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Zwei Schwestern. Ein Geheimnis. Eine Insel von rauer Schönheit
Ein mitreißender Roman voller Zuversicht über Zugehörigkeit und Vergebung - wie eine warme Umarmung an einem eiskalten Tag
Als ihr Vater schwer erkrankt, kehrt Evie in ihre Heimat auf den schottischen Orkneyinseln zurück. Nicht alle sind glücklich über ihr Auftauchen, vor allem ihre Schwester Liv nicht, denn nach einem traumatischen Vorfall in der Kindheit ist die Beziehung der Schwestern zerrüttet. Während Evie das Haus ihres Vaters für den Verkauf entrümpelt, fühlt sie sich zu einer Gruppe von Kaltwasserschwimmerinnen hingezogen, die in den rauen Wellen innere Ruhe finden. Gemeinsam helfen sie Evie, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Dabei drängen nach und nach Wahrheiten ans Licht, die folgenreich für die Dorfgemeinschaft sind und Evies Familie tief erschüttern ...
Unter den Top 10 der Sunday Times Jahresbestsellerliste 2024
»So warmherzig und mitreißend. Ein absoluter Genuss« Beth O'Leary
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Seitenzahl: 480
Veröffentlichungsjahr: 2025
Zwei Schwestern. Ein Geheimnis. Eine Insel von rauer Schönheit. Ein mitreißender Roman voller Zuversicht über Zugehörigkeit und Vergebung – wie eine warme Umarmung an einem eiskalten Tag.
Als ihr Vater schwer erkrankt, kehrt Evie in ihre Heimat auf den schottischen Orkneyinseln zurück. Nicht alle sind glücklich über ihr Auftauchen, vor allem ihre Schwester Liv nicht, denn nach einem traumatischen Vorfall in der Kindheit ist die Beziehung der Schwestern zerrüttet. Während Evie das Haus ihres Vaters für den Verkauf entrümpelt, fühlt sie sich zu einer Gruppe von Kaltwasserschwimmerinnen hingezogen, die in den rauen Wellen innere Ruhe finden. Gemeinsam helfen sie Evie, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Dabei drängen nach und nach Wahrheiten ans Licht, die folgenreich für die Dorfgemeinschaft sind und Evies Familie tief erschüttern …
Unter den Top 10 der Sunday Times Jahresbestsellerliste 2024»So warmherzig und mitreißend. Ein absoluter Genuss« Beth O‘Leary
Lorraine Kelly ist Journalistin und als Moderatorin für das britische Fernsehen erfolgreich. Seit ihrem ersten Besuch der Orkneyinseln vor 30 Jahren ist sie dem rauen Charme der dortigen Natur verfallen. Nach mehreren Sachbüchern ist DIE INSELSCHWIMMERIN ihr Debüt als Romanautorin. Lorraine Kelly ist verheiratet und Mutter einer Tochter, und ihre besten Ideen hat sie bei Spaziergängen mit ihrem Border Terrier Angus.
LorraineKelly
DIE INSELSCHWIMMERIN
Roman
Übersetzung aus dem Englischenvon Angela Koonen
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Titel der englischen Originalausgabe:
»The Island Swimmer«
Für die Originalausgabe:
Copyright © Lorraine Kelly 2024
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2025 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln, Deutschland
Vervielfältigungen dieses Werkes für das
Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Die Verwendung des Werkes oder Teilen davon zum Training
künstlicher Intelligenz-Technologien oder -Systeme ist untersagt.
Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, Bonn
Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau, nach einem Entwurf
von Charlotte Abrams-Simpson/Orion Books
Umschlagmotiv: © Fabian Lavater
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-7523-6
luebbe.de
lesejury.de
Für meine Mum Anne,
die mir das Beste von allem geschenkt hat:
die unsterbliche Liebe zu Büchern.
Freya war der einzige Mensch, der ihr jetzt helfen konnte und sie nicht mit Fragen bombardieren würde. In blinder Panik stieg Evie in ihr Auto und fuhr zu ihr.
Der Regen peitschte gegen die Windschutzscheibe, aber sie hörte nur ihr angestrengtes Atmen und ihr Herzklopfen.
Als sie vor Freyas Haus ankam, brannte dort kein Licht, aber sie konnte den Schein des heruntergebrannten Kaminfeuers sehen. Vor der Haustür nahm sie sich einen Moment Zeit zum Nachdenken. Sie durfte ihr nicht alles erzählen, das brachte sie einfach nicht über sich. Sie verging fast vor Scham und Schuldbewusstsein.
