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Eine atemlose Verfolgungsjagd durch die magische Landschaft Islands. In "Die Insel Kolbeinsey" erzählt Bergsveinn Birgisson von sympathischen Außenseitern und der magischen, wilden Landschaft seiner Heimat: Ein Mann beschließt, seinen depressiven Freund aus der psychiatrischen Anstalt zu befreien, in die dieser eingewiesen wurde. Die Abgeschiedenheit der nördlichsten Insel Islands soll ihn heilen. Die Flucht der beiden aus der Zivilisation wird zu einer wilden Verfolgungsjagd, die sie in immer entlegenere Gebiete führt. Eine wütende Krankenschwester, die ihnen auf den Fersen geblieben ist, wird gekidnappt und auf den Rücksitz des Autos verfrachtet. Zu dritt treten sie eine filmreife Reise an, die "Fargo" an Absurdität um nichts nachsteht und die tiefe Freundschaft der beiden Männer auf eine harte Probe stellt.
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Seitenzahl: 271
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Bergsveinn Birgisson
Bergsveinn Birgisson
Roman
Aus dem Isländischenvon Eleonore Gudmundsson
Residenz Verlag
Dieses Buch wurde mit Unterstützung des Icelandic Literature Center gedruckt.
Die Originalausgabe dieses Werks erschien 2021 unter dem Titel »Kolbeinsey« im Verlag Bjartur, Reykjavík
© Bergsveinn Birgisson, 2021
© 2025 Residenz Verlag GmbH
Mühlstraße 7, 5023 Salzburg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
www.residenzverlag.com
Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.
Keine unerlaubte Vervielfältigung!
Umschlaggestaltung: Thomas Kussin / buero 8
Illustrationen: Kjartan Hallur
Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien
Lektorat: Jessica Beer
ISBN ePub:
978 3 7017 4746 7
ISBN Printausgabe:
978 3 7017 1799 6
1: DAS SCHLACHTFELD
2: DER GLETSCHER
3: AUTOSTOPPER
4: KOLBEINSEY
NACHWORT DER ÜBERSETZERIN
Ich bin ein Tiefseefisch, ins Seichte getrieben, das war das Letzte, was mein Freund gesagt hatte, bevor er vor ein paar Tagen den Hörer auflegte. Jetzt war er in die Psychiatrie zwangseingewiesen worden und ich musste immer wieder an diesen Satz denken. Was hatte er gemeint? An diesem Dezembermorgen drang durch das Wohnzimmerfenster schwaches Tageslicht. Die Zweige der Bäume bogen sich unter der Schneelast, die sich an ihnen festgefroren hatte. Das Gras war von Raureif überzogen, bräunlich verwelkte Blumen im Beet.
Eine Drossel kam und versuchte, sich einen Bissen aus dem Futterknödel zu picken, der im Wind schwang. Aber der Futterknödel war fast aufgebraucht, wir hatten ihn im Herbst aufgehängt. Ich dachte, dass die Singvögel genau jetzt Futter bräuchten. Ich betrachtete das Plastiknetz des Futterknödels, das hin und her geweht wurde. Ein Netz, um den Wind zu fangen, wie es in der Lyrik heißt.
Die Drossel war auf der Erde gelandet und wühlte heftig in den braungefrorenen Blättern. Sie würde aller Wahrscheinlichkeit nach draufgehen, wenn sie nichts zu fressen fände.
Ich musste an die Vorlesungen denken, die ich halten sollte. Die Angst begann vom Solarplexus aus zu pumpen und strömte durch den ganzen Körper wie lähmendes Gift.
Es ist ziemlich unheimlich, zu spüren, wie das vor sich geht; man hat einen Gedanken und daraufhin beginnen irgendwelche Drüsen, bittere Stoffe abzusondern und den ganzen Körper damit zu überschwemmen. Alle unbeantworteten E-Mails drangen in mein Bewusstsein. Alles, was ich versprochen hatte. Das Manuskript, das endgültig gestrandet schien …
Es traf mich wie ein Keulenschlag, dass das Leben so nicht sein sollte. Gesegnet sei die kurze Erleichterung, die sich manchmal einstellt. Ich war verdammt nochmal ein Mensch. Diese Lebensform, in die ich geraten war, wurde mir für einen Augenblick fremd, und es kam mir in den Sinn, dass Menschen oft durch »ihre Hölle« gehen, wenn sie in der Mitte des Lebens angelangt sind. Jetzt war die Zeit vielleicht an mir. Der Stand zur Halbzeit war elendig und die Prognose für die zweite Spielhälfte mies. Der Gedanke an meine Vorlesungen verursachte mir Übelkeit, vor Menschen zu stehen und über etwas zu sprechen, wenn das Herz nicht mehr der Sprache folgte. Wozu Dichtung? Wozu überhaupt Geschichten? Dichtung hatte nicht vermocht, mich zu retten. Ich war …
Hörst du mich überhaupt? Meine Freundin war vom Frühstückstisch aufgestanden. Du solltest losgehen und deinen Freund besuchen. Du kannst einfach auf der Uni anrufen und sagen, dass du Grippe hast, sowas kommt in den besten Häusern vor. Er braucht dich jetzt und vielleicht – sie zögerte und unterließ es, auszusprechen, was sie auf den Lippen hatte, sie seufzte durch die Nase, wie es ihre Art war, und sagte dann: Irgendwie … würde dir das vielleicht guttun. Du bist so abwesend, mein Lieber. Man muss dir alles zurufen wie durch ein schlechtes Walkie-Talkie. Wir leben im selben Haus. Was ist uns eigentlich eingefallen, in dieses Haus einzuziehen? Diese wunderbare Frau mit der allerzärtlichsten Stimme kam zu mir her und umarmte mich von hinten: Wo bist du, mein Freund? Wo ist mein alter fröhlicher Junge?
