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Endloser Sonnenschein, weiße Strände und kristallklares Meer: Die meisten reisen nach das Hvar, um genau das zu finden. Nicht so Kate – sie fährt auf das kroatische Inselparadies um abzutauchen. Ihrem Leben dorthin zu entfliehen, wo niemand sie kennt, das ist ihr Plan nach dem Liebes-Aus mit ihrem Freund. Bis sie eine andere einsame Seele findet. Alex ist anders als die Männer, die Kate bisher kennt, und die Verbindung zwischen ihnen ist unmittelbar und tief. Kate öffnet sich Alex gegenüber wie nie zuvor. Doch nicht nur sie möchte unter der Sonne von Hvar ein Geheimnis verbergen. Und als sie beginnt, hinter die Fassade von Alex zu blicken, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Wahrheit sie einholt ...
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Seitenzahl: 527
Veröffentlichungsjahr: 2022
Zum Buch
Eine Entscheidung, die alles verändert. Eine zauberhafte kroatische Insel. Und ein Fremder, der Kates Herz erreicht.
Endloser Sonnenschein, weiße Strände und kristallklares Meer: Die meisten reisen nach das Hvar, um genau das zu finden. Nicht so Kate – sie fährt auf das kroatische Inselparadies, um abzutauchen. Ihrem Leben dorthin zu entfliehen, wo niemand sie kennt, das ist ihr Plan nach dem Liebes-Aus mit ihrem Freund. Bis sie eine andere einsame Seele findet. Die Verbindung zwischen Kate und Alex ist unmittelbar und tief – Kate öffnet sich ihm gegenüber wie nie zuvor. Doch nicht nur sie möchte unter der Sonne von Hvar ein Geheimnis verbergen. Und als sie beginnt, hinter die Fassade von Alex zu blicken, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Wahrheit sie einholt …
Zur Autorin
Isabelle Broom, geboren 1979 in Cambridge, hat Medienwissenschaft an der University of West London studiert und arbeitet als Redakteurin und Autorin. Nach langen Reisen durch Europa und die Welt wurde sie sesshaft, als sie auf Max, einen kleinen Bologneser-Welpen, traf. Wenn sie nicht gerade schreibt, verbringen Isabelle Broom und Max ihre Freizeit mit langen Spaziergängen durch die Londoner Parks. Nach »Olivensommer«, »Wintersterne« und »Hibiskusblütenmeer« ist »Die Insel der Herzen« ihr vierter Roman im Diana Verlag.
Isabelle
Broom
Die Insel
der Herzen
Roman
Aus dem Englischen von Ute Brammertz
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Deutsche Erstausgabe 05/2022
Copyright © 2021 by Isabelle Broom
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel
The Getaway bei Hodder, London.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022
by Diana Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Michelle Stöger
Umschlaggestaltung: Favoritbuero GbR,
München nach einer Originalvorlage von Hodder & Stoughton
Umschlagdesign: Becky Glibbery © Hodder & Stoughton
Umschlagmotive: © Getty Images (Nikolina Jagic/EyeEm;
Zvonimir Luketina/EyeEm; Gunter Flegar;
Glenn Wickström/EyeEm)
Satz: Leingärtner, Nabburg
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-641-29149-5V001
www.diana-verlag.de
Für meine Freundin, Katie Marsh.
Erster Teil
1
Wie die meisten Menschen wusste auch Kate Nimble, dass sich das eigene Leben in den letzten Momenten vor dem Tod noch einmal im Zeitraffer vor dem inneren Auge abspulte. Allerdings wusste sie nicht, dass auch das Gegenteil der Fall war und sich alles zu einem schmerzhaften Schneckentempo verlangsamte, wenn man gerade lebendiger denn je war.
Jede Note des Songs, den man bewusst ausgesucht hatte.
Jede Miene auf den nach oben gewandten Gesichtern von Freunden und Familie.
Und jede Sekunde, die der Mann, dem man eben einen Heiratsantrag gemacht hatte, nicht mit einem Ja antwortete.
Kate zwang sich, sich auf James zu konzentrieren. Sein Mund stand offen, zweifellos aufgrund einer Mischung aus Schock und Verlegenheit. Genau wie sie schien er seine Sprachfähigkeit eingebüßt zu haben. Wenn dieses besondere Gebrechen sie doch nur schon früher ereilt hätte – bevor sie diesen Stuhl herangezogen hatte, hinaufgestiegen war und die Anwesenden lautstark um ihre Aufmerksamkeit gebeten hatte.
»Ich … ähm …« James vollführte ratlose Gesten, sein erhobener Arm war schlaff wie eine regennasse Fahne.
Kate wusste, dass sie sich bewegen, dass sie etwas sagen sollte – irgendetwas; dass sie von diesem Podest der Demütigung heruntersteigen sollte. Aber es ging nicht. Ihre Glieder waren bleischwer und ihre Füße wie angewurzelt.
»Ich glaube, dass … Was ich damit sagen will …«, fuhr James fort. Er klang völlig überfordert.
Kate begann zu zittern. Jede vertraute Ecke im schäbigen Veranstaltungsraum des Pubs schien immer näher zu rücken. Etliche Leute hielten ihre Handys hoch, und der Gedanke daran, was diese Szene noch nach sich ziehen würde, war schier unerträglich.
»Verzeihung, Platz da, ich muss mal eben durch.«
Noch eine Stimme, streng, aber beruhigend. Ihre beste Freundin Robyn hatte sich durch die im Halbkreis versammelten Gäste gedrängt und eilte nun auf Kate zu.
»Komm schon.« Sie streckte die Hand aus. »Holen wir dich da runter.«
Ein Schluchzen schnürte Kate die Kehle zu, und sie löste es mit einem Lachen.
»Tut mir leid, Leute!«, rief sie, und die Absätze ihrer Schuhe verfingen sich in ihrem Rocksaum, als Robyn sie halb vom Stuhl hob, halb herunterzerrte. »Das war nur ein Scherz.«
Sie riskierte einen Blick zu James, doch ihr Freund starrte zu Boden.
»Es war nur ein Scherz«, wiederholte sie mit brüchiger Stimme, während Robyn sie hinaus in den Flur führte.
»Nicht weinen«, flehte ihre Freundin.
»Tu ich nicht«, sagte Kate, aber sie spürte, wie die Tränen in ihr hochstiegen.
»Bestimmt hat James dich nicht richtig verstanden.« Robyn sprach mit dem nachdrücklichen Tonfall einer Frau, die nicht nur ihr Gegenüber, sondern auch sich selbst überzeugen wollte. »Du hast ihn einfach überrumpelt, das ist alles. Er hat offensichtlich nicht damit gerechnet. Vielleicht hatte er längst geplant, wie er dir einen Antrag machen wollte, und nun hat es ihm vor Bedauern, dir nicht zuvorgekommen zu sein, die Sprache verschlagen?«
Kate zitterte immer noch.
»Die gute Nachricht ist doch«, erklärte ihre Freundin vielsagend, »dass er im Grunde nicht Nein gesagt hat, oder?« Beim Sprechen wickelte sie eine Strähne ihres dunklen Haars um den Finger. Ihr blasses Gesicht war sorgenvoll verkniffen. »Vielleicht hat er sich den Moment unter vier Augen gewünscht. Ich meine, er hat noch nie gern im Mittelpunkt gestanden, nicht wahr? So muss es sein – es ist ihm einfach peinlich.«
Kate schürzte die Lippen und kämpfte gegen die Tränen an. Wie flüssige Lava stieg Entsetzen in ihrer Brust hoch.
James hatte nicht Nein gesagt. Aber Ja hatte er auch nicht gesagt.
»Soll ich ihn holen gehen?«, fragte Robyn, und dann, als Kate nichts erwiderte: »Du wirst schon sehen, gleich werdet ihr beide darüber lachen.«
Ein Wagnis aus Liebe. So hatte Kate ihren Plan genannt. Sie hatte sich eingeredet, sie würde schon bekommen, was sie wollte, wenn sie nur den Mut aufbrächte, James darum zu bitten. Doch sie war die Sache nicht richtig angegangen: Sie hätte ihm den Antrag in einem Schaltjahr am letzten Tag im Februar machen sollen. Nicht einfach in einem willkürlichen Jahr mitten im April. So lauteten die Regeln. Noch nicht einmal diese eine simple Sache hatte sie richtig hinbekommen.
Dumm, dumm, dumm.
Die Tür zum Flur ging auf, und James trat mit gequälter Miene heraus.
»Alles okay bei dir?«, fragte er.
»Alles gut.« Kate verschränkte die Arme. »Du brauchst mich gar nicht so anzusehen.«
»Wie denn?« Zögernd trat er einen Schritt auf sie zu.
»Als wäre ich eine Bombe, die jeden Augenblick hochgehen könnte.«
»Ich dachte nur, du …«, setzte er an.
