6,99 €
Die achtzehnjährige Valerie lebt zwischen Schule und Alltag in Einsamkeit. Tag für Tag kümmert sie sich um ihre jüngeren Brüder, während ihr Vater im Alkohol Zuflucht sucht. Ihre Verantwortung und die Angst vor den dunklen Geheimnissen ihrer Familie lasten schwer auf ihr. Als der charismatische neue Lehrer, Herr Richter, an die Schule kommt, scheint sich ihr trostloser Alltag zu wandeln. Er erkennt Valeries Stärke und bietet ihr Unterstützung. Doch hinter seinem freundlichen Lächeln verbirgt sich ein Netz aus Geheimnissen, das sich um sie schließt. Als Valerie mysteriöse Pakete von einem unbekannten Absender erhält und ein Mitschüler stirbt, gerät sie tiefer in einen Strudel aus Lügen und Intrigen. Wer ist Herr Richter wirklich, und was verbindet ihn mit den unerklärlichen Ereignissen der letzten Wochen?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 202
Veröffentlichungsjahr: 2024
Über die Autorin
Christin Kindt wurde 1993 in Rostock geboren und verbrachte ihre Kindheit in einer liebevollen Familie, in der sie mit ihren Eltern und ihrem älteren Bruder aufwuchs. Schon früh entwickelte sie eine Leidenschaft für Geschichten und das geschriebene Wort. Diese frühe Neugier und Kreativität begleiteten sie durch ihre Jugend und prägten ihren weiteren Lebensweg.
Nach dem Abschluss der Schule und einer Ausbildung entschied sich Christin, Wirtschaftsrecht zu studieren. Das Studium eröffnete ihr nicht nur die Türen zu einer fundierten juristischen Ausbildung, sondern verstärkte auch ihr analytisches Denken und ihre Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge zu verstehen. Diese Fähigkeiten sollten sich später als äußerst hilfreich erweisen.
Durch ihre Faszination für Thriller und Kriminalität wurde Christin inspiriert, eigene Geschichten zu schreiben. Ihre Leidenschaft für spannende Erzählungen und das Spiel mit der Spannung führten 2019 zur Veröffentlichung ihrer ersten beiden Bücher, die in der Hansestadt Rostock spielen und die Stadt zum Tatort machen. Beide Werke spiegeln ihre Begeisterung für das Genre wider und zeigen ihre Fähigkeit, fesselnde und komplexe Charaktere zu erschaffen.
Christin Kindt lebt heute in Rostock und widmet sich weiterhin dem Schreiben. Ihr Ziel ist es, Leserinnen und Lesern mit ihren Büchern ein aufregendes und nachdenkliches Leseerlebnis zu bieten.
Christin Kindt
Die Illusion des Vertrauens
© 2024 Christin Kindt
Umschlag, Illustration: LUMEZIA
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN
Paperback
978-3-384-35362-7
e-Book
978-3-384-35364-1
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Cover
Über die Autorin
Titelblatt
Urheberrechte
Kapitel 1 - Valerie
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4 – Valentin
Kapitel 5 - Valerie
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13 – Valentin
Kapitel 14 – Valerie
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28 - Valentin
Kapitel 29 - Valerie
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39 - Valentin
Kapitel 40 - Valerie
Epilog
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Kapitel 1 - Valerie
Epilog
Cover
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
46
47
48
49
50
51
52
53
54
55
56
57
58
59
60
61
62
63
64
65
66
67
68
69
70
71
72
73
74
75
76
77
78
79
80
81
82
83
84
85
86
87
88
89
90
91
92
93
94
95
96
97
98
99
100
101
102
103
104
105
106
107
108
109
110
111
112
113
114
115
116
117
118
119
120
121
122
123
124
125
126
127
128
129
130
131
132
133
134
135
136
137
138
139
140
141
142
143
144
145
146
147
148
149
150
151