Mein Freund war immer wieder depressiv gewesen. Aber diesmal war es anders, es war, als hätten alle Dämme nachgegeben und eine schwarze, zähflüssige Masse sich ihren Weg in seine Seele gebahnt wie ein reißender Strom durch eine geborstene Staumauer. Wie seine Mutter die Sache darstellte, hatte er aufgegeben und wollte nicht mehr leben. Er hörte auf, das Bett zu verlassen, und als er sich weigerte, seiner Notdurft nachzukommen, wurde er in die Psychiatrie eingeliefert.
Ich hatte zu diesem meinem Freund immer aufgeblickt, und deshalb ließ mich das nicht unberührt. Als ich davon erfuhr, entfachte das in mir erst eine Mischung aus Mitleid und Neugier, und vielleicht entbrannte in mir sogleich auch der Wunsch, ihm zu helfen. Irgendein Weiser hat einmal gesagt, dass es ausreiche, einem Menschen zu helfen, man müsse nicht die ganze Welt retten. Und ich hatte in den letzten Jahren ziemlich viel Glück gehabt, hatte etwas auf die Beine gestellt, das tragfähig war und mir möglich machte, gut zu leben, ohne Tag und Nacht arbeiten zu müssen, auch wenn ich nie die Angst loswurde, alles könne zum Teufel gehen, wenn ich die Zügel schleifen ließ. In dieser Situation war ich unwiderruflich festgenagelt und diese permanente Einwirkung von Alltagsstress auf meinen Geist hatte mich zu dem Mann ohne Eigenschaften gemacht, der ich geworden war. Es war mit der Zeit abgeebbt – dieses sogenannte Seelenleben. Ich fand, dass es mir, dem Bessergestellten, zukam, Zeit für diesen Freund aufzuwenden, der auf halber Strecke aufgegeben hatte. Ich erinnerte mich an seine Worte über das Ritual, dass, wenn man das Ritual nicht heiligte und etwas Konkretes unternahm, um aus der eigenen Lebenslüge auszubrechen, eben auch nichts geschah, woraus folgte, dass ein echtes Zusammengehörigkeitsgefühl nicht existierte. Vielleicht nährte ich die Hoffnung in meiner Brust, selbst wieder ein wenig zum Leben zu erwachen und eine Verbindung zu spüren, nicht nur mit dem depressiven Freund, sondern überhaupt mit meinen Mitmenschen und der Schönheit, mit meinem alten guten Ich, wenn ich dies nur mit Entschlossenheit und gutem Willen tat.
Ich beschloss daher, im Namen der Influenza die Vorlesungen ausfallen zu lassen, um ihn zu besuchen, und außerdem eine neue Futterkugel zu kaufen und sie für die Drossel aufzuhängen. Ein Ritual. Das Einzige, was mir einfiel, war das: Ich würde ihn bitten, mir von seinen Gefühlen zu erzählen, sowohl den jetzigen als auch früheren. Ich wollte die Geschichte seiner Gefühle hören, ich war sicher, dass es ihm helfen würde, seine Selbstaufgabe zu verstehen, und außerdem würde es unsere Freundesbande festigen. Er würde nur das sagen, was ihm gleich in den Sinn kam, denn man erinnert sich ja zuerst an das, was starke Gefühle auslöst. Er könnte die Gefühlserinnerungen schildern, die ihm spontan kamen, aber die kleinen Details auslassen, die sowieso keine Rolle spielen. An eine gemeine Antwort oder an jemandes Lob erinnert man sich genauso deutlich wie an die Gefühle, die das auslöste, gleichgültig, welche Schuhe man trug oder wie die Möbel standen, als das geschah, oder wie das Wetter an jenem Tag war. Ich wollte ihm sagen, dass ich diese Romanversessenheit hasste, wegen der sich Leute abmühten, »die Wirklichkeit einzufangen«, indem sie beschrieben, wie das Licht einer 60-Watt-Osram-Lampe aus einem staubigen Perlenluster auf das graue Kleid einer rothaarigen Frau mittleren Alters fiel und dunkelblaue Schatten in die Vertiefungen zwischen den Falten warf. Warum sagte nie jemand das, was wichtig war? Waren nicht die Wunden der Existenz der Stoff aller Dichtung? Oder hatte ich das alles missverstanden?
