Die Insel der vergessenen Träume - Christiane Lind - E-Book
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Die Insel der vergessenen Träume E-Book

Christiane Lind

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Beschreibung

»Aloha ist unsere Begrüßung und unser Abschied, aber auch alles, was gut ist.« Hamburg, 1890. Als die Kaufmannstochter Clara den charmanten Paul heiratet und ihm zu seiner Plantage nach Hawaii folgt, beginnt für sie ein entsetzlicher Albtraum. Denn die Ehe entpuppt sich als abgekartetes Spiel, ihr Ehemann als Trinker und Spieler. Kann Clara auf der exotischen Blumeninsel trotzdem ihr Glück finden? Über hundert Jahre später plant die ziellose Studentin Leonie nach vielen Katastrophen einen Neuanfang auf Hawaii. Doch wieder steht sie sich selbst im Weg. Erst durch die Begegnung mit dem unnahbaren Einheimischen Nakoa findet Leonie ein Ziel. Gemeinsam begeben sie sich auf die Suche nach ihrer Familie – und machen eine unglaubliche Entdeckung! Dramatische Hawaii-Saga von den Bestsellerautorinnen Christiane Lind und Julia K. Rodeit.

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Das Buch

Die Autorinnen

Figurenliste

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Epilog

Glossar

Nachwort: Fakten, Fiktion und Hintergründe

Zum guten Schluss: Dies und das über Hawaii und Kauai

Danke

Weitere Bücher der Autorinnen

Impressum

 

Copyright © 2020, AIKA Consulting GmbH / Julia K. Rodeit alle Rechte vorbehalten Dalwigkstraße 17, 34130 Kassel

 

www.christianelind.dewww.julia-rodeit.de

 

Originalausgabe April 2020

 

Buchcoverdesign: Grit Bomhauer, www.grit-bomhauer.com, unter Verwendung von Bildmaterial von © Depositphotos: 1xpert | tobkatrina | HHLtDave5 | Sashmir | ZeninaAsya

 

Lektorat: Lektorat Schmeinck – Korrekturen mit Herz Korrektorat: Claudia Heinen, www.sks-heinen.de

E-Book und Satz: Grit Bomhauer, www.grit-bomhauer.com

 

 

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung bedarf der ausdrücklichen Zustimmung der Autorinnen. Für die Links zu Webseiten Dritter übernehmen wir keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf sie verweisen, mit Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung.

 

Personen und Handlung sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Markennamen und Warenzeichen, die im Buch verwendet werden, sind Eigentum ihrer rechtmäßigen Eigentümer.

 

Das Buch

 

Hamburg, Ende des 19. Jahrhunderts. Nach dem Tod des geliebten Vaters kann die willensstarke Clara es nicht ertragen, einen anderen Mann an der Seite ihrer Mutter zu sehen. Überstürzt heiratet sie den charmanten Paul, mit dem sie nach Hawaii aufbricht. Schon bald muss Clara erkennen, dass alles ein abgekartetes Spiel war. Auf der Garteninsel Kauai findet sie ihr Glück, aber ein Geheimnis bleibt dort nicht lange verborgen.

Über hundert Jahre später hofft die impulsive Leonie nach mehreren abgebrochenen Berufsausbildungen auf ihre letzte Chance auf Kauai. Doch statt den Praktikumsplatz anzutreten, trifft sie den geheimnisvollen Einheimischen Nakoa. Beide verbindet mehr, als sie zunächst ahnen. Gemeinsam mit ihm begibt sich Leonie auf die bewegende Suche nach den Spuren ihrer Familie. Sie macht dabei unglaubliche Entdeckungen, die alles verändern.

Eine dramatische Familiengeschichte vor der atemberaubenden Kulisse einer der schönsten Inseln Hawaiis.

 

Die Autorinnen

 

Christiane Lind hat sich immer schon Geschichten ausgedacht, die sie ihren Freundinnen erzählte, aber selten zu Papier brachte. Erst zur Jahrtausendwende erinnerte sie sich daran und ist seitdem dem Schreibvirus verfallen. In ihren Romanen begibt sich Christiane am liebsten auf die Spur von Familien und deren Geheimnissen. Sie lebt in Kassel mit unzähligen und ungezählten Büchern, einem Ehemann und drei Katern. Die Samtpfoten erwarten von ihr, dass eine Katze in ihren Geschichten vorkommt.

 

Julia K. Rodeit ist das Pseudonym der Krimi-Autorin Katrin Rodeit, die mit ihrer Familie am Rande der Schwäbischen Alb wohnt.

Weil das Ermorden von Menschen auf Dauer recht anstrengend und mitunter auch langweilig wurde, hat sie beschlossen, als Julia K. Rodeit ihre romantische Seite zum Vorschein zu bringen. Dabei entführt sie ihre Leserinnen und Leser an traumhafte Orte auf dieser Welt und schreibt »Romane wie Urlaubsküsse«.

 

Figurenliste

 

19. Jahrhundert

Hamburg und Bremen

Clara Kellinghus - Tochter aus gutem Hamburger Haus

Julius Kellinghus - Ihr Vater, verstorben

Antonie Kellinghus - Ihre Mutter

Hermann Kellinghus - Ihr jüngerer Bruder

Arnold Dannenburg - Claras ungeliebter Stiefvater

Herta - Hausmädchen der Familie

 

Robert Kellinghus - Claras Onkel

Eva Maria Kellinghus - Claras Tante

Karoline Kellinghus - Claras Cousine

Meta - Hausmädchen in Bremen

Paul Rautenbergen - Bremer Kaufmann

 

Auf der Reise

Grete Thielen - Witwe und Gouvernante

Rudolf Campen - Wissenschaftler und Weltenbummler

Emil Wohlwill - Schiffskapitän

 

Auf Kauai

Katharina Stockhausen - Deutsche auf Kauai

Wilhelmine Kiesel - Deutsche auf Kauai

Bertha Neumann - Deutsche auf Kauai

Georg Berger - Vorarbeiter auf der Farm Koamalu

Samuel Coleman - Amerikanischer Journalist

Aurélio - Hausdiener der Familie Stockhausen

Kapua - Hawaiianerin, mit einem Haole (Weißen) liiert

Makanui - Weise Frau

Kealoha - Hawaiianisches Hausmädchen

Akamai - Claras Kater

 

 

21. Jahrhundert

Hamburg

Leonie Albrecht - Tochter aus gutem Haus

Carsten Albrecht - Ihr Vater, Rechtsanwalt

Wenke Albrecht - Ihre Mutter

Christof Albrecht - Ihr Bruder, Rechtsanwalt

Helen Bökerling - Sekretärin

Sandra Brenner - Leonies Freundin

Ralf Brenner - Sandras Vater, Inhaber einer Hamburger Zeitung

Tim Weber - Journalist

 

Auf Kauai

Nakoa Kamakai - Politikwissenschaftler

Olina Kamakai - Seine Mutter

Mr. Akana - Hotelmanager

Keanu - Inhaber von Keanu’s Barbecue

Paopao - Sein Großvater, weiser Mann

Nalu - Koch

Leilani - Servierkraft mit verstauchtem Bein

Malou - Servierkraft, kurz vor der Niederkunft

Moana - Museumsangestellte

Sophie & Koa - Inhaber eines Surfshops

Hoku Kahanamoku - Gerichtsmitarbeiter

Duke Palakiko - Privater Kunstsammler

 

Kapitel 1

 

Kauai 1889

 

Als sie die Blätter hinter sich rascheln hörte, blieb Kapua stehen. Eigentlich gab es auf Kauai nichts zu fürchten. Die wunderschöne grüne Insel beheimatete keine Tiere, vor denen man Angst haben musste. Selbst die wilden Schweine gingen den Menschen lieber aus dem Weg. Aber das Geräusch hatte so geklungen, als wäre etwas Größeres hinter ihr her.

Die junge Hawaiianerin lauschte und verengte die Augen, um im schwachen Licht der Dämmerung etwas erkennen zu können. Wäre sie nur früher von ihrem Besuch bei Makanui, ihrer Tante, aufgebrochen. Aber ein unvermuteter Regenguss hatte ihren Abschied verzögert, bis die Sonne tief gesunken war. Makanui hatte ihr angeboten, die Nacht in ihrem Dorf zu verbringen, aber die Sehnsucht nach ihrem Geliebten hatte Kapua nach Hause gezogen.

»Ich kenne den Weg zu unserer Hütte selbst im Dunkeln.« Lachend hatte sie ihre Tante umarmt. »Begleite meinen Weg mit einem Schutzzauber.«

Einen Augenblick lang hatte es so ausgesehen, als läge ein dunkler Schatten auf dem Gesicht der weisen Frau, dann jedoch lächelte Makanui.

»Mein Segen begleitet jeden deiner Wege«, sagte sie. »Auch wenn ich mir wünschte, du hättest meinen Sohn gewählt statt des Haoles.«

»Das Herz will, was das Herz will.« Mit diesen Worten hatte Kapua sich auf den Weg nach Hause begeben. Auch wenn es nur eine winzige Hütte im Wald war, fühlte sie sich dort glücklicher als je in ihrem Leben. Vor Freude hatte sie gesungen, bis das Rascheln begonnen hatte.

Spielte ihr die Angst einen Streich oder erklangen hinter ihr wahrhaftig Stimmen? Jagten Menehune sie, weil sie es wagte, so spät deren Wald zu durchqueren? Nein, redete Kapua sich Mut zu, die kleinen Männer hatten Kauai schon vor Jahren verlassen. Trotzdem beschleunigte sie ihre Schritte, blieb aber vorsichtig, da der schmale Pfad feucht und matschig war.