Kate stieß ein Schnauben aus. »Ich habe dir doch gesagt, dass bei mir alles in Ordnung ist. Okay, dann habe ich eben vor praktisch all unseren Bekannten auf einem Stuhl gestanden, ausgerechnet an meinem dreißigsten Geburtstag, und habe dich gefragt, ob du mich heiraten willst. Und du hast nichts darauf erwidert. Kein einziges sinnvolles Wort. Ja, klar, mir geht’s prima, James. Es ging mir nie besser.«
»Bitte reg dich nicht auf«, sagte er, als Kate erneut gegen ein verräterisches Zittern ihrer Oberlippe ankämpfen musste. »Wenn du mich doch nur eingeweiht hättest, dann hätte ich …«
»Der springende Punkt bei einem Überraschungsantrag ist eben, dass es eine Überraschung sein soll«, entgegnete sie. »Es sollte romantisch sein.«
»Ich weiß schon.« James schien sie nicht ansehen zu können. Sein Blick huschte vom Boden zum Heizkörper an der Wand und dann zu seinen eigenen Fingern, die er in seiner Erregung nicht stillhalten konnte. »Eigentlich wollte ich das nicht jetzt machen«, murmelte er. »Aber vielleicht sollte ich es tun. Ich weiß es nicht.«
Da Kate nicht recht wusste, ob die Worte ihr galten oder ob er ein Selbstgespräch führte, sah sie schweigend mit an, wie er seinen inneren Kampf ausfocht und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
»Vielleicht ist es auch gut, dass das hier passiert ist«, sagte er nach einer Weile.
»Ach ja?«
Ein Hoffnungsschimmer.
»Ja«, antwortete er verhalten. »Denn mir ist nun klar geworden, dass ich dir gegenüber aufrichtig sein muss. Du weißt schon, hinsichtlich dessen, wie es um uns steht.«
»Wie steht es denn um uns?« In Kates Magen rumorte es unangenehm.
»Nun …« James legte eine Pause ein und atmete tief durch. »Es läuft schon seit einer Weile nicht mehr so gut. Seit wir erfahren haben, dass … Na ja, die Sache ist die, wir hatten uns schon vorher auseinandergelebt.« Bei diesen Worten sah er nicht Kate an, sondern seine Schuhe – jene blütenweißen Sneakers, die er nach jedem Mal Tragen putzte, wobei er des Öfteren den Badezimmerschrank plünderte, um ihre Abschminktücher zu benutzen.
»Auseinandergelebt?« Kate verzog das Gesicht. »Aber nein, das stimmt nicht.«
»Komm schon, Kate – das weißt du doch.«
»Worauf willst du denn nun hinaus?«, fragte sie. »Willst du damit sagen, dass wir an ein paar Dingen arbeiten müssen? Natürlich müssen wir das, James – alle Paare haben ab und zu Probleme, und nach allem, was wir in letzter Zeit durchgemacht haben, ist es nur verständlich, wenn du vielleicht das Gefühl hast … keine Ahnung … dass wir auseinandergedriftet sind. Geht es darum? Denn das lässt sich wieder ändern.«
James wand sich wortlos.
»Du lieber Himmel.« Kate fuhr sich mit einer Hand an den Mund. »Du willst doch nicht …? Es ist doch nicht …? Du willst mich doch wohl nicht abservieren?«
Eine Grimasse.
»So darfst du das nicht sagen. Aus deinem Mund hört es sich brutal an.«
»Ist es ja auch.«
Allmählich bekam Kates Stimme einen immer schrilleren Ton, aber sie hatte sie nicht mehr unter Kontrolle – und wollte es auch gar nicht mehr. Sie hatte das seltsame Gefühl, sie habe ihren Körper verlassen und hocke nun auf dem Heizkörper an der Seite, eine Zuschauerin, keine Beteiligte bei dieser Farce. Denn es musste sich um ein Theaterstück handeln. Es war völlig unmöglich, dass James diese Dinge tatsächlich ernst meinte.
»Mich treibt die Sorge um, dass keiner von uns beiden bekommt, was er will, wenn wir zusammenbleiben«, fuhr er fort und hob den Blick, als sie ihm eine Antwort schuldig blieb. »Das weißt du so gut wie ich.«
»Nein, das weiß ich kein bisschen.«
Bis gerade eben hatte noch Kates Ärger überwogen, aber nun wurde dieser Schutzwall von ihrer Angst durchfressen. Auf einmal war ihr übel.
»Wir müssen nicht heiraten«, versicherte sie hastig und griff nach seinen Händen. »Es ist doch alles gut so, wie es ist – ich habe mich bloß hinreißen lassen. Ich drehe doch völlig am Rad, weil ich dreißig geworden bin und weil mir mal wieder gekündigt wurde. Das mit dem Heiratsantrag habe ich ganz spontan vor einer halben Stunde entschieden. Vorher ist es mir gar nicht in den Sinn gekommen. Und ich bin echt völlig zufrieden, so wie es ist«, behauptete sie und sprach hastig weiter, als er etwas einwenden wollte. »An allem, was du bemängelst, können wir arbeiten. Wir können nicht einfach aufgeben, James«, erklärte sie energisch und drückte seine Finger. »Wir haben schon so viel gemeistert, nicht wahr? Acht Jahre lassen sich doch nicht einfach so ausradieren.«
»Das hat nichts mit Aufgeben zu tun.« Er entzog ihr eine Hand und spielte unbewusst an der lichten Stelle auf seinem Kopf herum. Kate nannte es seine »Prinz-William-Halbglatze«. Es war das einzige Attribut ihres Freundes, das eine gewisse Verletzlichkeit ausstrahlte, und sie liebte es. Sie liebte ihn.
»Ich will damit nur sagen, es ist höchste Zeit, dass wir den Tatsachen ins Auge sehen«, fuhr er fort. »Ich weiß, dass du es versucht hast – das haben wir beide. Wir haben uns nun schon richtig lange Zeit richtig viel Mühe gegeben. Aber genau das ist es doch: Es sollte uns keine Mühe kosten. Es sollte nicht so schwer sein.«
Er sprach kaum hörbar, sodass Kate sich vorbeugen musste, um ihn zu verstehen. Trotz der Aufruhrs, den sie verursacht hatte, war die Party offenkundig wieder in vollem Gange.
»Es ist ja nicht so, als hätte einer von uns dem anderen wehgetan.« James hörte sich an, als gelte seine Überzeugungsarbeit nicht nur Kate, sondern auch sich selbst. »Wir können auf jeden Fall Freunde bleiben.«
Er löste die andere Hand aus Kates klammem Griff.
Wer war dieser Mann, der da vor ihr stand und diese Dinge von sich gab, ihr diesen Schlag versetzte? Er sah wie James aus, hörte sich wie James an und roch sogar nach ihm, doch es konnte unmöglich derselbe Mensch sein.
»Aber du tust mir sehr wohl weh. Du tust mir gerade jetzt in diesem Moment weh«, flüsterte sie. Trostlos dachte sie an die Pläne, die sie geschmiedet hatten, und ihr gemeinsames Zuhause mit der Sammlung gerahmter Filmplakate, den harmonisch aufeinander abgestimmten Sofakissen und den bunten Kacheln in der Küche. Vor ihrem inneren Auge sah sie das Foto von dem lächelnden Pärchen an der Wohnzimmerwand: er groß, schlank und ernst, sie rundlich, mit wilder Mähne und einem breiten Lächeln. Jener eingefangene Moment ließ sich bereits nicht mehr greifen, war in der Erinnerung verblasst. Ihre gemeinsame Liebe war zu einem Ding der Vergangenheit geworden.
»Aber heute habe ich Geburtstag«, sagte sie kleinlaut. »Du kannst doch nicht an meinem Geburtstag mit mir Schluss machen.«
James sah verlegen aus. »Geplant war es ja auch nicht so. Ich wollte noch ein paar Wochen warten, ehe ich etwas sage.«
Schweigend beobachtete Kate, wie er sich seine nächsten Worte zurechtlegte.
»Aber dann bist du da drin aufgestanden und … Du weißt schon. Damit habe ich überhaupt nicht gerechnet. Ich meine, wie denn auch? Ich dachte, eine Frau kann jemandem nur in einem Schaltjahr einen Heiratsantrag machen.«
Missmutig schob Kate die Unterlippe vor.
»Ist ja auch egal«, sprach er weiter. »Jedenfalls wusste ich gleich, als du die Worte ausgesprochen hast, dass ich dich nicht länger anlügen kann. Mit einem Mal wurden die Dinge ganz deutlich.«
»Dinge?«, hakte sie nach und starrte blind auf eine Stelle an der Wand, wo die Tapete abblätterte.
»Im Leben all unserer Freunde geht es voran, und ich komme mir vor, als würden wir den Anschluss verlieren«, sagte James. Er schien seine Worte jetzt mit Bedacht zu wählen und räusperte sich immer wieder.
Kate verspürte den irrationalen Drang, ihn anzuschreien, er solle sich dabei gefälligst die Hand vorhalten. Doch wenn sie einmal mit dem Schreien anfing, würde sie vielleicht nie mehr aufhören können.
»Ich gebe dir nicht die Schuld.«
Natürlich tat er das, denn es war ihre Schuld. Sie war die Versagerin.
Kate hatte zu zittern begonnen. Um nicht länger stillstehen zu müssen, ging sie in ihrer Erregung im Flur auf und ab. Am anderen Ende befand sich ein Fenster, der Himmel hinter der Scheibe war so schwarz wie Asche.
»Am besten übernachte ich heute wohl bei meinen Eltern«, sagte James und wich langsam zurück.
Kate schluckte abermals ein Schluchzen hinunter. »Bitte nicht. Lass uns wenigstens eine Nacht darüber schlafen. Es ist weder der rechte Zeitpunkt noch der rechte Ort für so ein Gespräch – Herrgott noch mal, unsere Eltern sind nebenan. Alle unsere Freunde sind hier.«
James blieb vor der Tür zu dem Veranstaltungsraum stehen. Dass nebenan immer noch gefeiert wurde, kam Kate wie ein Verrat vor. Die Welt da draußen sollte sich nicht mehr drehen, wenn doch ihre eigene zum Stillstand gekommen war.
