sind die Touristen selbst, die Sommer-Insulaner mit ihren 500-Quadratmeter-Cottages, die denken, ihnen gehöre die Insel, bloß weil sie sich bei uns eingekauft haben. Das sind auch die, die den Hummerfischern, deren Familien hier seit fünfzig, seit hundert und noch mehr Jahren auf Fang gehen, erklären wollen, dass die Hummerboote ihnen die Aussicht verderben. Aber diese Dinge lösen sich von selbst.

Diese andere Sorte Sommertouristen, die gut betuchten, können einen mitunter ziemlich nerven, weil sie die Insel als eine Art Themenpark betrachten, meist jedoch sind sie zu ertragen. Kommen sie wegen Brumfitt Kings, lässt sich in aller Regel mit ihnen umgehen. Für einige von ihnen war die Reise zu uns ein lebenslanger Traum, für andere ist es etwas, das sie jedes Jahr tun.

Ich glaube, Daddy und ich betrachten die Brumfitt-Touristen mit freundlichem Verständnis, denn wir begreifen die Anziehung, die er ausübt. Für Rena und Carly ist das Familienerbe, die Vorstellung, die Nachkommen eines berühmten Malers zu sein, durchaus reizvoll, aber nicht von übermäßiger Bedeutung. Als das Metropolitan vor ein paar Jahren Brumfitts bekanntestes Gemälde, Der Fang, in seine ständige Sammlung aufnahm, waren meine Schwestern beide nicht interessiert, Daddy und mich nach New York zu begleiten.

»Ich komme gern mit in die Stadt, wenn Tucker sich um die Babys kümmert«, sagte Rena. »Ich fahre da aber nicht einfach nur hin, um ein Bild zu sehen, das ich längst kenne.«

Daddy hob die Brauen und stellte sein Bier übertrieben langsam und theatralisch auf dem Tisch ab, was Rena, noch bevor er seinen Vortrag begann, lächeln ließ.

»Und wo genau hast du Der Fang gesehen?«

»Es ist in jedem Brumfitt-Buch, das je gedruckt wurde. Im Übrigen muss ich nur in den Westen der Insel gehen und habe den gleichen Blick. Ein Spaziergang dorthin scheint mir weit problemloser als die Fahrt nach New York City«, sagte sie.

Sie zog uns auf, war aber immer nachsichtig gewesen, wenn Daddy und ich ins Museum wollten, früher, im Urlaub mit der ganzen Familie. Dennoch, sie verstand es nicht. Brumfitt hatte die Insel gemalt und sie auf einigen seiner Bilder anders gesehen, als es meine Schwestern taten. Der Fang gehört dazu. Die Bilder, durch die Brumfitt in den 1950ern »entdeckt« wurde, sind bedrohliche Porträts von Loosewood Island: Männer ertrinken, eine Leiche treibt im Wasser, vom Meer verheert, und ein Mann in einem Boot versucht verzweifelt, nach Hause zu kommen. Wobei Brumfitt auch seinen Teil zu den »Restaurant- und Hotelhallenbildern« beigesteuert hat, wie ich sie nenne, was Daddy fast genauso wütend macht, wie wenn ich sage, dass sie das sind, was du bei einer Verschmelzung von Andrew Wyeth und Winslow Homer bekämst: Bilder von Vögeln mit weitem Flügelschlag, Fischen, die unter der Wasseroberfläche entlangstreichen, der Schroffheit der Küste, der alle Bedrohlichkeit genommen ist. Meine liebsten Bilder Brumfitts sind wie Der Fang die, die mich an die Geschichten erinnern, die Daddy so gern über ihn erzählt, Bilder, auf denen Hände aus dem Ozean nach dir greifen, Bilder, deren Himmel mit Vögeln bedeckt ist, die ich nie zuvor gesehen habe, Bilder von Seemännern, die Ungeheuer auf den Wogen abwehren.