Hinter ihr war ein lautes Knacken zu hören, als träte jemand auf einen Ast. Da blieb sie erneut stehen, ihr Herz pochte so laut, dass sie nur das Rauschen ihres eigenen Bluts in den Ohren hörte. Trotz ihrer Angst schloss sie die Augen und versuchte, sich zu beruhigen. Intensiv nahm sie die Gerüche und Geräusche ihrer Umgebung wahr. Den regenfeuchten Duft des Mooses und der Farne, die Warnrufe der Vögel, die über ihr in den Baumkronen versteckt waren, und ein weiterer Laut, der nicht in den Wald gehörte. Ja, dort war es wieder, dieses beängstigende Geräusch, als ob etwas Großes sie verfolgte.

Die Bäume rochen nach Harz; einzelne Regentropfen fielen von den kräftig grünen Blättern der Palmen auf sie. Aber das störte Kapua nicht. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt der Gefahr, die unvermutet hinter ihr aufgetaucht war. Sie öffnete die Augen, ihr Blick suchte nach einer Waffe, mit der sie ihr Leben verteidigen konnte.

Da verstummte das Rascheln, sodass sie nach einem Moment des Zögerns ihren Weg fortsetzte. Was immer sich dort im Wald bewegte, schien das Interesse an ihr verloren zu haben. Obwohl Kapua sich das einzureden versuchte, spürte sie, wie sich ihre Nackenhaare sträubten, und beschleunigte ihre Schritte. Als das Gefühl, verfolgt zu werden, wuchs, zog sie den Muumuu, das weite Kleid, etwas höher, damit sie mit großen Schritten davonrennen konnte.

Ihre Verfolger brachen krachend aus dem Grün des Waldes, als würden sie durch Kapuas Panik angespornt. Die Hawaiianerin warf einen angstvollen Blick über die Schulter und beschleunigte ihre Schritte. Ihre bloßen Füße machten kein Geräusch auf dem weichen Waldboden, während die Hufe der drei Pferde ein dumpfes Trommeln hervorriefen. Kapuas Blick irrte von rechts nach links und von links nach rechts, auf der verzweifelten Suche nach einer Lücke im dichten Pflanzengestrüpp, das den schmalen Pfad säumte.

Obwohl die Pferde langsam hinter ihr her trabten, meinte Kapua, deren warmen Atem in ihrem Nacken zu spüren. Verzweiflung und Angst trieben ihr Tränen in die Augen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so sehr gefürchtet. Das durfte nicht sein. Sie war eine der stärksten Frauen ihrer Ohana und würde sich nicht von diesen Männern jagen lassen wie ein wildes Tier.

Gegen die Panik ankämpfend, atmete Kapua tief ein. Sie blieb stehen, ballte die Hände zu Fäusten und wandte sich zu ihren Verfolgern um. Drei Haoles waren es. Da Kapua und ihr Geliebter sich für ein Leben weit weg von den Weißen und den Hawaiianern entschieden hatten, kannte sie die Männer nicht. Aber was sie sofort bemerkte, war die Gier in ihren Augen.

Kurz, bevor sie Kapua erreichten, zügelten die Männer ihre Pferde. Die großen Tiere standen so dicht vor der jungen Hawaiianerin, dass sie von dem Schaum getroffen wurde, der aus den Pferdemäulern troff.

Obwohl ihr Muumuu ihren Körper bedeckte, fühlte Kapua sich nahezu nackt vor den Blicken, mit denen die Weißen sie musterten. Sie starrte die Männer an und richtete sich auf, fühlte aber, dass sie ihnen nicht gewachsen wäre.

»Schau, schau«, sagte einer der Weißen schließlich. Sein Englisch war schwer von dem Akzent der Deutschen. Er musste zu einer der Zuckerrohrfarmen gehören. »Was für ein seltenes Wild uns das Glück heute beschert.«

Dunkel war sein Haar, sodass sein bleiches Gesicht aussah wie das eines Geistes. Sein Lachen jagte Kapua einen Schauder über den Rücken, aber sie hielt sich gerade und den Kopf hoch.

Der zweite Mann, dessen Gesicht stark gerötet war, ob von der Sonne oder dem Alkohol, das konnte die junge Frau nicht erkennen, trieb sein Pferd zwei Schritte nach vorn. Er beugte sich vor und streckte die Hand aus, wohl, um ihr Haar zu berühren. Kapua wich mit einer geschmeidigen Bewegung aus.

»Stell dich nicht so an, Mädchen.« Erneut lehnte er sich nach vorn und kam ihr so nahe, dass sie den Rum in seinem Atem riechen konnte. »Wir wollen nur ein bisschen Spaß. Ihr Wilden treibt es doch ständig wie die Karnickel.«

Wieder wich Kapua ihm aus und beobachtete aus dem Augenwinkel, was die anderen Männer taten. Der Dunkelhaarige grinste hämisch, während der Dritte sich im Hintergrund hielt. Er erschien Kapua jünger und weniger bedrohlich, aber sie mochte sich irren.

»Warte!«, rief der Dunkelhaarige, während sein Kumpan weiterhin sein Spiel mit Kapua trieb. »Ich kenne sie.«

»Die dunklen Weiber sehen doch eine aus wie die andere«, antwortete der mit einem dreckigen Lachen. »Ist mir egal, solange sie jung und saftig sind.«

Die höhnischen Worte lenkten sie ab, sodass es ihm gelang, ihr langes schwarzes Haar zu grapschen. Mit aller Kraft zog er daran. Kapua schlug nach seiner Hand, aber er lachte nur.

»Lass das Mädchen los. Es gehört einem der Amerikaner.« Der erste Mann zögerte. »Wir können uns eine andere suchen. Eine, die keiner von uns Weißen für sich beansprucht.«

»Ich will die hier. Ich will nicht länger warten.« Der Rotgesichtige zerrte weiter an ihrem Haar. Der Schmerz trieb Kapua die Tränen in die Augen. Verzweifelt schlug sie mit den Armen um sich, um sich zu befreien, aber sie kam nicht an ihn heran. Geschickt lenkte er sein großes braunes Pferd um sie herum.

»Wir können uns Frauen im Haus am Hafen holen.« Obwohl der Angreifer ihr Haare ausriss, hielt Kapua inne. Denn zum ersten Mal sprach der junge Mann. Auch sein Akzent verriet ihn als Deutschen. »Ich will keinen Ärger mit den Amerikanern. Wir brauchen sie, wenn wir unseren Zucker verkaufen wollen.«

»Ihr beide steht in meiner Schuld.« Der Tonfall des Haole klang so scharf und schneidend, dass Kapua vor Angst erstarrte. Obwohl er ihr Haar losließ, blieb sie stehen. »Es würde euch gut anstehen zu tun, was ich befehle.«

In diesem Augenblick wusste sie, dass ihr Schicksal besiegelt war. Kapua gab ihre Gegenwehr auf. Als der Haole vom Rücken seines Pferdes sprang und seine Hand um ihren Hals legte, schloss sie die Augen und betete zu den Göttern der Ahnen um Hilfe.

 

 

Ihre Qual schien endlos zu dauern. Die beiden Männer vergingen sich an ihr, während der Dritte sich weiterhin im Hintergrund hielt. Kapua drehte den Kopf zur Seite und schloss die Augen. Obwohl sie versuchte, sich in ihren Gedanken an einen besseren Ort zu versetzen, sich an das Glück mit ihrem Geliebten zu klammern, konnte sie dem Schmerz nicht entgehen.

»Sieh mich an, Mädchen! Ich will dir in die Augen sehen.« Schläge prasselten auf ihren Körper und ihr Gesicht, doch Kapua hielt die Augen geschlossen. »Tu, was ich verlange, oder ich schlage dich tot.«

Niemals würde sie sich ihm fügen. Kapua presste die Zähne zusammen, als Finger sich fest in ihr Kinn krallten und ihren Kopf drehten. Noch immer sah sie den Mann nicht an. Sein Gesicht würde sie ohnehin niemals vergessen, das war ihr nur zu bitter bewusst.

Als seine Hände ihre Kehle zupressten, bäumte Kapua sich auf. Ihr Körper zuckte, ihr Herz raste und verzweifelt rang sie nach Luft. Doch der Griff war zu hart.

»Mach die Augen auf oder ich drücke weiter zu.« Als wollte er seinen Worten mehr Gewicht verleihen, verstärkte er seinen Griff. »Na, also, geht doch. Glaub mir, Mädchen, ich gewinne immer.«

Aus angstgeweiteten Augen starrte sie ihn an, konnte jedes geplatzte Äderchen in seinem Gesicht sehen. Sein Atem roch faulig und nach Rum. Kapua wollte sich abwenden, aber wieder krallte er seine Finger in ihr Kinn. Ihre Qual und Ohnmacht zu sehen, schien ihn noch mehr zu erregen. Nach zwei weiteren Stößen brach er auf ihr zusammen und flüsterte ihr Worte in einer fremden Sprache ins Ohr. Auch wenn Kapua sie nicht verstand, spürte sie deren Boshaftigkeit.

Endlich ließ er von ihr ab, nicht ohne ihr einen Faustschlag ins Gesicht zu versetzen. »Wenn du nur ein Wort hiervon verrätst, werden wir dich töten und dein Dorf niederbrennen.«

Kapua schloss die Augen und lauschte, wie die beiden Männer zu ihren Pferden zurückkehrten.

