Die Insel Farewell - Eberhard Neubronner - E-Book

Die Insel Farewell E-Book

Eberhard Neubronner

0,0

Beschreibung

Mit zehn Erzählungen spannt "Die Insel Farewell" den geografischen Bogen von der franzö­sischen Meuse über den Midi, Schottland, die Äußeren Hebriden, die Orkneys, Norwegen, Finnisch-Lappland, Kopenhagen und Kaliningrad zur bretonischen Insel Ouessant vor Finistère: Ein Streifzug durch halb Europa, dessen verbindendes Element darin besteht, dass sich alle Ziele dem leichten Zugriff entziehen. So bleibt ihre Faszination präsent oder sie werden zum Schicksal. Dafür steht auch jene junge Witwe, die einem Fremden begegnet und Hoffnung schöpft ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 285

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Menschliche Namen und Charaktere in diesem Buch sind fiktiv, eine eventuelle Übereinstimmung mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen wäre durch den Zufall gelenkt und ist nicht beabsichtigt.

Inhalt

Der Zigarrenesser

Mittag in Bugarach

Nie mehr Lochaber

Die Insel Farewell

St. Margaret’s Hope

Fünf vor zwölf

Zwei Felle für Nykvist

Dänisches Intermezzo

Verschollene Stadt

Nach Jerusalem

Der Zigarrenesser

Was habe ich selbst gesehen? Nicht mehr als einen Ausschnitt. Wenn man hinterherläuft, kommen oft nur Reste zum Vorschein. Doch immerhin: Viele Informationen stammen vom Holländer Jan, der in Amsterdam mit seiner Partnerin Lies am Ufer des breiten, durch Wehre gezähmten Wasserlaufs Amstel lebt. Auf ihrem Schiff »Vriendschap«, dem Symbol für Freundschaft, war ich im Herbst zu Besuch.

Jan Blok, fast zwei Meter lang, zeigte mir Anfang September die Grachten. Er steuerte sein Boot wie ein Fremdenführer herum, würzte den Rundkurs mit Details, stoppte dann seinen Motor und fragte, ob eine Erfrischung recht sei. Bald saßen wir in Korbsesseln vor dem Café »Van Puffelen«, tranken Cappuccino und genossen den Sonntag: Fahrräder surrten vorbei, der Himmel war blau, das Lindenlaub noch nicht verfärbt, darüber ragten die Giebel alter Kontore und Speicher. Jan hatte sechs strenge Tage im Gericht abgehakt, redete aber trotz aller Müdigkeit schnell. Als ich endlich merkte, dass der Anwalt mir etwas Besonderes mitgeteilt hatte, war es schon erzählt und wurde erst Stunden danach wieder aufgerollt. Da putzte er Bohnen, briet Lachsfilets und fragte: Willst du noch mal hören, was uns in Frankreich begegnet ist?

Die »Vriendschap«, einen früheren Frachtsegler, hatten Jan Blok und Lies Meulen von einem gewissen Wim de Jong aus Maarssen bei Utrecht gekauft. Wim war der Wechsel vom Ruder zum neuen Domizil schwer geworden, doch als alter Mann hatte er wegen akutem Schwindel nicht mehr den Biesbos queren dürfen, die Mündung des Rheins, von anderen Flussrevieren zu schweigen. Deshalb bot der Skipper seine Tjalk öffentlich an, worauf Jan sich meldete und sie erwarb: sechsundzwanzig Meter lang, fünf Meter breit. Die »Vriendschap« hatte jahrzehntelang Zement oder Schutt transportiert und wurde nun in ein Wohnschiff verwandelt, das während des Sommers überall dort in Europa kreuzen und anlegen sollte, wo Kanäle ein Reisen von Fluss zu Fluss erlauben.

Wim ist erledigt, sagt Jan und träufelt Zitronensaft auf den Fisch. Der Mann lebt jetzt als Pensionär im Häuschen aus Backstein, schneidet Rosen und döst vor dem Fernseher. Er wird mit Sicherheit depressiv und bringt sich noch um. Unser Kauf war verfehlt, wir sollten ihm seinen Pott zurückgeben.

Das wär falsch, entgegnet die zierliche Lies.

Wenn de Jong aus Kummer stirbt, will jedenfalls ich nichts von Schuld wissen, sagt Jan. Er spießt eine Kartoffel, hält sie hoch und dreht die Knolle wie jemand, der den Kopf des enthaupteten Delinquenten vorführt.

Scharfrichter, sagt Lies. Einspruch, Euer Ehren!

Jan Blok überhört sie und wendet sich mir zu: Andererseits … unser Kurs von Ort zu Ort hat schon seinen Reiz. Vor allem dann, wenn man die Städte oder Dörfer besucht und von früh bis spät schaut. Nimm eine Karte. Was siehst du? Rote Straßen, schwarz gestrichelte Bahnlinien, dazu das Blau der Ströme und Flüsse. Ohne Wasser geht gar nichts, mein Lieber. An den Ufern steht Tag für Tag lachendes Publikum, lauscht dem Rhythmus des Motors und lädt dich zum Bleiben ein: Bon jour, hallo, dobry den, jó napot, buna zina! Du wirst immer als Mensch wahrgenommen, der winkt und antwortet; die »Vriendschap« weckt Sympathie. Nee, offenes Meer kann mir gestohlen bleiben, ich brauche Grenzen. Wir Flussleute sind alle aus ähnlichem Material zusammengenietet.

