Die Infantin trägt den Scheitel links - Helena Adler - E-Book

Die Infantin trägt den Scheitel links E-Book

Helena Adler

5,0

Beschreibung

Dass sie, die jüngste Tochter, das zarte Kind, den Bauernhof ihrer Eltern abfackelt, ist nicht nur ein Versehen, es ist auch Notwehr. Ein Akt der Selbstbehauptung gegen die Zumutungen des Heranwachsens unter dem Regime der Eltern, einer frömmelnden, bigotten Mutter und eines Vaters mit einem fatalen Hang zu Alkohol, Pyrotechnik und Esoterik. Von den älteren Zwillingsschwestern nicht zu reden, zwei Eisprinzessinnen, die einem bösen Märchen entsprungen sind und ihr, der Infantin in Stallstiefeln, übel mitspielen, wo sie nur können. Und natürlich fehlen auch Jäger, Pfarrer und Bürgermeister nicht in dieser Heuboden- und Heimatidylle, die in den schönsten Höllenfarben gemalt ist und in der es so handfest und herzhaft zugeht wie lange nicht.Dieses Buch ist ein Fanal, ein Feuerwerk nach dem Jüngsten Gericht unter dem Watschenbaum. Es erzählt von Dingen, als gingen sie auf keine Kuhhaut. Schrill, derb, ungeschminkt, rotzfrech und hart wie das Landleben nach dem Zeltfest und vor der Morgenmesse. Eine sehr ernste Angelegenheit, ein sehr großer Spaß!

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Der Arbeit an diesem Buch wurde unterstütztdurch das Jahresstipendium des Landes Salzburg.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2020 Jung und Jung, Salzburg und Wien

Alle Rechte, einschließlich der Vervielfältigung, Veröffentlichung,Bearbeitung und Übersetzung, bleiben vorbehaltenUmschlagbild: privat, Bearbeitung: Helena AdlerUmschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.comeISBN 978-3-99027-177-3

HELENA ADLER

Die Infantin trägtden Scheitel links

Roman

Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehen,dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird.

Friedrich Nietzsche

Meine Sprache ist allzeit simpel, enge und plan.Wenn man einen Ochsen schlachten will,so schlägt man ihm gerade vor den Kopf.

Georg Christoph Lichtenberg

Lass mich ein Kind sein, sei es mit!

Maria Stuart (nach Friedrich Schiller)

für Tizian

Inhalt

1 Home Sweet Home

2 Monochromes Blau

3 Bäuerin, eine Kuh melkend

4 Tod eines Helden

5 Der Triumph des Todes

6 Kinderspiele

7 Jäger im Schnee

8 Der König trinkt!

9 Barbarengeschichten

10 Tierschicksale

11 Zeige deine Wunde

12 Vor dem Maskenball

13 Die Freiheit führt das Volk

14 Die große Nacht im Eimer

15 Glaube, Hoffnung, Liebe

16 Der Garten der Lüste

17 Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer

18 Mann in einer Rüstung

19 Das verlorene Paradies

20 Die Vertreibung der Hagar

21 Himmlische und Irdische Liebe

BILDZITATE

DANK

1

Home Sweet Home

Nehmen Sie ein Gemälde von Pieter Bruegel. Nun animieren Sie es.