Sie drückte die Tür auf und rief, kläglich wie ein verirrtes Lamm, nach der Freundin.
»Evie?« Freya erschien im Nachthemd im Flur. »Evie, was ist denn los, um Himmels willen?«
Evie warf sich in ihre Arme und brachte schluchzend hervor: »Freya, du musst mir helfen. Bitte. Ich muss von hier weg.«
Vielleicht fällt das Flugzeug vom Himmel, und alles ist vorbei. Kein Schmerz und keine Schuldgefühle mehr. Evie meinte das nicht ganz ernst. Eigentlich wünschte sie weder sich selbst noch den anderen Passagieren, auf dem kurzen Flug von Dundee nach Kirkwall, einen so grausamen Tod zu finden. Sie wollte nur nicht zurück nach Orkney.
Und dennoch hockte sie hier in ihrem Sitz, wider besseres Wissen und mit einem Eisklumpen im Magen. Durch das kleine Fenster schaute sie auf die kabbelige See und empfand ein tiefes Unbehagen. Schon als kleines Mädchen hatte sie Angst vor dem Wasser gehabt, und ihr Leben lang war das Meer mit katastrophalen, traumatischen Ereignissen verbunden gewesen.
Das ist ein Riesenfehler. Alle werden erfahren, warum ich überhaupt abgehauen bin. Sie werden mir nicht verzeihen. Warum sollten sie auch? Ich kann mir ja selbst nicht verzeihen. Sie schauderte, während ihr die Gedanken durch den Kopf schossen.
Der Pilot kündigte den Sinkflug an. Nervös und ungeschickt griff Evie nach ihrer Handtasche, um sie unter ihren Sitz zu legen, und dabei fiel ihr das Handy auf den Boden.
Die Stewardess – die einzige an Bord – in ihrer fröhlich rot karierten Uniform, hob es auf und fragte, ob es ihr gut gehe. Evie nickte, obwohl sie sich wünschte, sie könnte bei der freundlichen Frau ihre Ängste und Sorgen loswerden.
Beim Blick auf ihr Handy dachte sie an die vielen Anrufe und Textnachrichten von Jeremy, auf die sie nicht reagiert hatte. Als sie ihm nicht sagen wollte, wohin sie verreiste, war er in ihrer gemeinsamen Londoner Wohnung hin- und hergelaufen. Sie schob die Gedanken an ihn beiseite – das Thema war einfach nur ermüdend und kraftraubend.
Evie war erst achtunddreißig, sah aber viel älter aus. Ihre einst strahlenden grünen Augen waren matt vom Kummer, die Haare straff zurückgebunden und fettig, und ihre Haut trocken und fahl. Sie hatte einen breiten, schön geformten Mund, zum Lächeln wie geschaffen, doch meistens zog sie die Mundwinkel nach unten oder kniff vor Stress die Lippen zusammen. Sie war zu dünn für ihren Körperbau und saß mit gebeugten Schultern da, als rechne sie mit einer Kränkung oder einem Schlag. Ihre Mutter würde sie scharf anweisen, sich nicht gehen zu lassen.
Als das Flugzeug in den Sinkflug ging, riss die Wolkendecke auf. Die Orkneyinseln lagen unter ihr und schimmerten wie kugelrunde, smaragdübersäte Meerjungfrauen. Das Meer leuchtete azurblau und türkis und leckte über knochenweiße Strände, die in kräftig grüne Felder übergingen. Evie spürte, wie sich ihr Herz zusammenzog.
Ich hatte vergessen, wie schön es ist, dachte sie. Nirgendwo auf der Welt ist es so wie hier. Darum war es auch so schwer, fortzugehen und so lange wegzubleiben. Doch jetzt hatte sie keine andere Wahl. Hoffentlich würde sie nicht zu spät kommen. Sie musste ihren Vater um Verzeihung bitten – und sich ihrer Schwester und ihrer Mutter stellen.
Alte Wunden würden aufreißen, aber sie durfte nicht länger vor der Vergangenheit weglaufen.
Cara stammte von Hrossey und musste – wie alle Kinder, die verstreut auf Orkney lebten – mit vierzehn Jahren ihr Elternhaus verlassen, um die weiterführende Schule in der Hauptstadt Kirkwall auf Mainland zu besuchen. Dort war sie in einem Wohnheim untergebracht und fuhr an den meisten Wochenenden mit der Fähre nach Hause.