Der Fang zeigt den sich purpurn verfärbenden Himmel am Abend, üppiges Licht, das über den Horizont quillt, während dunkle Schatten den Ozean unheimlich erscheinen lassen, darauf ein kleiner Einmaster, der sich über die Maßen in die Dünung schmiegt, und auf den nahen Felsen brechen die Wellen. Im Boot sitzt ein Paar, ein älterer Mann und ein Junge, der zehn oder elf sein könnte. Der Mann müht sich, einen Fisch aus dem Wasser zu ziehen, wobei offenbleibt, was für ein Fisch es ist: Du siehst nur den Schaum, wo die Schnur ins Wasser reicht. Der Rücken des Mannes ist gebogen, seine Muskeln und Sehnen scheinen aus der Leinwand springen zu wollen, und klar ist allein, dass es ein großer Fisch sein muss und dieser Mann mit seinem Sohn und wahrscheinlich einer Frau und noch mehr Kindern zu Hause ihn braucht, um seine Familie zu ernähren.

Aber trotz der Anstrengung des Mannes, der Bewegung des Fisches im Wasser und der Bedrohlichkeit des Ozeans war es, als ich dort mit Daddy im Museum stand, der Sohn, der mich fesselte, so wie er es auch tut, wenn ich Drucke des Bildes betrachte. Der Junge ist zerbrechlich und zart, eher ein Vogel als ein Junge, und er sieht über die Reling ins Wasser. Eine Hand hält er ausgestreckt, fast berührt sie die Wellen.

Und deshalb liebe ich dieses Bild: weil es mich an die Geschichten von Loosewood Island erinnert, mit denen Daddy mich großgezogen hat. Wenn du das Bild oberflächlich betrachtest, fragst du dich vielleicht, wie sich die Fingerspitzen des Jungen im Schaum des Ozeans spiegeln können.

Aber es ist keine Spiegelung.

Es sind nicht die Fingerspitzen des Jungen, sondern die einer anderen Person, eines anderen Wesens, das seine Hand packen und ihn in die Tiefe ziehen will.

Jedes Mal, wenn wir an Bord der Queen Jane gingen, hielt uns Daddy den gleichen Vortrag: Passt auf, dass ihr nicht über das Tauwerk stolpert oder mit den Fingern in die Hydraulik geratet, sitzt nicht im Weg, helft, wenn Hilfe benötigt wird, und achtet vor allem immer darauf, fügte er am Ende noch augenzwinkernd hinzu, ob ihr draußen im Wasser etwas entdeckt, was Brumfitt vielleicht gemalt hätte.

Als ich zwölf war, begannen mir Brüste zu wachsen, wobei Rena schon mit elf, ein ganzes Jahr früher, ihre Periode bekommen hatte, und Momma hatte bereits angedeutet, dass die Queen Jane nicht der Ort sei, an dem ich und meine Schwestern die Wochenenden verbringen sollten. Sich zum Pinkeln aufs Deck zu hocken und das Ergebnis mit den Schlauch wegzuspülen war nicht unbedingt die beste Übung für die Art Mädchen, die sie aus uns machen wollte. Sie konnte sich nicht an den Gedanken gewöhnen, dass ich, Rena und Carly mit auf See hinausfuhren, nur für Scotty hielt sie immer eine Brotzeit zum Mitnehmen bereit. Er gehöre mit seinem Daddy dort hinaus, sagte sie, wie sonst solle er ein Hummerfischer werden? Es mochte den Kings ja im Blut liegen, doch das hieß noch lange nicht, dass Daddy ihm nicht auch beibringen musste, ein Mann zu sein.