Wir essen schwarze Regensuppe zum Nachtmahl. Der grüne Kachelofen brütet in der Ecke, in der Stube dampft es, doch mir ist kalt. Die Bewohner des Hauses haben sich im Parterre versammelt. Nicht oft verlassen die Urgroßeltern den ersten Stock. Sie sind die Urgesteine hier am Hof und wer sie bewegen will, beißt auf Granit. Wir, die Eltern, die Schwestern und ich, wohnen bei ihnen, nicht sie bei uns. Unter einem undichten Dach in einem verschuldeten Haus, das sie nach dem Krieg erworben haben. Die langen Finger der Urgroßmutter stehen wie spitze Holzschiefer vom Tisch ab, um den wir alle sitzen. Die Arbeiterhände des Urgroßvaters sind übersät mit Altersflecken und hervortretenden Adern. Sie ragen aus den Ärmeln seiner braunen Wollweste heraus wie die Köpfe von Schildkröten aus ihrem Panzer. Nackt und zerfurcht. Die Hände der beiden berühren einander nicht. Sie greifen nicht nach oben, denn es sind Hände aus dem Bauernstand. Sie Magd, er Knecht, die Genetik einer Gesindeschicht. Ihre Hände ackern, jäten und säen. Sie sind Sicheln fürs Getreide und Sensen fürs Gras. Auf der Kommode steht das Hochzeitsfoto des Ehepaares. Es zeigt den Urgroßvater stolz auf einem Stuhl thronend. Die Urgroßmutter steht hinter ihm, herrscht, mit Würde, aber ohne Begeisterung, über ihn, über uns und das ganze Ackerland. Sie schämt sich dafür, dass er kleiner ist als sie. »Scham ist nicht dasselbe wie Reue«, versichert sie, während sie die Kartoffeln schält, und bereut nichts. Dann kerbt sie Unmengen an Butterschmalz aus dem Plastikbecher, schmiert alles in die Gusspfanne und ertränkt die kleinen gelben Scheiben darin, die wir gerne salzig essen. Überall riecht es nach dem Fett. An unseren Händen und vielleicht auch in ihrem Haar. Aber das wissen wir nicht genau, weil wir ihr lieber nicht zu nahe kommen. »Außerdem«, ergänzt das uralte Mütterlein, »muss man bescheiden sein. Bescheidenheit muss der Mensch erst lernen«, sagt sie und klopft mir auf die Finger, die zur Kostprobe ansetzen. »Zuerst Demut, dann Bescheidenheit«, fährt sie fort. Doch devot ist sie nie, außer wenn sie glaubt, dass der liebe Gott gerade zuschaut.

Meine Hände sind klein, babyweich wie Pfoten. Ich blicke in die Runde der Bestien. Der Vater ein Grizzly, die Mutter ein Greifvogel mit Frauenkopf und die Schwestern, o Gott, die Schwestern! Zum Nachtisch riecht es milchig süß und leicht nach Verderben. Ein verstörender Geruch nach Frischgeborenem und Erwürgtem. Unter der Treppe im Vorhaus friert ein leerer Hundekorb. Die Spur führt eindeutig zum Vater, denn auf dessen Hand haftet noch der Flaum der Welpen. Noch vor ein paar Tagen hat er mir diese Hand an die Stirn gehalten, um mein Fieber zu lindern. Seine Temperatur stieg, meine sank. Er kann heilen und töten, ist Förster und Wilderer in einer Person. Das wilde Vatertier ist lieb zu seinen Kindern, doch die anderen frisst es auf. Nur die Mutter treibt Bärenhatz mit ihm. »Tanz, Bär!«, schreit sie und schärft ihre Krallen an den eigenen Zähnen. Die Krallen der Mutter sind messerscharf. Gelb und schrecklich sind ihre hakenförmigen Klauen, am liebsten jagt sie kleine Angsthasen und Faultiere wie mich. Ihr spitzer Schnabel ist ein Hackebeil, damit kann sie Gelenke brechen und Knochen zerschmettern. Der aufgestellte Federschopf und ihre stechenden Augen verleihen ihr eine abgründige Fürstlichkeit. Wenn sie schreit, erklingt ein sopranes Krächzen, das einen an Ort und Stelle einfriert.

»Wie viele Vögel sitzen auf deinem Kopf?«, fragen mich die Zwillingsschwestern, nachdem sie mir ihre Finger mit den gespitzten Nägeln in die Kopfhaut gebohrt haben. Ich antworte schon lange nicht mehr, weil sie falsch spielen. »Wegfliegen oder Nest bauen?«, fragen sie dann, »wegfliegen oder Nest bauen?«, wiederholen sie drei Mal und schreien vergnügt. »Abzwicken«, antworte ich, jammernd und heulend, viele Male, weil es immer schmerzt. Für alle anderen sehen sie aus wie ganz gewöhnliche Mädchen, mit ihren blassen Gesichtern und den blonden Zöpfen erinnern sie beinah an zwei Engel. Nur ich kann hinter ihre Maskerade sehen. Darunter sind sie abgemagert bis auf die Knochen. Die Eineiigkeit nagt ihnen am Leibe. Sie haben spitze gelbe Zähne, statt der Augen Hörner neben der Nase, statt der Haare rostige Nägel. Und aus ihrem Mund stinkt es wie aus der Hölle. Heute rieche ich nichts, denn sie halten ihren Atem an. Sie haben Angst.