Ende Juni vor ein paar Jahren war Jan Blok mit seinem Schiff von Amsterdam aus in Richtung Süden gestartet. Lies und er befuhren zuerst den Amsterdam-Rhein-Kanal und dann die Waal, drehten vor Nijmegen ab und erreichten schließlich den Maasfluss. Auf der früheren Tjalk flatterte Wäsche. Lies Meulen hockte am Heck und empfand das Rumpeln des Diesels als wohltuend. Den Deutz Zweizylinder hatte man 1912 in der »Vriendschap« versenkt, einer damals achtzehnjährigen Seglerin, in Zwartsluis bei Zwolle vom Stapel gelaufen und bis zur Jahrtausendwende aktiv. Wenn Jan sie nicht gekauft hätte, wäre das Schiff abgewrackt worden. Er träumte oft davon: Schneidbrenner kappten den Bug, Kajüte und Steuerhaus wurden zertrümmert, man warf das Handrad beiseite, zog die Kette vom Spill, ließ Fensterglas splittern und riss den Motor aus der Verankerung. Diesem Krieg setzte Blok, wann immer er konnte, seinen eigenen Frieden entgegen. Zu ihm gehörte die »Vriendschap« unter Vollzeug im Ijsselmeer, zwischen Lemmer und Volendam pflügend oder später als Flussfrachter unterwegs.

Was hatte er alles für sie investiert, für sich selbst und für Lies, wie viele Monate waren mit Schweißen und Holzarbeit draufgegangen, wie oft hatten sie Rost geklopft, Farbe gekratzt, Kanten geschliffen und Blech grundiert! Pläne wurden entwickelt und wieder verworfen, weil nichts zusammenging, denn die »Vriendschap« schien gegen eine Zukunft zu kämpfen, die Amüsement statt Pflicht bedeutete – Ferien total. Am Kai kein pendelnder Kran mehr, keine Speicher an Land, weder tagsüber Windengekreisch noch die Rufe der Stauer oder das Seufzen des Schiffers de Jong, wenn er nachts in seine Koje fiel.

Aber sie schafften es doch. Die Tjalk war schwer ins Geld gegangen (kluge Kollegen ließen für weniger ganze Paläste bauen), bis Jan und Lies den ersten Trip wagen konnten. Beide hatten zunächst von Amsterdam nach Dordrecht tuckern und dann die Ooster Schelde bis Bergen op Zoom nehmen wollen, doch in der Maas begann es unter Deck seltsam zu eiern. Man musste Rijkebuurt anlaufen, ein Dorf hinterm Deich, wo Lies Meulen den alten Deutz stundenlang schmierte.

Fett und ne gute Hand, lobte Jan seine Freundin und hatte recht, denn die »Vriendschap« stotterte seither nie mehr: eine brave Arbeiterin, am Bug wie achtern behäbig wirkend, außenbords war sie unter der Wasserlinie schwarz und darüber braun bemalt. Mahagoni, wandte Lies manchmal ein, wenn jemand nur Beige sah. Dieser Farbton war dem Schiff in Zwartsluis verpasst worden. Hatten ihre Erbauer an Edelholz gedacht und den schönen Schein wahren wollen?

Als Blok davon spricht, fügt Lies rasch hinzu: A propos Schein … Jan hat im Topp stets die Rote Fahne gehisst. Keine Ironie, sondern purer Blödsinn nach dem Zerfall der Sowjetunion. Dieser verblichene Lappen hing ewig, zuletzt sahen Hammer und Sichel weiß aus statt gelb. Ich erwähne das nur, weil unsere Story sich drum herum schlingt.

Jan Blok und Lies Meulen fuhren nun bergwärts. Ihr Ziel hieß Reims. Blok berichtet, wie sie Venlo, Roermond und Maastricht streiften, wie aus der niederländischen Maas eine belgische Meuse wurde, dass sie den lebhaften Straßenverkehr beiderseits nicht erwartet und Stille ersehnt hätten. Ab Namur, wo die Sambre von Westen her zur Meuse stößt, wurde es ruhiger. Graue Felsriegel engten den Fluss ein, das Ardennengebirge schob bewaldete Kuppen vor, man musste jetzt viele Schleusen passieren. Die letzte écluse der französischen Doppelstadt Charleville-Mézières lag unter dem Dorf Montcy-Notre-Dame, wo bei einer Betonbrücke angelegt wurde. Es gab dort das »Café d’la Marine« mit kleinen Tischen im Freien, Angler dämmerten hinter reglosen Ruten, und ein dicker Kerl schlurfte her, dessen Unterarme tätowiert waren. Er setzte sich neben die Holländer, bestellte Pastis und nannte sich Jacques. Am Ufer, nahe der Insel Petit Montcy, waren drei leere Lastkähne festgemacht. Sie rosteten vor sich hin.

Solide péniches, sagte der Dicke, phantastisch. Bestes französisches Eisen und auch sonst picobello. Aber keine wird mehr beladen.

Lies fragte den Tätowierten, ob er selbst Seemann sei, doch Jacques wehrte ab.

Um Gotteswillen!, rief er. Wer denkt denn an so was. Das sind nur solche, die man im Wasser der Meuse getauft hat – Bateliers, Leute mit Schwimmhäuten. Ist ja auch wirklich kein Vergnügen, denn du bist jeden Abend woanders und selten daheim. Nein, Messieurs-Dames, ich war mein Leben lang Automechaniker, bin mit Citroën groß geworden und hab die Angeber sich das Hirn einrennen lassen. Hundertfünfzig Sachen waren beim Modell Large Onze drin, wenn man fest aufs Gaspedal stieg. Mann, welche Schlitten heute gekauft werden! Läuft doch alles auf Pump, auf Kredit.

Und das schlaffe Tuch am Heck der »Vriendschap« taxierend: rotweißblau, quergestreift – Touristen vom Niederland, stimmts? Wenn auch ihr noch wegbleibt, liegt unsere Hübsche demnächst allein im Bett. Vater Staat macht dann den Laden endgültig dicht.