»Es tut mir leid«, setzte er an, aber Kate schüttelte abwehrend den Kopf. Sie benetzte ihren Zeigefinger und begann, heftig an einem klebrigen Fleck auf dem Fensterbrett herumzureiben. Wenn sie hier an dieser Stelle stehen blieb und diesen Fleck beseitigte, würde sie nicht mit ansehen müssen, wie er sie verließ, sie würde nicht mitbekommen, wie er ihren Gästen das Vorgefallene erklärte, oder wissen, wann er die Treppe hinunterging und ohne sie in die Nacht verschwand.
Erst beim Klicken der Tür hielt Kate inne; erst als kurz darauf gedämpfte Stimmen erklangen, brach sie zusammen; und erst als sie Robyns Arme um sich spürte, ließ sie den Tränen freien Lauf.
2
Irgendwie ging das Leben unaufhaltsam weiter, wie ein verirrter Geröllblock, der einen Berghang hinunterdonnerte. Doch während die restliche Menschheit ihrem Alltag nachging, indem sie täglich duschte, sich ankleidete und in die Arbeit pendelte, blieb Kate dort, wo sie schon am Abend ihrer Geburtstagsfeier Zuflucht gesucht hatte: in ihrem Elternhaus mit einer Bettdecke über dem Kopf.
Bis vor Kurzem, als Kate noch einen Freund, eine Zukunft und einen Sinn im Leben gehabt hatte, hatte sie darüber lachen können, dass ihr gekündigt worden war. Wieder einmal. Nun wirkte es gar nicht mehr komisch – wie alles andere auch. Ihr ganzes Leben lang hatte sie häufig schallend gelacht, weil sie Gelächter für das einfachste Mittel gegen all ihre Probleme hielt. Sie hatte sich immer über sich selbst lustig machen können. Doch seitdem James sie verlassen und ihrer Beziehung den Rücken gekehrt hatte, ohne sich noch einmal umzudrehen, brachte sie kein Lächeln mehr zustande, und für ein Lachen fehlte ihr erst recht jegliche Energie. Sie vermisste das Lachen.
Bei einem Knarren vor ihrem Zimmer schloss Kate die Augen und wünschte sich, die Person vor ihrer Tür werde nicht anklopfen. Es war ermüdend, sich möglichst nichts anmerken zu lassen, und sie wusste nicht, ob sie es schaffen würde, ihren Eltern etwas vorzugaukeln. Das tat sie nun schon, seitdem sie vor einer guten Woche wieder bei ihnen eingezogen war. Ihre Mutter mit ihren Hemmungen und dem zaghaften Naturell hatte im Grunde nur hilflos Kates Schulter getätschelt und ihr immer wieder gesagt, wie leid ihr die Trennung tue, und ihr Vater – von dem Kate die wackere Fröhlichkeit in Zeiten der Not geerbt hatte – gab joviale Sprüche von sich und sagte, andere Väter hätten auch »schöne Söhne«. Zwar wusste Kate die Anstrengungen der beiden zu schätzen, aber getröstet hatte es sie nicht. Was sie wirklich brauchte, war ein Plan – eine Strategie, um ihren Freund und damit das Glück zurückzuerobern.
»Nims, bist du wach?«
Kate öffnete die Augen. Nur ein einziger Mensch verwendete diesen Spitznamen, der aus einer Abkürzung ihres Nachnamens bestand. Doch dieser Mensch befand sich außer Landes.
Noch während Kate die Bettdecke sinken ließ, wurde die Tür einen Spalt geöffnet, und beim Anblick ihres Besuchers stieß sie einen überraschten Freudenschrei aus.
»Toby! Was machst du … Wie kommst du hierher?«
»Du wirst noch nicht davon gehört haben«, erwiderte ihr Bruder, »aber es gibt da heutzutage diese Dinger namens Flugzeuge. Große walzenförmige Maschinen mit Flügeln und Motoren, die Menschen durch die Luft von einem Land zum anderen befördern.«
»Sehr witzig«, antwortete sie und brach prompt in Tränen aus.
Toby ließ sich auf dem Bett nieder und zog Kate in die Arme. Im ersten Moment war es schön, sich eingehüllt und geschützt zu fühlen, doch zusammen mit der Dankbarkeit regte sich auch schon gleich das schlechte Gewissen. Sie fand es schrecklich, wie sie sich aufführte und dass sie ihre Gefühle nicht in den Griff bekam.
»Mir geht es gut«, krächzte sie und entzog sich ihm behutsam. »Ehrlich, ich bin bloß hundemüde, das ist alles.«
»Mum und Dad hast du vielleicht zum Narren halten können«, schalt er Kate, die sich mürrisch die Wangen abwischte, »aber ich sehe doch, was los ist, Nims – mir brauchst du nichts vorzuspielen.«
»Tu ich nicht«, widersprach sie, allerdings wenig überzeugend. »Es soll sich nur keiner Sorgen um mich machen.«
Toby runzelte die Stirn.
»Ich bin dein großer Bruder, da gehört das automatisch mit dazu.«
»Ja, aber …«
»Kein Aber. Lass das mit den Sorgen um dich mal meine Sorge sein.«
»Das ergibt doch eigentlich gar keinen Sinn.«
Er lachte. »Höchstwahrscheinlich nicht, aber wenigstens weinst du jetzt nicht mehr.« Toby griff in seine Jackentasche und holte einen KitKat-Riegel hervor. »Jeder zwei Finger?«
Kate, die seit ihrem Geburtstag kaum gegessen hatte, schüttelte den Kopf.
»Ach, komm schon«, drängte er und riss die Verpackung auf. »Du musst ja auch nicht beide essen – heb dir einen auf, damit du James bei eurer nächsten Begegnung den Stinkefinger zeigen kannst.«
»Es ist noch zu früh für Witze«, erklärte sie ihm, zog die Knie ans Kinn und schlang die Arme um die Beine.
Ihr einstiges Kinderzimmer war jetzt ein Gästezimmer. Ihre lippenstiftverschmierten Poster von Take That und McFly waren längst von den Wänden verschwunden. Kates Mutter hatte, vermutlich bei dem Versuch, ihre niedergeschlagene Tochter aufzumuntern, einen Bettüberzug mit My Little Pony-Aufdruck ausgegraben und Kates Lieblingstofftiere vom Speicher heruntergeholt. Allerdings empfand Kate die Kindheitsszenerie nicht als tröstlich, vielmehr verursachte sie ihr Magengrimmen. Mit dreißig Jahren sollte ihr Leben ganz anders aussehen.
»Wäre ich doch nur auf deiner Feier gewesen«, sagte Toby voller Bedauern. »Die eigene kleine Schwester wird schließlich nicht jeden Tag dreißig! Die Sanierung der Herberge hätte mir piepegal sein müssen, und ich hätte herfliegen sollen. Wenn ich es getan hätte«, fügte er in strengerem Tonfall hinzu, »dann hätte dieser Mistkerl es sich vielleicht gut überlegt, ehe er sich an deinem Geburtstag von dir trennt. Wer macht denn so was?«
»Es war meine Schuld«, sagte Kate niedergeschlagen. »Ich habe ihn unter Zugzwang gesetzt und zu einer Entscheidung gedrängt, die er ansonsten vielleicht nicht getroffen hätte. Wenn ich es nicht getan hätte, dann wäre es vielleicht …« Ihre Stimme verlor sich, denn Kate wusste, wie sinnlos es war, sich andere Szenarien auszumalen.
Toby musste über das Video Bescheid wissen, selbst wenn er es bisher noch mit keiner Silbe erwähnt hatte. In Großbritannien gab es vermutlich kaum eine Menschenseele, die es nicht kannte. Sie warf einen Blick auf ihren Laptop, der immer noch – nur halb heruntergeklappt und mit rot blinkendem Stand-by-Licht – auf dem Schreibtisch lag. Den Großteil des vergangenen Abends hatte sie auf Twitter verbracht und zu ihrem Entsetzen mit angesehen, wie die Zahl der Retweets unter dem #MöchtegernBraut #Nord-LondonerLiebesdebakel #VerlobungsFiasko #Torschlusspanik-Post immer weiter anstieg und beinahe die 500 000er-Marke knackte. Die Reaktionen rangierten von Mitgefühl bis hin zu offener Feindseligkeit, während in Kates persönlichem Posteingang – bevor sie Zeit hatte, unerwünschte Nachrichten zu blockieren – ganze 600 Botschaften von Männern eingegangen waren, die sich bereit erklärten, in die Bresche zu springen. Diese Anträge hätten Kate aufgemuntert, wenn die meisten nicht auch ein Foto des Körperteils angehängt hätten, das sie den Absendern zum Dank küssen sollte. Besonders verletzend waren die Retweets mit dem beigefügten Kommentar »cringe« gewesen – sie hatten ihr verraten, was die Mehrheit der Leute tatsächlich dachte. Hätte das Video eines öffentlichen Heiratsantrags auch dann für solche Furore gesorgt, wenn da ein Mann auf jenem Stuhl im Pub gestanden hätte? Natürlich nicht.
Toby musste ihren Blick bemerkt haben. »Es ist einfach unglaublich, dass dir jemand so etwas angetan hat. Welcher Mensch macht aus dem Liebeskummer eines anderen Clickbait?«
»Keine Ahnung.«
»Deinen Freunden traue ich eine solche Niederträchtigkeit auf keinen Fall zu, es muss also jemand aus James’ Kreis sein«, fügte er hinzu. »Und wenn du mich fragst, liegt es deshalb an ihm, herauszufinden, wer dahintersteckt, und dafür zu sorgen, dass die Sache gelöscht wird.«
Kate winselte abwehrend auf.