Der Raum duckt sich, macht sich klein, damit wir näher zusammenrücken. Die Kühe brüllen zum Rosenkranz, sie blähen ihre Resonanzkörper, während ihre Finger an kleinen Holzperlen hinaufklettern und diese an dünnen Fäden hinunterschieben. »Ich glaube an Gott, den Vater«, beten sie im Chor. Draußen peitscht der Nordwind die Grashalme aus. Widerspenstiges Stroh klemmt sich zwischen die Fensterläden und drückt herein. Der Himmel donnert, grollt und erleuchtet die Nacht mit Blitzen. Bäume fallen um. Aus den nassen Lochmäulern der Viermagentiere tropft literweise Speichel. Gehörnte Geifergeschöpfe. »Auf der Weide kannst du sie mit dem Schlagstock bremsen«, sagt der Urgroßvater immer, »du musst ihnen nur auf den Schädel dreschen.« Wenn die ganze Herde in Fahrt kommt, das weiß ich, muss man schneller laufen als sie oder man wird in ihren Trampelpfad gestampft, auf dem schon etliche Katzenkadaver verrotten. So hart und fest, dass man jemanden damit erschlagen könnte. »Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn«, beten sie in würdevoller Monotonie und ich stelle mir Jesus als mit Gott verwachsenen Aborigine vor. Das Fleckvieh übertönt jetzt ihre Stimmen, bald werden sie die Wand zur Stube durchbrechen. Die Angst ist mir bis in die Unterhose hineingekrochen. Doch weil ich so unglaublich winzig bin, merkt niemand, dass es an meinem Hosenbein heruntertropft. »Einen Psychopathen erkennt man am Bettnässen«, haben mir die Zwillinge eingebläut. Dachschindeln zerschmettern auf dem Pflasterboden, wie Spielkarten fegt sie der Wind vom Haus. Würde eine davon die beiden am Kopf treffen, könnten sie mich nicht länger malträtieren. Und wenn der Blitz endlich in sie einschlüge, wären sie für immer entzweit. Sie teilen sich ihr Erbgut, das Hirn und die Jausenbrote. Sie haben nur eine Stimme, doch die hallt doppelt. »Erlöse uns von den Bösen!« Ich steige ins Gebet ein und betone den Akkusativ. Die Mutter holt noch ein paar Kerzen und zündet der Reihe nach ihre Dochthaare an. Sie verbrennt sich das labbrige Fleisch, es riecht nach Schwefel. Der Herrgott in der Ecke am Kreuz streckt die Arme aus, seine Knie schlottern. Meine Zähne klappern. Nicht mehr lange, dann wird er herunterfallen. Wer beschützt mich dann vor den Raubschwestern?

Ich halte den Atem an, um besser zu hören. Ein lautes, ein unerträglich langsames Flattern ist zu vernehmen. Etwas, das so langsam flattert, muss monumental sein. Es ist die schwarze Erhabenheit, die ihre Flügel ausbreitet und sich auf dem Hof niederlässt. Sie sitzt jetzt auf dem Dachgiebel, ich höre sie schmatzen. Die schwarze Erhabenheit ist immer hungrig. Sie besteht aus Wahnsinn, Abgrund und Kriegsüberresten, ein Erbe, das der nächsten Generation zusammen mit Kropfband und Goldhaube andachtsvoll überreicht wird. Sie wartet auf mich. »Denn dein ist das Reich, die Kraft und die Herrlichkeit«, sagen sie feierlich und ich wünschte nichts sehnlicher, als dass ich an Gott glaubte.