152
153
154
155
156
157
158
159
160
161
162
163
164
165
166
167
168
169
170
171
172
173
174
175
176
177
178
179
180
181
182
183
184
185
186
187
188
189
190
191
192
193
194
195
196
197
198
199
200
201
202
203
204
205
206
207
208
209
210
211
212
213
214
215
216
217
218
219
220
221
222
223
224
225
226
227
228
229
230
231
232
233
234
235
236
237
238
239
240
241
242
243
244
245
246
247
248
249
250
251
252
253
254
255
256
KAPITEL 1 - VALERIE
»Es gibt Familien, die sind einfach nur glücklich. Und es gibt Kinder, die sind vom Glück geküsst. Solch eine heile Welt wünscht sich doch jeder, oder? Doch leider hat nicht jeder ein so schönes Leben in einer lieben und warmherzigen Familie und mit vielen Freunden. Ich bin dafür wohl das beste Beispiel. Mein Name spielt an dieser Stelle keine Rolle. Ich möchte euch, denen es gut geht und die kaum Probleme haben, einfach nur zeigen, dass es durchaus eine Schattenseite in dieser Welt gibt. Und auf dieser Seite des Lebens stehe ich. Ein Teenager im Alter von achtzehn Jahren und mit den besten Voraussetzungen, um am Rande der Nahrungskette zu landen.«
»Valerie Radtke, ist das etwa ein Handy?«, unterbrach mich Herr Lutter, unser Deutschlehrer.
»Und wenn?«, entgegnete ich ihm und lehnte mich in meinem Stuhl zurück.
»Dann werde ich es konfiszieren. Du kannst es dir gern später wieder abholen.«
»So weit kommt es noch«, sagte ich und steckte mein Handy in die Hosentasche.
»Valerie, dein Handy!«
»Sie können es sich ja holen, aber ich fürchte, es kommt nicht so gut, wenn ein Lehrer seine Hände an der Hose einer Schülerin hat.« Ich grinste.
Er sah mich kurz wortlos an, dann wandte er sich ab und setzte seinen Unterricht fort.
»Na bitte«, sagte ich und zog das Smartphone wieder hervor. Ich hatte mir schon seit Längerem vorgenommen, einen Blog zu schreiben. Allerdings fehlte mir bisher noch der Mut, um ihn wirklich online zu stellen. Es waren sehr persönliche Dinge und ich war noch lange nicht bereit, um anderen mitzuteilen, wie es in mir drin aussah. Dass dieses aufmüpfige Ich nur eine Fassade war, die alles und jeden zurückwies. Stattdessen speicherte ich meine Gedanken in Form von Notizen in meinem Handy. Man sagte doch immer, jeder braucht ein Ventil und jemanden, dem man alles erzählen kann. Tja, in meinem Fall war es etwa vierzehn Zentimeter groß und nannte sich Smartphone. Zu Beginn hatte ich es mit einem Tagebuch versucht, doch es war viel praktischer, wenn ich alles sofort aufschreiben konnte, sobald es mir in den Sinn kam. Und das ging mit einer App nun einmal einfach besser.
Meine Nase begann zu kribbeln und ich legte mein Handy auf den Tisch, um ein Taschentuch aus meiner Tasche zu holen. Ich konnte es gerade noch rechtzeitig hervorziehen, ehe meine Nase zu explodieren drohte.
»Hatschi!«
»Gesundheit«, sagte Herr Lutter und sah mich an. Sein Gesichtsausdruck hatte etwas … Siegessicheres? Und dann sah ich wieso.
»Wie ich bereits sagte, kannst du es dir später abholen. Doch um dir noch eine Lektion zu erteilen, wollen wir deinen Klassenkameraden doch vorher noch mitteilen, was denn wichtiger als unsere Landessprache ist.« Er räusperte sich. »Es gibt Familien, die…«
Weiter kam er nicht, denn ich hatte ihm mein Deutschbuch an den Kopf geworfen. Unglücklicherweise genau auf seine Nase, was sofortiges Nasenbluten zur Folge hatte und einen Schmerzensschrei. Vor Schreck ließ mein Lehrer das Smartphone fallen. Ehe jemand das Display mit seinen neugierigen Blicken mustern konnte, stürzte ich mich auf das Gerät und verstaute es in meiner Tasche.