Sie war ein zierliches Mädchen mit hellblonden Pusteblumen-Haaren, großen braunen Augen und einem scharf geschnittenen, kleinen Gesicht, das Lebhaftigkeit und Neugier versprühte.
Ihre Mutter Sheila behauptete, sie sei mit einem gellenden »Wieso?« aus ihrem Schoß gekommen und habe seitdem nicht aufgehört, Fragen zu stellen. Manche waren harmlos – Warum darf ich keinen Seehund zu Hause halten? Warum muss ich ins Bett, obwohl es noch gar nicht dunkel ist? Warum muss ich überhaupt zur Schule gehen? –, doch mit fünf Jahren fragte sie mitten in der Warteschlange bei Linklaters, dem Gemischtwarenladen auf Hrossey: »Wieso ist Mr Linklater gestern über den Strand getaumelt und hat gesungen? Wieso waren seine Augen dabei so komisch?«
Im Laden entstand eine ohrenbetäubende Stille, und Mrs Linklater zog hinter dem Ladentisch die Mundwinkel nach unten. Caras Mutter spürte, wie ihr Gesicht knallrot anlief. Das war noch schlimmer als die Hitzewallungen, die sie seit Monaten zu ignorieren versuchte.
Jeder wusste, dass der arme Mr Linklater gelegentlich auf Sauftour ging, wenn seine kleinliche Frau und die schwierigen Kinder ihn mal wieder in den Wahnsinn trieben, und dass ihn das teuer zu stehen kam. Doch man ging über seine Eskapaden hinweg, weil er eine freundliche Seele war und alle mit ihm fühlten.
Sheila ließ ihren Einkaufskorb auf dem Boden stehen und schob ihre Tochter vor sich her nach draußen.
»Frag so was nie wieder!«
»Warum?«, gab Cara wie immer zurück.
Sheila seufzte. »Weil das die Leute in Verlegenheit bringt.« Sie glaubte, dass Cara, so klein sie noch war, genau wusste, was sie tat, und damit nur die Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte.
Es dauerte eine Weile, bis sie ihre Tochter wieder mit hineinnahm, und sie versprach, ihr Süßigkeiten zu kaufen, wenn sie drinnen den Mund hielt. Die Taktik hatte Erfolg, aber auf dem Heimweg stellte Cara eine Frage nach der anderen und hörte bei den Antworten kaum hin.
Sie wollte wissen, warum Magnus, der große Bruder ihrer besten Freundin Anne Marie, sich die Kleider seiner Mutter anzog, wenn sie bei denen im Haus spielte. Und warum er immer mit ihnen beiden zusammen sein wollte anstatt mit den Jungen.
Cara fasste eine tiefe Abneigung gegen Magnus und machte sich in der Schule über ihn lustig, indem sie seine Stimme und sein Benehmen nachäffte, und sie ermutigte die anderen Kinder dazu, ihn Muttersöhnchen zu nennen. Es schien ihr egal zu sein, dass sie ihn und seine Schwester damit kränkte und dass die meisten sie gemein fanden, weil sie den lustigen, freundlichen Magnus hänselte. Sie war mit Anne Marie befreundet, weil sie in der Klasse zufällig nebeneinandersaßen, doch nach und nach ging die Freundschaft auseinander, hauptsächlich weil Cara so hässlich zu Magnus war.
Als sie älter wurde, entwickelte sie ein Talent dafür, es sich mit anderen zu verscherzen, die anfangs auf ihrer Seite gestanden hatten, aber die Leute auf Hrossey hatten Mitleid mit ihr und ließen ihr viel durchgehen, weil sie ohne Vater aufgewachsen war.
Caras Mutter und ihr Vater hatten sich erst spät kennengelernt. James arbeitete auf den Fangschiffen vor der Küste bei Fraserburgh und war nach Orkney gekommen, um an dem Junggesellenabschied eines Freundes teilzunehmen, der dann in ein monumentales Besäufnis ausartete. Sheila arbeitete zu der Zeit in einer Bar in Stromness und fing eine Unterhaltung mit ihm an.
Offensichtlich taten sie noch erheblich mehr als reden, denn neun Monate später kam Cara zur Welt. James wollte von seiner Tochter nichts wissen. In seinen Augen war sie die Folge einer heißen Nacht, an die er sich kaum erinnerte, aber wenigstens zahlte er Kindesunterhalt. Sheila zog zurück nach Hrossey, wo niemand sie verurteilte. Nur ein paar alte Jungfern äußerten sich abfällig, sie könne wohl die Beine nicht zusammenhalten, doch bei deren Bemerkungen hörte bald keiner mehr zu, und alle kamen ganz selbstverständlich bei Sheila vorbei, um ihr zu helfen.