»Und du, mein Bremer Freund, du willst dir diese Gelegenheit entgehen lassen?« Hass stieg in Kapua auf. »Ich habe das Mädchen für dich eingeritten.«

»Genug. Ich will zurück zum Spiel. Es fühlt sich an, als wäre das Glück heute auf meiner Seite.«

Erst nachdem sie hörte, wie der Hufschlag der Pferde sich entfernte, wagte Kapua es, die Augen zu öffnen. Inzwischen war die Dunkelheit hereingebrochen und der Mond tauchte die Lichtung in ein sanftes Licht. Der Wald wirkte wie verzaubert, ein magischer Ort, an dem niemals so entsetzliche Dinge geschehen durften.

Obwohl ihr Körper entsetzlich schmerzte, kreisten Kapuas Gedanken um die Drohung, die der Haole ausgestoßen hatte. Wie sollte sie verschweigen, was ihr angetan worden war? Die Spuren der Gewalttat zeigten sich an ihrem Körper und in ihrem Gesicht.

Mein Geliebter wird mich rächen wollen und dann werden die Deutschen ihn töten. Das darf ich nicht zulassen. Ich muss mich opfern, damit mein Mann leben kann.

Ihr blieb nur eines, das sie tun konnte: Wenn sie sich dem Meer anvertraute, würde ihr Schmerz gewiss enden. Kapua erhob sich, hielt sich die Hand vor den schmerzenden Unterleib und taumelte in Richtung der See.

Ich werde zurückkehren wie Ka-ahupahau, die Königin der Haie. Im Meer um Kauai werde ich warten und lauern und mich an den Männern rächen, die mir das angetan haben. Die Haoles werden meinen Zorn zu spüren bekommen. Ich werde eine Wächterin des Ozeans sein und meine Familie und meinen Liebsten schützen.

 

 

Zwei Tage später fanden spielende Kinder ihre Leiche. Obwohl die Haie ihr Opfer angenommen hatten, zeigte ihr Körper überdeutlich Spuren der Gewalt, die ihr angetan worden war. Kapua, der Liebling ihrer Ohana, die Freude ihrer Eltern, hatte sich in die Fluten des Meeres begeben, um dem Schmerz zu entkommen. Ihr Bruder und ihr Vater schworen, dass sie die Täter jagen und finden würden.

»Der Hai wird euch den Weg weisen«, prophezeite die weise Frau ihrer Familie. »Kapuas Geist wacht über die Insel, damit keiner von ihnen von hier entkommen kann.«

 

Kapitel 2

 

Hamburg heute

 

Angesichts der warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut und des erwachenden Frühlings hätte Leonie bester Laune sein müssen. Frohgestimmt und mit einer Portion unbändiger Lebenslust. Nach den langen Wintermonaten umspielte zum ersten Mal ein Sommerkleid ihre nackten Knöchel.

Doch je näher Leonie ihrem Elternhaus kam, desto düsterer wurde ihre Stimmung. Sie schrumpfte wie ein Apfel in der Sonne, mittlerweile war nicht mehr viel als die ausgedörrte Haut davon übrig. So wie auch sie selbst sich immer winziger fühlte.

Das liegt an deinem Scheitern, hielt sie sich selbst unbarmherzig vor, während sie verbissen in die Pedale trat. Sie musste sich förmlich dazu zwingen, den Weg auf der wenig befahrenen Straße am Elbufer fortzusetzen.

Du bist nicht gescheitert, versuchte sie, sich mit einem Anflug von Trotz zu beruhigen.

Am Wochenende war sie bei der Demo von Amnesty International für die Rechte der Frauen in Uganda gewesen. Und beim Bund für Umwelt und Naturschutz engagierte sie sich auch über das normale Maß hinaus. War das etwa nichts? Leonie tat das aus Überzeugung, weil ihr diese Themen wichtig waren. Wichtiger als das Medizinstudium, meldete sich die leise Stimme in ihr.

Sie hatte es abgebrochen, nachdem sie das erste Mal am praktischen Beispiel geübt hatten. Wobei praktisch mitnichten lebend bedeutete. Das war ihr dann auch zum Verhängnis geworden. Der kleine stickige Raum mit der formaldehydgeschwängerten Luft, die vielen Menschen darin, die sich alle nur auf einen konzentrierten. Auf den, der auf einer nüchternen Metallbahre in der Mitte lag. Was bizarr war, da er der Einzige war, der sein Leben bereits ausgehaucht hatte. Die Augen geschlossen, der Körper mit einem weißen Laken bedeckt. Am blassbläulichen großen Zeh des linken Beins baumelte ein nüchternes Papierschildchen, das aus einem Namen eine Nummer machte.

Leonie hatten auf halbem Weg an den Tisch die Beine den Dienst versagt.

»So früh hat das kaum jemand geschafft.« Der Professor hatte sie vergnügt angelächelt, als sie in einem Raum, von dem sie hoffte, dass er weit vom Geschehen und der Leiche entfernt war, wieder zu sich gekommen war. Er freute sich, fast so, als wäre es sein Verdienst, dass sie so schnell umgekippt war. Sein persönlicher neuer Rekord.

In diesem Moment hatte für sie festgestanden, dass das Medizinstudium nicht die richtige Ausbildung für sie war. Wie zuvor bereits Jura und Mediengestaltung. Bei Letzterem hatte sie immerhin bis zum fünften Semester durchgehalten, ehe sie gespürt hatte, dass die Inhalte sie nicht zu fesseln vermochten. Wie zuvor die trockenen Paragrafen, denen sie sich nach einem Jahr Auszeit nach dem Abitur zugewandt hatte.

Sie zwang sich, den Blick zu heben und über die Elbe schweifen zu lassen, die träge dahinfloss. Sie wollte die Frische und das Frühlingserwachen mit aller Kraft in sich aufsaugen, um die trüben Gedanken loszuwerden. Dort auf dem Wasser tobte das Leben. Sie entdeckte Containerschiffe auf dem Weg in den Hamburger Hafen, die so mit Fracht beladen waren, dass sie tief im Wasser lagen. Dazwischen dümpelten kleine Boote und Schiffe sowie ein paar Ausflugsdampfer, die die Touristen über die Elbe schipperten. In der Luft lag der für Hamburg typische Geruch nach Wasser, das mal brackiger, mal frischer roch und je nach Wetterlage auch eine Brise Meeresluft mit ins Landesinnere brachte.

Die Bäume am Wegesrand leuchteten in frischem Grün, den noch winzigen Blättern konnte man in der wärmenden Frühlingssonne förmlich beim Wachsen zusehen. Hinter den Zäunen und Hecken, die die Villen in Blankenese säumten, wirkte die Natur gezähmt. Heerscharen von Gärtnern waren bereits ausgerückt, um die sich ausbreitende Flora im Zaum zu halten.

Natürlich hatte sie ihren Eltern bereits telefonisch gebeichtet, dass das Medizinstudium nicht ihres war. Der sechzigste Geburtstag ihres Vaters, der heute gefeiert wurde, erschien ihr der falsche Rahmen für das Eingeständnis des erneuten Versagens.

Du bist nicht gescheitert, schimpfte sie mit sich selbst. Du hast nur noch nicht das gefunden, wofür du brennst. Das ist in Ordnung, manche Menschen brauchen eben länger dazu.

Mittlerweile war sie an einem Punkt angelangt, an dem sie am liebsten angehalten und das Fahrrad gewendet hätte. War es ihr vorhin noch als eine fabelhafte Idee erschienen, das bunt bedruckte Kleid anzuziehen, so fragte sie sich nun, welcher Teufel sie geritten hatte, inmitten der dezent in Chanel und Versace gekleideten Damen wie eine bunte Straßenmusikerin zu erscheinen. Sie spürte bereits den resignierten Blick ihrer Mutter auf sich ruhen, der schlimmer war und tiefer ging, als jeder Tadel es je vermocht hätte.

Unvermittelt erschien ihr auch der Bildband über Hawaii unangemessen, den sie als Geschenk für ihren Vater besorgt hatte und der der Umwelt zuliebe statt in teures Geschenkpapier in ein farbiges Kalenderblatt mit einer spielenden Katze im Gras darauf eingeschlagen war. Dabei wusste sie, dass er Hawaii liebte. Das musste in den Genen der Familie Albrecht liegen. Ihre Ur-Ur-Großmutter Clara hatte einst mit ihrem ersten Mann auf Hawaii gelebt. Was wohl aus ihm geworden war? Leonie hatte sich nie ausführlich mit der Familiengeschichte beschäftigt. Sie wusste nur, dass Clara mit ihrem zweiten Mann zurückgekehrt war.

Mit der Zeit war das wohl in Vergessenheit geraten. Das Hawaii-Fieber allerdings hatte auch ihre Eltern gepackt, seit sie vor über dreißig Jahren ihre Hochzeitsreise dorthin gemacht hatten. Sie waren der Schönheit der Inselgruppe ebenfalls verfallen.

Nun fragte sich Leonie mit einem leisen Aufseufzen, ob sie stattdessen nicht lieber eine Kiste Wein hätte kaufen sollen, die vermutlich teurer gewesen wäre, als ihr spärliches Budget es zugelassen hätte.

Am Wegesrand parkten Lieferwagen vom Partyservice. Appetitlich angerichtete Lachsschnitten und aufwendig verzierte Salate in bunten, frischen Farben waren darauf abgebildet. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Leonie stieg vom Fahrrad und schob es die letzten Meter die breite Auffahrt zur Garage hinauf. Sie gab die PIN am Tastenfeld neben dem Tor ein, das sich daraufhin geräuschlos öffnete und den Blick auf den Mercedes ihres Vaters und das schnittige BMW Coupé Cabrio ihrer Mutter freigab.