Ich hatte Angst vor dem Besuch. Was, wenn ich durch das Treffen selbst depressiv würde? Das stellte ich mir vor, während ich in die Stadt fuhr. Ich würde das Haus nicht abbezahlen können. Ich würde weniger und weniger Projekte bekommen, wenn sich zeigte, dass ich selbst depressive Neigungen hatte. Die Rechnungen würden sich auftürmen. Meine Freundin würde mich verlassen. Ich würde in Konkurs gehen. Die Flinte mit dem Doppellauf.
Während ich gerade in Gedanken dabei war, mein Hirn auf eine Wand zu schmieren, wurde ich langsamer und sagte laut zu mir selbst: Das geht nicht. Jetzt musst du dich verdammt nochmal zusammenreißen! Ich war an einer roten Ampel, als ich diesen tiefsinnigen Monolog führte, da fiel mein Blick in das Auto neben mir. Auf dem Rücksitz saß ein kleines Mädchen. Sie war blond und hatte strahlende Augen. Sie war wie aus einer anderen Welt. Als sich unsere Blicke trafen, lächelte sie plötzlich und winkte mir zu, gebadet im Sonnenlicht des kurzen Wintertages. Ich konnte mich nicht dazu durchringen, zurückzuwinken. Ich starrte sie an, die Hände auf dem Lenkrad. Ich kam erst zu mir, als hinter mir ein Auto hupte.
Dort an der Ampel fiel mir plötzlich ein Traum von letzter Nacht ein. Ich träumte, ich sei mit meiner Freundin im Theater und es herrschte freudige Spannung. Der Vorhang wurde aufgezogen und graugekleidete Tänzer kamen auf die Bühne. Sie hatten übertrieben große Suspensorien und total enge Strumpfhosen, was natürlich eine überbetonte Männlichkeit bedeutete. Sie standen in einer Reihe und bildeten eine Wand oder eine Schutzmauer, indem sie die Hände verschränkten, sie bewegten sich völlig harmonisch gemeinsam zur Musik, so als wären sie ein Wesen mit vielen Beinen. Heftiges, schnarrendes Cellospiel erklang zu diesem Tanz. Vor ihnen auf der Bühne war ein weißgekleideter Mann von kleinerem Wuchs. Er war ein lebhafter Tänzer und versuchte, sich einen Weg durch die Graumänner zu bahnen, aber sie verdichteten die Reihe und stießen ihn weg, und das ziemlich brutal, wie mir vorkam. Es gab für den Weißen gleichsam keine Möglichkeit, durchzukommen. Der Weiße wurde traurig, im Traum litt ich mit ihm. Er versuchte es wenigstens! Aber als das Spiel schon verloren schien, trat eine schwarzgekleidete Frau mit strenger Miene auf die Bühne. Sie war totenblass im Gesicht und hatte diese starrenden, dunklen Augen, in die man nicht schauen wollte. Sie hielt den Vorhang fest und zog ihn hinter sich her. Und dann nahm sie die andere Hälfte des Vorhangs und zog ihn zu, während sich dahinter auf der Bühne die grauen Tänzer bewegten. Dann drehte sie sich zum Publikum und rief uns zu: Geht nach Hause! Es ist nichts dahinter!
Dann klatschten Leute im Saal und ließen es gut sein, alle außer mir und meiner Freundin. Wir blieben sitzen, ich wollte nicht glauben, dass es vorbei sei. Da zog die Frau auf der Bühne ein doppelläufiges Gewehr und richtete es auf uns. Ich erwachte mit dem Gefühl, dass das einfach nicht richtig sei, dass wir um die Vorstellung betrogen worden waren, und glaubte weiterhin, dass es dem weißen Tänzer hinter dem Vorhang, vielleicht auf unerklärliche Weise, gelingen könne, ein Schlupfloch in der grauen Wand zu finden. Die Grauen irgendwie zu täuschen. Ich erwachte mit einem Hauch von Mitleid mit dem Weißgekleideten. Gefühle im Traum verfliegen wie der Geschmack einer seltenen Frucht und sind doch auch seltene Früchte – ich schäme mich, wie schlampig ich darin bin, sie aufzuschreiben. Das war um halb fünf in der Früh. Da kommen alle wichtigen Träume.