Trotz Mommas Drängen und Daddys nicht erlahmender Aufmerksamkeit war Scotty immer der Letzte, der das Haus verließ. Samstagmorgens, wenn ich längst mit meinen Stiefeln und meinem Ölzeug im Hafen war, die Köder überprüfte und die Leinen neu aufrollte, die mir nicht gefielen, saß er noch am Frühstückstisch und wollte mehr Milch auf seinem zuckrigen Müsli. Rena und Carly waren irgendwo in der Mitte zwischen uns. Manchmal kamen sie mit hinaus, weil ich aufs Wasser wollte und Scotty musste und sie nicht zurückstehen mochten. Manchmal blieben sie auch zu Hause, um über die Insel zu wandern, mit Momma zu backen oder mit ihren Freundinnen zu spielen.

Jener Samstag, ein Herbsttag, an dem der Wind andeutete, was der kommende Winter für uns bereithielt, war das letzte Mal, dass wir alle zusammen mit Daddy hinausfuhren, und das erste Mal, dass Momma es aussprach: »Ihr Mädchen bleibt zu Hause.«

Scotty war noch oben, obwohl Daddy ihn zuerst geweckt hatte und Momma schon zweimal bei ihm gewesen war, um ihn aus den Federn zu holen. Ich saß längst am Tisch und aß meine Haferflocken mit Sirup, Daddy füllte seine Thermosflasche mit Kaffee. Momma machte ihm jeden Tag ein Lunchpaket, aber um den Kaffee kümmerte er sich selbst, gab genug Zucker hinein, um dem Salz des Meeres etwas entgegenzusetzen, und erhitzte auch die Sahne, damit der Kaffee selbst dann nicht kalt wurde, wenn er bis in den Abend hinein draußen auf der Queen Jane blieb. Wie jeden Morgen legte er den Deckel oben auf die Thermosflasche, um den Dampf drinnen zu halten, während er den Zucker aus der Speisekammer holte. Er blickte zu Momma hinüber, als sie es sagte: »Ihr Mädchen bleibt zu Hause«, und antwortete nicht darauf.

Rena steckte den Kopf aus dem Bad, wo sie sich die Haare flocht, doch Momma sah nur mich an, allein mich. Ich hatte nichts gesagt, nicht reagiert, aber sie tat so, als hätte ich es. »Genau, Cordelia, ihr bleibt zu Hause. Es mag ja Wochenende sein, aber es ist kalt draußen, und ich will nicht, dass ihr Mädchen heute Abend mit triefenden Nasen und vom Wind wunder Haut zurückkommt.«

Sie verschränkte die Arme unter ihren kleinen Brüsten und lehnte sich gegen die Anrichte. Ihr blaues Kleid passte eher zum Himmel als zum Wasser, und ich fragte mich, wie früh sie wohl aufgestanden war, dass sie sich das Haar schon hatte machen und sich schminken können, bevor sie sich ums Frühstück und die Lunchpakete kümmerte. Sie löste die Arme wieder, verschränkte sie erneut und griff mit einer Hand an die Perlen. Ich sah ihre Nervosität. Sie hatte das nicht mit Daddy abgesprochen und war nicht sicher, was er sagen würde. Genau das schien sie zu überlegen, ließ die Perlen los, stellte sich aufrecht und drückte sich die Arme gegen den Leib. »Die Queen Jane ist kein Ort für eine junge Dame.«

Jetzt erst meldete ich mich zu Wort: »Scotty darf mit raus, aber ich nicht?«

Es wurde still. Rena stand reglos in der Tür zum Bad, Carly legte ihre Puppe zur Seite. Oben hörte ich die ersten Geräusche in Scottys Zimmer, das Knarzen seines Bettes und die Dielen. Wir warteten, dass Daddy etwas sagte.

Er stellte das Glas Zucker auf die Anrichte, schraubte den Deckel ab und schien es in keiner Weise eilig zu haben, als er die Schublade aufzog, einen großen Löffel nahm und anfing, Zucker in die Thermosflasche zu schaufeln. Ich zählte die Löffel, fünf, sechs, hörte das Quietschen des Löffels im Zucker und das gelegentliche Klacken, wenn das Metall gegen das Zuckerglas oder den Rand der Thermosflasche stieß. Vierzehn, fünfzehn, dann senkte Daddy den Löffel in die Flasche und rührte kräftig um. Er sagte immer noch nichts, und sein Schweigen war zu viel für mich.