Ich vergrabe das Gesicht in meinem rotzigen Ärmel, und als ich mit meinen Kinderaugen wieder aufblicke, fotografiert der Blitz von draußen herein. Ein Bild mit Dämonen und Zyklopen. Vogelscheuchen, Menschenfressern und anderen gemeinen Teufeln. Das Beten wird zu einem Exorzismus, den sie an sich selbst exerzieren. Das flackernde Licht verformt ihre Gesichter und malt ihnen Falten und Runzeln aus vorgeschichtlicher Zeit auf die Stirnen. Niemals ist das meine Familie, ich bin allein auf meinem Heimatplaneten. Etwas hat von ihnen Besitz ergriffen. Es sieht aus, als spielten sie Ernst auf Ernst. Was macht der Ernst? Ein finsteres Gesicht. Wer lacht und spricht, bekommt eine Watschn ins Gesicht. Sie sind so sehr damit beschäftigt, sich gegenseitig nicht aus den Augen zu lassen, dass sie nicht bemerken, wie ich langsam unter den Tisch gleite, um hinauszukriechen. Wie ich die Stube mit angehaltenem Atem verlasse, um mich in den Stall zu schleichen. Mager ist die Wolfshündin geworden und grau. Ich lege mich neben sie. »Kinderlose Mutter«, sage ich zu ihr. »Mutterloses Tier«, antwortet sie. Der Vaterhund patrouilliert vor dem Tor. Ich halte mir beide Ohren zu, um die Donnergeräusche zu dämpfen, und schließe die Augen. Über Nacht wachsen mir Lefzen. Ich lerne meine Muttersprache neu, sie besteht nun aus Bellen und Knurren, während das Menschliche im Wort zugrunde geht. Die Menschen bieten keinen Schutz mehr. Die zwei Wölfe und ich, das sind drei Rudeltiere, die jetzt zusammenwachsen. Meine Tarnung wird die Knechtschaft sein. Der Mensch knechtet das Vieh, das ihm physisch überlegen ist, doch im richtigen Moment schnappt das Tier zu. »Was hast du für einen großen Kopf?«, werden sie mich fragen. Sie werden meinen breiten Schädel argwöhnisch betrachten, das Messer hinter dem Rücken verborgen. Doch meine Schnauze wird ihren heimtückischen Gestank wittern, noch bevor sie über die Türschwelle treten. Und für jedes Racheopfer wird mir ein neuer Reißzahn wachsen.

Ich bemerke nicht, wie die Kerze umfällt. Das Stroh zu lodern beginnt. Die Holzwände zu knistern. Ich suhle mich im Dreck meiner selbst diagnostizierten Sozialverwaisung, während neben mir der Stall abbrennt und mein Kinderreich rodet. Aus allen Öffnungen dringt schwarzer Ruß. Schwaden steigen den Nachthimmel empor, die schwarze Erhabenheit frisst. Gegenstände entzünden sich zu giftigen Feuerwerkskörpern, Flammen züngeln aus den Fenstern. Doch ich bleibe mit meinem Rudel sitzen und das Rudel mit mir. Die Kühe plärren um ihr Leben, sie fürchten etwas anderes mehr als das Feuer. Irgendwann öffnet der Vater das Tor, brennende Kühe laufen aufs offene Sommerfeld. Die Schwestern kreischen, krallen sich aneinander. Die Wolfshunde und ich verlassen seelenruhig den Stall, platzieren uns friedfertig vor dem schwelenden Gebäude, als würden wir unsere erkalteten Herzen an einem Sonnwendfeuer wärmen. Das Flammenmeer verführt mich. Jetzt haben sie Angst vor mir. Sirenen heulen und geschäftige Helmmänner eilen in Scharen an uns vorbei. Sie versuchen, den Brand in den Griff zu bekommen. Ihre Schläuche verfangen sich ineinander wie das Schlangenhaar auf dem Haupt der Medusa.

Die Zotteln der Großmutter sind ähnlich verknotet, als sie, mit Nachthemd und Überwurf bekleidet, vor uns erscheint. Der stechende Rauch hat sie über die Straße gelockt. Sie wohnt auf der gegenüberliegenden Seite in einem Häuschen, das sie sich mit ihrer Tochter teilt. Der Vater sagt, es sei ein Pfefferkuchenhaus. Wirr sieht sie aus, voller Sorge um den Vater, ihren einzigen Sohn, den sie mit sechs Jahren zu den Urgroßeltern verfrachtet hat, weil diese ein Opfer für den Fortbestand des Hofes forderten und seine Schwestern noch jünger waren als er. Die Kraushaare hat sie ihm vererbt, einen Alpin-Afro, um den ich beide beneide, denn ich trage den ÖVP-Schnitt der Mutter: schwarz und bieder. Ohne diesen fällst du hier im Dorf auf wie ein bunter Hund. Die Großmutter erdrückt den Vater mit ihrer Liebe, sie ruft seinen Namen noch immer in der Verniedlichungsform. Doch er ist genervt von ihrer gewissensgebissenen Aufdringlichkeit und verbietet uns, am Morgen das Licht aufzudrehen, weil sonst sofort das Telefon klingelt. Es führt eine eigene Leitung von ihr zu uns und zu den Schwestern des Vaters, eine Art Bechertelefon, bei dem die Großmutter die Schnur immer gespannt hält. Wenn man nicht aufpasst, stolpert man darüber. Hier am Berg sind alle irgendwie miteinander verknüpft oder verbandelt. Die Eltern bilden den Gordischen Knoten, denn ihre beiden Familien sind verfeindet seit Raubritterzeit. Nur ich fühle mich weder den Montagues noch den Capulets zugehörig.