Auf der Psychiatrie wurde ich von freundlichen Angestellten empfangen, die mich in sein Zimmer führten. Er lag im Bett und drehte dem einzigen Gästestuhl des Zimmers den Rücken zu. Es war ein IKEA-Lehnsessel von der Art, die mir immer einen ganz steifen Rücken machen. Es gab ein Fenster in einen Hinterhof mit einer Grasfläche und ein paar nackten Ebereschen. Seine Haare waren zerzaust wie nach einem Windstoß in alle Richtungen. Ich redete zu seinem Rücken, das war komisch, ich war nicht sicher, ob er auch nur irgendetwas von dem, was ich sagte, aufnahm. Und wenn er das tat, dann tat er das nicht mit Begeisterung. Ich trug ihm schließlich meine Idee vor. Ich sagte, ich könne jeden Tag ein paar Stunden kommen und ihm zuhören, wenn er über die Gefühle, die sich in seiner Brust regten, reden wolle. Ich wolle helfen, wenn ich könne. Wenn er glaubte, es helfe ihm, wolle ich kommen und zuhören. Er zeigte keine Reaktion. Mir fiel das kleine Radio auf, das in einer Ecke des Zimmers lief, und ich stand auf, um es abzudrehen. Es war eine Sendung über Musik zu eddischer Dichtung, die schon im Auto gelaufen war, und gerade, als ich ausschalten wollte, trug Sveinbjörn Beinteinsson, der Hohepriester des Asenglaubens. eine Strophe aus den Hávamál vor. Ich stand mit der Hand am Gerät und wartete, während er sprach:
Ich weiß, dass ich
An windigem Baume hing,
alle neun Nächte
vom Speer verwundet,
und Odin geweiht
ich selbst mir selbst –
in dem Baum,
von dem keiner weiß,
aus welchen Wurzeln er wächst.
Dann drehte ich ab. Legte mein Telefon auf das Nachtkästchen und hängte die Jacke auf den Stuhl. Ich sagte, dass ich, wenn er das wolle, ihn mit meinem Telefon aufnehmen könne, er könne dann später einige Passagen für seine Biographie verwenden oder die Aufnahme wegwerfen. Ich würde ihm die Aufnahmen senden und sie gleichzeitig in meinem Telefon löschen. Das könne ihm mit sich selbst helfen, wenn er das Selbstgesprochene wie ein Außenstehender hörte. Und wer weiß, vielleicht würde er dann die ganze Situation besser verstehen können.
Nach einiger Zeit drehte er sich zu mir mit großem Stöhnen. Ich erschrak, als ich sein Gesicht sah. Er war schon vorher nicht der schönste Mensch gewesen, mein depressiver Freund. Jetzt war er völlig verquollen. Die Augenbrauen dick und bis zur Stirnwurzel gebauscht, die Wangenknochen auffallend groß und die Kiefer hervorstehend – er hatte ein maskulines Gesicht. Das Weiße der Augen war rot gesprenkelt, die Augen selbst vom Leiden ganz schwarz. Er hatte Schlafsand in den Augen und sein rechter Mundwinkel war käsig verklebt, da er darauf gelegen war. Der Bart war gewaltig, unansehnlich und ungepflegt in seinem leichenblassen Antlitz. Bläuliche Ringe hatte er unter den Augen und die Falten schnitten bis zu den Ohren hinunter tief ein. Er war wie ein weißer Stein, der vom Himmel heruntergefallen war.
Er sah mich an. Dann sah er weg und sagte: Du glaubst nicht mehr an die Dichtkunst. Selbst wenn du auf einem Baum aufgehängt bist wie Odin, hast du kein Interesse daran, klüger zu werden. Du bist ein Teufel mit leeren Augen geworden.
Das saß. Ich versuchte, mein Gesicht zu wahren, und sagte: Ja, dir auch schöne Weihnachten! Ich sagte, er wisse doch, dass ich ihm Gutes wolle, ich komme als sein Freund. Ich streckte mich nach meinem Telefon auf dem Nachtkästchen, das zwischen uns stand. Darauf lag ein rotes Weihnachtstischtuch mit eingestickten goldenen Glocken und Zweigen mit grünen Blättern und schwarzem Wacholder auf dem Laub, ich kann mich daran genau erinnern, denn ich war berührt.
Er rief mir zu, ob ich nicht sah, dass der Pfad zwischen uns überwachsen sei! Der seltene Kontakt in letzter Zeit sage alles. Ob ich glaubte, ich könne einfach kommen und dann sei alles in bester Ordnung? Ich fragte nach, aber da war keine Antwort.
Im nächsten Augenblick war es, als sei er von allen guten Geistern verlassen, er begann zu faseln, dass ich mit ihr flirtete, ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte, und als er seine Stimme erhob und zu schreien begann, stürmte die Krankenschwester herein, rief um Hilfe und legte sich auf ihn, um ihn festzuhalten. Sie hatte einen Bluetooth-Kopfhörer im Ohr und rief die »Bereitschaft« und »Sedieren auf vierzehn«, und das wurde mit einem Krachen beantwortet, es handelte sich also eher um eine Art Anstaltsfunk als um ein Telefon.
Er begann, noch lauter zu schreien, sodass ich Angst bekam, man würde auf dem Gang hören, dass das alles meine Schuld sei. Die Krankenschwester befahl ihm, den Mund zu halten, und versuchte, ihn zu beruhigen. Sie schien verblüffend stark zu sein und drückte ihn mit unglaublicher Kraft nieder.
Es war schmerzhaft, wie die Geisteskrankheit meinen Freund in ihre Arme schloss. Dann kam ein anderer Mitarbeiter mit einer Spritze herein, drehte ihn auf die Seite und stieß sie in sein Hinterteil. Er sank in sich zusammen, mein depressiver Freund. Es war schlimm, zu beobachten, wie er zuerst ein wenig zuckte, sein Widerstand dann aber nachließ und sein Kopf irgendwie zur Seite hing, als hätte er seinen Kopf »verloren«. Es ging mir nahe, wie hart mein Freund angefasst wurde, und so fragte ich ohne Umschweife, ob man das denn heute noch dürfe.