»Nun, das sollte er aber, Nims. Am liebsten würde ich zu ihm fahren und es ihm sagen – und ihm gleich mal so richtig die Meinung geigen.«
»Nein!« Bestürzt blickte Kate auf. »Bitte nicht, am Ende vergraulst du ihn noch ganz und gar. Außerdem ist es sowieso zwecklos«, beeilte sie sich zu erklären. »Der ursprüngliche Post ist mittlerweile schon so oft geteilt worden, dass es auch keinen Unterschied mehr machen würde.«
Beide verfielen in Schweigen, als die Türklingel ertönte, gefolgt von Stimmen und dann Schritten auf der Treppe. Seit Kate zu ihren Eltern gezogen war, war Robyn jeden Tag vorbeigekommen und hatte ihre Mittagspausen damit verbracht, nach ihrer Freundin zu sehen und sie möglichst in die Welt der Lebenden zurückzuholen. Jetzt platzte sie ins Zimmer, eine Einkaufstüte in der einen Hand und ihren Autoschlüssel in der anderen, und stieß bei Tobys Anblick einen Freudenschrei aus.
»O mein Gott, Tobes! Wie geht es dir? Und wie läuft’s in Kroatien? Du bist so braun gebrannt, richtig zum Reinbeißen! Wie ist das Eheleben? Wie lange bleibst du hier? Toll schaust du aus.«
Kate beobachtete die beiden, ihre beste Freundin und ihren großen Bruder, und angesichts des lockeren Plaudertons beschlich sie Neid. Vor wenigen Wochen war sie genauso gewesen, so voller Optimismus, so bereit, sich jeden Fetzen Glück zu krallen – aber nun fühlte sich ihr Herz so verschrumpelt und trocken wie eine Rosine an.
Auf ihrem Handy leuchtete eine SMS auf. James.
Bitte ruf nicht mehr an. Du machst es nur unnötig schwer.
Kate starrte die Wörter an, und das Blut in ihren Adern gefror zu Eis. Die Unterhaltung zwischen Robyn und Toby bekam sie nur noch mit halbem Ohr mit.
»In den letzten Tagen hat sich ihr Zustand zunehmend verschlechtert«, hörte sie ihre Freundin flüstern. »Seit dieses verdammte Video viral ging. Davor hat sie sich immer noch Hoffnungen gemacht. Aber jetzt ist es, als hätte man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen und als wäre von der alten Kate nichts mehr übrig.«
Mit einem leisen Zischen sog Toby die Luft ein.
Das Display von Kates Handy verdunkelte sich und wurde dann ganz schwarz.
Sie war zu einer Last, einer Peinlichkeit geworden – und das musste aufhören. Seitdem sich das Video von ihrem Heiratsantrag wie ein Lauffeuer im Internet verbreitet hatte, hatte Kate keinen Fuß mehr vor die Tür setzen können. Sie war davon überzeugt, dass jeder Bescheid wusste. Alle würden mit dem Finger auf sie zeigen und sie hämisch auslachen. Und wer könnte es ihnen verdenken?
»Ich weiß, dass du es im Moment nicht sehen kannst«, sagte Toby, »aber eines Tages wirst du merken, dass James keine einzige Träne wert ist. Es ist unverzeihlich, wie er dich fallen gelassen hat. Wer tut das einem Menschen an, den er angeblich liebt?«
»Er liebt mich eben nicht«, murmelte Kate. »Jedenfalls nicht mehr. Und warum sollte er auch?«, fügte sie trotzig hinzu. »Ich bin eine Witzfigur, in jeder Hinsicht eine Versagerin. Es gelingt mir noch nicht einmal, einen Mindestlohnjob in einem Büro zu behalten. Wen wundert es da, dass ich jetzt Single bin? James hat bloß endlich gemerkt, was alle anderen schon seit Jahren wissen: dass ich eine Niete bin, die offenbar nichts hinbekommt, außer sich zum Gespött der Nation zu machen.«
»Hör auf!« Robyn hob eine Hand. »Du bist keine Witzfigur und auch keine Versagerin.«
»Ähm, da bin ich aber anderer Ansicht«, erwiderte Kate und setzte sich ein Stück aufrechter hin. »Gehen wir doch einmal alles durch, was ich versucht und versemmelt habe, ja? Schauen wir mal, ach ja, da wären meine miesen Abschlussnoten, meine knappe und einzige Eins im Fach Englisch, die mir – Moment mal – rein gar nichts gebracht hat. Nach einer Reihe unmissverständlicher Absagen von so gut wie jeder Universität in England, Schottland und Wales – nein, lasst mich ausreden – stürzte ich mich ins Arbeitsleben und hatte die folgenden Jobs: Bulettenbraterin, Kassiererin, Kellnerin und Schülerlotsin, allerdings nichts davon länger als ein paar Monate. Dann war ich ungefähr zehn Minuten lang Hundefriseurin, wurde als Auslieferungsfahrerin gefeuert, als ich an meinem zweiten Tag einen Telefonmast rammte, hielt noch nicht einmal eine Schicht als Küchenhilfe durch und verlor meine Stelle als Empfangsdame in der City, weil ich es wagte, mir an Heiligabend freinehmen zu wollen.«
»Aber keiner dieser Jobs war das Richtige für dich«, stellte Robyn fest. »Und wenigstens hast du es immer weiter versucht.«
»Versucht und vergeigt«, erwiderte Kate mit Betonung auf dem letzten Wort. »Richtig gut bin ich nur darin gewesen, mich um James zu kümmern, und jetzt bin ich auch aus dem Job gefeuert worden – und jeder auf Twitter hat dabei zugesehen.«
Toby schüttelte den Kopf.
»Warum machst du nicht, was ich mache?«, schlug Robyn strahlend vor. »Bei der Ergotherapie geht es doch genau darum, sich um Menschen zu kümmern – darin wärst du spitze.«
»Da hat sie recht«, warf Toby mit einem aufmunternden Lächeln ein, doch Kate entging die Skepsis in seinen Augen nicht. Wie ihre eigenen waren sie hellgrün mit goldenen Sprenkeln, aber während ihr rotes Haar lang und gelockt war, trug er seines kurz geschoren.
Wenn sie doch nur über Talente verfügen würde, aus denen sich Profit schlagen ließe. In ihrer Beziehung hatte James sich um die offiziellen Angelegenheiten gekümmert, und Kate hatte ihr eigenes Unvermögen auf die gleiche Weise akzeptiert, wie das auch ihr übriges Umfeld tat – indem sie es mit einem Lachen herunterspielte. James hatte zwar gelegentlich die Augen verdreht, aber immer liebevoll. Ihre Berufswahl war ihm im Grunde egal gewesen, denn sie würde ohnehin bald zu Hause bleiben und sich um die Kinder kümmern. Viele würden diese Einstellung als überholt oder sexistisch verurteilen, das war Kate klar, aber ihr war sie nie aufgestoßen. Sie wollte es so, und wenn überhaupt hatte sie sich glücklich geschätzt, mit einem Mann zusammen zu sein, der sich ganz traditionell in der Rolle des Ernährers sah, während sie vollständig im Dasein als Mutter und Ehefrau aufgehen könnte. In den vergangenen acht Jahren war ihr kein einziges Mal in den Sinn gekommen, dass James es sich möglicherweise anders überlegen könnte, dass er sie verlassen würde, sobald sein selbst gesetzter Zeitplan in Gefahr geriet.
»Höchste Zeit für eine Tasse Tee.« Toby erhob sich. »Hilfst du mir bitte, Robyn?«
Als Kate aufsah, erhaschte sie gerade noch den vielsagenden Blick, den die beiden wechselten. Unten in der Küche ihrer Eltern würden sie sich über Kate unterhalten. Sie würden sich einen Schlachtplan zurechtlegen, um Kate aus dem Jammertal zu zerren, in das sie sich verkrochen hatte.
»Sicher«, antwortete Robyn. »Ach, und die hier sind für dich«, erklärte sie Kate und ließ die Einkaufstüte sinken. »Ein subtiler Hinweis darauf, dass es immer jemanden gibt, dem das Leben noch viel schlimmer mitspielt.«
Missbilligend mokierte sich Kate über den Stapel Klatschzeitschriften, die quer über das Bett glitten.
»Schau nur!« Eifrig deutete Robyn auf eine Schlagzeile. »Mein Ehemann hat mich verlassen … für den Geist meiner Mutter. Und was ist mit diesem armen Tropf? Er hat seiner Freundin, wie er glaubte, ein kleines Kätzchen zu Weihnachten gekauft und erst später gemerkt, dass es eine Fledermaus war.«
Toby erschauderte sichtlich.
»Das ist grässlich. Bitte aufhören«, bat er, als Robyn mit dem Finger eine zweite Illustrierte aufblätterte. »Überlassen wir es meiner armen Schwester, sich im Elend dieser fehlgeleiteten Individuen zu suhlen, während wir Tee kochen. Dabei kannst du mich bezüglich deines Liebeslebens auf den neuesten Stand bringen.«
Robyn stieß ein Ächzen aus. »Das ist schnell erledigt.«
Erst als die beiden das Zimmer verlassen hatten, griff Kate nach ihrem Handy und las erneut James’ kurz angebundene Bitte, ihn nicht mehr anzurufen. Anfangs hatte er Geduld gehabt und war gewillt gewesen, zu reden und die Dinge zu erklären, aber mittlerweile hatte sie das Gefühl, ihn mit jedem weiteren Tag noch ein Stück mehr zu verlieren. Ihr fiel nicht das Geringste ein, was sie ihm als Antwort schreiben könnte, und dieser Umstand allein machte ihr Angst: die Vorstellung, dass sich zwei ehemals vertraute Menschen fremd werden konnten. James durfte niemand werden, den sie früher einmal gekannt hatte; sie wollte, dass er der Mensch blieb, den sie am besten kannte.