Hier ein Bordell?, fragte Lies stirnrunzelnd, doch Jacques blieb gelassen.

La petite Meuse, Madame. Die Schleusen, der Fluss! Das alles kostet unseren Staat ne Menge Geld. Da wird viel in den Sand gesetzt. Geht ruckzuck den Bach runter und bringt nichts ein.

Vor der Schleuse bei Montcy aus sahen sie ihn später breitbeinig stehen und mit dem Patron des »Café d’la Marine« plaudern. Beide peilten manchmal zu Jan und Lies herüber, die im Becken hochgepumpt worden waren, um nun jenen Kanal zu nutzen, der eine Meuse-Schleife kürzt und östlich von Charleville die Teilstadt Mézières erreicht.

Es war Sonntag, ein milder Morgen. Jan lauschte dem Bullern der »Vriendschap«, während er das Schiff mit einer Havanna im Mund lenkte, sein Vibrieren auskostend, beide Beine gestreckt, die Zehen auf den Speichen des Handrads und ein Journal neben sich, in dem jedes Detail der Meuse zu finden war: Biegungen, Brücken und Staustufen, Lande- und Rastplätze. Lies Meulen brachte ihm aus einem anderen Heft bei, dass ein Mann namens Gonzague den Ort Charleville im siebzehnten Jahrhundert gegründet habe, dass Mézières wesentlich älter sei und beide Städte seit 1966 zusammengehörten. Der Lyriker Arthur Rimbaud war hier zur Welt gekommen, ein junges Genie, das vom Hanf berauscht war und Verse über Abgründen sang. Die Honorablen seiner Stadt hatten Rimbauds Dichtung nie gemocht und nahmen nach wie vor das ihnen geltende Wort »Karlsärsche« krumm.

Übrigens, sagte Lies, bei Montcy-Notre-Dame gabs ein Depot. Wir hätten unser altes Öl loswerden sollen und haben es nicht getan, wollen wir wenigstens in Charleville an der Base Nautique festmachen? Ich könnte schon was vertragen: Pool, Restaurant, kleine Erfrischung unter Kastanien … außerdem liegt das Rimbaud-Museum keine fünf Minuten vom Hafen entfernt. »Alte Mühle« schreiben sie hier. Wahrscheinlich ist es ein Muss.

Lieber nicht, bat Jan Blok. Erst mal Sedan und so weiter.

Der Anwalt aus Amsterdam wechselte jetzt auf Halbe Fahrt, denn die im Journal erwähnte dritte Eisenbahnbrücke kam in Sicht (backbords vom Mittelpfeiler passieren, las Jan vom Blatt, noch einmal backbords zur Schleuse 42 und dann durch das Öhr des Canal d’Est).

Nummer 42 war automatisiert. Trotz dieser neuen Technik saß ein Wachmann mit Bürstenfrisur vor seinem Haus und hob schläfrig den Kopf, als Blok im Vorhafen stoppte. Jans hellrotes Tuch am Mast schien den Mann zu beleben, jedenfalls drehte er sich und rief laut:

Isabelle? Isabelle! Schau mal den Lappen an!

Man hörte zwar hinter ihm etwas, verstand aber nichts, worauf der Schleusenmeister in eine andere Richtung schrie: Roqueeet? Hallo, Emile! Deine Firma!

Im Kanal dümpelte das Heim dieses Emile Roquet, ein Lastkahn, etwa gleich breit wie seine niederländische Schwester und rund vierzig Meter lang, also schmal. Jan sah sofort, dass die hoch aus dem Wasser ragende péniche »Rova« seit Monaten nicht mehr bewegt worden war. Algen hatten sie eingehüllt, doch ihr Pelz wirkte zerfressen; jemand war schrubbend aktiv gewesen, um einen baldigen Start zu melden, wie es die Kapitäne der Ozeanliner mit ihrem geflaggten »P« tun. Blok nickte und hatte verstanden. Er bugsierte sein Schiff den schwarzgrünen Rumpf entlang, gab Gegenruder, ließ den Motor kurz zurücklaufen und kurbelte nochmals. Gummi quietschte. Die »Vriendschap« lag vor der »Rova« am Kai.

Sie machten fest, klarierten das Deck, öffneten alle Bullaugen und kochten Kaffee.

Warum nur, fragte Lies zwischen zwei Schlucken des heißen Getränks, sitzen wir vor Beton statt unter Bäumen. Ich hätt mehr Lust auf einen Aperitif oder das Dichtermuseum!

Die Front einiger Hochhäuser stand als nahe Kulisse im grellen Licht. Schlecht frisierte Frauen mit abgetragenem Zeug führten Hunde herum, die wie Ratten aussahen.

Also, hier bleib ich keinen einzigen Tag, sagte Lies. Von Nächten gar nicht zu reden. Es sei denn, wir nutzen den Stopp zum Großputz und holen in Sedan nach, was hier versäumt wird.

Wenn du meinst …

Jan warf eine leere Pütz über Bord, hörte es unter sich gurgeln und hievte sie voll wieder hoch, um die Oberlichter zu waschen. Da traf ihn der Blick des Nachbarn. Blok fing ihn auf. Ziemlich große Gestalt, dachte er, halbe Glatze und kein Gramm Fett. Backenknochen, über die sich braune Haut spannt. Seine verwaschene Hose ist mit einer Kordel gerafft, das offene Hemd lässt den sehnigen Körper erkennen, am Hals treten Adern hervor. »Hallo! Deine Firma!« War das Roquet? Der Mann wies auf Jans sowjetische Kennung und sagte:

Genosse, aha. Bist wohl schon dort gewesen – in Wolgograd, Moskau, Odessa?