Sie schloss die Tür mit einem Knopfdruck und wandte sich um. Vor dem Haus stand ein überdimensional großer Pavillon, der heute überflüssig war, denn die Wettervorhersagen hatten bestes Frühsommerwetter angekündigt. Aber natürlich hatte ihre Mutter nichts dem Zufall überlassen und für alle Eventualitäten vorgesorgt. Wenn einer der Bürgermeister der Stadt erwartet wurde und weitere prominente Gäste eingeladen waren, sollte niemand im Regen stehen.

Kellner huschten zwischen den Stehtischen und Kübeln mit üppig rot blühenden Pflanzen hin und her, die zweifellos von einer Gärtnerei stammten. Die Männer vom Lieferservice trugen voll beladene, noch abgedeckte Platten und Schüsseln ins Haus. Im Garten summte es vor Geschäftigkeit und Leonie fühlte sich immer elender, als sie das Haus betrat, in dem es nicht weniger lebhaft zuging.

Einen Augenblick verharrte sie im Eingangsbereich. Ein vertrauter Geruch umfing sie. Obwohl sie längst nicht mehr hier wohnte, war es doch jedes Mal so, als käme sie nach Hause. Natürlich lag das nicht an dem Marmor und dem Flur mit den hohen Decken. Heute wusste sie, dass das der Liebe ihrer Mutter zu verdanken war, mit der sie ihre Familie umsorgte.

Deren Fürsorge spiegelte sich auch in der Einrichtung wider. Die Räume waren geschmackvoll mit hellweißen Möbelstücken und geschickt platzierten Accessoires ausgestattet. Trotzdem spürte man überall das, was ein Haus brauchte: Wärme.

Leonies Blick fiel auf das große Gemälde, das als Hingucker im Eingangsbereich gegenüber der Tür angebracht war. Es zeigte eine grüne, hügelige Landschaft, in deren Mitte sich ein Wasserfall in die Tiefe stürzte. Die Tropfen sprühten hoch und funkelten in der Sonne wie Tausende fallende Diamanten. Die schiere Wucht der Natur war auf beeindruckende Weise eingefangen und strahlte trotz aller Kraft eine tiefe innere Ruhe aus. Leonie wusste, dass das Gemälde von Hawaii stammte. Ihre Vorfahrin hatte es einst angefertigt. Glücklicherweise war es in der Familie geblieben. Was wohl aus den anderen Bildern geworden war, die Clara gemalt hatte?

Natürlich lief Leonie ihrer Mutter direkt in die Arme, die, in ein raffiniertes rauchgraues Cocktailkleid gehüllt, versuchte, die Heerschar des Servicepersonals zu dirigieren.

Leonie beobachtete sie einen Augenblick und stellte voller Bewunderung fest, wie perfekt ihre Mutter die Situation im Griff hatte. Als würde sie ein Staatsbankett organisieren, zu dem die Mächtigsten der Welt eingeladen waren. Dabei war sie tadellos gekleidet, keine Falte zierte den Rock, der sich um ihre schlanke Gestalt schmeichelte. Wenke Albrecht musste sich nie Gedanken um die Figur machen. Die Kalorien schreckten vermutlich zurück, bevor sie sich in Fett verwandeln und an ihre Hüften heften konnten. Auch der freche Bob mit den blondierten Strähnen saß perfekt. Das kinnlange Haar bildete einen hübschen Rahmen um ihr zartes Gesicht, das nur bei näherem Betrachten Fältchen um Augen und Mund offenbarte.

Als sie Leonie entdeckte, ließ Wenke den Arm sinken, mit dem sie einen Kellner eben nach draußen geschickt hatte. Ein liebevolles Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus.

»Leonie. Endlich.« Sie kam auf sie zu und schloss ihre Tochter in die Arme. »Ich dachte schon, du kämst zu spät.«

Kein versteckter Vorwurf, es war nur eine Feststellung. Leonie ließ sich drücken und schlang ihre Arme um die schmale Gestalt. Plötzlich war sie wieder ein kleines Kind, das nicht einschlafen konnte, weil es sich vor bösen Gestalten im Kleiderschrank fürchtete, und sich stattdessen in das Bett der Mutter geflüchtet hatte.

Wie weggewischt waren all ihre Sorgen und Nöte, das abgebrochene Medizinstudium und die Frage, wie es weiterging. Gerade zählten nur der Moment und die Umarmung ihrer Mutter.

 

Kapitel 3

 

Hamburg heute

 

Vorsichtig machte ihre Mutter sich los, was Leonie nur widerstrebend zuließ. Zu gern hätte sie das tröstliche Gefühl noch genossen, das sich wie eine wärmende Decke um ihre fröstelnden Schultern legte.

Der Blick ihrer Mutter wanderte von ihrem Gesicht nach unten zu dem grellbunt bedruckten Kleid und blieb an den auffallenden Rüschenärmeln hängen.

Sie sagte nichts. Stattdessen zog sie die linke Braue nach oben, ohne dass sich die rechte auch nur einen Millimeter bewegte. Eine Kunst, die sie in den Jahren als Mutter perfektioniert hatte. Die Geste war so winzig wie ein Käfer in der Frühlingsluft, aber in ihrer Aussagekraft so groß wie das Universum.

Ihre Mutter sagte nichts, aber die sachte Missbilligung, die sie dem Aufzug ihrer Tochter entgegenbrachte, floss in den Seufzer, den sie nun leise vornehm ausstieß. Mit einem Anflug von Schuldbewusstsein senkte Leonie den Blick.

Glücklicherweise bog in diesem Moment ihr Vater um die Ecke.

»Wenke, die Manschettenknöpfe …« Als er seine Tochter erblickte, ging ein Strahlen über sein Gesicht und er breitete die Arme aus. Langsam, mit schräg gelegtem Kopf kam er auf sie zu und Leonie stürzte sich in die nächste elterliche Umarmung, die der ersten in nichts nachstand.

Wenn sie sich dazu auch strecken musste, denn ihr Vater überragte sie um einen guten Kopf, obwohl Leonie nicht klein war. Sie schlang ihre Arme um seinen starken Hals und kuschelte sich an die breite Brust. Beides verriet, dass der Fitnessraum, den er sich vor Jahren eingerichtet hatte, in regelmäßiger Benutzung war. Leonie schnupperte gerührt. Er trug noch immer das gleiche Aftershave wie seit Jahren. Sie hatte es in der Innenstadt bei einer Verlosung gewonnen und nach Hause gebracht. Ab da war es zum neuen Lieblingsduft ihres Vaters geworden und bis heute geblieben.

»Happy Birthday, Papa«, flüsterte Leonie hinauf. Weiche Haare des gepflegten Kinnbartes streiften über ihre Stirn, als er einen erneuten Kuss darauf drückte.

»Danke, meine Kleine.« Die Stimme ihres Vaters klang belegt. So kannte sie ihn gar nicht. Er war kaum je gerührt und schaffte es meist geschickt, seine Gefühle zu verbergen. Auch wenn Leonie wusste, dass unter der harten Anwaltsschale ein weicher Kern steckte. Aber der war besonderen Momenten vorbehalten und lugte nur innerhalb dieser vier Wände hervor. Andernfalls wäre sein Ruf als unerbittlicher Wirtschaftsanwalt unweigerlich vom Tisch, wie er ihr einmal vertraulich zugeflüstert hatte.

Nun glänzten seine Augen, als er ihr Geschenk entgegennahm. Das Kätzchen auf dem zum Geschenkpapier umfunktionierten Kalenderblatt zauberte ein warmes Lächeln auf sein Gesicht. Aus den Augenwinkeln bemerkte Leonie die erneut hochgezogene Braue ihrer Mutter. Wieder fragte sie sich, ob eine Kiste Wein nicht die bessere Alternative gewesen wäre. Doch ihr Papa löste mit beinahe kindlicher Freude die Klebestreifen und versuchte, das niedliche Tier unbeschädigt zu lassen.

Schließlich nahm er das große Buch heraus und betrachtete ehrfürchtig den Einband. Türkisblaues Wasser, im Hintergrund erhoben sich Berge, die sattgrün bewachsen waren. Malerisch hingen Palmblätter ins Bild, als habe der Fotograf sie wie einen Vorhang nur nachlässig zur Seite geschoben, als er das Foto geschossen hatte. Ein Traum, der dem Betrachter das Paradies suggerierte.

Leonie wäre gern einmal nach Hawaii gereist. Schon allein, weil sie die Faszination verstehen wollte, die von dieser Inselgruppe ausging. Und weil sie zu gern auf den Pfaden ihrer Vorfahren gewandelt wäre.

Sandra, eine Kommilitonin, hatte ihr angeboten, ihr ein Praktikum im Hotel ihres Onkels zu besorgen. Zwei Fliegen würde sie dort mit einer Klappe schlagen. Sie hätte erstens einen Job und wäre zweitens in einem traumhaften Land. Wenn sie sich nicht allzu tollpatschig anstellte, hätte sie gute Chancen, einen Vollzeitjob daraus zu machen.

Leonie hatte das schweren Herzens abgelehnt. Ein Besuch auf Hawaii, egal ob zum Arbeiten oder für einen langen Urlaub, würde ein Wunsch bleiben, denn zwischen ihr und dieser Oase lag ein mindestens eintägiger Flug, den ihre Nerven niemals überstehen würden. So blieb ihr nur, die Bilder zu betrachten und ab und zu leise zu seufzen. Und Sandras anderen Vorschlag anzunehmen: ein Praktikum in der Zeitung ihres Vaters.