Die Krankenschwester kam zu mir und sagte, es könne schwierig werden, jetzt noch zu ihm durchzudringen. Dass er in letzter Zeit eine gewisse Neigung zur Gewalttätigkeit gezeigt habe, deswegen die Spritze, und damit wollte sie mir erklären, dass sie so etwas mit vollem Recht taten. Sie redete, ihr Gesicht war bemerkenswert ausdruckslos, wie mir schien, auch während des Vorfalls. Vielleicht müsse ich versuchen, mir für längere Zeit ein Leben ohne ihn vorzustellen. Sie wussten noch nicht viel, er werde immer noch diagnostiziert, aber alles deutete auf eine ernsthafte Schizophrenie hin, zusätzlich zu einer mächtigen bipolaren Störung, der es offensichtlich gelungen war, schon so lange zu wüten, dass sie mit seiner Persönlichkeit eine Symbiose eingegangen war. Eine Persönlichkeitsstörung könne eine ernste Sache sein, sagte sie leise, als sei es zu ernsthaft, um es laut auszusprechen.
Als ich wieder nach Hause kam und versuchte, zu arbeiten, gingen mir seine Schreie nicht aus dem Kopf, alles sei meine Schuld, und seine Formulierung vom überwachsenen Pfad zwischen uns. Erst da begann ich wirklich zu begreifen, in welchen Umständen mein Freund gelandet war. Ich fand es unangenehm, dass die Krankenschwester über ihn in der Vergangenheit gesprochen hatte, auch darüber, wie gering seine Heilungschancen seien, und ich empfand es als Ungerechtigkeit, dass sie von meinem friedlichen Dichterfreund sagte, er sei gewaltbereit. Ich verstehe natürlich, dass sich die Angestellten eines Krankenhauses davor hüten müssen, falsche Hoffnungen zu wecken, aber wenn man ihr Glauben schenkte, dann ging es hier um totale Zerstörung.
Am Abend blätterte ich in dem weltweit ersten wissenschaftlichen Werk über Depression, das ich einst auf einer Reise gekauft hatte, The Anatomy of Melancholy von Robert Burton. Ich empfand die gute Krankenschwester als ebenso inspirierend wie Burton, der 1621 über jene, die im ganzen Körper die Melancholie trugen, geschrieben hatte: »Wenn sie hören, oder lesen, oder etwas Schreckliches sehen, bleibt es an ihnen haften, sie haben Angst vor dem Tod, sind aber dennoch des Lebens müde, in ihrer Unzufriedenheit streiten sie sich mit der ganzen Welt und weil sie weder ihre Leidenschaften auf andere Art ausleben können noch korrigiert wird, was ihrer Meinung nach schief ist, erfahren sie am Ende Rache durch einen qualvollen Tod.«
Ich ließ meinen Freund eine Zeitlang in Ruhe. Jedes Mal, wenn sein geschwollenes Gesicht und seine schroffen Worte in mein Bewusstsein drangen, bemühte ich mich, diese Bilder von meinem inneren Auge zu vertreiben. Dennoch empfand ich eine gewisse Wehmut, als ich dachte, dass unsere Freundschaft nun zerreißen würde. Ich fand das eine eigentümliche Vorstellung; was würde aus all den Erinnerungen, die wir gemeinsam hatten? Würden sie einfach verschwinden und nicht mehr Teil meines Lebens sein? So wie sich das Vergessen über alles andere breitete, würde es auch hier kaum Hilfe brauchen. Wir waren Freunde gewesen, solange ich mich erinnern konnte, seit wir kleine Buben waren. Und würden wir da in Wirklichkeit nicht das Wertvollste töten, das man hatte – unsere Erinnerungen? Dazu brauchte es eine kalte Unbarmherzigkeit, und es war einfach nicht richtig. Und wer sollte ihm außerdem Geld für die Miete borgen, wenn er nächstes Mal in Schwierigkeiten war? Was würde aus ihm werden?
Da war noch etwas anderes, das das Beispiel auf den Kopf stellte, wenn man ehrlich darüber nachdachte. Ich war es ja, der ein leeres Leben führte. All mein Denken drehte sich darum, diese Freelance-Existenz am Laufen zu halten. Ich hatte aufgehört, Gedichte zu schreiben, und las wenig bis gar nichts mehr, bis auf das, was mir sofort nützlich schien, es fielen mir keine frischen Metaphern mehr ein, ich spielte nicht mehr mit der Sprache. Ich war geistig steckengeblieben und war nichts mehr als graue Schlacke nach all dem Feuer, das mich einst erfüllte, wie das mit allen passiert, die darüber nachzudenken beginnen, was den Leuten gefällt, anstatt direkt aus dem Herzen zu schreiben. Es gab nichts, worüber ich mit derselben Überzeugungskraft oder Begeisterung sprechen konnte wie er. Er hatte guten Grund, mich zu beschimpfen. Ich war auf meine Art ein leerer Teufel.