Von James wurde selten gesprochen, und sogar Cara hörte irgendwann auf, nach ihm zu fragen. Allerdings dachte sie sich Geschichten über ihn aus, er sei reich und ein berühmter Filmstar, der seine geliebte Tochter eines Tages nach Hollywood mitnehmen würde, wo sie den ganzen Tag Eis essen und glitzernde rosa Kleider und hochhackige Paillettenschuhe tragen würde.
Cara war allein am glücklichsten. Sie ordnete ihre Bücher alphabetisch. Ihre Spielsachen waren immer weggeräumt, und ihr Zimmer war so ordentlich und sauber, als ob kein Kind darin wohnte. Die Schwester ihrer Mutter, Tante Betty, fand das immer höchst unnatürlich. Sie selbst hatte eine ungestüme Schar rothaariger Töchter und raufte sich die Haare, wenn sie die Unordnung in ihren Zimmern sah. Doch lieber hob sie jeden Morgen die schmutzigen Kleidungsstücke vom Boden auf, als mit der schwierigen, verspannten Cara fertigwerden zu müssen.
Mit ihrer unentwegten Lebhaftigkeit und den fieberhaften Fragen trieb Cara ihre Mutter und ihre Lehrer in den Wahnsinn, besonders weil sie deren geduldige Antworten dann nicht beachtete. Alle atmeten erleichtert auf, als sie nach Kirkwall zog, um die höhere Schule zu besuchen. Im Gegensatz zu ihren heimwehkranken Mitschülern genoss Cara ihre Freiheit. Sie wollte dringend von ihrer Mutter und von Hrossey weg, denn sie bildete sich ein, dass die Leute über sie die Nase rümpften, weil sie keinen Vater hatte.
Anfangs war die hübsche, lebhafte Cara unter den Schülern am Gymnasium in Kirkwall beliebt, weil sie es lustig fanden, was für freche, persönliche Fragen sie selbst den Lehrern stellte. Die Mädchen wollten mit ihr befreundet sein, und die Jungen wollten mit ihr gehen, doch sie hatte ihre Wahl schon getroffen.
Sie hatte ein Auge auf Duncan geworfen. Der Junge hatte die Statur eines Bären, Hände wie Schaufeln und einen nicht zu bändigenden schwarzen Haarschopf, aber sanfte braune Augen, und trotz seiner Kraft und Größe war er gutmütig, freundlich und sehr schüchtern.
Als Duncan zehn Jahre alt war, starb sein Vater bei einem Autounfall, und weil er das einzige Kind war, das sich um die Farm und seine Mutter kümmern konnte, war sein Gesicht bald von Sorgen und Verantwortung gezeichnet, sodass er schwermütig wirkte und älter aussah, als er war. Er verehrte Cara vom ersten Augenblick an und schwor sich, sie und keine andere zu heiraten.
Er müsste nur den Mut aufbringen und sie fragen, ob sie mit ihm ausgehen wolle. Er übte immer wieder ein, was er zu ihr sagen würde, aber wenn der Moment kam, sie anzusprechen, wurde er rot und brachte keinen Satz zustande.
Cara sah, wie gütig Duncan war und wie hart er auf der Farm seiner Mutter arbeitete, denn er stand grausam früh auf, um vor dem Weg zur Schule die Kühe zu melken. Doch etwas anderes beeindruckte sie noch viel mehr: Als die Klasse am letzten Schultag zu einem Picknick an den Strand ging, sah sie ihn, wie er in der Badehose ins Meer rannte, und war mächtig angetan von seinem muskulösen Körper.
Sie watete nur bis zu den Knien ins kalte Wasser und rief Duncan zu, dass sie es nicht leiden könne, wenn Sand an ihren nassen Füßen klebte, und so trug er sie mühelos auf dem Rücken, und sie klammerte sich an ihn wie ein Koala, bis er sie behutsam auf ihr Handtuch stellte, das oberhalb vom Strand auf der Wiese lag.
Sie dankte ihm dafür, dass er sich als Gentleman erwiesen habe, worauf er furchtbar rot wurde, etwas Unverständliches murmelte und wieder ins Wasser rannte, um sich abzukühlen.