Leonie schob diese Überlegung zur Seite. Darüber konnte sie sich immer noch morgen Gedanken machen, heute war ihr Vater die Hauptperson. Erfreut stieß er gerade die Luft aus, als er das dicke Buch aufschlug und wahllos darin zu blättern begann.

Er hob den Blick und Leonie entdeckte beinahe kindliche Freude darin, die sie selbst glücklich werden ließ. Erleichterung breitete sich in ihr aus. Ihr Vater war heute gelöster, als sie ihn in den letzten Jahren erlebt hatte.

»Wenke, wir müssen unbedingt wieder nach Hawaii.«

»Das können wir gern machen. Wenn wir den Geburtstag hinter uns haben. Zu dem du mit offenem Hemd gehen wirst, wenn du nicht bald die Manschettenknöpfe und eine Krawatte anlegst.«

Schnaubend schlug ihr Vater das Buch zu. »Kein Mensch trägt heutzutage noch Krawatten.«

»Carsten, du wirst doch nicht …«

Er zwinkerte Leonie zu. »Doch, ich werde. Wenn unser Außenminister ohne Krawatte zu einem Bankett nach Ägypten reisen kann, muss ich auf meinem Geburtstag ebenfalls keine tragen.« In seiner Stimme lag eine Entschiedenheit, die keinen Widerspruch duldete. Die trotz der Deutlichkeit aber auch Respekt für sein Gegenüber in sich trug.

Ihre Mutter gab sich geschlagen, was sie in einem weiteren Seufzer zum Ausdruck brachte. »Die Manschettenknöpfe sind im Bad. Zumindest waren sie heute Morgen noch dort.« Sie wandte sich ab.

Ihr Vater beugte sich noch einmal zu Leonie hinunter und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Danke für das tolle Geschenk. Vielleicht kann ich deine Mutter ja überreden, noch einmal mit mir nach Hawaii zu reisen.«

Leonie fühlte Wärme in sich aufsteigen, die in Sekundenbruchteilen ihr Herz flutete.

»Carsten, kommst du?« Der Ruf ihrer Mutter hallte durch den Eingangsbereich.

»Sofort.« Er wandte sich halb von ihr ab, maß sie nun aber gründlich aus seinen tiefblauen Augen und hob den Zeigefinger. »Über das Studium reden wir später.«

Die Wärme in ihrem Inneren verwandelte sich augenblicklich in Kälte, als stünde sie unter einer Dusche mit Eiswasser.

Leonie war froh, dass immer mehr Gäste eintrudelten und ihr ein Gespräch über ihre Zukunft mit ihrem Vater vorläufig erspart blieb. Wobei sie sich keiner Illusion hingab, dass es nicht stattfinden würde. Dazu kannte sie ihren Vater zu gut und das Thema war ihm zu wichtig. Vielleicht fiel ihr etwas ein, wie sie das Donnerwetter abwenden konnte.

Mittlerweile hatte sie zahlreiche Hände geschüttelt und weitere hochgezogene Brauen ignoriert. Wie ihr schien, war das ein ausschließlich weibliches Phänomen aus der Generation ihrer Eltern. Dazu brauchte kein Wort gesagt werden. Im Gegenteil, alles Gesprochene hätte die winzige Geste zunichtegemacht.

Ihr Kiefer schmerzte vom Dauerlächeln, als sie nun neben den Eltern und ihrem kurz zuvor eingetroffenen Bruder Christof stand, der wie eine jüngere, aber weniger grau melierte Ausgabe seines Vaters wirkte. In Statur und Körpergröße stand er ihm in nichts nach und sein Jurastudium hatte er mit den gleichen Ehrungen bestanden wie einst sein Vater. Letzte Woche erst hatte Christof das Zweite Staatsexamen mit Auszeichnung bestanden.

Ein dezentes Klirren erklang, als ihr Vater mit einem Löffel gegen sein Champagnerglas schlug.

»Herzlich willkommen, ich freue mich, dass ihr so zahlreich erschienen seid, um mit mir gemeinsam das Älterwerden zu feiern.« Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse und erntete Lacher dafür.

Man merkte ihrem Vater an, dass er es gewohnt war, vor Publikum zu sprechen. Stets wurden seine Worte von einem Lächeln oder Augenzwinkern begleitet. Er riss das Publikum mit, das an seinen Lippen klebte, und schaffte es, selbst die trockensten Begebenheiten zu einem lustigen Ereignis werden zu lassen.

»Das soll keine langweilige Rede werden.« Für diese Worte erhielt er Applaus. Trotzdem ließ er die letzten Jahre Revue passieren und dankte seiner Familie für den Rückhalt.

»Deswegen nehme ich den heutigen Tag auch zum Anlass, euch mitzuteilen, dass ich mich langsam, aber sicher auf das verdiente Altenteil zurückziehen werde.«

Ihr Vater sah zu ihrem Bruder hinüber und lächelte. »Christof hat letzte Woche nicht nur einen hervorragenden Abschluss gemacht, er wird sich nun erste Sporen in diversen Praktika verdienen und peu à peu in die Kanzlei hineinschnuppern, um sie dann zu übernehmen. Schließlich möchte ich noch etwas erleben. Zum Beispiel mit meiner bezaubernden Frau eine zweite Hochzeitsreise nach Hawaii unternehmen.«

Wenke Albrecht griff nach der Hand ihres Mannes und drückte sie gerührt.

Gläser klirrten aneinander, Glückwünsche wurden ihnen zugerufen. Leonie lächelte in sich hinein. Sie hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Sie gönnte es ihrem Bruder von Herzen und konnte sich keinen würdigeren Nachfolger für ihren Vater vorstellen.

Die Gäste hatten sich über den Rasen zerstreut und standen in Grüppchen beieinander. Der Rummel um Christof und ihren Vater ließ langsam nach, sodass nun Leonie an der Reihe war, ihrem Bruder zu gratulieren. Fest schloss sie ihn in ihre Arme. »Glückwunsch, Bruderherz.«

Christofs Augen leuchteten, als habe jemand die Sonne angeknipst.

Ihr Vater gab einem der Kellner, die mit Getränketabletts geschäftig durch die Reihen der Anwesenden schritten, ein Zeichen. Sofort kam der junge Mann herüber. Sie bedienten sich und auch ihre Mutter ließ sich endlich ein Glas reichen, auf den Lippen ein gelöstes Lächeln. Leonie ahnte, dass sie sich nun entspannte, da sie wusste, dass es den Gästen gut ging und bisher alles reibungslos verlaufen war. Gerade traf das Team vom Partyservice letzte Vorbereitungen für das große Barbecue. Ihre Eltern hatten zwei Köche angeheuert, die den Abend über am Grill stehen und die Gäste mit Leckereien versorgen würden.

»Auf meine Kinder.« Ihr Vater hob das Glas und alle stießen gemeinsam an.

»Auf dich«, gab sie deswegen zurück, als ihr Glas sanft klirrend gegen das ihres Vaters stieß. »Herzlichen Glückwunsch und auf die nächsten vielen Jahre. Du wirst dich ganz schön ranhalten müssen«, wandte sich Leonie mit einer Mischung aus Bewunderung und Ehrfurcht an ihren Bruder. »Ist das nicht eine ungeheure Doppelbelastung, wenn du einerseits Praktika machst und andererseits in die Kanzlei einsteigst?«

Christof pustete durch, als ahnte er die Menge an Arbeit, die auf ihn zukam, lächelte aber. »Ich versuche, mein Bestes zu geben.«

Er konnte stolz auf das Erreichte sein. Immerhin war er einer der jüngsten Absolventen des Studiengangs gewesen und hätte mit seinem Notenschnitt sogar eine Laufbahn als Richter einschlagen können.

»Möchtest du nicht auch einsteigen?«

Verständnislos sah Leonie ihren Bruder an, ehe ihr dämmerte, was er damit meinte.

»Das ist eine hervorragende Idee!«, mischte sich ihr Vater ein. »Frau Bökerling geht ebenfalls bald in Rente.«

Frau Bökerling war das, was man die gute Seele des Betriebes nannte. Von Anfang an dabei wusste sie stets, was ihr Chef wollte. Meist, bevor er selbst es überhaupt ahnte. Sie kochte Kaffee, empfing die Mandanten und erledigte Schriftkram. Natürlich war sie keine klassische Sekretärin. Sie hatte eine Ausbildung als Rechtsanwaltsgehilfin durchlaufen und war mit den Grundzügen der juristischen Tätigkeit mehr als vertraut.

Das war nun also der Plan ihrer Familie für Leonies Zukunft? In den elterlichen Betrieb als persönliche Assistentin ihres Bruders einzusteigen?

Obwohl Leonie ihre Familie über alles liebte und Christof für seine Zielstrebigkeit bewunderte, sträubte sich alles in ihr dagegen. Sie käme sich minderwertig vor ohne abgeschlossene Berufsausbildung. Wie das fünfte Rad am Wagen. Das verbot ihr der Stolz.

Heftig schluckte sie, räusperte sich, trank den Rest aus ihrem Glas und schluckte erneut. Die Augen aller Familienmitglieder waren auf sie gerichtet.

»Das ist nett von dir, Papa«, erwiderte sie und hielt ihr Glas so fest umklammert, dass ihre Finger wehtaten. »Aber das ist nicht nötig. Ich habe bereits etwas anderes. Ich wollte es als Überraschung aufheben.« Sie zwang sich zu einem Lächeln.