Ich beneidete ihn, und ich hatte ihn auch lieb, vor allem, weil ich sah, wie hilflos er in diesem modernen Leben war. Ich hatte vor langer Zeit eingesehen, dass unsere Wege nicht parallel verliefen. Ich war zu einem jener Verachtenswerten geworden, die der Dichtung den Rücken zugekehrt hatten, und er hatte das gespürt. Deshalb waren seine Anwürfe gegen mich mit der Zeit immer härter geworden – bei dem Besuch in der Psychiatrie hatte dies seinen Höhepunkt erreicht. Das hatte mich gekränkt, das saß tief. Ich hatte ihn zuvor ab und zu getroffen, wenngleich in den letzten Jahren nur mehr vereinzelt und in immer längeren Abständen. Ich lieh ihm immer Geld, bekam es nie zurück und bereute es nicht. Dennoch konnte ich nicht verstehen, warum er es war, der auf die Psychiatrie musste, von Depressionen gepeinigt, anstatt ich.
Weihnachten kam und ging und es herrschte Trauer, wie ein Dichter einmal geschrieben hat. Als meine Freundin und ich über meinen depressiven Freund sprachen, wies sie mich drauf hin, dass seine Reaktion bei Menschen, die an Depressionen erkranken, sehr häufig sei. Sie beißen einen, sie vernichten einen mit scharfen Worten, man müsse verstehen, dass sie nicht bei sich seien. Am besten sei, man würde das weder ernst noch persönlich nehmen. Ein Depressiver sei wie ein Nackter voller Scham und wolle nicht, dass andere kämen und ihn anschauten. Deshalb stoße der Depressive alle Menschen weg und sei streitsüchtig. Du musst dir sein Vertrauen erarbeiten, sagte sie. Zeigen, dass du sein Freund bist, auch wenn er nicht gerade freundlich mit dir redet. Sie meinte, dass ich unbeirrt mein Vorhaben in die Tat umsetzen solle, er würde sich schon öffnen, aber das könne seine Zeit dauern.
Ich verstehe nicht, warum meine Freundin mich nicht längst verlassen hat. Was sieht sie eigentlich in mir?, dachte ich und murmelte, dass ich sie nicht verdiente. Sie sei schön und gut, süß und lieb und ich sei nicht mehr als ein ausgebrannter Idiot. Sie solle mich ziehen lassen. Ich wolle nur, dass sie glücklich sei, so wie Menschen in ihren Häusern glücklich sind. Ich würde sie mit meinen Problemen nur hinunterziehen, schließlich würde ich mit unserer Beziehung untergehen, und ich wollte nicht, dass sie mit mir ertrank. Sie redete und ihr süßes Grübchen zeigte sich und sie sagte, das würde schon ein guter Schiffbruch werden, wie es früher in Südisland hieß.
Sie streichelte meine Haare und über meine Wangen, sie wusste, dass ich bei dieser Berührung immer schüchtern wurde. Sie sagte: Du darfst nicht aufgeben, mein lieber Freund.
Und die Erinnerungen schlichen in meine Seele, Erinnerungen an damals, als er seine beste Zeit hatte, dieser empfindsame Freund. Als wir gemeinsam per Interrail durch Europa fuhren und stundenlang sitzen und den Gardinen zusehen konnten, die der Wind bauschte – etwas, das er als vollkommenen Tanz beschrieb –, oder ein altes Ehepaar beobachten, das in unserer Nähe im Zug saß. Alte Menschen, die einander in- und auswendig kennen und einander lieben – das sagte er –, seien das größte Wunder der Welt. Keiner schenke dem Beachtung und die wenigen Male, die sich in der menschlichen Gesellschaft ein solches Wunder ereignete, würde es als das Selbstverständlichste der Welt abgehandelt. So hatte er geredet, mein depressiver Freund.
Bei einer anderen Reise, als es mir gelungen war, ihn nach Stockholm auf ein Konzert zu zerren, kann ich mich an ein Ereignis auf dem Flughafen Arlanda erinnern. Der Blick meines Freundes heftete sich an ein paar Männer, die auf einen Flug warteten. Zwei von ihnen waren strahlende Suit-and-Tie-Typen, aber der dritte stand ohne Krawatte in einem zerknitterten Hemd bei ihnen, die drei waren in ein Gespräch vertieft, auch wenn der eine nicht viel sagte. Mein Freund starrte die Männer so überwältigt an, dass ich befürchtete, es würde ihnen auffallen. Als sie weg waren, beugte er sich zu mir, als sei er Zeuge von etwas Großartigem geworden, und flüsterte: Hast du das gesehen? Ich verstand nicht, was er meinte.