Nie.

Was soll dann der Fetzen?

Nur Spaß.

Der Mann ging murmelnd davon.

Ich hab ihn beleidigt, dachte Jan. Wenn Lenin wüsste!

Man sah sich wieder am Abend zwischen Heck und Bug beider Kähne und besserte Lettern aus; Emile Roquet kratzte an der geschwungenen Schablonenschrift »Rova« herum, Jan Blok gab dem Namen »Vriendschap« ein neues Weiß. Keiner redete, doch als sie zeitgleich ihre Rücken aufrichteten (wobei Roquet stöhnte), sprach der Franzose: Gute Figur, Kompliment. Muss ne alte Seglerin sein.

Stimmt, erklärte Jan, die ist im niederländischen Zwartsluis vom Stapel gelaufen. Zwartsluis bei Zwolle. Schon mal gehört?

Nicht dass ich wüsste.

Aber er hatte zwei oder drei Mal Rotterdam besucht und war in Paris gewesen, eben überall dort, wo es Ladung gab. Wie sein Vater Roland vor dem Krieg.

Jan fummelte am eigenen Hemd, bis etwas ertastet war.

Zigarre? Import. Es gibt nichts Besseres.

Der Schiffer zögerte und griff dann zu. Er drehte sie mehrmals, roch an ihr, biss vorsichtig ab, kaute prüfend und schluckte. Dann kam die Antwort:

Ah, ça c’est bon …

Emile zog ein Klappmesser mit hornigem Griff, öffnete es und schnitt die Havanna in dünne Scheiben. Jan Blok bemerkte verwundert, wie er den Tabak Stück für Stück aß.

Roquet!, rief eine Stimme vom Nachbarboot.

Das ist Marie. Merci, mon vieux.

Als sie zwölf Tage später, von Reims her in Nordrichtung unterwegs, vor der Schleuse 42 festmachten, lag die »Rova« noch immer am selben Kai. Ihr Eigner war nirgends zu sehen. Jan ging an Land und fragte zwei Polizisten nach ihm, die sich zwischen den Wohnsilos langweilten. Sie kannten Emile Roquet: Der habe hier seinen Liegeplatz, ja, aber oft sei er fort.

Warten Sie nur, hieß es, dieser Typ taucht schon wieder auf. Wer wie er mit dem Schiff verheiratet ist, kommt schnell zurück.

Und die Frau, Madame Marie?

Im Supermarkt oder beim Arzt. Das kann dauern.

Jan hätte Emile gern »nächstes Jahr hier« versprochen oder »man sieht sich, wenn wir zurück sind«, doch dieser Wunsch blieb momentan unerfüllt. Auf bald also, dachte der Anwalt. Vielleicht schon in ein paar Monaten.

Du, sagt Jan Blok auf dem Boot »Vriendschap« in Amsterdam zu Lies Meulen, die ihren roten Kater Prins Claus streichelt. Kriegst du noch halbwegs zusammen, was dann geschehen ist?

Kein Problem, antwortet Lies.

Sie fuhren im Sommer des nächsten Jahres erneut auf der Meuse und erkundeten nun, zunächst ohne Stopp in Méziè - res, den Oberlauf bis Verdun, wo die sorgfältig konservierten Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs besucht wurden. Pazifistenpflicht, meinte Jan und sollte bald genug davon haben, denn die Söhne der Veteranen von damals predigten Freundschaft im Fort Douaumont, doch weil ihr »Niemehr« wie »Süßundehrenvoll« klang, wurde der Gang zum Fiasko – Jan und Lies kehrten um. Vor Charleville-Mézières, bei den schlecht frisierten Spaziergängerinnen am Kanal, machten sie Halt. Eine grauhaarige Frau mit Pantoffeln saß auf der »Rova« und strickte.

Wo ist er, Madame, rief Blok von Reling zu Reling. Wo steckt Monsieur Roquet?

Weiß nicht. Ihr seid wohl die Holländer?

Hmm.

Dieu alors, Emile lässt keine Nachricht zurück, wenns ihn wegzieht. Man braucht immer Geduld.

Emile Roquet kam kurz vor Einbruch der Dunkelheit mit schleppendem Schritt und trug zwei Baguettes unter dem Arm. Eine Schnur hielt die Hose, das verblichene blaue Hemd war mit Farbe bespritzt, er wirkte abwesend und grüßte stumm.

Havanna, bot Jan an und griff ohne Überlegung zur Brust. Er hielt alsbald die Zigarre zwischen zwei Fingern. Roquet nahm sie entgegen, biss ihre Spitze ab, kaute langsam und sagte dann im Ton des Gourmands: C’est bon ça. Merci, mon vieux.

Jan Blok nahm wahr, wie sich sein Herz zusammenzog.

Beide Männer wechselten nun ein paar Worte wie beim ersten Treff, doch der batelier brachte jetzt mehr heraus und fing zu erzählen an. Emile war seit jeher auf französischen und belgischen Flüssen gefahren, erst als Kind mit seinem Vater von Monthermé aus (»nicht weit von hier in den Ardennen«) und dann allein. Er hatte die 1938 erbaute »Rova« nach Roland Roquets frühem Tod modernisieren lassen: dreihundertsechzig Tonnen, neununddreißig Meter lang, fünf Meter breit, zwei Meter Tiefgang. Der DAF-Diesel, Typ Sechszwofünf, setzte einhundertzwanzig Pferdestärken frei und Emile schwor, diese Maschine habe sich noch nie einen Aussetzer oder gar Bruch geleistet. Sie laufe rund, exzellent. Wenn nur nicht die Mafia wäre!