Duncan war zu schüchtern und fand nicht den Mut, Cara zu sagen, was er für sie empfand. Daher beschloss sie, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Sie startete ihren Eroberungsfeldzug, indem sie ihn bat, eines seiner immensen Lunchpakete mit ihr zu teilen, die seine Mutter mit liebevoller Sorgfalt zubereitete.
Während sie dick mit Butter bestrichene Schinken-Käse-Sandwiches vertilgten, stellte Cara ihm unzählige Fragen über die Farm und seine Pläne für die Zukunft, und so lockte sie ihn nach und nach aus seinem Schneckenhaus hervor.
Sie wusste, sie würde bei ihm völlige Freiheit genießen, und er würde ihr die Oberhand lassen. Sie erkannte auch, dass er gut für sie sorgen würde. Zusammen könnten sie sich ein gutes Leben aufbauen. Cara war so zierlich, dass Duncan sie ohne die leiseste Anstrengung hochheben und ihre Taille mit beiden Händen umfassen konnte.
Sie küssten sich heimlich auf dem Schulhof und gingen Hand in Hand durch Kirkwall. Cara redete dabei pausenlos, und Duncan strahlte vor Stolz über seine wunderbare Eroberung. Wenn sie zu ihm auf die Farm kam, setzte seine Mutter ihr Gläser mit fetter Milch und selbst gekochtes Essen vor, damit sie etwas auf die Rippen bekam. Sie war froh, dass ihr schüchterner, hart arbeitender Sohn sich in eine verliebt hatte, die so lebhaft und zupackend war und Lärm in ihr stilles Leben brachte.
Was Duncan anging, so konnte er sein Glück kaum fassen, dass diese herrliche, kluge, lebensprühende junge Frau sich aus freien Stücken für ihn entschieden hatte, und glaubte keinen Moment lang, dass er sie verdient hatte.
Evie stieg die Flugzeugtreppe hinunter und musste sich am Handlauf festhalten. Sie fühlte sich benommen, und wieder die frische, reine Luft von Orkney zu atmen bewegte sie sehr. Kurz gaben ihre Knie nach, sodass sie beinahe gegen den sperrigen Rucksack getaumelt wäre, den der Mann vor ihr auf dem Rücken trug, doch sie schaffte es schwankend bis auf den Asphalt.
So legte sie auch das kurze Stück zum Terminal zurück und verlor dabei immer mehr den Kontakt zur Realität. Ihr wurde übel und schwindlig, und als ihr das Atmen immer schwerer fiel, sank sie zusammen. Der Mann mit dem Rucksack konnte sie noch abfangen, und ringsherum eilten Leute zu Hilfe.
»Lasst ihr Platz«, sagte er. »Die Ärmste, sie ist kalkweiß im Gesicht.«
Evie öffnete langsam die Augen und schaute in die besorgte Miene des Mannes, der sie am Arm hielt und beruhigend auf sie einredete. Ihre Brust fühlte sich eng an, und sie bekam kaum Luft.
»Mein Inhalator. In meiner Jackentasche«, hauchte sie. »Tut mir leid, dass ich solche Umstände mache.«
»Nicht der Rede wert. Meine Schwester ist Asthmatikerin. Ich kenne das. Lassen Sie sich einfach Zeit.«
Der Flughafensanitäter war schnell bei ihnen.
»Sehen Sie«, sagte der Mann. »Dieser nette Sani wird Sie untersuchen. Also, keine Sorge.«
Vage nahm Evie seine freundlichen blauen Augen, den beruhigenden Ton und den irischen Akzent wahr. Sie tat einen tiefen Atemzug und sprühte sich das Medikament in den Rachen. Schon ließ ihre Panik nach. Die Farbe kehrte in ihr Gesicht zurück, und die Umgebung war wieder scharf zu erkennen. Der Mann mit den freundlichen Augen hatte einen wilden schwarzen Haarschopf, eine schlanke, drahtige Statur und sonnengebräunte Haut, als hielte er sich viel im Freien auf, und war gerade so attraktiv, dass es sie nicht scheu machte.
Sein kariertes Hemd war ungebügelt und an den Kragenspitzen ausgefranst, seine Chinos verwaschen und abgetragen, und seine schmutzigen Wanderstiefel hatten weite Strecken hinter sich.
»Soll ich Ihnen eine Tasse Tee besorgen?«, fragte er. »Die könnte Ihnen guttun.«
»Nein. Ich muss so schnell wie möglich zum Balfour Hospital«, antwortete sie noch kraftlos.