Er sagte, dass er hier alles gesehen habe, das Verderbliche dieser Lebensform, die jetzt üblich sei, und gleichzeitig die Hoffnungen, die in sie gesetzt würden. Das war alles wie eine Erleuchtung im Theater, außer dass die Gefühle, die er beobachtet hatte, von einem Theaterstück niemals eingefangen werden könnten. Das war das Theater der Wirklichkeit, sagte er. Die beiden Reichen, meinte er zu hören, waren Norweger und hatten mit Lachs zu tun. Der, der bei ihnen stand, sah aus, als sei er jünger, seine Kleidung deutete an, dass er von niedrigerer Herkunft war, sich aber aus eigener Kraft hinaufgearbeitet und ein Unternehmen auf den Weg gebracht hatte, das die anderen offensichtlich akquirieren oder mit dem sie kooperieren wollten. Die beiden schienen andere aufzukaufen und dann mit Gewinn zu veräußern. Verachtung strahlte aus dem Gesicht des Mannes aus der niedrigeren Klasse, nicht Neid, sondern reine Verachtung, behauptete mein Freund. Er meinte, dass das daher rührte, dass er in armen Verhältnissen aufgewachsen sei, vielleicht auf einem Bauernhof oder in einem Dorf, aber diese Umstände hätten ihn geformt und ihm ein gewisses Gerechtigkeitsempfinden eingepflanzt und Mitgefühl, was ihm im Umgang mit »den Auserwählten«, wie der Depressive die beiden Männer bezeichnete, die größten Schwierigkeiten machte.
Der in dem zerknitterten Hemd versuchte, seinen Hass zu verbergen. Ab und zu lächelte er schwach oder warf einen Einsilber ein und lachte, um zu erkennen zu geben, dass er anwesend sei. Und so gewieft war er in seinem Auftreten, dass die anderen ihm zu vertrauen schienen und den Abscheu nicht wahrnahmen, den sie in ihm auslösten. Mein Freund sagte, dass reiner Hass von diesem Krawattenlosen abstrahlte, als die anderen sich über die »Loser« lustig machten, die zu zerquetschen oder aufzukaufen das reinste Vergnügen sei. Die Elitetypen redeten zu dem Krawattenlosen von oben herab, wahrscheinlich waren sie dabei, sich einen Mehrheitsanteil an der Firma zu sichern, die er in jahrelanger Plackerei aufgebaut hatte, und dann würden sie mächtig Kohle machen.
Wie sie redeten, sei entscheidend, sagte mein depressiver Freund, und an der gezwungenen Unterwürfigkeit des Krawattenlosen habe man es deutlich sehen können: Er befand sich in zwei inkompatiblen Welten. In der Welt seines eigenen Ethos, wo er vielleicht unter »Losern« eine warmherzige Jugend erlebt und verstanden hatte, dass alle Menschen verbunden sind und es unmöglich ist, den Geringeren in der Gesellschaft keine Beachtung zu schenken. Andererseits auf der absoluten Nullstufe unter den sogenannten Auserwählten, die offensichtlich in die Klasse des höchsten Bürgertums hineingeboren waren und mit Verachtung auf die da unten herabsahen.
Das hier wirft bloß eine Frage auf, ohne sie zu beantworten, sagte mein Freund nach einer kurzen Pause, während er sich ein Sandwich einverleibte, das ich gekauft hatte. Die Frage ist nämlich: Was wird mit dem jungen Krawattenlosen, sobald die anderen ihm eine Krawatte umgehängt haben? Verliert er dann in der neuen Umgebung die Verbindung zu seiner Herkunft und sein Gerechtigkeitsgefühl, sodass sein Abscheu gegenüber den Werten und Normen der anderen sich sofort in Selbsthass verwandelt, sobald er gezwungen wird, diesen zu folgen? Aber das würde bald vorübergehen, wie bei einem Buchhalter, der erst eine kleine Summe unterschlägt und herausfindet, dass das ja ganz okay war und nicht so gefährlich, und dann immer mehr stiehlt, und würde der Krawattenlose dann versuchen, seinen letzten Anflug von moralischem Bewusstsein innerlich mit Rechtfertigungen auszumerzen, dass das halt eben so sei, dass er mitspielen müsse. Vielleicht versucht er dann, das Unbehagen in seiner Brust damit zu befrieden, dass er in seinem Heimatdorf eine Sporthalle finanziert, und damit wäre seine Verwandlung dann abgeschlossen und er würde sich im heiligen Wettbewerb mit denen befinden, die von anderen stehlen?
Oder nicht?, fragte mein Freund erregt, während er das Sandwich in sich hineinstopfte.
Wird das Gerechtigkeitsempfinden in seiner Brust überleben und ihn dazu bringen, alles hinzuschmeißen, wenn er sein Auskommen gesichert hat, um nicht in unmenschliche Depressionen zu verfallen oder völlige Apathie? Würde er es höher schätzen, seinem Gegenüber weiterhin in die Augen sehen zu können mit der Empathie und Ehrlichkeit, die in ihm angelegt waren? Unsere Zukunft wird im Grunde davon bestimmt, welchen Gefühlen wir Macht verleihen. In dem Kampf um die Zukunft geht es darum, ob es möglich ist, die tieferen Gefühle in den Menschen abzutöten, oder nicht. Mitgefühl, Achtung vor der Natur und Liebe zur Schönheit kämpfen gegen Gier, Egoismus und Menschenverachtung. Der Kampfplatz des Lebens sind die Gefühle, und die Zukunft der Welt wird davon bestimmt, welches der beiden Packages wir uns aussuchen.