Nun starrten alle sie an und warteten darauf, dass sie fortfuhr. Es gab kein Zurück mehr. Das war ein Notfall. Und sie in Anbetracht der gestellten Aussichten nun wirklich verzweifelt.

»Sandras Vater hat mir ein Praktikum in seiner Zeitung angeboten«, verkündete sie mit bedeutsamer Miene, als lüftete sie ein großes Geheimnis. »Damit ich mir überlegen kann, ob Journalismus etwas für mich ist. Nächsten Monat fange ich an.«

Trotz der um sie lärmenden Gäste war es so still, dass Leonie die Kohlensäure im Glas ihrer Mutter prickeln hörte. Christof stieß einen unterdrückten Seufzer der Erleichterung aus und spiegelte ihr Innerstes damit wider. Ihre Mutter starrte sie mit geöffnetem Mund an, hinter ihrer Stirn konnte Leonie deutlich das Entsetzen sehen. Zeitung, Schmierblatt, Reporter ohne Scham, stand da zu lesen.

Ihr Vater schloss für einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, atmete er tief durch. »Das ist natürlich auch eine Alternative.«

Leonie nickte, unfähig, mehr zu sagen.

 

Kapitel 4

 

Hamburg heute

 

Eigentlich war die neue Arbeit gar nicht schlecht, auch wenn die reißerische Aufmachung der Zeitung nicht unbedingt Leonies Einstellung entsprach. Gut, das frühe Aufstehen war gewöhnungsbedürftig. Als Studentin hatte Leonie oft gegen die Uhrzeit gelebt, war erst mittags aufgestanden und hatte die Nächte durchgemacht. Pünktlich um acht Uhr bei der Arbeit zu sein, wenn man zuvor eine dreiviertel Stunde mit der U-Bahn durch Hamburg gondelte, war eine echte Herausforderung.

Doch Leonie war wild entschlossen, diese Schwierigkeit zu meistern. Zumindest befand sie, dass sie auf einem guten Weg war. Die vielen weiteren Menschen, die morgens mit teils missmutigen, teils gelangweilten Gesichtern mit ihr in der U-Bahn saßen, auf ihr Handy oder in eine Zeitschrift starrten, waren zumindest ein schwacher Trost.

Die Arbeit in der Zeitung ließ sich gut an. Anfangs hatte sie befürchtet, dass sie lediglich Kaffee kochen und Papiere kopieren durfte, aber das entsprach glücklicherweise nicht der Realität. Im Flur gab es einen modernen Vollautomaten, der alle Mitarbeiter zu jeder Tages- und Nachtzeit kostenlos mit ausreichend Kaffee versorgte. Ein nahezu paradiesischer Zustand.

Kopiert wurde im Zeitalter des papierlosen Büros auch nicht mehr viel, sodass sie sich richtigen Aufgaben widmen durfte. Sandras Vater, Herr Brenner, hatte sie am ersten Tag in Empfang genommen und ihr das Haus gezeigt. Er hatte vorgeschlagen, dass sie in jeder Abteilung einen Tag verbringen sollte, um schnell einen Überblick über die Abläufe zu bekommen.

Nachdem sie vorgestern ihren Durchgang beendet hatte, war sie Tim Weber zugeteilt worden. Einem Journalisten, der nur wenig älter war als sie und vor Lebenslust und guten Ideen nur so sprühte. Er sollte sie in der nächsten Zeit unter seine Fittiche nehmen. Leonie freute sich auf die Arbeit mit ihm. Er war nicht nur ein lustiger, aufgeweckter Typ, er sah auch noch verdammt gut aus und flirtete offenbar gern, das hatte sie gestern schon herausgefunden. Darüber hinaus war Leonie nun gespannt auf richtige Journalistenarbeit.

Als sie nun pünktlich das Büro betrat, saß Tim bereits am Schreibtisch. Er tippte etwas auf der Tastatur und starrte angestrengt auf den Bildschirm. Mit einem Aufseufzen ließ Leonie ihren Beutel auf den Boden neben seinem Stuhl fallen.

»Guten Morgen«, grüßte sie und verzog die Mundwinkel zu einem Lächeln, als er aufsah.

»Guten Morgen. Wir können gleich anfangen.« Die haselnussbraunen Augen blitzten unter beinahe schwarzen Locken, die ihm frech in die Stirn fielen. Das Grinsen verbreiterte sich und ein niedliches Grübchen erschien am Kinn.

»Bevor wir anfangen«, hob Tim nun an, »holst du bitte Kaffee.«

Die letzten Worte brachte er nur noch mühsam hervor, weil es ihn vor unterdrücktem Lachen schüttelte. Gestern hatte Leonie ihm gestanden, dass sie Sorgen gehabt hatte, dass eine Praktikantin nur Kaffee kochen durfte. Da hatte Tim sich einen Spaß daraus gemacht und ihr die Maschine auf dem Flur gründlich erklärt.

»Du Schuft.« Leonie boxte ihn spielerisch gegen den Oberarm.

»Aua.«

»Das war noch viel zu wenig.« Auch sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

»Sei eine brave Praktikantin und hol Kaffee.« Tim wischte sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln. »Ich kann ohne nicht arbeiten.«

»Dann will ich mal nicht so sein.«

Sie betrat die schmale Küche, um Tassen aus dem Schrank zu nehmen. Der Raum war mit dem Notwendigsten für den Büroalltag ausgestattet: Kühlschrank, Geschirrspüler, Mikrowelle und Herd. Irgendetwas gab es immer zu feiern, wie Tim ihr versichert hatte. Mit einem Augenzwinkern hatte er sie gefragt, was sie als Einstand auszugeben gedachte.

Mangels Platz hatte der große Kaffeeautomat, der nicht nur Cappuccino, Latte macchiato und Milchkaffee zauberte, sondern auch heiße Schokolade mit richtiger Milch herstellte, auf den Flur weichen müssen.

In der Küche standen zwei Frauen und kicherten. Als sie Leonie erblickten, hielten sie abrupt inne, das Gespräch verstummte.

»Guten Morgen«, grüßte Leonie und lächelte freundlich in die Runde. Die beiden waren aus der Sportredaktion, daran erinnerte sie sich nach ihrem Rundgang in der vergangenen Woche. Ihre Namen allerdings hatte sie nicht behalten. Dafür waren es einfach zu viele neue Kollegen gewesen. Außerdem war es um Leonies Namensgedächtnis nicht zum Besten bestellt.

»Moin.« Das kam von der Älteren. Die andere mit den rötlich blonden Locken war verstummt, hatte dafür aber einen feindlichen Gesichtsausdruck aufgesetzt.

Leonie wollte beim Büroklatsch nicht weiter stören und quetschte sich mit einem entschuldigenden Blick an ihnen vorbei, was in dem schmalen Schlauch gar nicht so einfach war. Sie war die Neue. Nicht auffallen war die Devise.

»Jetzt haben sie dich also zu dem Weber gesetzt«, kam es unvermittelt in ihrem Rücken, als Leonie im offenen Schrank nach Tassen suchte. Ein seltsamer Gesprächseinstieg. Sie hielt mitten in der Bewegung inne und drehte sich langsam um. Warum nur hatte sie das Gefühl, auf der Hut sein zu müssen?

»Irgendwo muss ich ja anfangen. Herr Brenner hielt das für eine gute Idee.« Sie schlug bewusst einen unbekümmerten Ton an.

Die jüngere der beiden Frauen musterte sie mit einem undurchdringlichen Blick, während die ältere auf einen Punkt hinter ihr an der Wand starrte und missbilligend den Kopf schüttelte.

Was habe ich getan?, überlegte Leonie. Sie war gerade einmal zwei Wochen hier und war überall herzlich empfangen worden. Auch in der Sportredaktion. Hatte sie dort die falschen Kaffeetassen benutzt?

»Pass nur auf, dass ihr nicht zu viele Überstunden macht.« Die Locken wippten in die Stirn, als die Jüngere mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft malte und gleichzeitig mit den Augenbrauen wackelte. Daher wehte der Wind. Kurz versuchte Leonie, sich die Rotblonde und Tim zusammen vorzustellen. Ihre Fantasie reichte nicht aus.

Leonie nickte langsam, ehe sie sich umwandte. Sie nahm die vordersten Tassen und schloss die Schranktüren, bevor sie die beiden Frauen entwaffnend anlächelte.

»Keine Sorge, ich brauche dafür keine Überstunden zu machen.« Sie grinste süffisant und hob die Hände, um ihrerseits Gänsefüßchen in die Luft zu malen, was mit den Tassen in der Hand nicht einfach war. »Bürostühle sind dafür deutlich zu unbequem.«

Die Ältere riss den Mund auf und starrte sie entgeistert an, während die andere hörbar nach Luft schnappte.

»Aber, hey, ich wusste nicht, dass er reserviert ist. Keine Sorge, ich dränge mich nicht auf. Lassen wir Tim doch selbst entscheiden.«

Sie fochten einen Kampf mit Blicken, der jäh unterbrochen wurde, als der, von dem die Rede war, zur Tür hereinsah. Tim wirkte atemlos, als sei er den Flur entlanggerannt.

»Leonie, komm, wir müssen los.« Er schnaufte.

Sie hob fragend die Tassen.

»Keine Zeit, wir trinken später Kaffee. In der City gab es einen Überfall auf einen Geldtransporter. Der Wagen ist auf der Flucht in einen Unfall verwickelt worden.«

Leonie drückte den beiden verdutzten Frauen ihre Tassen in die Hand und lächelte sie noch einmal maliziös an. »Viel Erfolg. Ich muss los. Überstunden machen.«

Damit drehte sie sich um und folgte Tim, der das Ende des Flurs bereits erreicht hatte.