In ihrem Ärger über sich und die Situation zog Kate die nächste Illustrierte zu sich heran und warf einen Blick auf das Cover. Angesichts der skurrilen Schlagzeilen riss sie die Augen auf. Dann begann sie lustlos, in den Zeitschriften herumzublättern und die Artikel und Reportagen zu überfliegen, ohne sie richtig zu lesen.
Sie musste unbedingt einen Weg finden, um James zurückzuerobern – bloß wie? Wie konnte sie ihn dazu bringen, zu Vernunft zu kommen, wenn er sich weigerte, sich mit ihr zu treffen oder auch nur ein Gespräch zu führen? Zwar wollte Kate seine Bitte, in Ruhe gelassen zu werden, respektieren, aber gleichzeitig sollte ihm klar werden, wie dumm es war, einfach alles wegzuwerfen, was sie sich gemeinsam aufgebaut hatten. Ihm das zu sagen, würde nicht funktionieren – stattdessen musste sie ihm seinen Irrtum vor Augen führen und ihm zeigen, wie viel besser sein Leben mit ihr war. Irgendwie musste sie ihn dazu bringen, dass er sie vermisste.
Kate griff nach einer zweiten Illustrierten und schlug wahllos eine Seite auf, in Erwartung der nächsten Story über einen untreuen Ehemann oder einen außergewöhnlichen Fetisch. Stattdessen stand da in großen schwarzen Buchstaben: »Warum ich meinem Bruder Briefe schreibe – zehn Jahre nach seinem Verschwinden.« Darunter prangte das Foto einer düster dreinblickenden Frau Mitte dreißig, und noch eines von einem jungen Mann. Seine Wangen waren hohl, der Blick gesenkt, so als hätte er der Person hinter der Kamera nicht in die Augen sehen wollen, doch die Haltung seiner Schultern hatte etwas Trotziges, sein Kinn war herausfordernd gereckt. Gebrochen war er wohl, aber noch nicht besiegt.
Diesen Ausdruck kannte sie nur zu gut.
Kate hob die Zeitschrift ein kleines Stück, schob ihre Brille zurecht und begann zu lesen.
Tragische Schicksalsschläge sind für Angela Dawson leider nichts Neues. Sie durchlitt schon viel mehr, als ein Mensch im Laufe seines gesamten Lebens zu erdulden haben sollte.
Mit nur sechsundzwanzig Jahren hatte sie nicht nur beide Eltern, sondern auch ihren jüngeren Bruder verloren – ein Umstand, der die sechsunddreißigjährige Zahnarzthelferin bis heute nicht loslässt.
»Der Tod hat etwas Endgültiges, deshalb ist es zwar schwer, damit umzugehen, aber nicht unmöglich«, erzählt sie in ihrem kleinen Reihenhaus in Aberystwyth. »Das Ableben meiner Eltern war schrecklich, aber in vielerlei Hinsicht war Joshs Verschwinden schlimmer. Dass meine Mum und mein Dad nicht eines Tages vor meiner Tür stehen werden, weiß ich; ich werde ihre Gesichter nicht auf einmal in einer Menschenmenge entdecken und zu ihnen hinlaufen und sie begrüßen können. Aber in Joshs Fall könnte so etwas passieren. Der Ausspruch ›die Hoffnung stirbt zuletzt‹ ist ein Klischee, das weiß ich, aber es ist aus gutem Grund entstanden. An jedem Tag, an dem ich ihn nicht finde, habe ich das Gefühl, ein Stückchen zu sterben – in jedem Moment, den mein Bruder vermisst bleibt. Ich möchte nicht einfach wissen, wo er steckt und was ihm zugestoßen ist – ich muss es erfahren, um weiterleben zu können.«
Angela bittet darum, die Aufnahme zu unterbrechen, während sie um Fassung ringt. Wir kommen ihrer Bitte nach und betrachten die Fotos von ihrem verschollenen Bruder, die jeden freien Zentimeter in ihrem kleinen Wohnzimmer einnehmen.
»Er soll wissen, dass ich ihn nicht vergessen habe«, erläutert sie. »Kein Tag vergeht, an dem ich nicht an ihn denke und mich frage, wie es ihm geht und wie sehr er sich in den zehn Jahren, die ich ihn nun nicht mehr gesehen habe, verändert haben mag. Nehmen Sie so viele Fotos mit, wie Sie wollen«, drängt sie. »Es sollen ihn möglichst viele Menschen sehen, nur für den Fall, dass ihn jemand wiedererkennt.«
Auf die Polizei und Hilfsorganisationen für Vermisste angesprochen, schüttelt Angela nur den Kopf und gibt uns ein Zeichen, das Gespräch weiter aufzuzeichnen.
»Jedes Jahr werden im Vereinigten Königreich einhundertachtzigtausend Menschen vermisst gemeldet«, erklärt sie. »Das ist einer alle neunzig Sekunden.«
Einen Moment halten wir beide inne, um ihre Worte auf uns wirken zu lassen.
»Von diesen einhundertachtzigtausend sind einundfünfzig Prozent Männer – das macht also einundneunzigtausendachthundert Männer. Einundneunzigtausendachthundert gebrochene Herzen, zerstörte Leben und auseinandergerissene Familien. Und mir ist klar, dass Josh nur einer von ihnen ist, aber er gehört eben zu mir. Bei seinem Verschwinden galt er als ›gefährdete Person‹«, fährt Angela mit einem leichten Zittern in der Stimme fort. »Das bedeutete, dass die Behörden meine Sorge um sein Wohlergehen ernst nahmen, und dank ihnen erfuhr ich, dass er ins Ausland gereist war. Er nahm einen Zug und bestieg dann eine Fähre nach Frankreich. Danach verlor sich die Spur allerdings. Die begrenzten Ressourcen der offiziellen Kanäle versiegten, und der Fall wurde zu den Akten gelegt. Für die Polizei ist Josh jetzt ein Bündel Papiere, eine Statistik, ein weiterer Name auf der Liste der Verschwundenen. Ich mache ihnen keine Vorwürfe, dass sie ihn nicht gefunden haben, und ich verstehe, warum sie keine weiteren Mittel auf die Suche verwenden können, aber mich schreckt das nicht ab. Ich glaube weiterhin, dass er irgendwo da draußen ist, und ich bin fest entschlossen, ihn zu finden – koste es, was es wolle.«
Während des Gesprächs ist Angela zusammengesunken, ihre Schultern sind hochgezogen, und das Kinn liegt auf den Knien. Sie ist zerbrechlich, gleichzeitig aber eine Kämpferin, und ihr Kummer ist mit den Händen zu greifen.
Josh verschwand im Anschluss an eine Meinungsverschiedenheit mit seiner Schwester, doch Angela möchte keine Einzelheiten darüber preisgeben, was an jenem schrecklichen Tag gesagt wurde. Stattdessen bitten wir sie behutsam, uns von den Briefen zu erzählen, die sie ihm schreibt.
»Natürlich schicke ich sie nicht ab«, sagt sie mit einem bitteren Lachen. »Aber ich stelle mir doch vor, wie er sie eines Tages liest, wenn er sich dazu entschließt, nach Hause zurückzukehren. Er soll alles, was passiert ist, all die Dinge, die er vielleicht verpasst hat, nachlesen können. Manchmal enthalten die Briefe nicht viel mehr als eine Aufzählung meiner Mahlzeiten in der Woche, wieder andere bestehen aus Schimpftiraden. Wut ist einfacher zu ertragen als Angst«, erklärt sie. »Zorn ist ein anspornendes Gefühl, Trauer nicht.«
Auf die Frage, was Angela ihrem Bruder exklusiv auf den Seiten der Zeitschrift Me Time sagen möchte, holt sie ein Blatt Papier aus der Tasche ihrer Strickjacke und entfaltet es.
»Lieber Josh«, fängt sie an. »Du wirst nun schon seit zehn Jahren vermisst, und bis heute ist kein einziger Tag vergangen, an dem ich nicht nach dir gesucht hätte. Ich habe in jedem Krankenhaus, in jeder Herberge und in jedem Obdachlosenasyl angerufen. Ich habe mit der Polizei, mit Wohlfahrtsorganisationen und mit Menschen, die auf der Straße leben, gesprochen. Ich bin bei Tag und bei Nacht durch ganz Aberystwyth gelaufen und habe jedem dein Foto gezeigt.
Und trotzdem habe ich nicht die geringste Spur von dir gefunden.
Ich denke an dich. Jeden Tag. Ich erinnere mich an das Baby mit den pummeligen Ärmchen, das meine Haare packte und sich in den Mund steckte; an das Kleinkind mit seinen Zahnlücken, das im Dunkeln in mein Bett gekrochen kam, weil es Angst vor der Hexe im Kleiderschrank hatte. Ich sehe den kleinen Jungen mit den aufgeschürften Knien vor mir, der mit dem Fahrrad im Gartenteich landete; den akneübersäten Teenager, der mir die letzten Chips stibitzte; den missmutigen Jugendlichen, der nicht mehr wusste, was Lachen hieß; den hageren jungen Mann mit Schmutz unter den Fingernägeln und dem gehetzten Blick eines Menschen, der zu viel gesehen, zu viel erlitten, zu viel gefühlt hat. Ich habe nichts vergessen.