Sizilien?, fragte Jan.

Das Kapital, schimpfte Emile Roquet. Immer mehr Ladung wird vom Fluss weg auf überfüllte Straßen geschleust, die Bosse kassieren, ihre Schwerlaster hungern uns aus. Wir Bateliers sind fix und fertig. A bas les camions fluche er jeden Morgen, doch Marie mache Druck. Sie rate, dem Staat endlich nachzugeben. Der wolle unrentable Schiffe verschrotten lassen und biete dafür das Appartement in Mézières, dazu eine Rente aufs Konto.

Ist doch schön, sagte Jan.

Doch Emile widersprach: Mein Alter, schau her. Was ist jemand wie ich ohne die Meuse?

Im folgenden Jahr fuhr Jan allein. Lies blieb bei ihrer Mutter und büffelte Jura, um beim letzten Examen nichts zu verpatzen. Blok also legte Ende Juli in Amsterdam ab und traf wochentags mit der »Vriendschap« vor Montcy-Notre-Dame ein: Dienstag, zehnter August, elf Uhr dreißig. Es nieselte. Das »Café d’la Marine« war geschlossen, weder Tische noch Stühle standen draußen, die Rouleaus an den Fenstern hingen schief, und kein dicker Mechaniker tauchte auf, um Tratsch loszuwerden. Dem Mann unterm Regenschirm vor Schleuse 42 winkte Jan zu, aber der reagierte nicht. Dann rückte die »Rova« ins Blickfeld und mit ihr Roquet.

Hallo!

Ich hab auf dich gewartet, sagte Emile. Dachte schon, du bleibst für immer weg. Wo ist deine Frau?

Lies hat keine Zeit.

Ah oui.

Er massierte seine knotigen Finger, die Muskulatur beider Wangen regte sich rhythmisch, sie ließ an ein pochendes Herz denken. Und dann: Bald wird die »Rova« … Falls du was brauchst …

Wieso?

Signalhorn, Taue, Lampen, Spill und Anker geb ich günstig her. Mein Beiboot bekommst du umsonst.

Roquet!, rief Jan. Ist das dein Ernst?

C’est correct, mon vieux.

Auch am Donnerstag war es feucht. Sie hatten mittwochs den kleinen Handel abgewickelt und das Material an Bord der »Vriendschap« verstaut. Emile erklärte, sein Schiff werde noch heute vierhundert Meter flussaufwärts zerschnitten, doch er ließ sich durch Jan um keinen Preis überreden, der vorschlug, die leere péniche zu schleppen.

Sie lebt ja noch, sagte Roquet.

Er ließ die Maschine anlaufen: DAF Sechszwofünf kam nach ein paar Stößen in Gang, worauf Jan erfreut nickte. Emiles letzte Worte wurden wiederholt und zugleich vom Wummern des Diesels geschluckt. Der Schiffer berührte das Handrad, drehte es langsam und weinte, ohne sich seiner Trauer zu schämen. Alter Mann, dachte Blok, was außer dem eigenen Ende hast du noch zu erwarten? Etwas stieg in ihm hoch, warm und schwer.

Wenig später kam auch Marie im schwarzen Kleid, aber mit ausgelatschten Pantoffeln. Roquet gewann seine Fassung wieder und bat Jan, beide Taue von den Pollern an Land zu lösen. Sie glitten jetzt fast ohne Fahrt zur nahen Abwrackwerft, wo die »Rova« zerstört werden sollte. Man verlor dabei keine Zeit. Stunde um Stunde sahen Emile, Marie und Jan den Spezialisten zu, die routiniert arbeiteten. Ihre Schneidbrenner fraßen sich sprühend durch Bordwand, Platten und Spanten. Es stank nach versengter Farbe und heißem Metall. Vor diesem Hintergrund kamen dem Anwalt aus Amsterdam jene früheren Albträume zum Bewusstsein, die ihn nachts gepeinigt hatten.

Der Batelier wandte sich ab, als Jan Blok ihn fragte: Ça va?

Jan und Lies verzichteten auch im dritten Jahr nicht auf den Besuch bei Roquet. Eines Tages kreuzten sie vor Mézières, trieben langsam der Schleuse 42 entgegen, lösten den Sensor aus und sahen die Ampel von Rot auf Grün wechseln. Während die »Vriendschap« zwischen fischig riechenden Trogwänden höher stieg und es um sie herum schäumte, überlegte Jan, was wohl sein Freund mittlerweile erreicht habe. Das Bild des Bateliers, der Balkonblumen gießt oder sonntags die örtlichen Kicker anfeuert, ließ Jan Blok lächeln. Aber es machte ihm gleichzeitig Angst.

Nahe dem Liegeplatz von Emile führte eine Treppe zum Halbrund der Hochhäuser. Morgen suche und finde ich ihn, dachte Jan und erinnerte: Rue Jean Vallot Nummer acht. Das Surren des Türöffners werde Maries Worte bestätigen, denen zufolge dem Ehepaar im neunten Geschoss ein Appartement mit Tiefblick auf den Canal d’Est vermietet worden sei, »weil Roquet doch seinen Fluss braucht«.

Sie hatten angelegt. Der freut sich, wenn er uns demnächst begleiten darf, sagte Jan zu Lies, ich hab das seit Langem geplant. Als Pensionär hat er Zeit, und Marie wird kaum dagegen reden. Ist seine Koje in Ordnung?

Natürlich, nickte Lies. Jan angelte nun aus dem Schapp in der Vorpiek den rosa Lumpen mit Sichel und Hammer und setzte ihn demonstrativ für Emile. Dann fiel ihm ein, dass weder Pastis noch Cognac vorrätig waren, außer Genever aus Belgien gab es nichts.