»Scotty ist noch ein Baby und fährt trotzdem mit raus?«, sagte ich.

Ich sah Momma an, und sie wollte mir schon antworten, doch da endlich sprach Daddy. »Scotty ist ein Kings, und er fährt heute mit mir hinaus, Cordelia.«

»Du und deine Schwestern, ihr könnt bei mir bleiben«, sagte Momma. Sie versuchte, ihrer Stimme einen fröhlichen Klang zu geben, aber ich hörte nur Glas splittern. »Ihr helft mir, das Hinterzimmer zu streichen, und nach dem Essen backen wir Plätzchen, wenn ihr wollt.«

»Ich bin auch eine Kings«, sagte ich und schob mich so heftig vom Tisch zurück, dass Milch aus meinem Glas schwappte. Ich würde gern sagen, das sei keine Absicht gewesen, aber das kann ich nicht, und noch wichtiger ist, was ich als Nächstes sagte. »Ich darf nicht mit, weil ich ein Mädchen bin?« Ich legte eine Pause ein, damit die nächsten Worte noch mehr Gewicht bekamen: »Was für ein Schwachsinn.«

Ich glaube, meine Hoffnung war, das würde wie eine Bombe einschlagen. Die Männer im Hafen fluchten, ohne nachzudenken, und ich hatte Daddy schon Dinge sagen hören, als wollte er die Farbe vom Rumpf der Queen Jane ätzen, zu Hause jedoch redeten wir nicht so. Momma war höchstens mal ein »Verflixt!« herausgerutscht. All meine Kraft hatte ich in das Wort »Schwachsinn« gelegt, sah Momma an und wartete auf ihre Reaktion. Sie öffnete den Mund, aber wieder kam ihr Daddy zuvor.

Seine Stimme war so ruhig und normal, als ginge es allein darum, Gummistiefel und keine Turnschuhe zu tragen. »Ich denke nicht, dass du so mit deiner Mutter reden solltest«, sagte er, »allerdings verstehe ich, was du meinst.« Er nahm die Thermosflasche und schraubte sie zu. »Es ist Schwachsinn, Cordelia, du hast recht. Du bist auch eine Kings, und wenn du hinaus aufs Meer willst, dann fährst du. Heute kommen alle Kinder mit. Wenn eins von euch Mädchen in Zukunft jedoch meint, es mag nicht mit auf die Queen Jane, muss es das nicht. Aber wenn ihr Hummer fangen wollt, wenn du Hummer fangen willst, Cordelia, nehme ich dich mit.« Er sah nicht zu Momma hin, als er das sagte, denn wir alle wussten, in Sachen Hummerfangen und Kings wurde gemacht, was er sagte.

Momma muss zugutegehalten werden, dass sie nicht aus der Küche stürmte, sondern einfach nickte und für mich, Rena und Carly Lunchpakete fertig machte, um sie zu denen von Scotty und Daddy zu legen.

Draußen auf der Queen Jane lief alles so wie sonst auch. Carly hatte ihre Puppe dabei, Mr Pickles, und sie und Rena taten so, als wäre er ihr Kapitän und gäbe ihnen Anweisungen, welche Leinen sie einzuholen hatten und welche Körbe mit Ködern zu versehen waren. Eigentlich waren sie zu alt, um noch mit Puppen zu spielen, aber Carly ging nirgends ohne das zerlumpte Ding hin. Es kümmerte mich nicht, dass sie sich wie kleine Kinder benahmen, wichtig war allein, dass sie nicht im Weg standen und nur ich und Scotty die wirkliche Arbeit taten. Ich wollte Daddy zeigen, dass ich auf die Queen Jane gehörte.