Du bist immer noch ein Sohn, immer noch ein Freund, immer noch mein Bruder, und ich liebe dich immer noch, Josh. Von ganzem Herzen.«
Der Brief verändert die Atmosphäre im Zimmer spürbar, und ein paar Minuten lang sitzen wir beide schweigend da. Das einzige Geräusch ist das Ticken der Küchenuhr, die die Zeit misst und jeden Moment zählt, den die arme Angela ohne ihren Bruder Josh verbringen muss.
Möchte sie der Leserschaft von Me Time noch irgendetwas mitteilen?
Angela nickt mit tränenverschleiertem Blick.
»Bitte helfen Sie mir, meinen Bruder zu finden«, sagt sie. »Helfen Sie mir, Josh zu finden.«
3
Kate starrte auf das Foto des Vermissten und wischte sich krampfhaft die Tränen aus dem Gesicht. Es war fast eine Erlösung, zur Abwechslung einmal über den Kummer eines anderen Menschen zu weinen, allerdings lenkte diese merkwürdige Erleichterung nicht vom tragischen Kern der Geschichte ab. Sie versuchte, sich in Angela hineinzuversetzen, aber es war unmöglich, sich eine Welt vorzustellen, in der ihr Bruder sich dazu entschied, wegzulaufen und seine Familie nie mehr wiederzusehen. Toby war zwar mit seinem Ehemann Filippo nach Kroatien gezogen, aber er rief jeden Tag an oder schickte eine SMS. Er war immer für sie da gewesen, war auch jetzt wieder für sie da, unten in der Küche, wo er einen Plan ausheckte, um sie aufzumuntern. Und sie hatte sich noch nicht einmal bei ihm bedankt.
Doch genau das war das Problem mit Familienangehörigen – man hielt sie schnell für selbstverständlich und ging davon aus, dass sie einen ein Leben lang lieben und bedingungslos unterstützen würden. Und nicht nur Familienangehörige. James hatte Kate für selbstverständlich gehalten – und tat das wahrscheinlich immer noch. Er hatte schließlich auch keinen Grund, etwas anderes zu glauben, wenn sie ihn jeden Tag seit der Trennung anflehte, es sich noch einmal anders zu überlegen, und ihm sagte, wie sehr sie ihn liebte und dass sie alles dafür täte, um noch einmal eine Chance zu bekommen.
Vielleicht lag genau da ihr Fehler.
Eine Idee regte sich in ihrem Unbewussten und kämpfte sich durch die üblichen Barrieren aus Unsicherheit und Hemmungen, errichtet von der einen Emotion, die in ihrem Leben schon so viel vereitelt hatte: ihrer Angst. Diesmal durfte sie sich auf keinen Fall von ihr überwältigen lassen. Um diesen Einfall in die Tat umsetzen zu können, brauchte Kate sowohl Mut als auch Standhaftigkeit.
Als Toby und Robyn mit einem Tablett mit drei Bechern und einem Teller voller Schokoriegel zurückkehrten, hatte sie den Artikel noch einmal durchgelesen und war voller Tatendrang.
»Du siehst aus, als hättest du wieder geweint«, stellte Toby besorgt fest.
»Richtig«, räumte Kate ein und trank einen Schluck Tee. »Aber diesmal nicht wegen James, wie ihr beide bestimmt gern hören werdet.«
»Der Kerl hat sein wahres Gesicht gezeigt«, verkündete Robyn und packte ihren Riegel aus. »Und das ist bei Weitem nicht so süß wie die Schokolade hier.«
Kate lächelte verhalten.
»Ich habe dir einen Vorschlag zu unterbreiten«, wandte sie sich an Toby, der gerade genüsslich seinen angebissenen Riegel in den Tee tunkte. »Es hört sich vielleicht ein bisschen abgefahren an, aber ich glaube, es könnte funktionieren.«
»Okay.« Er klang argwöhnisch. »Wenn du von Funktionieren sprichst, meinst du dann …?«
»Dass James Vernunft annimmt, ja.«
»Aber ich dachte …«, setzte Robyn an, verstummte jedoch auf Kates flehenden Blick hin gleich wieder.
»Wie fändest du es, wenn ich dich ein Weilchen besuchen komme?«
»Was … Du meinst, in Kroatien?«
»Nun, ich weiß ja, dass du mit Filippo im Sommer die Herberge eröffnen willst, aber mir ist auch zu Ohren gekommen, dass sie überhaupt noch nicht fertig ist. Mum hat es mir erzählt«, fügte sie hinzu, als Toby zustimmend das Gesicht verzog. »Laut ihr würde es schon an ein Wunder grenzen, wenn ihr tatsächlich rechtzeitig eröffnet und dieses Jahr noch Einnahmen habt. Da habe ich mir gedacht, ich könnte euch unter die Arme greifen, wenn ich ein bisschen bei euch wohne. Das Haus von James und mir habe ich im Alleingang renoviert und einige Erfahrung mit dem Malerroller gesammelt.«
Toby sah zu Robyn, die in Gelächter ausbrach.
»Was denn?«, wollte Kate wissen. »Was verschweigt ihr mir?«
»Ich lache dich nicht aus«, versicherte Robyn. »Es ist bloß witzig, dass du uns noch übertrumpft hast. Ich wollte unbedingt mit dir in ein Wellnesshotel oder so fahren, aber stattdessen hast du selbst eine viel bessere Idee gehabt. Etwas Abstand von James und diesem ganzen Unsinn mit dem Video ist genau das, was du brauchst – ich finde es toll, dass dir das klar geworden ist. Aus den Augen, aus dem Sinn, kann ich da nur hoffen, und …«
»Das ist nicht der Grund, warum ich wegfahren will«, fiel Kate ihr ins Wort. Sie warf die Illustrierte quer über das Bett, um Robyn den Artikel zu zeigen, den sie gelesen hatte.
»Was? Du willst verschwinden?«, fragte Robyn völlig verwirrt.
»Also, ja. Aber nicht so, wie es der Mann da gemacht hat. Ich habe mir nur überlegt, dass James mich vielleicht vermissen würde, wenn ich nicht so … ihr wisst schon … zur Verfügung stehe. Während unserer ganzen Beziehung hat er immer genau gewusst, wo ich bin, mit wem ich mich treffe und was ich tue – und ich habe mir gedacht, wenn ich ihm das alles eine Zeit lang nehme, gibt es ihm vielleicht den nötigen Schubs, und er merkt, dass er mich doch noch liebt.«
Schweigend ließen Robyn und Toby sich ihre Worte durch den Kopf gehen. Ihnen stand eine Mischung aus Sorge und Enttäuschung ins Gesicht geschrieben.
»Glaubst du nicht, du solltest besser versuchen, über ihn hinwegzukommen?«, fragte Toby schließlich.
»Finde ich auch.« Robyn zerknüllte die Verpackung ihres Schokoriegels und warf sie in Richtung Abfallkorb. »Die vergangenen acht Jahre hast du tagein, tagaus nach der Pfeife dieses Mannes getanzt und ihm noch den letzten Wunsch von den Augen abgelesen. Der soll ruhig mal sehen, wie das Leben ohne eine Freundin ist, die ihn vergöttert – schauen wir mal, wie ihm das bekommt.«
Kate hob die Riegelverpackung vom Boden auf.
»Es soll aber keine große Racheaktion oder so was werden«, sagte sie beschwichtigend. »Ich möchte bloß, dass er mich ein bisschen vermisst. Ich weiß, was ich will.«
Robyn seufzte frustriert. »Hoffentlich soll das nicht heißen, dass du unbedingt James willst. Das hier könnte die Gelegenheit sein, herauszufinden, was du willst, nicht er.«
Am liebsten hätte Kate gesagt, das laufe auf das Gleiche hinaus, doch sie traute sich nicht.
»Ein bisschen Unterstützung wäre super«, warf Toby diplomatisch ein. »Du weißt ja, dass Filippo und ich mit ästhetischer Blindheit geschlagen sind. Mittlerweile stehen wir an dem Punkt, wo wir Wandfarben und Mobiliar für die Schlafräume aussuchen – und ich wette, dieser ganze Kram ist genau dein Ding. Erinnerst du dich noch an das Puppenhaus, das du als Kind hattest? Du hast jedes Zimmer anders eingerichtet – es gab ein Aquariumzimmer, ein Bauernhofzimmer und sogar ein Muppets-Zimmer, wenn ich mich nicht täusche?«
»Ehrlich gesagt ist es eine geniale Idee, wegzufahren, selbst wenn ich nicht voll und ganz mit deinen Beweggründen einverstanden bin«, sagte Robyn und kramte in dem Illustriertenstapel herum. »Die Alternative lautet wohl, dass du den ganzen Sommer über hier in deinem Kinderzimmer verfaulst, dich selbst bemitleidest und ständig bei Twitter nachguckst.«
»Ich verfaule nicht, sondern gehe dem Spott der Öffentlichkeit aus dem Weg.«
Mit einem verständnisvollen Lächeln zog Toby sein Handy aus der Jeanstasche.