Der Berg schwelt golden, der Hof schmilzt orange. Zurück bleibt der Holzkadaver eines sagenhaft großen Tiers mit verkohltem Gerippe, Balkenknochen, die kreuz und quer in die Luft ragen. Ein Klettergerüst für Feuerwehrmänner. Alle paar Minuten fragt man mich, ob es mir gut gehe. Der Vater antwortet für mich, wiederholt immer wieder: »Es war der Blitz – so ein gewaltiger Blitz!«, und richtet seinen Blick auf mich zum Schweigeappell. Man legt mir Decken über und will mich wegbringen, doch ich fange an zu heulen. Und das Rudel stimmt ein.

Später belohnt mich der Vater mit einem Ausflug in unser Stammlokal am Stadtrand. Er schimpft nicht nur nicht, nein, er ist sichtlich beschwingt, weil er auf eine hohe Versicherungssumme hofft. Ein Pfeil nach dem anderen landet im roten Bull, während sich seine Zigarette auf der Bartheke in einen langen Aschestab verwandelt. Seine Finger sehen aus wie Knackwürste, wenn er an dem Filter zieht, und ich bin beeindruckt von seiner Wurfsicherheit, weil es mir rein anatomisch unmöglich scheint, damit feinmotorisch zu hantieren. Als Team schlagen wir die anderen Turnierpartner, mit denen er sich über seine Steckenpferde unterhält: Demeter, Naturheilkunde, Schamanismus und Astrologie. Und ich fühle mich wie Wickie neben seinem vollbärtigen Vater Halvar.

2

Monochromes Blau

Im Dorf nennt man mich Satansbrut. Oder Satansbraut. Beides verstehe ich nicht. Noch immer sehe ich aus wie ein bleicher Knabe mit kantigen Wangen und dürren Gliedmaßen. Das Haus ist desolat, man kann dort nicht mehr schlafen. Nur die Urgroßeltern weigern sich, ihr Bettzeug abzuziehen. Wir wohnen die nächsten vier Jahre in der Wohnung der Großmutter, zu fünft in einem Zimmer auf zwanzig Quadratmetern, etwa dreihundert Meter vom Hof entfernt. Vater und Mutter rechts im Eck, die Zwillinge im Stockbett links und ich dazwischen auf einer Matratze am Boden. Ich bin die Einzige, die nach den Sternen greift, denn sie sind das Letzte, was ich sehe, wenn der Vater sein Kind wie jeden Abend über die Straße ins Bett trägt. Manchmal wache ich auf, wenn die Mutter mit ihrer Schwiegermutter gemeinsam Läuseeier auf meinem Kopf zerdrückt. Während dieser stillen Meditation streiten sie nicht, weil sie dabei nicht miteinander reden.