Zur Not lässt das nächste Lokal zwei Flaschen springen, meinte Jan. Bin bald wieder da.

Lies rief hinterher: Und Zigarren!

Auf dem Weg nach Mézières hinein kam Blok die Idee, sich bei Emile anzumelden. Also klemmte er sich in eines der letzten noch vorhandenen Telefonhäuschen, drückte die Tastatur, roch Rauchmief und wartete. Nichts. Kein »Klick«, wenn jemand den Hörer abhebt, kein allô oder oui.

Bepackt stiefelte Jan zurück. Beste Prognose, dachte er während der Himmel im Westen brannte, wir drei werden morgen flussaufwärts schönes Wetter genießen. Blok sah vom Jean-Vallot-Park her die Wohntürme, das Wärterhaus und den Kanal samt seinem Kahn. Es war schon fast dunkel. Am Kai, zwischen Schleuse und Schiff, stand der Wachmann.

Jan sagte: Bonsoir M’sieur. Wir sind wieder hier.

Die Gestalt mit dem Bürstenschnitt fuhr sich stumm übers Haar.

Wie geht es Roquet?

Keine Antwort.

Blok atmet tief. Wir sitzen zu dritt auf dem Deck der »Vriendschap« in Amsterdam, Lies Meulen streichelt ihren schnurrenden Kater Prins Claus und fragt: Kaffee zum Dessert? Oder Genever?

Kaffee wär gut.

Was passiert sei, will ich wissen und höre, Jan habe Marie Roquet ein knappes Jahr nach dem letzten Halt in Mézières mit aller Vorsicht befragt. Wort für Wort rang er ihr ab, bis sie unter Tränen gestand, Emile habe sich in der Küche des Appartements mit dem Revolver von Vater Roland erschossen. Zur selben Zeit saß jemand nebenan vor dem Fernseher, sein Sohn Gaston aus erster Ehe. Marie war damals zu Verwandten gereist, weshalb Gaston den Alten besuchte um mit ihm zu reden: im Auftrag der Stiefmutter, die Emiles Depression nicht mehr ertrug. Doch er schwieg konsequent. Lieber tot, wurde offenbar angedeutet, als ein lebender Leichnam.

Ich fahre nach Charleville-Mézières, in die Stadt des Dichters Rimbaud, denn das Ungesagte zwingt zur Recherche. Zuvor bitte ich Jan Blok um genauere Hinweise oder gar seine Begleitung, doch er entzieht sich mir mit dem Argument, Lies leide seit Monaten unter einer schwierigen Schwangerschaft und könne nicht allein bleiben. Deshalb nur so viel: Auf dem Grabstein in Mézières findest du einen kupfernen Lastkahn, die péniche von Emile Roquet.

Nachsaison. Schon sind viele Bäume kahl, in Frankreich duftet es modrig nach Herbst, viele Passanten tragen Wolljacken und Schals wie im Winter, am Herzogsplatz scheinen die Métezeau-Pavillons unter ihren Dächern zu frösteln. Der servile Portier des »Hôtel de la Meuse« weist auf das Schlüsselbrett über dem Macintosh. Jedes Zimmer stehe zur Disposition, sagt er und meint: Sie handeln richtig, Monsieur. Man ist Ende Oktober unterwegs – ideal für den Urlaub.

Dann schließlich, nachdem er mir zugehört hat: Roquet Emile? Sehr leicht zu finden. Eh voilà, unser Telefonbuch am Schirm: Rue Jean Vallot Nummer acht, einssechs-dreidreineunfünf-zwosieben. Ich kann sofort durchstellen. Tot, sagen Sie, ein paar Jahre her? Da kommt nur der Neue Friedhof in Betracht, Rue du Grand Rulut. Fragen Sie dort den gardien.

Der, ebenso stämmig wie flink, kontrolliert im Büro mit erdschwarzem Finger die Listen. Kladde nach Kladde wird aus dem Regal gezogen, Jahrgang um Jahrgang geprüft; als Namen finden sich nur Rascard, Regnier, Richon, Rivette und Rovain hintereinander. Nächster Band, ebenfalls nichts.

Nein, Monsieur, tut mir leid. Ein Seemann soll hier bestattet sein? Sein Boot auf Granit oder Marmor verewigt? So was kommt eher selten vor. Testen Sie mal den zentralen Computer an der Place de l’Hôtel de Ville. Keine Ursache, gern geschehen. Au revoir, Monsieur.

Die junge Frau hinter dem Schalter des Standesamts zögert nicht, als ich meinen Wunsch vortrage. Sie lässt sogar fotokopieren, was den Tod von Jans Freund bescheinigt, zur amtlichen Kenntnis gebracht durch dessen Tochter Luise, dreißig Jahre alt, Sekretärin, verheiratet: »Emile Roquet, geboren am 14. Februar 1931 zu Monthermé (Ardennen), Sohn von Roland Gerard Roquet und Nicoletta Vertus, gestorben am 2. Juli 2003 sechs Uhr abends in Mézières, Avenue de Manchester 45«.

Im Krankenhaus?

Richtig. Die Klinik von Manchester.

Und sein Grab, Madame?

Warten Sie … Rue de Warcq. Es handelt sich dabei um einen älteren Begräbnisplatz. Er liegt am Stadtrand. Sektor zehn, Nummer sieben.

Dieser Mittwoch fällt aus dem Rahmen, denke ich. Wer oder was hilft meiner Suche? Mich lenkt seit dem Erfolg im Rathaus das Gefühl einer wachsenden Sicherheit, die noch verstreuten Teile der Biografie von Emile werden bald zum Vorhandenen passen und das Ganze ergeben.