Später am Vormittag saßen meine Schwestern mit einem kleinen Imbiss auf Deck vor dem Steuerhaus. Wir lagen gegenüber der Robbenfellbucht, und Daddy hielt eine Zange in der Hand und brachte einen verklemmten Hummerkorb in Ordnung. Scotty und ich hoben derweil einen mit einem frischen Köder bestückten Korb über die Reling, wobei ich die Hauptlast trug. Ich sah Scotty zu Rena und Carly hinüberblicken und würde gern glauben, dass ich fürsorglich zu sein versuchte, als ich ihm sagte, er solle zu ihnen gehen und eine kleine Pause einlegen, doch mir war damals schon klar, dass das nicht stimmte: Ich wollte, dass er sich zu meinen Schwestern setzte, damit Daddy sah, wie schwach er war und dass er nicht fürs Meer taugte. Scotty dachte keine Sekunde über meine Beweggründe nach. Er ließ den Korb los und holte sich einen der Blaubeer-Muffins, die meine Schwestern aßen.

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er einfach so loslassen würde und ich den Korb allein halten musste, auf jeden Fall krachte das Ding von der Reling und schlug mir gegen das Schienbein. »Scheiße!«, rief ich, ohne fluchen zu wollen, es kam einfach so heraus. Das war jetzt schon das zweite Mal an diesem Morgen, dass ich mich vor Daddy in der Tonlage vergriff.

Er sah von dem Hummerkorb auf, den er auf der Plattform mitten auf dem Boot stehen hatte, und hob eine Braue. Das machte er gern. »Alles in Ordnung?«

»Mir ist der Korb weggerutscht. Ist schon okay.« Ich biss mir auf die Lippe. »Tut mir leid, dass ich … das gesagt habe.«

»Derartige Ausdrucksweisen sind nicht die beste Angewohnheit, besonders nicht für ein zwölfjähriges Mädchen«, sagte er und warf einen Blick zu meinen Schwestern und Scotty hinüber. »Ihr drei da, kommt schon, wie wär’s, wenn ihr Cordelia ein wenig helfen würdet?«

Scotty wurde rot, stopfte sich den Rest des Muffins in den Mund und flitzte zu mir zurück. Fast hätte ich ein schlechtes Gewissen gehabt wegen meiner Trickserei, doch da freute sich etwas in mir, dass Daddy mich allein hatte arbeiten sehen. Rena und Carly reagierten langsamer. Ich wusste, sie wären genauso gern zu Hause bei Momma geblieben. Während der ersten Stunde hatten sie noch mit angepackt, im Windschatten des Steuerhauses gefiel es ihnen jedoch besser.

Ich hievte den Korb ohne die anderen wieder in die Höhe und stieß ihn über Bord. »Wir sind durch«, sagte ich. Daddy nickte, ging zum Steuerpult und schob den Gashebel vor, um zum nächsten Feld Körbe zu fahren, worauf ich mich umdrehte und damit begann, die Köder vorzubereiten. Scotty stand schon da, wischte sich die Muffinkrümel vom Ölzeug und schlüpfte in seine Arbeitshandschuhe.

»Vielen Dank«, sagte Rena, als sie zu uns trat. »Juchhu, Köder.«

Carly hielt sich die Puppe ans Ohr, als würde ihr Mr Pickles etwas sagen, und verkündete: »Mr Pickles möchte wissen, warum wir nichts nehmen, was besser riecht.«

Ich machte mir nicht die Mühe, die beiden anzusehen. »Seid nicht solche Mädchen«, sagte ich mit der größten Verachtung in der Stimme, die ein Mädchen meines Alters aufbringen konnte.

»Du wärst einfach nur lieber ein Junge«, sagte Carly. »Wie Scotty.«

Ich weiß nicht, ob ich es tat, weil es mich ärgerte, dass sie damit recht hatte, oder weil ich immer noch wütend war, weil das mit dem Mädchensein für Momma so wichtig war, jedenfalls nahm ich ihr Mr Pickles weg und trat an die Reling. »Nimm das zurück«, sagte ich und hielt die Puppe über das Wasser.