So hatte er reden können, mein depressiver Freund, und das wegen dreier Männer, die er auf dem Flughafen gesehen hatte. Als mich diese Art der Erinnerung heimsuchte, fand ich, dass ich den Versuch nicht aufgeben durfte, meinem Freund wieder auf die Beine zu helfen. Er hatte nicht viele, die ihm nahestanden, das wusste ich. Wer sollte ihm also helfen, wenn nicht ich?
Als ich ihn das nächste Mal besuchte, fiel mir nichts Besseres ein, als eine Kerze mitzunehmen. Es ist wohl erwiesen, dass Menschen weniger streiten, wenn zwischen ihnen eine Kerze brennt, ich tarnte sie durch einen ziemlich großen Adventkranz, auch wenn es schon nach Heiligdreikönig war. Ein kleines Licht – eine kleine Hoffnung. Als ich ankam, saß er im Bett mit ein paar Kissen, um den Rücken zu stützen. Er sah so besser aus, aber sein Gesicht war immer noch geschwollen und die Augen starrten leer und gerötet auf die weiße Wand vor ihm. Es ist ein Wunder, wie frostig es auf psychiatrischen Abteilungen ist, genau da, wo Grünpflanzen und farbenfrohe Gemälde die Umgebung beleben sollten. Seine Hände lagen zu beiden Seiten auf dem Bett; als wären sie Fremdkörper. Das erinnerte mich an seinen wunderlichen Humor, der sich unter anderem in Sinnsprüchen manifestierte, die nie jemand verstand: Wenn deine Hände elend sind – wirf sie weg.
Ich zündete die Kerzen auf dem Kranz an und suchte mir einen Platz, er schenkte mir keine Aufmerksamkeit. Ich wiederholte zögerlich, dass ich ihm gern zuhören wolle. Er starrte auf die Wand, schweigend.
Als das Schweigen erdrückend geworden war, begann ich, die Zeit mit Smalltalk über dieses und jenes totzuschlagen, wie es meinem Sohn gehe und was von gemeinsamen Bekannten zu berichten sei. Ich erzählte von meiner Ex und dass alles wie immer sei, auch wenn die Scheidung viele Jahre zurückliege. Ich versuchte, leise und zart zu sprechen, aber schließlich schwieg ich, da ich dachte, dass ihm dieses Genörgel vielleicht nicht gefiel. Die Krankenschwester kam mit den Medikamenten sowie einem Wasserglas auf einem Tablett. Erst heute konnte ich sie genauer betrachten, da ich nicht so aufgewühlt war wie beim letzten Mal. Da fiel mir auf, dass mich ihre Gesichtszüge an eine andere Frau erinnerten, die ich neulich gesehen hatte, aber ich konnte mich nicht erinnern, wo. Dieses leblose Gesicht hatte sich mir in die Seele geprägt, ich konnte es unmöglich vergessen. Er nahm eine Tablette nach der anderen ein. Er fragte, ob das Effexor sei, sie sagte ja. War das Paxillin? Und diese Tablette? Tafil, ja, nicht Elefantil, das stimmt, sagte sie und lobte ihn dafür, dass er die Pillen kannte. Dennoch genug, um einen Elefanten flachzulegen, warf er ein. Sie lächelte ihm mütterlich zu. Er schien die Tabletten im Mund hin- und herzubewegen und bekam dann einen Schluck Wasser, um sie hinunterzuschlucken.
Als sie weg war, beugte er sich auf der Bettkante vor und spuckte die Tabletten auf den Boden. Ich ging aufs Klo und holte Papier, um alles aufzuwischen, warf die Beweisstücke in die Muschel und spülte sie hinunter. Ich lobte ihn dafür, wie geschickt er darin sei, die Krankenschwester reinzulegen.
Er sagte, dass der ganze Pillenscheiß auf die Hypothese baute, dass Depressionen von zu wenig Serotonin im Gehirn ausgelöst würden. Die Hypothese sei nie verifiziert worden – und daher auch nie falsifiziert. Allerdings ist erwiesen, dass Menschen, die Medikamente zur Verringerung des Serotoninspiegels im Gehirn bekommen, nicht depressiv werden. Doch das will die Pillenindustrie nicht wissen. Diese Medikamente würden besser wirken, wenn sie aus Zucker wären – da bekäme man ein Placebo und würde nicht zu diesem impotenten, verschwitzten Arsch.
Wir saßen eine ganze Weile da, ohne zu sprechen. Ich versuchte, einen heitereren Ton anzuschlagen, und sagte, dass ich glaubte, dass es die meisten beschissen hätten, aber er habe es »am beschissensten«. Das sei der Superlativ: »am beschissensten«. Er lachte nicht darüber, starrte mich nur aus dunklen Augen an, die dennoch nicht frei von Mitgefühl waren. Er blickte wieder geradeaus und flüsterte etwas, ich meinte zu hören, dass es um die Krankenschwester ging, dass sie gefährlich sei. Er war nicht bei sich.