Geh jetzt zur Rue Jean Vallot, sagt ein siebter Sinn, vielleicht zehn Minuten von hier. Schau den Canal d’Est an, das Wohngebiet, Emile Roquets Schleuse 42. Schnuppere seine Luft, die ihm vertraute Melange aus brackigem Wasser und Dieselöl. Von Viertel zu Viertel renne ich, vor dem Haus Nummer acht hocken Handwerker in einem Kleinbus und rauchen. Werden sie den Fremden erkennen, der Emiles Schicksal wie einen Teppich aufrollt und rätselhafte Muster studiert? Neunter Stock, aha: »Roquet« zwischen zahllosen Namen.

Hinter welchem Fenster hat Emile damals das schwarze Ding entsichert und abgedrückt? Gab es Panik rundum, riefen Nachbarn oder sein Sohn die Ambulanz?

Ich nehme den Lift. In der Kabine kichern zwei Weiber mit vollen Tüten, unter offenen Mänteln tragen sie trotz des Vormittags noch ihre Négligés. Mein Herz schlägt so heftig, dass ich beide Arme wie zur Abwehr verschränke. Sei unbesorgt … muss ja nicht ausgerechnet Marie sein, die neben dir lehnt und schwitzt.

Mais non, sagt die eine zur anderen, als sei mein Gedanke erraten worden, und sobald sie den Fahrstuhl verlassen haben, murmle ich beim Schnappen der Tür: Niemand hier weiß, dass du Emiles Geschichte kennst. Kein Mensch wird Fragen stellen.

Nein, das kleine handbeschriebene Schild »Roquet E.« wurde weder entfernt noch verändert. Pietät oder Schlamperei? In der Wohnung und hinter dem kleinen Spion regt sich nichts. Vom Haus bis zum Kanal schätzte ich maximal hundert Meter und sehe den Vorhafen, die Écluse Mézières, das wie trübes Bier stehende Wasser. Hier also, nahe der Schleuse 24, hatte Emile seinen letzten Posten bezogen. Er war täglich auf Ausguck gewesen: Wachgang an Bord zwischen Wohn- und Schlafzimmer, zehn Schritte hin und zehn Schritte her. Von Mal zu Mal schroffer, dann kaum mehr ansprechbar, schließlich stumm.

Roquet lag blutend am Boden, Gaston fand ihn und schrie, die Küche glich einem Schlachtfeld. War es so vor sich gegangen am 2. Juli 2003, als das TV-Quiz zur letzten Frage kam, während Emile nebenan nicht mehr weiter wusste und schoss?

Au secours! Au secours!

In Charleville-Mézières ist mir später die Haltung des Portiers unangenehm. Er fragt dienstfertig: Haben Sie Ihren Toten entdeckt?

Ja, antworte ich, lege schnell eine falsche Spur und weiche aus: Der Friedhof von Monthermé. Dort bin ich heute gewesen, flussabwärts.

Gewiss.

Die Heizung wimmert, mein zu weiches Bett schwankt unter mir. Ich liege im warmen Hotelzimmer, durch das Fenster dringt Lärm und schwemmt hoch, was wegsacken will. In der Mairie von Monthermé (gelber Sandstein mit Turm) hatte man mich kurz vor Mittag empfangen. Bürgermeister Jean Knopf duftete nach süßem Rasierwasser, nahm meine Erklärung »Freund eines Freundes« entgegen und sagte: Roquet war hier bekannt. Ihm hat doch vor ewiger Zeit die »Rova« gehört. Ach so, seinen Sohn Emile suchen Sie. Den haben wir gleich, weil alle Daten vernetzt sind. Eh bien … ein bisschen Geduld, Monsieur. Da ist der Vermerk, ich lese vor: »Gestorben in Charleville-Mézières am 2. Juli 2003«. Er hat sich umgebracht? Aber warum? Herrje, welches Malheur!

Über die Brücke und über den Fluss. Die breite Meuse strömt schwach, der Herbstwind riffelt den Spiegel. Am Ufer Haus neben Haus in verwaschenen Farben, zwischendrin eine Schule für Knaben, École des Garçons, roter Klinker von 1912. Zwei Frauen füttern Schwäne mit trockenem Brot.

Ich denke: Emile ist nicht gestorben, Jan wird phantasiert haben, vielleicht war alles Fiktion. Oder Verleumdung durch seinen Nachbarn, den Schleusenwärter. Aber warum dann der Eintrag beim Standesamt? Wie auch immer, ich muss den Körper entfernen, der sich vor einer verspritzten Wand im neunten Stock krümmt: Rue Jean Vallot Nummer acht. Mein Emile ist zwar bleich, doch äußerlich unversehrt; er litt an Lungenkrebs und atmete rasselnd, seine glatte Stirn glich dem gebügelten Krankenhauskissen. Bonne route, sagte Gaston zu ihm. Marie schluchzte: Wir werden viele Messen stiften, Chéri, jetzt und jahrelang, in der Basilika de l'Espérance. Ah, mon amour …

Tags darauf sehe ich den Portier diskret meine Scheine zählen und verlasse das Hotel. Vor dem Haus raschelt ein kommunales Kehrgerät, zwei Walzen wirbeln Staub auf. Der Fahrer grüßt mich galant und gefällt mir weit besser als alle Gesichtslosen, die zu ihren Büros eilen.

Ich kurve nach Montcy-Notre-Dame, dem nordöstlichen Vorort von Charleville-Mézières. War es Emiles heimliches Ideal gewesen, im Ruhestand nahe der Meuse vor Anker zu gehen, bis man seine Finger zu Bethänden flechten, ihn waschen, als Herrn kostümieren und christlich bestatten würde? Wollte er eine letzte Rundschau genießen wie jenen Stehplatz auf der »Rova«, den Papa Roland ihm anvertraut hatte, damals in Monthermé?