»Machen Sie das nie wieder! Haben Sie verstanden? NIE WIEDER!«, schrie ich. Herr Lutter starrte mich nur mit funkelnden Augen an und packte meinen Unterarm.
»Hey!« Er zog mich aus dem Klassenzimmer und den Flur entlang, die Blicke meiner Mitschüler im Rücken, bis wir ins Treppenhaus abbogen. Dort ging es die Treppe hinunter ins erste Obergeschoss bis zum Büro des Direktors. Ohne anzuklopfen, drückte Herr Lutter die Klinke runter und betrat das Vorzimmer.
»Heinz, was ist denn passiert?«, fragte die Sekretärin Frau Meining meinen Lehrer und kramte dem Augenschein nach erschrocken in ihrer Schreibtischschublade. Dann reichte sie ihm ein Taschentuch.
»Ist er da?«, fragte Herr Lutter knapp, ohne auf sie einzugehen und nahm das Taschentuch entgegen.
»Ja, ihr könnt reingehen.«
Als wir an der Sekretärin vorbeigingen, sah sie mich bitterböse an.
Der Direktor, Herr Klagen, hingegen seufzte nur, als ich das Zimmer betrat.
»Karl, so geht das nicht weiter! Diese junge Dame hat mit einem Buch nach mir geworfen und mir vor der Klasse gedroht!«
»Valerie, ich weiß nicht, was dich dazu bringt, aber dass das nicht ohne Konsequenzen sein wird, konntest du dir sicherlich denken. Oder?«
Ich sah weg. Es war nicht so, dass es das erste Mal war, dass ich in diesem Büro auftauchte. Viel eher hätte man mir schon einen Stammplatz zuteilen können. Deswegen wusste ich, dass Widerworte selten zum Erfolg führten. Hier war Schweigen das wahre Gold.
»Ich denke mit Nachsitzen ist es diesmal nicht getan. Zumal du in letzter Zeit des Öfteren negativ auffällst. Ich verhänge einen Ausschluss des Schulbesuches für zwei Wochen.«
»Ich werde suspendiert?« Das traf mich nun doch sehr unerwartet. »Das geht nicht! Die Prüfungen stehen doch bald an und da kann ich nicht einfach den Stoff verpassen!«
»Umso effektiver ist die Strafe dann wohl. Du kannst froh sein, dass ich dich nicht rausschmeiße. Gewalt gegen eine Lehrkraft. Das hätte noch schlimmer für dich enden können.«
»Aber…«
»Kein Aber. Mein Entschluss steht fest.«
»Sie können doch nicht…«
»Das reicht jetzt, Valerie! Geh deine Sachen packen und verlasse das Schulgelände. Wir sehen uns dann in zwei Wochen.«
Ich spürte, wie die Wut wieder in mir aufstieg, wollte es jedoch nicht darauf anlegen und verließ das Büro des Direktors. Herr Lutter folgte mir nicht.
Im Klassenzimmer starrten mich alle an. Ich konnte ihre Gedanken regelrecht hören.
Da ist die Irre ja wieder.
Was denkt die sich dabei, einen Lehrer anzugreifen?
Hoffentlich fliegt sie von der Schule!
Ich war nie besonders beliebt in meiner Klasse. Freunde hatte ich keine, nahm an keinen AGs teil und Sportvereine waren auch nicht so mein Ding. Offiziell war meine einzige Ambition der Abschluss. Inoffiziell die Flucht aus meinem verkorksten Leben.