»Zickenkrieg?«, fragte er über die Schulter hinweg mit gerunzelter Stirn.

»Du hättest mich warnen können, dass es Besitzansprüche gibt.« Leonie hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten.

»Welcher Art?«

»Deine Person betreffend.«

Sie waren am Fahrstuhl angelangt, der glücklicherweise im dritten Stock angekommen war. Gemeinsam traten sie ein und Tim drückte den Knopf, um die Türen zu schließen.

»Oh.« Er grinste nun seinerseits, während sich der Fahrstuhl langsam in Bewegung setzte. »Ist nicht weiter tragisch, du darfst nicht alles glauben, was man dir erzählt.«

»Keine Sorge, ich mache mir ein eigenes Bild.« Leonie strich sich das Haar aus der Stirn. »In diesem Fall allerdings habe ich das Gefühl, dass ihre Ansprüche nicht ganz unbegründet sind.« Mit schief gelegtem Kopf sah sie ihn an.

Tim schien froh zu sein, als der Fahrstuhl in der Garage angekommen war. Die Türen gingen auf, er trat eilig nach draußen.

»Sie hat das zu ernst genommen«, brummte er, sodass Leonie ihn kaum verstand. »Kann ich doch nichts dafür.«

Damit zumindest war ihre Ahnung bestätigt, dass Tim nichts anbrennen ließ. Er flirtete zu offensichtlich. Sie würde auf der Hut sein müssen. Prinzipiell hatte sie nichts gegen einen Flirt einzuwenden. Aber eine Büroaffäre war vielleicht doch keine so gute Idee. Schade eigentlich.

»Wo geht es hin?«

Tim entriegelte den Wagen und öffnete die Fahrertür seines dunkelblauen Golf GTI in Metalliclackierung. Schwungvoll stieg er ein, die Tür fiel mit einem lauten Knall ins Schloss. Bevor Leonie neben ihm Platz genommen hatte, startete er bereits den Motor.

»Du hast es aber eilig.«

»Bei solchen Sachen muss man schnell sein. Die Konkurrenz schläft nicht.« Weil er die Kupplung nicht ganz durchtrat, knirschte das Getriebe zunächst, als er den Rückwärtsgang einlegen wollte. Dann war der Gang drin und Tim setzte schwungvoll zurück. Den Sicherheitsgurt hatte er nicht angelegt.

»Der rasende Reporter.« Leonie schnallte sich an, als Tim mit quietschenden Reifen aus der Tiefgarage schoss. »Also, wo geht es hin?«

»City.« Tim fädelte sich so rasant in den fließenden Verkehr ein, dass Leonie für einen Moment die Augen schloss. Hinter ihr brach ein wüstes Hupkonzert los, das Tim nicht einmal zu bemerken schien. Er wechselte unvermittelt die Spur, ohne zu blinken, fuhr einen Moment auf der Gegenfahrbahn, ehe er vor einem ihnen entgegenkommenden Lkw, der bereits wild Lichthupe gab, wieder einscherte.

»Würde es dir etwas ausmachen, ein bisschen Gas rauszunehmen?« Leonie konnte die leise Panik in ihrer Stimme nicht mehr unterdrücken.

»Ich fahre immer so. Und ich versichere dir, dass ich noch nie in einen Unfall verwickelt war. Weder verschuldet noch unverschuldet.« Er sah zu ihr herüber. »Du brauchst nicht wie eine Irre an den Türgriffen reißen.«

»Könntest du bitte auf die Straße sehen?«

»Schrei nicht so.« Unbekümmert wandte er den Blick wieder nach vorn und setzte zu einem weiteren Überholmanöver an. Diesmal auf der rechten Spur.

Leonie beschloss spontan, ihren Kollegen nicht mehr anzusprechen. Lieber sollte er sich auf die Straße und den Verkehr konzentrieren. Wenn das so weiterging, hatte sie entweder die Tür herausgerissen oder das Bodenblech durchgetreten, bis sie ihr Ziel erreicht hatten.

»Heute Morgen wurde ein Geldtransporter in einem der Geschäfte am Jungfernstieg überfallen. Die Täter waren zu zweit und maskiert.«

Leonie schauderte.

»Sie haben dem ersten Mann, der mit den Geldkassetten in den Laden wollte, eine Knarre an den Kopf gehalten und den anderen gezwungen, die Tür zu öffnen. Beide wurden niedergeschlagen und die Täter sind mit dem gekaperten Transporter weg. Weit sind sie allerdings nicht gekommen. Dilettanten.«

Leonie quietschte und fragte sich unwillkürlich, wie weit sie noch kommen würden, als Tim in halsbrecherischem Tempo über eine Ampel bretterte, die definitiv nicht mehr dunkelgelb gewesen war.

»Auf der Höhe vom Alex sind sie in einen Pkw gerauscht und zu Fuß weiter geflüchtet. Der Geldtransporter ist hinüber und das Auto Totalschaden.«

»Wurden die Täter geschnappt?«

Wieder sah er zu ihr herüber und Leonie deutete mit dem Kinn hektisch nach vorn auf die Straße. Kopfschüttelnd erfüllte Tim ihr den Wunsch.

»Als wir noch in der Redaktion waren, war das noch nicht raus.«

Leonie schwieg und war damit beschäftigt, zu hoffen, dass sie heil ankamen, während Tim lauthals zu der Musik rappte, die aus dem Lautsprecher dröhnte.

In der Stadt herrschte starker Verkehr, der dichter wurde, je näher sie dem Jungfernstieg kamen. Tim nutzte jede sich bietende Lücke, um näher ans Geschehen heranzurücken. Schließlich stellte er das Auto auf dem Gehsteig vor dem Alsterhaus ab. Die bösen Blicke der Passanten ignorierte er mit unbekümmerter Miene und winkte Leonie, ihm zu folgen.

Mit zitternden Knien stieg sie aus und überschlug im Kopf, wie lange die Fahrt zurück mit der U-Bahn dauerte. Sie war doch nicht lebensmüde und setzte sich erneut zu ihm ins Fahrzeug!

»Kommst du? Oder willst du Wurzeln schlagen?« Ohne abzuwarten, ob sie ihm folgte oder nicht, verriegelte er den Wagen und lief davon in Richtung Alex.

Leonie warf die Tür ins Schloss und ging zögernd hinterher. Eine große Menschentraube hatte sich auf der Straße gebildet. Mehrere Einsatzfahrzeuge der Polizei und Feuerwehr standen mit blinkenden Lichtern mitten auf der Straße. Gerade näherte sich ein weiterer Rettungswagen mit Blaulicht und Martinshorn und versuchte, zum Unfallort durchzukommen.

Weshalb war die Feuerwehr hier? Leonie warf einen neugierigen Blick auf die Menschenmenge und fragte sich gleichzeitig, ob sie wirklich sehen wollte, was dort los war.

Ein hohes Kreischen zerschnitt die Luft und sie hielt erschrocken inne.

Dort vorne stand Tim. Er hatte die Kamera gezückt und bahnte sich rücksichtslos einen Weg. In der anderen Hand hielt er eine Karte, die er nach oben streckte.

Befremdet sah Leonie ihm nach. Jetzt schoss er Bilder, offenbar konnte er bereits mehr erkennen.

Bang ging ihr die Frage durch den Kopf, ob jemand bei dem Unfall schwerer verletzt oder gar ums Leben gekommen war. Gab es keine Grenzen der Pietät?

Tim wandte sich um und ließ den Blick über die Köpfe schweifen. Als er sie erblickte, winkte er sie aufgeregt heran. Nur widerstrebend trat Leonie näher.

»Ich habe prima Bilder! Das gibt eine tolle Story. Die Täter haben sie auch. Die Idioten wollten mit der U-Bahn weiter und wurden vom Bahnpersonal festgehalten, bis die Polizei kam. Wie kann man nur so blöd sein?«

Leonie antwortete nicht. Vorsichtig trat sie näher und versuchte, einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen. Im gleichen Moment trat vorne jemand zur Seite und sie sah einen Feuerwehrmann mit einem Gerät in der Hand am Boden knien. Funken stoben und auch das Kreischen, noch lauter diesmal, war wieder zu hören. Am Boden davor kümmerten sich zwei Sanitäter und ein Notarzt um eine am Boden liegende Frau. Sie blutete aus einer tiefen Wunde aus der Seite.

Leonie spürte, wie ihr zunächst heiß und dann kalt wurde. Schweißperlen traten ihr auf die Stirn, in den Ohren begann es zu rauschen. Alle Geräusche um sie herum nahm sie nur noch wie durch Watte wahr.

Jemand packte sie am Oberarm.

»Hey, was ist los?«

Auch die Stimme drang nur noch gedämpft zu ihr durch. Alles Blut in ihrem Körper schien nach unten in ihre Beine zu sacken …

Jemand trat vor sie, packte sie am anderen Arm. Ihr Blick war auf ein dunkelgrünes T-Shirt mit weißer Schrift geheftet. Jetzt wurde sie heftig geschüttelt.

»Du machst jetzt aber nicht schlapp?« Besorgnis und ein Hauch von Empörung lagen in der Stimme.

Sie sah langsam nach oben, merkte selbst, dass sie den Mund geöffnet hatte, aber nichts kam heraus. Es rauschte noch heftiger in ihren Ohren. Leonie versuchte, Luft zu holen. Ihre Knie begannen zu zittern, in ihren Beinen waren keine Knochen mehr. Nur noch Brei, der langsam am Boden zerfloss und sie mit sich riss. Um sie herum wurde es schwarz und die Geräusche erstarben. Auch die in ihren Ohren.