Blanker Herbsthimmel. Keine Frage, das war seine Welt – Rue du Tarn in Montcy, der Weg hinauf zur Place J. B. Clément, duftende Herbstrosen und Astern. Hier hat Emile gelebt. Welches Haus? Rue Carnot Nummer zwanzig vielleicht: grüne Holztür, Rauputz, Gardinen, freier Blick hinunter zur Meuse. Morgens heimwärts mit der noch warmen Baguette unterm Arm und dann ein Nickerchen … nein, erst zum Café im Zentrum, Marie musste warten. Welch ein Ruhestand! Pensionär in Montcy, weißhaarig jetzt, kleiner Wulst über dem Gürtel und jedes Mal stolz, wenn andere lauschten. Leute, hob dann Roquet sein rasiertes Kinn, die »Rova« fährt weiter. Mein guter Gaston hält am Erbe fest.

Das »Café d’la Marine« ist leer, als sei seine Zeit für immer beendet wie jene des Emile Roquet. Am Fluss keine Angler, der dicke Jacques nicht zu sehen, die Strömung mit schillernden Schlieren durchsetzt.

Nochmals zurück: Schleuse 24 in Mézières. Während ich vom Wohnturm Nummer acht bis zum Kanal laufe, raschelt unter mir trockenes Laub wie Pergament. Da promenieren sie einmal mehr, diese Damen, von denen Jan Blok erzählt hatte: abgetragenes Zeug, fettiges Haar, knurrende Köter an langer Leine. Welche würde mir gern den jüngsten Coup des französischen Geldadels schildern? Alle. Und jede konnte Marie heißen.

»Kein Zutritt! Privatbesitz!« Das Schleusenhaus ist verkauft und modernisiert worden, es sieht nach clever sich tarnender Hautevolée aus, nach ländlichem Charme plus Komfort.

Armer Emile, seufze ich, der dieser Welt im Gram entwischt ist. Aber auch Blok samt seiner braven »Vriendschap« aus Holland, dem ein Partner fehlt. Ihr zwei hättet euch gut vertragen. Jan wäre Sommer für Sommer mit dir geschippert, die Distanz nach Zigarren berechnend. Irgendwo zwischen Charleville-Mézières und Amsterdam …

Rue du Warcq, Sektor zehn, Nummer sieben. Der Schluss meiner Suche steht unmittelbar bevor. Beim Friedhof tänzeln schwarze Burschen herum, bieten mir Schnee zum Sonderpreis an und lachen. Ihre Mienen sind sanft, die Stimmen klingen melodisch.

Merci bien, kein Bedarf!

Dann finde ich das Grab.

Statt Kupfer schmückt Messing den grauen Granit. Eine simpel gestalte péniche, dazu Roquets unscharfes Foto im Bullauge. Wer nicht weiß, dass der Schiffer mit hochgezogenen Schultern am Ruder seiner »Rova« steht und sich als Batelier zu erkennen gibt, erfährt es beim Anblick des liegenden Ankers. Kleine Tafeln aus künstlichem Marmor sind vor dem Stein wie zur Parade postiert: »Du hast deinen Kindern den Mantel gegeben, damit sie nicht frieren. Du hast gedarbt, damit sie nicht hungern.«

Gedarbt, denke ich. Allerdings.

»Respekt und Liebe in Ewigkeit«.

Auch zu Lebzeiten?

Und nun, ohne Warnung, steigt das Malheur vom Boden des Friedhofs zum Himmel hinauf. Es vibriert an meinen Füßen, klettert die Waden und Schenkel empor, wühlt in der Brust.

A bas! A bas les camions!

Vor Mézières kreuzt eine Schnellstraße zwischen Metz und Calais die Meuse. Nur noch selten treiben beladene péniches meerwärts oder bullern tief liegend gegen die Strömung, immer weniger Fracht wird unter Deck verstaut. Fast niemand legt an und ab, es kommt kaum mehr zum Gruß der pendelnden Bateliers (Daumen gereckt: salut). Weder morgens noch abends erlebt man die Kneipen am Ufer rauchig und voller Stammgäste, spinnen Schiffer beim Schnaps ihr letztes Garn. Statt dessen röhrt ein Lastzug nach dem anderen.

Emile, mein Guter. Nicht einmal jetzt hast du deinen Frieden …

Die Erde bebt, als würden Grüfte gesprengt. Aber es sind nur riesige Trucks, deren Fahrer den Motor mit hoher Drehzahl quälen.

Feierabend. Außer mir kein Mensch im Friedhof über dem Fluss, oder doch? Jemand sitzt vor einem Kreuz aus Basalt und repariert etwas.

Schön, sage ich. Treter mit Hilfsmotor. »Velo Solex«, antikes Stück?

Der Alte nickt und wischt die Hand am Kittel ab, um sich eine Zigarette zu drehen: So ist es, Monsieur.

Wie heißt dieser Platz?

Saint Julien.

Besten Dank, Monsieur.

Darauf er: Keine Ursache, junger Mann.

Junger Mann? Diese Floskel bleibt haften. Sie beeindruckt mich, denn ich bin älter als sechzig und denke seit Charleville-Mézières öfter als sonst an das eigene Ende.

Mittag in Bugarach

Der Pech hatte uns angezogen. Er ist 1230 Meter hoch und liegt im südwestlichen Frankreich: ein isolierter Zapfen aus Kalk. Von ihm aus soll man bei guter Sicht die Pyrenäen erkennen – zum Greifen nah, wie es oft heißt.