Wenn die anderen wüssten, wie es bei mir zu Hause aussieht. Wenn sie wüssten, was mich quält. Vielleicht hätten sie dann Verständnis. Doch definitiv war das keine Ausrede für Gewalt. Gewalt durfte niemals eine Lösung sein. Auch nicht als Akt der Verzweiflung.
Kaum dass meine Tasche fertig gepackt war, verließ ich das Schulgebäude erhobenen Hauptes durch die Flure und nach draußen. Auf dem Schulhof war keine Menschenseele. Natürlich nicht. Es war Unterricht. Ich drehte mich noch ein letztes Mal um und warf einen Blick zum Fenster des Direktors. Tatsächlich stand er dort und schien mich mit seinen Adleraugen zu verfolgen. Ich atmete tief durch, verklemmte mir den Impuls, den Mittelfinger zu heben und verließ dann das Grundstück.
KAPITEL 2
Ich setzte mich in die Bushaltestelle und zog mein Handy hervor. Es hatte beim Aufschlagen auf dem Fußboden einen Sprung im Display erlitten. Unglücklicherweise beeinflusste dieser die Touchfunktion des Displays. Nach mehreren Versuchen gelang es mir dennoch, die Notizen zu öffnen.
»Wie soll man in diesem Chaos das normale Leben bewältigen? Niemand hat behauptet, dass es leicht ist, auf der Welt zu sein, klar. Aber wäre eine gerechtere Verteilung so schwierig gewesen? Wer bestimmt, dass das Kind von nebenan alles bekommt, was es sich wünscht und wir anderen am Hungertuch nagen und jeden Monat auf das benötigte Geld warten? Dass seine Eltern glücklich miteinander sind und nicht zerstritten oder gar getrennt? Die Welt ist ein grausamer Ort, an dem es für Leute wie mich nichts umsonst gibt, sondern nur zu großen Opfern. Dieses Leben als Teenager zu bestreiten und dabei zu überleben. Wie schafft man das? Was kann ich tun, um mein Glück zu finden? Und wann wird es endlich so weit sein, dass ich sagen kann, ich habe meinen Platz in der Welt gefunden? Diesen Platz, an dem man zufrieden sein und sich beruhigt hinsetzen und genießen kann. Ich möchte ihn finden, sofern meine Chance noch nicht versiegt ist.«
Ich beschloss, die Notiz an dieser Stelle zu beenden. Es gab noch so viel, was ich fragen und erzählen wollte, doch nicht jetzt.
Die Busfahrt gestaltete sich sehr ruhig. Es waren kaum Leute im Bus und die wenigen, die mit mir fuhren, waren entweder müde oder beschäftigt. Ein Mann hatte seinen Laptop auf dem Schoß abgestellt und tippte in rascher Folge verschiedene Zahlen in eine Tabelle ein, während er telefonierte. Eine Frau wiegte ihr Kind im Arm und flehte es an, endlich mit dem Weinen aufzuhören. Und ein älteres Pärchen unterhielt sich leise, während sie die Hand des anderen hielten. Sie lachten öfter und schienen glücklich zu sein. Wie lange sie wohl schon zusammen waren?
Als ich aufstand, um auszusteigen, sah ich sie noch einmal an. Der Mann küsste die Hand seiner Frau und sie streichelte ihm über die Wange. Wie schön wäre es, wenn ich später einmal so sein könnte. Jemanden haben, den man so sehr liebte, dass es einen zerreißt, wenn dieser verschwindet.
Die Türen öffneten sich unter einem lauten Zischen und ich stieg aus. Der Fußgängerweg war von Blättern übersät, die nach und nach von den Bäumen hinab segelten. Schon bald würden sie kahl in der Allee stehen und mit etwas Glück bald darauf weiß erstrahlen.
Als ich in die Nähe unseres Hauses kam, bemerkte ich einen schwarzen Bentley mit getönten Scheiben. Ich hatte einen so teuren Wagen noch nie zuvor in unserer Straße gesehen. Am Steuer saß ein Mann, der zu telefonieren schien. Noch ehe ich ihn genauer betrachten konnte, sprang der Motor an und der Wagen fuhr davon.