Massen an Fleisch werden verarbeitet, Ziegen vor dem Stalltor erschossen. Die Gedärme in den Scheibtruhen quellen in der brütenden Hitze, sie sind der allegorische Beweis für mein nacktes Leben. Erst nachdem der Rohbau des neuen Stalles steht, stellen meine Eltern auf Bio um. Tagsüber hausen wir noch immer in einer Ruine neben dem verwüsteten Stall. Das Vieh hingegen, unser kostbarstes Gut, zieht um in das neuwertige Auszugshaus und bettet sich darin bequem im Nobelschlafgemach. Doktoren, Zeitungsmänner und Narkoseschwestern, die feinen Leute aus der Stadt, gehen nun fast täglich bei uns ein und aus, was im Dorf nicht jedem schmeckt. Bio ist etwas für Ökos und Esoteriker und Biobauern sind die Eunuchen der Landwirtschaft. Im Dungdunst der Dorffelder steigt Neid auf. Die Bauern der Nachbargemeinde wissen, dass ihr Silagenkot schlechter riecht als unser Naturmist. Wir tragen Lumpen, nähen uns Kleider aus Lumpen, Lumpenpack werden wir auch genannt. Das Gesindel vom Berg. Die Leute aus der Stadt kümmert das nicht. Sie kaufen Biobutter, Ziegenmilch und Haferbrot. Meist sind es kranke Leute mit viel Geld. Auch wir sind krank, aber ohne Geld. Zu Weihnachten bekommen wir von den Kundschaften Fruchtzwerge und Mozarttaler geschenkt, »Das ist mehr als die Kaugummis der Amerikaner«, sagt die Urgroßmutter. »Das ist mehr als Mutterliebe«, erwidere ich. Studenten und Professoren von der Boku aus Wien reisen an, um zu forschen, warum unsere Milch nach dem Tschernobylregen nicht belastet ist. Der Vater sagt, er füttert die Kühe mit Jod und altem Heu. In der Getreidekammer liegen zehn Gasmasken im Eck, nur für den Ernstfall, versichert er.

Ich befreunde mich mit Flüchtlingsmädchen aus Jugoslawien und werde von Klassenkollegen gefragt, warum ich mich mit Jugos-Larven abgebe. Weil sie besser aussehen als du, würde ich gerne antworten. Und weil ihre Haare nach Pfefferminz riechen. Nach dem Tausch der Bravohefte meiner Schwestern gegen ihre Bücher lerne ich Die kleine Hexe kennen. Ich spaziere den Blocksberg hinunter, die Flöte in der Tasche, die Partitur in der Hand. In einer Stunde beginnt der Klavierunterricht. Während ich die Noten lese, will mich ein fremder Mann in sein Auto einladen, um mir seinen Besen zu zeigen. Doch ich bin gewarnt, träume schon lange nicht mehr. Es ist die Zeit, als Falcos Jeanny im Radio rauf und runter gespielt wird. Quit livin’ on dreams. Und uns die Volksschuldirektorin, zu viel Rot auf ihren Lippen, vom Schwarzen Mann erzählt, der gar nicht schwarz ist, dafür umso gefährlicher, weil er imstande ist, sich zu tarnen. So wie der Mörder und Vergewaltiger des kleinen Mädchens vom Nachbarberg, den man bis heute nicht gefasst hat. Die Großmutter hat uns oft genug vor Alleingängen gewarnt. Jedes Mal, wenn wir an dem Marterl mit dem ovalen Emailporträt der Kleinen vorbeigefahren sind, hat sie uns erzählt, dass sie mit dem eigenen Halstuch erdrosselt wurde. Irgendjemand muss sie doch rächen, denke ich.

Ich halte provozierend die Liedernoten vor mein Gesicht. Der Fremde hat sein Fenster ganz nach unten gekurbelt und kann jetzt sehen, dass ich ein Spitzenprädator bin. Ich stelle die Nackenhaare auf und fletsche die Zähne. Zuerst beiß ich dir in deine Flanken und bring dich zu Fall, dann reiß ich dir den Bauch auf und fresse Lunge, Nieren und Herz heraus. Und aus deinem Darm mache ich Faschingsgirlanden. Der Mann drückt aufs Gas, haut ab, und ich bin sicher, da war eine Spur Angst in seinem Ausdruck. Als ich mich umdrehe, steht mein Rudel hinter mir, es muss mich heimlich begleitet haben. Sie winseln, als ich sie heimschicke. Später wird mir die Mutter sagen, ich hätte schon wieder Schwein gehabt. Kein Schwein. War doch nur ein einfältiger Paarhufer.