»Ich rufe nur eben bei Filippo an und gebe ihm Bescheid, ja? In meinem Flieger nächste Woche ist bestimmt noch ein Platz frei. Die Urlaubssaison hat gerade erst angefangen.«
»Das ist ja so aufregend!« Robyn klatschte in die Hände. »Ich werde auf jeden Fall auch rüberfliegen und euch besuchen, sobald ich endlich mal Urlaub von der blöden Arbeit bekomme.«
Trotz des Geredes von der »blöden Arbeit« wusste Kate, dass ihre Freundin Feuer und Flamme für ihren Job war. So war das schon mit fünfzehn Jahren gewesen, als Robyn den Entschluss gefasst hatte, eines Tages Ergotherapeutin zu werden. Damals hatte Kate so getan, als wäre sie von einem ähnlichen Ehrgeiz beseelt, Grundschullehrerin zu werden, aber die Wahrheit hatte völlig anders ausgesehen. Und selbst wenn sie diese Laufbahn hätte einschlagen wollen, hätten ihre Noten niemals dazu ausgereicht. Welchen Anreiz zum Lernen gab es schon, wenn einem das Ergebnis gleichgültig war? Es war leichter, nur das Minimum zu tun und auf das Beste zu hoffen, und genau das tat sie auch – selbst wenn sie mittlerweile akzeptiert hatte, dass ihr Bestes in jeder Hinsicht nur durchschnittlich war.
Doch für James war es gut genug gewesen, und infolgedessen für Kate auch.
Und dann auf einmal nicht mehr.
In Wahrheit war diese Kroatienreise für Kate nicht einfach nur ein Plan, um James zurückzuerobern. Es gab noch einen tieferen Beweggrund – den sie allerdings weder ihrem Bruder noch ihrer besten Freundin oder auch nur sich selbst eingestehen konnte. In ihrem Innern regte sich schon seit Langem das Bedürfnis, wegzulaufen und dem lähmenden Schmerz zu entfliehen, der ihr nicht erst seit ihrem Liebeskummer zu schaffen machte. Hier wurde sie zu oft daran erinnert, und es gab zu viele emotionale Landminen, die jederzeit losgehen konnten. Kate konnte sich dem nicht stellen. Noch nicht.
Vielleicht niemals.
4
Sechs Tage später …
An einem späten Sonntagnachmittag landeten Kate und Toby in Split, wo ihnen nicht nur die laue Sonne hoch über dem Flughafen einen strahlenden Empfang bereitete. Filippo wartete in der Ankunftshalle auf sie und umklammerte mit den Händen ein selbst gebasteltes Schild, auf dem ein riesiges rotes Herz prangte. Er stürzte auf die beiden zu und zog sie in eine stürmische Umarmung.
»I miei amori«, sprudelte es aus ihm heraus, und er bedeckte Kates Gesicht mit Küsschen, ehe er sich zu seinem Ehemann wandte.
»Ihr kitschigen Romantiker«, stellte Kate fest, als die beiden Männer ihre Nasen liebevoll aneinanderrieben. »Was heißt noch einmal ›nicht in aller Öffentlichkeit‹ auf Italienisch?«
»Du bist mir eine.« Filippo hakte sich mit seinem langen, schlanken Arm bei Kate ein. Um ein Haar wäre dabei ihr gewaltiger Koffer umgefallen. »Immer noch zu Scherzen aufgelegt.«
»Sie lässt sich nichts anmerken«, erwiderte Toby. »Aber täusch dich nicht. Sie braucht unbedingt unsere liebevolle Zuwendung – und zwar in rauen Mengen.«
»Oh, povera bambina«, flötete Filippo. »Toby hat mir alles erzählt. James ist ein idiota.«
»Das zumindest verstehe ich auch ohne Übersetzung.«
»Komm mit.« Jetzt zog Filippo Kate fort. »Wir kriegen das schon hin. Wenn du erst einmal das neue Haus siehst, werden in deinem Herzen Tauben flattern.«
»Mein Gatte ist ein echter Poet«, sagte Toby gedehnt und folgte den beiden mit dem Gepäck.
»Toby hat mir auf dem Flug ein paar Bilder gezeigt«, setzte Kate an, doch der dunkelhaarige Filippo schüttelte den Kopf.
»Bilder«, wiederholte er verächtlich und machte eine wegwerfende Handbewegung, während er ihnen einen Weg durch ein Meer aus Touristen, Flughafenpersonal und wartenden Taxifahrern bahnte. »Du bist zum ersten Mal in Kroatien, vero?«
Kate nickte.
»Dann wird es schon sehr bald eine neue Liebe in deinem Leben geben. Wenn du das klare Wasser siehst, die Sonne auf dem Gesicht spürst und am Morgen das Vogelgezwitscher hörst, während im Hafen das Läuten der Kirchenglocken erklingt, wirst du keinen Gedanken mehr an James verschwenden.«
Filippos schwungvolle Gesten, mit denen er jede Aussage unterstrich, verfehlten andere Passanten, die nicht klug genug waren, einen weiten Bogen um sie zu machen, jedes Mal nur um Haaresbreite. Kurz vor dem Ausgang bot sich Kate der Ausblick auf Palmwedel vor einem tiefblauen Himmel. Laut Tobys Beschreibungen war Kroatien »das Beste von Italien, Griechenland, Spanien und Osteuropa in einem«, doch bevor Kate sich vor ein paar Wochen eine Landkarte angesehen hatte, hätte sie noch nicht einmal mit Sicherheit sagen können, wo genau das Land lag. In der Schule hätte sie im Geografieunterricht besser aufpassen sollen.
Auf dem Weg über den Parkplatz setzte Filippo seinen ekstatischen Lobgesang fort, und er legte auch kaum eine Atempause ein, als sie den Jeep erreichten und ihr Gepäck einluden. Dann ließ er schließlich doch von Kate ab, damit sie auf den Beifahrersitz klettern konnte, bezeichnete sie als »minuscola« und lenkte zum Thema Abendessen über.
»Hoffentlich isst du gern Fisch«, sagte er und hupte energisch zwei fassungslose alte Frauen an, die vor ihnen die Straße überquerten. Toby lachte hinten auf dem Rücksitz und rügte die Ungeduld seines Mannes.
»So fahren Italiener nun einmal Auto«, erklärte Toby Kate, als Filippo die zweite Kurve so schnell nahm, dass sie über den Schaltknüppel fiel. »Als ich das erste Mal zu ihm ins Auto gestiegen bin, dachte ich, mein letztes Stündlein hätte geschlagen.«
Filippo mokierte sich gutmütig. »Ihr Briten seid einfach zu höflich.« Er fuhr auf einen Bordstein, um zwei Taxis zu überholen. »Wenn du etwas im Leben erreichen willst, drängle dich in der Schlange nach vorne. Wenn du schnell irgendwohin kommen willst, gib Gas.«
»Wenn du keine in die Fresse kriegen oder im Straßengraben landen willst, hör nicht auf Filippo«, fügte Toby hinzu und erntete einen belustigten Empörungsschrei seines Ehemanns.
Von jeher hatte Kate die Dynamik ihrer Beziehung, das gegenseitige Necken und die spielerischen Sticheleien, gemocht. Toby war zurückhaltender als sein temperamentvoller Partner, aber gerade durch die unterschiedliche Wesensart der beiden stellte sich diese wunderbare Balance ein. Filippo liebte ihren Bruder abgöttisch, und Toby erwiderte diese Liebe mit einer heftigen Leidenschaft, die nur selten zum Vorschein kam, dadurch aber nur noch stärker wirkte. Die beiden stellten ihre Gefühle nicht plakativ zur Schau. Sie waren ineinander vernarrt, und jeder war sich der Gefühle des anderen sicher, da war es nicht nötig, der Welt etwas zu beweisen. Kate hatte geglaubt, dass es bei James und ihr genauso sei, dass es ihm ernst sei, wenn er ihr sagte, er liebe sie. Hatte sie sich wirklich derart getäuscht?
Nun brausten sie auf den Hafen zu, von wo aus die Fähre nach Hvar ablegte. Allerdings nahm Kate die Umgebung, die an ihnen vorüberzog, kaum wahr. Sie griff nach ihrem Handy, schaltete Roaming ein und ging auf Facebook. Sie hatte fünfundsiebzig Likes für ihren »Check-in« am Flughafen Gatwick bekommen, sechzehn Leute hatten sogar Kommentare hinterlassen und sie gefragt, wohin die Reise ginge und wie lange sie weg sein würde. Während Kate die Namen auf der Suche nach James überflog, beschleunigte sich ihr Puls. Aber keine Spur von ihm. Entweder hatte er ihr Update nicht gesehen, oder es war ihm keinen Kommentar wert. Bittere Enttäuschung stieg in Kate auf. Sie war überzeugt gewesen, dass ihr Plan aufgehen und James sich bei ihr melden würde, weil er unbedingt ihr Reiseziel herausfinden wollte.
Zur Sicherheit sah sie auf sämtlichen Messenger-Apps und Plattformen nach, aber James hatte sich auf keinem Kanal gemeldet. Wütend blinzelte sie die drohenden Tränen weg und ärgerte sich über ihre eigene Schwäche, doch als im nächsten Moment eine SMS eintraf, schlug ihr Zorn schon wieder in Hoffnung um.
Die Nachricht stammte von einem örtlichen Mobilfunkbetreiber, der sie in Kroatien willkommen hieß.
»Zum Teufel!«, murrte sie, und ihr Fluch erklang passend zu einem besonders haarsträubenden Überholmanöver Filippos.
»Das ist die richtige Einstellung!«, erwiderte er fröhlich und hupte anerkennend.
Vage nahm Kate den ständigen Redefluss ihres Bruders auf der Rückbank des Jeeps wahr, seine Erläuterungen zu Splits römischem Hafen, dem antiken Kaiserpalast und der faszinierend angelegten Altstadt mit ihren überdachten Gassen und schmalen Innenhöfen. Zwar war sein Vortrag interessant, doch Kate brachte einfach nicht den nötigen Elan auf, um richtig hinzuhören. Ihre Gedanken galten einzig und allein James, dem Fehlen jeglicher Nachrichten von ihm und der gähnenden Leere, die sich in ihrem Innern aufgetan hatte.