»Bin wieder da«, rief ich, als ich die Wohnungstür geöffnet hatte, doch es kam keine Antwort. Natürlich nicht. Niemand war zu Hause. Der Abwasch von gestern stand noch in der Spüle und leere Packungen Milch, Aufschnitt und vergammeltes Obst belegten die Arbeitsplatte in der Küche.
»Oh, wie sauber es doch ist! Schön, dass du aufgeräumt hast!«, plapperte ich ironisch vor mich her und ärgerte mich. Tatsächlich hätte es mich gewundert, wenn es anders ausgesehen hätte. Das Aufräumen war schließlich niemandem außer mir in meiner Familie wichtig.
Meine Tasche ließ ich neben die Treppe fallen und machte mich daran die Küche zu säubern. Es dauerte eine Zeit, bis alles wieder an seinem Platz war.
Anschließend wurde abgesaugt, gewischt und das Badezimmer geputzt. Das Ganze kostete mich gut eine Stunde. Doch dafür hatte ich ja jetzt zwei Wochen Zeit.
»Zwei Wochen…«, murmelte ich und setzte mich mit dem Laptop aufs Bett. Keine neue EMail, keine neue Nachricht im sozialen Netz, niemand, der etwas von mir wollte. Unschlüssig lehnte ich mich auf meinem Bett zurück. Wie sollte ich den Unterrichtsstoff der bevorstehenden Wochen abarbeiten? Einfach nur lesen und Aufgaben machen? Oder ging man dafür in die Bibliothek? Ich hatte absolut keine Ahnung von Selbststudium.
Ich öffnete die Suchmaschine und tippte los.
»Wie funktioniert Selbst… Selbstbräuner? Selbsthypnose? Selbstreinigung vom Backofen? Selbstaufblasende Isomatte? Selbstliebe?« Ich blinzelte mehrmals bei der Sichtung der Suchvorschläge.
»Selbstliebe … Habe ich sowas überhaupt? Kann ich das?« Ich verfiel ins Grübeln und schlug alle möglichen verwandten Begriffe nach. Statt mich über das neu erworbene Wissen zu freuen, frustrierte es mich nur mit jedem weiteren Wort, bis ich irgendwann wutentbrannt den Laptop zuklappte und aufstand. Liebe. Sowas gab es in meiner Welt nicht. Denn das hier ist kein Märchen, sondern die Realität.
KAPITEL 3
»Valerie!«, ertönte eine tiefe, kratzige Stimme aus dem Flur. »Pass auf die Jungs auf. Ich muss nochmal weg.«
Ich steckte gerade den Kopf durch meine Tür, da sah ich auch nur noch den Rücken meines Vaters. Doch auch das war für mich nichts Neues. Sobald er von der Arbeit kam, holte er meine Brüder ab, setzte sie zu Hause in den Flur und fuhr wieder weg. Wohin konnte man abends sehr gut anhand des Geruchs erkennen.
Matty kam zu mir gelaufen und präsentierte mir stolz ein gezeichnetes Bild. Es stellte ihn dar, der mit einem Fußball spielte und mich, die am Handy hing.
»Hey, du weißt aber schon, dass ich nicht immer nur das Handy in der Hand habe?«, fragte ich und knuffte ihn sanft.
»Stimmt! Manchmal auch eine Zahnbürste«, sagte er grinsend.
»Na warte, du …!« Ich begann ihn durch die Wohnung zu jagen. Matty quietschte laut, als ich ihn fing, und begann seine Rippen zu kitzeln.
»Oh warte! Ich habe noch was für dich!«, sagte er und sprang auf. Mein kleiner Bruder lief in den Flur, kramte in seinem Rucksack und kam dann wieder ins Wohnzimmer, wo ich auf dem Teppich lag. »Das ist für dich!«, sagte er nun und schenkte mir eine Kastanie, die er draußen beim Spielen im Kindergarten gesammelt hatte. Es war diese Woche bereits die fünfte, doch wie immer bedankte ich mich mit einer Umarmung bei ihm und fuhr ihm durchs dunkle Haar.