»Geht es Ihnen so schlecht? Ich werde Sie hinbringen, keine Sorge. Ich habe einen Wagen gemietet, und das Krankenhaus ist nur zehn Minuten entfernt.«
»Nein, nicht meinetwegen. Ich komme klar. Es geht um meinen Vater.«
Sie fühlte Tränen aufsteigen und bekam einen Kloß im Hals, weil ihr bewusst wurde, dass sie vielleicht zu spät kam. Sie hoffte, sie würde sich noch von ihm verabschieden können. Zumindest das war sie ihm schuldig.
»Ich bringe Sie hin. Ich heiße übrigens Finn.«
»Evie. Und vielen Dank dafür.«
Wie auf den Orkneys üblich, lag der Schlüssel des Mietwagens im Handschuhfach, und nachdem Finn ihr seinen alten Pullover über die Knie gebreitet und dafür gesorgt hatte, dass sie sich wohlfühlte, fuhr er los.
Auf der kurzen Strecke zum Krankenhaus erzählte er, dass er für eine bedeutende Vogelschutzgesellschaft auf Hoy arbeite, der Insel mit den imposanten Bergen und der reichen Tierwelt. Er werde dort Seeigel beobachten. Doch Evie hörte kaum zu, sondern war in ihre Ängste und Sorgen vertieft. Sie schaute aus dem Fenster. Es fing an zu nieseln, während weiter die Sonne schien. Als Kind hatte sie dieses Wetter immer gemocht, weil dabei klare Regenbögen entstanden und sich in den Pfützen spiegelten. Nach einem Regenguss sah immer alles aus wie frisch gewaschen. Auf den leuchtend grünen Weiden grasten Kühe und dicke Schafe. Es gab mehr neue Bungalows als damals, aber alles war beruhigend vertraut. Vielleicht würde doch alles gut werden.
Als sie sich Kirkwall näherten, war Evie überrascht vom Anblick des modernen Krankenhauses, das sich am Stadtrand erhob. Das hatte es noch nicht gegeben, als sie nach London gezogen war, und sie war gespannt, was sich seitdem noch verändert hatte.
Als Kind hatte sie es toll gefunden, nach Kirkwall zu fahren und ein Eis zu essen, an den Schaufenstern entlangzuschlendern und sich mit ihren Freunden zu treffen. Sie schloss sich nur nie an, wenn sie an den Strand gingen, auch nicht bei schönstem Wetter, denn sie hatte Angst vor dem Wasser, selbst wenn das Meer ruhig war.
Auf dem Parkplatz fragte Finn, ob er sie begleiten solle, und Evie antwortete, er habe ihr schon sehr geholfen.
»Ich bin dir sehr dankbar, ehrlich, und danke, dass du mich nicht mit Fragen gelöchert hast. Ich bin gerade ziemlich durch den Wind.«
Er nickte. »Hör zu, ich geb dir meine Nummer. Ich fände es nicht richtig, dich hier abzusetzen, ohne dass du jemanden anrufen kannst. Ich hoffe, deinem Vater geht es halbwegs gut. Melde dich, wenn du eine Mitfahrgelegenheit brauchst.«
Er tippte seine Nummer in Evies Handy ein.
In dem riesigen Foyer ging sie nervös auf die Rezeption zu. Medizinisches Personal lief zielstrebig hin und her, und einen Mann erkannte sie auf Anhieb, selbst nach all den Jahren. Die Haare waren nicht mehr ganz so rot, er war schlanker geworden und trug eine schicke Brille, doch das war Edwyn, einer ihrer besten Schulfreunde. Er hatte schon immer Arzt werden wollen, und da stand er nun, erwachsen und im weißen Kittel.
Er bemerkte sie und grinste sie breit an. »Evie Muir. Bist du’s wirklich? Ich kann es kaum glauben nach all der Zeit.«
Sie war ungeheuer erleichtert. Bei Edwyn und Kate hatte sie sich immer sicher gefühlt. Als Teenager waren sie unzertrennlich gewesen, und sie hoffte, es könnte mit ihnen trotz allem wieder so werden wie früher. Doch vor ihr stand erst mal nur Edwyn, er war schon immer entspannt gewesen. Mit Kate könnte es ganz anders aussehen.