Ich laufe zum alten Adeg, kaufe Kaugummis mit Beverly-Hills-Pickerl und klebe sie ins Heft, das mir später die Cousine stehlen wird. Sie ist genervt von Kelly und Dylan, eifersüchtig auf meine Liebe zu Brandon, dem Strahlejungen. Ich habe ihn auf eine eigene Seite ganz oben neben mein Porträtfoto platziert, weil wir beide, er und ich, den Beginn unseres Stammbaums bilden. Er lacht mir aus dem Heft entgegen und ich stelle mir vor, wie wir Händchen haltend durchs Dorf spazieren, während meine Freundinnen Spalier stehen und sich meine Schwestern vor Neid gegenseitig an die Gurgel gehen. Wie ich ihm das Kühereiten beibringe. Wie er meint, ich sei sein Cowgirl und er mein Callboy. Wie uns die Musikkapelle auf unserem Triumphzug begleitet, Holzbläser und Blechbläser vor Entzücken Instrumente tauschen und in die Luft schleudern. Wie der Bürgermeister mit uns für ein gemeinsames Foto posiert. Wie man den Dorfbrunnen zu unseren Ehren mit Champagner füllt. Und Nutten. Zur freien Entnahme, auf Kosten der Gemeinde. Wie ich zur Sonderbotschafterin von Kalifornien ernannt werde und mich kleine Mädchen belagern, um mich mit selbst gepflückten Wiesenblumen zu überhäufen und mir ihre abgeschnittenen Zöpfe als Andachtsgabe zu überreichen. Wie sie versuchen, mich zu kopieren, sich ihre Haare schwarz färben und das Gesicht weiß anmalen, sich darum streiten, wer mich spielen darf. Dann landet Arnold Schwarzenegger mit einer Cessna, tritt die Tür auf, nimmt die Terminator-Sonnenbrille ab und marschiert in Kampfstiefeln zu Brandon, um sie ihm zu überlassen. You really need it. Such an incredible woman. It hurts. She hurts. Er kniet nieder, drückt mir einen Kuss auf den Handrücken und braust mit seiner Harley davon. Don und ich verlassen das Dorf. Die Zigarette zwischen den Fingern, den Hintern auf Leder, die Wölfe im Arm.

Viel zu früh komme ich in der alten Volksschule an. Klavierlehrer Stamml mit den blonden Locken, der selbst im Hochsommer Anzug trägt, bedankt sich für das Eis, das ich mir gekauft habe, reißt es mir aus der Hand und beginnt daran zu schlecken. Er hält mir ein Foto von seinem neugeborenen Sohn vor die Nase und fragt mich, ob man nicht sofort erkennen könne, dass der Kleine Klavierfinger besäße so wie er. »Sieht man doch, diese Spreizung«, sagt er. Ich nicke, während mein Fuß gleichzeitig aufs Goldpedal steigt, um loszufahren. Sonst redet er nicht viel. Er verschwindet kurz, um sich einen Kaffee zu holen oder aus einer Stimmgabel ein Laserschwert zu machen. Ich bin mir sicher, dass er MacGyver ist und der Instrumentalunterricht allein der Tarnung dient. Dass das Klavier nur eine Attrappe ist. Ich frage ihn, ob wir aus den achtundachtzig Klaviertasten nicht lieber einen Zebrastreifen für Mäuse bauen sollen oder den Flügel als Element für eine skandalöse Installation verwenden, anstatt uns beide unglücklich zu machen. Wir entwickeln eine Hassliebe zueinander. Ich übe nie, er bezahlt jeden Automatenkakao und erzählt mir von seinen Ängsten. Ich höre nur mit einem Ohr zu, im anderen spielt unablässig der MacGyver-Theme-Song, während ich ihn aus einer Notenzeile eine Doppelhelix bauen sehe. Er zieht sie aus dem Notenheft, hält sie in die Höhe und bläst darauf, bis sie sich dreht. Dann erzählt er etwas von Klavier-DNA und es regnet kleine Männer im Frack. Am ersten Vorspielabend zwingt er mich zu Hänschen klein, worauf ich wortwörtlich kündige.

Auf dem Heimweg von der Schule gehe ich nun häufig am Friedhof vorbei und kontrolliere, ob der Grabstein, der mich beim Versteckenspielen einmal knapp verfehlte, noch steht. Lorena von Auersperg steht da in goldenen Lettern. 1904–44. »Du hättest mich fast erschlagen«, sage ich, »dann läge ich jetzt bei dir.« Das ovale Porträt eines ausgezehrten Frauengesichts mit ängstlichen Brauen. »Bist du die echte Mutter meiner Mama?« frage ich. Dann pflücke ich Grabblumen, steche mir mit den Dornen in den Finger und warte auf blaues Blut. Monochromes Blau. Die Blütenblätter werfe ich von der Steinbrücke in den Bach. Ein Gruß an meine leibliche Familie. Man muss mich entführt haben.

3

Bäuerin, eine Kuh melkend