»Und was möchtest du jetzt machen? Karten spielen?«, er schüttelte den Kopf.
»Ich geh malen!« Kaum, dass er das gesagt hatte, rannte Matty in sein Zimmer.
»Hat Dad wenigstens Geld dagelassen?«, fragte Reno, mein anderer Bruder, der das Spektakel stumm verfolgt hatte. Er war bereits zwölf und hatte keinerlei Ambitionen, sich mehr als nötig mit mir zu unterhalten.
»Nein, sieht nicht so aus. Hast du heute Training?«
»Ja, in einer Stunde. Aber ich habe Hunger.« Er ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank und schloss ihn dann wieder.
»Ich gehe morgen einkaufen, ja?«, sagte ich entschuldigend, doch Reno zuckte nur mit den Achseln.
»Schon gut. Bin doch nicht hungrig.« Reno schlurfte den Flur entlang. Er und Matty teilten sich ein Zimmer. Ich trug Matty seine Tasche hinterher, nahm die dreckigen Wechselsachen heraus und ließ die Jungs dann allein. Matty liebte seine Stifte und war bereits vollkommen in seiner eigenen Welt. Es war für ihn das Größte, wenn er ein weißes Blatt mit seiner Fantasie füllen durfte. Das war auch klar im Zimmer zu erkennen. Überall hingen Zeichnungen. Und auf keiner von ihnen war unser Vater zu sehen. Doch das war dem ohnehin egal. Ebenso wie die Frage, was seine Kinder wohl zu Abend aßen.
Reno hingegen interessierte sich nur für Fußball. Er lag auf seinem Bett und sah über sein Handy irgendein Video mit Kopfhörern. Trotz seiner kühlen Art war er immer für seinen kleinen Bruder da, wenn Matty etwas von ihm wollte. Und an manchen Tagen tobte er sogar richtig ausgelassen mit ihm. Das waren die schönsten Stunden, wenn die Welt in Ordnung und wir glücklich waren.
Ich ging ins Bad, um die Waschmaschine anzumachen. Das Waschpulver und der Weichspüler reichten gerade noch für diese eine Ladung aus. Es war also höchste Zeit, mal wieder einkaufen zu gehen.
Kaum dass alles an seinem Platz war und die Trommel geschlossen wurde, begann sie auch schon zu arbeiten. Das Rattern der laufenden Waschmaschine hatte auf mich eine beruhigende Wirkung. Manchmal setzte ich mich einfach neben sie und sah der Wäsche beim Rotieren zu. Nicht selten vergaß ich dabei so sehr die Zeit, dass es schon wieder hätte Essen geben sollen. Doch heute war mir nicht danach, mich danebenzusetzen und zuzuhören.
Mein Handy gab einen kurzen Ton von sich. Jemand hatte mir eine Nachricht auf Friend-Me, einem sozialen Netzwerk geschrieben.
»Hey, du kennst mich vermutlich gar nicht. Aber wir haben uns letztens auf der Party getroffen«, stand da. Ich schüttelte verwirrt den Kopf.
»Welche Party?«, fragte ich den Unbekannten und wartete.
»Na die von Tom!«
»Ich kenne keinen Tom und auf einer Party war ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr«, log ich. Denn tatsächlich war ich noch nie auf einer gewesen.
»Ok, erwischt. Du bist mir einfach nur hier aufgefallen. Also dein Bild.«
»Ok.« Die App zeigte mir, dass der andere Gesprächsteilnehmer etwas schrieb. Ich wartete geduldig.
»Hast du vielleicht Lust ein bisschen zu schreiben? Ich weiß, wir kennen uns nicht, aber das kann man ja ändern!« Bei dieser Nachricht huschte mir ein Lächeln über das Gesicht.