»Oh, Edwyn. Es tut so gut, dich zu sehen. Ich will zu meinem Vater. Kannst du mir sagen, wie es ihm geht?«
Er wurde ernst. »Setzen wir uns irgendwohin, wo es ruhig ist und wir ungestört reden können.«
Er ging mit ihr in einen Familienraum und nahm ihre Hand. »Es tut mir sehr leid, Evie«, sagte er sanft. »Dein Vater ist nach einem schweren Herzinfarkt nicht mehr zu sich gekommen. Er ist gestern verstorben. Er war ein wahnsinnig netter Mann, und wir haben alles Menschenmögliche getan.«
Evie fühlte sich wieder benommen und konnte nur flüstern. »Ist er wirklich tot? Bist du sicher? Kann ich zu ihm?«
»Ganz bestimmt. Natürlich. Gib mir einen Moment.«
Sie konnte es nicht glauben. Sie war zu spät gekommen. Nie wieder würde sie seine Stimme hören. Niemand würde sie mehr Teenie nennen, sie so sehr lieben wie er.
Warum habe ich nur so lange gezögert?, dachte sie verzweifelt. Jetzt kann ich es nie mehr gutmachen.
Edwyn legte den Arm um sie, und sie lehnte sich dankbar an ihn.
»Da sind wir, Evie. Er liegt in seinem Zimmer. Bist du wirklich bereit dafür?«
Sie nickte. Durch einen Tränenschleier blickte sie auf den kalten, runzligen Körper ihres Vaters. Er sah gelblich und wächsern aus, alt und zerbrechlich, die grauen Haare stumpf, der Bart dünn und flaumig. Wo war der kräftige, kühne Mann, der sie mühelos hochheben konnte wie ein frisch geschlüpftes Küken?
»Das ist nicht mein Dad. Wir sind hier falsch. Das ist er nicht. Er ist ein großer, starker Mann. Du irrst dich. Das ist ganz offensichtlich eine Verwechslung.«
Sie hörte ihre Stimme schrill werden und klang immer aufgeregter. Edwyn hielt sie freundlich, aber bestimmt fest.
»Es tut mir unendlich leid, Evie, aber Duncan war sehr krank, als er zu uns gebracht wurde.«
»Aber was ist passiert? Er war immer stark und gesund.«
Edwyn seufzte. »Er hat nicht mehr auf sich geachtet. Wir haben alle versucht zu helfen, aber als deine Mutter nicht mehr da war, schien er seinen Lebenswillen zu verlieren. Vor einer Woche wurde er eingeliefert, nachdem er zu Hause gestürzt war. Er hatte die ganze Nacht auf dem Boden gelegen und war in einem schrecklichen Zustand. Im Rettungswagen auf dem Weg hierher hatte er noch einen schweren Herzinfarkt, und trotz aller Versuche konnten wir ihn nicht wieder zu Bewusstsein bringen.«
Sie betrachtete den eingefallenen alten Mann und empfand eine überwältigende Liebe, die den tiefen Kummer und erdrückenden Schuldgefühle für den Moment verdrängte. »Auf Wiedersehen, Dad. Es tut mir leid, dass wir uns nicht mehr verabschieden konnten. Dass ich nicht hier war, als du mich brauchtest. Das werde ich mir nie verzeihen.«
Sie berührte zärtlich seine kalte Wange.
»Meine Schicht endet in zehn Minuten«, sagte Edwyn leise. »Nimm dir Zeit für den Abschied, und komm dann in die Cafeteria. Ich warte da auf dich.«
Sie nickte nur, weil auf ihre Stimme gerade kein Verlass war.
Eine Viertelstunde später in der Cafeteria hielt Evie eine Tasse brühheißen, überzuckerten Tee in den Händen und versuchte, zu begreifen, was passiert war. »Freya hat in ihrem Brief nur geschrieben, dass ich schnell herkommen müsse. Ich wusste nicht, dass er so krank war«, erklärte sie.
Edwyn seufzte. »Ich hatte so eine Ahnung, dass sie mit dir noch Kontakt hat. Aber sie hat uns nie genau gesagt, wo du lebst. Du weißt, wie sie ist. Sie würde nie ein Versprechen brechen, das sie dir gegeben hat. Um ehrlich zu sein, war sie der einzige Mensch, der am Ende zu deinem Vater durchdrang. Er ließ nur sie noch ins Haus, und sie war es auch, die ihn gefunden und den Rettungswagen gerufen hat. Sie hat ihn immer wieder ermutigt, mit dem Trinken aufzuhören und etwas Richtiges zu essen, aber viel mehr konnte sie nicht tun. Wir haben es alle versucht, Evie. Wirklich.«
Evie sah ihn verzweifelt an. »Und ich war nicht hier! Ich hätte bei ihm sein, mich um ihn kümmern müssen.« Und alles nur, weil ich zu viel Angst hatte, mich dem zu stellen, was ich getan habe. Das ist alles meine Schuld. Die ganze traurige Situation. Das muss ich mir selbst zuschreiben.