Kurz vor dem Fährhafen ging Toby von mittelalterlicher Architektur zum Thema kohlensaurer Kalk über, dem Kroatien, wie er jetzt in feierlichem Ernst erklärte, die türkisgrüne Meeresfarbe verdanke, für die es berühmt sei.
»Du wirst sehen, was ich meine, wenn wir erst einmal auf dem Schiff sind.« Er deutete durch die Windschutzscheibe. »Gleich sind wir da.«
Erst als sie den Wagen an Bord gefahren und geparkt hatten und nun nebeneinander an der Reling der gewaltigen Autofähre standen, beruhigte sich Kates wild hämmerndes Herz allmählich. Im Jeep hatte sie sich eingesperrt gefühlt, und ihre Angst hatte jeden Winkel des Wageninneren ausgefüllt und sie zu ersticken gedroht. Schließlich hatte sie sogar auf ihren Händen gesessen, um nicht die Tür aufzureißen und auf den Asphalt zu springen. Nun stand Kate auf den Planken der Fähre, die unter der gewaltigen Motorenkraft vibrierten, und atmete die von salzigem Gischtnebel durchtränkte Luft ein. Sie blickte zu der Stadt zurück, die sie eben hinter sich gelassen hatten, und ließ sie zum ersten Mal richtig auf sich wirken.
Weiße Häuser lugten zwischen hohen Palmen hervor, und rote Dächer bildeten kräftige Farbkleckse vor dem kobaltblauen Himmel. Am Horizont hingen tiefe Wolken wie hingeworfene Wattebäusche, und in der Ferne erstreckten sich Gebirgsketten, so still und imposant wie schlafende Löwen.
Es wäre ein Leichtes, sich in einer dieser labyrinthartigen Straßen zu verlieren oder mit einem Boot zu einer entlegenen, unbewohnten Insel zu segeln – einem Ort, wo niemand sie suchen würde, wo ihre fragilen Gefühle keiner Gefahr mehr ausgesetzt sein würden. Doch schon im nächsten Augenblick übermannten sie Gedanken an das Leben, das sie hinter sich gelassen hatte.
Auf keinen Fall durfte sie den Grund für ihre Reise vergessen. Der Sommer erstreckte sich wie ein riesengroßes Schachbrett vor ihr, und mit dem Flug nach Kroatien hatte sie die Partie mit ihrem ersten Bauern eröffnet. Es war ganz gleich, wie James reagierte und wie viele strategische Züge noch folgen würden – Kate musste fest daran glauben, dass es ihr gelingen würde, ihren König zurückzuerobern.
5
Toby und Filippo hatten ihr erstes Geschäftsprojekt Sul Tetto genannt, was auf Italienisch »auf dem Dach« bedeutete. Der Grund dafür offenbarte sich Kate augenblicklich, als sie von ihrem stolzen Bruder auf die große Dachterrasse der Herberge geführt wurde. Die Stadt Hvar erstreckte sich in all ihrer kunterbunten Schönheit hangabwärts zum Meer, das im Sonnenuntergang wie flüssiges Gold schimmerte. In ehrfürchtigem Schweigen sah Kate einem Vogelschwarm nach, der von einer leichten Abendbrise zu fernen Landmassen im Westen getragen wurde.
»Das sind die Pakleni-Inseln, auch Hölleninseln genannt«, erklärte Toby und lächelte über ihre staunende Miene. »Allein schon wegen der Strände und Restaurants einen Besuch wert, oder auch, wenn man ein bisschen abseits der Touristenpfade unterwegs sein möchte.«
»Es ist einfach unglaublich, dass ihr jetzt hier wohnt«, sagte Kate. »Du hast ja Fotos geschickt, aber ich habe wohl nicht richtig achtgegeben. Ich hatte keine Vorstellung davon, dass Kroatien so … nun, schau doch selbst!«
»Ich weiß.« Toby legte einen Arm um ihre Schultern. »Für mich war es Liebe auf den ersten Blick.«
»Mit mir ging es ihm ganz genauso«, ertönte Filippos Stimme. Er war eben mit einer Flasche und drei kleinen Gläsern hinter ihnen aufgetaucht.
»Für mich nicht, danke«, sagte Kate, als er den Korken herauszog. »Alkohol macht mich bloß rührselig.«
»So ein Quatsch.« Filippo reichte ihr ein kleines Glas, das er bis zum Rand mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt hatte. »Auf dem Balkan ist es Tradition, einen neuen Gast mit einem Rakija zu begrüßen.«
»Was ist Rakija?«, fragte sie nervös. Sie hielt sich das Glas zum Schnuppern an die Nase und erschauderte.
»Traubensaft«, lautete Tobys schlichte Erklärung. Er stieß mit seinem eigenen Glas an ihres. »Komm schon, Nims. Ein Gläschen wird dich nicht umbringen.«
»Na schön.« Kate machte sich bereit. »Aber das hier tue ich nur für euch beide.«
»Eins, zwei, drei – živjeli!«, riefen die Männer im Chor, und ehe sich weitere Bedenken regen konnten, trank Kate das Glas in einem Zug leer.
Der Rakija brannte, aber seine Wirkung fühlte sich seltsam belebend an, als hätte ihr jemand mit einem Elixier Mut eingeflößt. Sie kam sich hellwach vor – zum ersten Mal seit über zwei Wochen.
»Noch einer gefällig?«, fragte Filippo und erntete bei Kate ein Nicken, wohingegen Toby zeitgleich den Kopf schüttelte.
»Sicher?«, hakte Filippo nach. »Na schön, wenn du meinst.«
Das zweite Glas heiterte Kate noch weiter auf, und sie stieß ein wohliges Geräusch aus, als die feurige Flüssigkeit durch ihr Inneres rann. Da Kate den ganzen Tag über nur ein altes Croissant zu sich genommen hatte, würde der Alkohol ungehindert in ihren Blutkreislauf gelangen – aber das war ihr egal. Sie wollte sich unbesonnen fühlen, wollte unbesonnen sein. Doch als sie ihr Handy aus der Tasche hervorholte und sich nach dem WLAN-Passwort der Herberge erkundigte, verzog Toby das Gesicht.
»Später«, vertröstete er sie. »Erst einmal möchte ich dir alles zeigen.«
Sie ließen Filippo an dem eingebauten Grill auf dem Dach zurück, wo er frische Seebrassen zubereitete, und stiegen wieder die Außentreppe hinunter. Bei ihrer Ankunft hatte Toby darauf bestanden, gleich auf die Terrasse zu gehen, da es der einzige fertiggestellte Teil der Herberge war. Das Innere kannte Kate deshalb noch nicht. Die Herberge war ein großer Steinbau, wie so viele der Häuser, die sie auf der Fahrt vom Flughafen gesehen hatte. Doch im Gegensatz zu den benachbarten Privathäusern, war dieses zu einem Hotel umgebaut worden, und das Erdgeschoss bestand aus einem offenen Empfangsbereich und verfügte sogar über einen kleinen Aufzug.
»Wir sind eine der wenigen barrierefreien Herbergen in ganz Hvar.« Toby stieß eine Tür auf, von der die Farbe abblätterte, und führte Kate in ein Treppenhaus. Im ersten Stock befand sich der größte der sechs Schlafsäle des Sul Tetto, dazu eine Küche und ein Loungebereich, in dem nicht viel mehr zu sehen war als Schutthaufen und Holzbalken.
»Da siehst du, was Mum damit meinte, dass wir nicht ganz im Zeitplan liegen.« Mit dem Fuß wirbelte Toby Staub auf und musste dann husten.
»Es gibt zwei Frauenschlafsäle, zwei gemischte und zwei für die Jungs«, erklärte er, als er im nächsten Stockwerk eine Tür öffnete und halb zusammengeschraubte Stockbetten und ein frisch eingebautes Waschbecken unter einem dreckigen Spiegel zum Vorschein kamen.
»Es ist … toll«, heuchelte Kate. »Ich meine, es hat definitiv Potenzial. Wie viel Zeit bleibt noch einmal bis zur Eröffnung?«
»Ach, wir hoffen, in drei Wochen so weit zu sein«, erwiderte Toby unbekümmert. »Das ist reichlich Zeit für alles.«
Kate malte sich gemusterte Vorhänge an Stockbetten, verborgene Regale für die Wertgegenstände der Gäste und Bettleuchten für die Abendlektüre aus. An der Decke befand sich in einer Ecke eine Klimaanlage, aus der Kabel hervorlugten, aber ein großer Deckenventilator würde sich viel besser in dem Raum machen. Sie fragte sich, wie fix Tobys und Filippos Pläne waren. Mit nur ein wenig Zeit und Mühe müssten sie zu dritt einiges aus diesen Räumlichkeiten machen können.
»War es dein Ernst, dass ihr meinen Rat bei der Farbgestaltung und dergleichen haben wollt?«, fragte sie ein wenig außer Atem, als sie im dritten Stock ankamen.
»Natürlich! Ich habe dir doch gesagt, Nims, das hier wird keine Selbstmitleidsorgie. Wir brauchen dich.«
Auf dieser Etage befanden sich ein letzter Schlafsaal und ein paar Einzelzimmer – von denen eines für sie bestimmt war.
»Und Filippo und du, wo schlaft ihr?« Sie betrachtete die hellgrünen Wände, das frisch gemachte Doppelbett und einen Kleiderschrank, bei dem es sich offenkundig um eine Sonderanfertigung handelte.