Bevor ich wieder in mein Zimmer ging, warf ich noch einmal einen Blick in das Zimmer der Jungs. Alle beschäftigt. Perfekt!
Die Tür zu meinem Zimmer ließ ich einen Spalt auf, falls jemand klingeln sollte oder nach mir rief. Beides kam fast nie vor, doch sicher war sicher.
Das Handy in der Hand loggte ich mich auf dem Laptop auf Friend-Me ein. Am PC zu schreiben fiel mir wesentlich leichter als auf dem kaputten Display des Smartphones.
Das Gespräch zwischen Emil, so hieß der Typ mit der merkwürdigen Art, Gespräche anzufangen, und mir war typisch und vollkommen ohne wichtige Inhalte. Wir jammerten über die Schule, meckerten über Eltern und schwärmten von Hobbies. Emil ging auf eine andere Schule als ich, weswegen wir uns tatsächlich noch nie begegnet waren. Und auch sonst wirkte er sehr beschäftigt.
»Ich habe eben erfahren, dass das Training morgen ausfällt. Hast du Lust, mit mir in die Stadt zu gehen?«, fragte er plötzlich aus heiterem Himmel. Ich spürte, wie mein Herz schneller schlug und ich zu schwitzen begann.
»Das kommt ganz auf die Uhrzeit an«, schrieb ich und tat so, als wäre das alles überhaupt keine große Sache für mich.
»Hm… Wie wär’s mit morgen Nachmittag? Vielleicht um drei? Oder hast du da noch Unterricht?«
Kaum, dass ich seine Nachricht gelesen hatte, rief ich Reno zu mir.
»Bitte, nur dieses eine Mal«, bettelte ich, nachdem ich ihm alles erzählt hatte. Reno seufzte.
»Das sagst du immer. Aber ja. Ist ok.« Ich umarmte ihn und sprang sofort zurück.
»Duschen steht heute nicht zufällig auf deiner To-Do-Liste?«
»Hey, ich habe nachher noch Training. Da mache ich das dann schon noch«, sagte er und verließ mein Zimmer.
Ich wandte mich wieder Emil zu.
»Ja, sollte ich schaffen. Wo treffen wir uns?«
»Das Café gegenüber vom Einkaufszentrum? Das kleine runde, weißt du?«
»Ja, klar. Kenne ich«, von außen jedenfalls.
»Sehr gut! Ich muss jetzt leider wieder los. Bin noch verabredet. Wir sehen uns dann morgen, ja? Und lass mich nicht hängen! Bis dann!«
Ich klappte den Laptop zu und seufzte erleichtert. War das wirklich wahr und kein Traum? Hatte ich etwa gerade einem Date zugesagt? Ich? Es fühlte sich unwirklich an, als ich zu Matty ins Zimmer schlenderte und ihn darüber informierte, dass Reno morgen auf ihn aufpassen würde, während ich unterwegs war.
»Ok«, sagte er kurz und malte weiter. Dabei fiel mir auf, dass der Stapel an Papier langsam zur Neige ging und auch die Stifte schon viel von ihrer Originalgröße eingebüßt hatten. Aber neue Malsachen waren aktuell einfach nicht drin. Jeden Abend, wenn mein Vater stockbesoffen nach Hause kam, machte ich mich daran, aus seiner Brieftasche das Restgeld seiner Kneipentour herauszunehmen. Wenn ich Glück hatte, waren es zehn Euro, meist jedoch weniger. Deswegen spielte ich bereits seit Wochen mit dem Gedanken, mir einen Nebenjob zu suchen. Doch Schule, meine Brüder und Arbeit würde selbst mir zu viel werden.
»Moment mal«, sagte ich laut und zog mein Handy wieder hervor. Ich hatte zwei Wochen lang keine Schule. Zumindest in dieser Zeit könnte ich arbeiten gehen.