 

Kapitel 5

 

Hamburg heute

 

Das Erste, was Leonie wahrnahm, als sie die Augen aufschlug, war das tannengrüne T-Shirt mit weißer Schrift. Das kannte sie irgendwoher. Wem gehörte es? Sie erinnerte sich nicht.

Wo war sie? Und wie war sie hergekommen?

Über ihr an der Decke war ein weißes Dach. Ein Blechdach?

Vorsichtig wandte sie den Kopf nach rechts, was sie augenblicklich bereute. Ihr Magen begann heftig zu protestieren, für einen Moment dachte sie, dass sie sich übergeben müsste. Sie hielt den Kopf still, schloss die Augen, bis das flaue Gefühl in ihrem Magen nachließ.

»Hey, wenn du jetzt auch noch kotzt, nehme ich dich nicht mehr mit.«

Tim. Das war Tims Stimme. Er klang sauer.

Angestrengt dachte Leonie nach. Ihm gehörte das grüne T-Shirt. Auch was kurz zuvor geschehen war, schälte sich aus dem Nebel in ihrem Gehirn heraus. Der Überfall. Der Unfall. Der Feuerwehrmann, der den Wagen aufgeschnitten hatte. Und das Blut der verletzten Frau, die am Boden gelegen hatte. Ob sie …?

Nun war es mit aller Zurückhaltung vorbei, ihr Magen revoltierte empört das Frühstück nach oben und Leonie übergab sich zur Seite in eine Schale, die irgendjemand geistesgegenwärtig unter ihren Mund hielt.

Nur am Rande hörte sie, wie Tim hinter ihr schnaubte.

Der gute Geist nahm die Schüssel weg und reichte ihr ein graues Tuch, mit dem sie sich den Mund abwischte. Das Papier kratzte rau an ihren Lippen und dem Kinn.

»Danke«, brachte sie mühsam hervor und hob den Blick. Neben ihr stand ein Mann in weißer Kleidung. Ein Sanitäter vermutlich. Demnach war sie in einem Krankenwagen. Wie peinlich.

»Melden Sie sich, wenn Sie sich noch einmal übergeben müssen.«

Leonie nickte nur. Da hatte sie sich nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert, eine schöne Reporterin war sie. Sie wandte sich zu Tim um, der auf ihrer linken Seite stand und einen ratlosen Eindruck machte.

»Was ist passiert?« Sie krächzte mehr, als dass sie redete.

»Du bist umgekippt. Einfach so aus dem Nichts heraus.«

Das hatte sie sich bereits zusammengereimt.

»Das viele Blut …« Entschuldigend hob sie die Schultern.

Erneut schnaubte Tim. »Das wird noch öfter vorkommen. Wie stellst du dir das vor?«

»Ich kann kein Blut sehen«, verteidigte sich Leonie. »Dafür kann ich doch nichts.« Natürlich war es nicht nur das. Die Verletzungen der Frau und ihre Ohnmacht waren nur die Spitze des Eisberges. Eigentlich ging es um etwas anderes.

»Du kannst natürlich einen Bürojob machen. Kaffee kochen und solche Sachen. Das brauchen wir auch. Aber ich dachte, du möchtest Reporterin werden?« Seine Stimme hörte sich plötzlich weicher an.

»Ich habe keine Ahnung. Ich weiß gar nichts mehr. Ich möchte nach Hause.«

Tim stand auf und sah einen Moment auf sie hinunter. Ihre Blicke trafen sich. Bedauern lag auf seiner Miene, das Leonie weit mehr traf, als eine Schimpftirade es vermocht hätte. Dann seufzte er und reichte ihr die Hand.

»Lass uns verschwinden. Ich fahre dich.«

 

 

Leonie verbrachte einen rastlosen Tag und eine schlaflose Nacht. Sie konnte es drehen und wenden, wie sie wollte: Sie war wieder gescheitert.

Im Grunde genommen war ihr das in dem Moment klar gewesen, als sie Tim, sensationslüstern die Kamera schwingend, auf das Unfallgeschehen hatte zustürmen sehen. Sein Eifer war angesichts der Schwere des Unfalls befremdlich gewesen. Zumal er nicht an den Opfern und ihrem Schicksal interessiert gewesen war, sondern lediglich darauf gebrannt hatte, möglichst reißerische Fotos zu bekommen.

Glücklicherweise schwebte die Frau, die Leonie in ihrem Blut am Boden liegend gesehen hatte, nicht in Lebensgefahr. Auch der Mann, der von den Feuerwehrleuten aus dem zerstörten Wrack geschnitten worden war, hatte zwar Knochenbrüche erlitten, doch er war stabil, wie sie zwischenzeitlich erfahren hatte.

Diese Nachrichten waren für sie eine große Erleichterung gewesen. Ende gut, alles gut, mochte man meinen, denn auch die Täter saßen im Gefängnis.

Dennoch blieb ein bitterer Nachgeschmack. Denn all das hatte Tim nicht interessiert. Ob er eine schwere Verletzung der Autoinsassen für besser gehalten hätte? Im Sinne eines noch effektreicheren Artikels, der sich auf der ersten Seite der Zeitung gut machte?

Leonie seufzte. Er konnte nichts dafür, das war sein Beruf. Er war mit Leib und Seele Journalist, immer auf der Suche nach der nächsten Schlagzeile, die es zu verkaufen galt. Und da zählten gute Fotos mehr als Mitgefühl mit den Betroffenen.

Leonie hatte sich auf ihr Sofa gesetzt und blicklos vor sich hin gestarrt. Ihre Überlegungen ließen nur eine Frage zu: Wollte sie das? War das ihre Zukunft? Auf der Jagd nach Bildern und Storys, ohne Rücksicht auf andere?

Isoliert betrachtet, war die Frage einfach zu beantworten. Doch sie zog unweigerlich weitere, viel unangenehmere nach sich. Denn wenn sie für sich folgerichtig entschied, dass sie damit nicht ihre Brötchen verdienen wollte, was blieb dann?

Damit stand sie erneut vor den Scherben ihres beruflichen Lebens. Nicht einmal fünf Wochen, nachdem sie auf dem Geburtstag ihres Vaters den Neubeginn in die Welt hinausposaunt hatte. Herzlichen Glückwunsch, das war selbst für sie ein neuer Rekord. Wie der im Obduktionssaal. Sie entwickelte sich langsam zur Spezialistin für negative Bestmarken.

Verbitterung stieg in ihr auf. Wie konnte man nur so dämlich sein und sein eigenes Leben nicht auf die Reihe bekommen? Sie hatte doch nichts falsch gemacht. Immer wieder hatte sie versucht, sich für neue Dinge zu begeistern. Sie war willens gewesen, die Studiengänge abzuschließen.

Das Jura-Studium war womöglich eine falsche Entscheidung gewesen. Da hatte sie ihrem Vater einen Gefallen tun wollen. Die Motive waren ehrbar, die Umsetzung jedoch mangelhaft gewesen.

Mediengestaltung hatte sie nach sorgfältiger Überlegung gewählt. Weil sie eine durchaus künstlerische Begabung hatte. Mit dem Zeichenstift machte ihr niemand so schnell etwas vor. Schon in der Schule hatte sie ihre Lehrer überspitzt karikiert. Unter der Hand waren die Bilder für verhältnismäßig teures Geld gehandelt worden. Zumindest was die bescheidenen Börsen von Schülern anbelangte.

Bedauerlicherweise hatte sie Pinsel und Bleistift während des Studiums kaum benutzt. Stattdessen hatte sie sich mit Computerprogrammen herumschlagen müssen und darüber bald das Interesse am Malen verloren. Konnte passieren, dann war das eben nichts für sie.

Für Medizin hatte sie sich aus ehrbaren Motiven entschieden. Sie hatte etwas bewegen wollen. Im Geiste sah sie sich für Ärzte ohne Grenzen oder andere Hilfsorganisationen durch die Welt fliegen und dort anpacken, wo es am nötigsten war: an der Basis. Dass sie beim Anblick einer Leiche umfallen würde, damit hatte niemand rechnen können.

Und nun also der Journalistenjob. Auch dafür war sie nicht gemacht. Was nichts Schlechtes war. Im Gegenteil. Zeigte es doch, dass ihr die Menschen am Herzen lagen. Ihre Schicksale. Nicht das plakativ zur Schau gestellte Äußere.

Wie sie es auch drehte und wendete, sie stand vor dem immer gleichen Problem: Was sollte sie nun tun?

Die naheliegende Lösung war die, die sie kategorisch ausschloss: als Bürokraft in der Kanzlei ihres Vaters zu arbeiten.

In den düstersten Farben malte sich Leonie aus, wie ihre Zukunft dort aussehen würde. Selbst als sie längst im Bett lag, wälzte sie diese Überlegungen. Gescheitert, versagt, aufgegeben, hämmerte es unerbittlich in ihrem Kopf. Die Lösung lag vor ihr. In einer Anwaltskanzlei für Wirtschaftsrecht gab es kein Blut und keine Leichen. Im Gegenteil. Dort wurde Menschen zu ihrem Recht verholfen. Das sollte ihr an diesem Beruf doch gefallen.

Aber mit ihrem Vater und Christof zusammenarbeiten? Das glich einem Almosen. Dazu hatte sie zu viel Stolz.

Was blieb dann noch?