Edwyns Ton wurde ein wenig kühler. »Ich bin sicher, du hattest deine Gründe, nicht nach Hause zu kommen und dich nicht zu melden. Aber für uns war das hart. Wir haben dich vermisst. Du bist einfach verschwunden.«
Evie war den Tränen nahe. »Ich weiß. Es tut mir entsetzlich leid.« Sie war erschöpft, eine verhärmte Frau mit schmerzerfüllten Augen. »Weiß Liv über unseren Vater Bescheid?«
»Soweit wir wissen, hat sie ihn nie besucht und nur mit ihm gesprochen, wenn sie Geld brauchte«, sagte Edwyn.
Evie stieß einen zittrigen Seufzer aus und stützte den Kopf in die Hände.
Edwyn schaute betroffen. »Evie, Liebes. Ich weiß nie, wann ich besser den Mund halten sollte. Du hast einen schrecklichen Schock erlebt, und ich mache es nur schlimmer. Hör mal, wie wär’s, wenn du mit zu uns kommst und Kate und die Kinder siehst? Wir können dir bei allem helfen, was du jetzt erledigen musst, und du kannst gern bei uns wohnen, solange du möchtest.«
Evie lächelte ihn unter Tränen an. »Das ist mehr, als ich verdiene. Ich habe im Foveran ein Zimmer gebucht, weil ich mir nicht sicher war, ob ich in meinem Elternhaus übernachten kann. Ich werde nicht lange bleiben. Ich muss so schnell wie möglich wieder zurück.«
Edwyn zögerte. »Du wirst bleiben müssen, um den Papierkram deines Vaters zu regeln. Das dürfte mindestens ein paar Tage dauern.«
Evie schluckte sichtlich, und Edwyn drückte ihre Schulter.
»Wir werden dir bei allem helfen. Ich kann dich jetzt zum Hotel bringen, und du rufst mich später an, wenn du etwas brauchst. Hier hast du meine Nummer.«
Evie fiel der Mann ein, der ihr vor einer Stunde auch seine Nummer gegeben und Hilfe angeboten hatte. Sie hatte schon vergessen, wie es war, an einem Ort zu leben, wo sich die Leute umeinander kümmerten. Edwyn gab ihr das Handy mit seiner gespeicherten Nummer zurück, und dabei sah sie, dass Jeremy schon wieder geschrieben hatte: Ruf mich sofort zurück, wenn du das liest, oder du wirst es bereuen.
Sie richtete sich im Hotelzimmer ein und nahm seine jüngste Drohung kaum zur Kenntnis. Die mitfühlende Rezeptionistin kannte ihre Familie und hatte ihr den Check-in so angenehm wie möglich gemacht.
Obwohl ihr so viel auf der Seele lag, schlief sie sofort ein und wurde schließlich aus dem Schlaf gerissen, weil das Handy auf dem Nachttisch klingelte.
Sie hatte einen entsetzlich realistischen Albtraum und hätte schwören können, ihre Mutter sei ins Zimmer gekommen und hätte sie beschimpft und beschuldigt, mit ihrem Egoismus und ihrer Schlechtigkeit der ganzen Familie das Leben schwer zu machen.
»Du erbärmliches Mädchen«, hatte sie immer wieder geschrien. »Du elendes, jämmerliches Ding.«
Verwirrt tastete Evie nach dem Handy und wurde von Trauer übermannt, weil ihr einfiel, dass ihr Vater gestorben war.
»Hallo«, flüsterte sie zitternd.
»Evie? Hier ist Freya. Edwyn hat mir gesagt, wo du bist. Ich hätte dich am Flughafen abgeholt und dir im Krankenhaus zur Seite gestanden. Es tut mir schrecklich leid, mein Lämmchen. Wie kommst du klar?«
»Ach, Freya, ich bin zu spät gekommen! Du hattest recht, ich hätte eher herkommen sollen. Ich bereue das. Ich weiß, ich hätte mich bei dir melden sollen, aber es ging alles so schnell. Ich konnte mich nicht mehr von ihm verabschieden, ihm nicht sagen, dass es mir leidtut und dass ich ihn immer geliebt habe.«
Evie konnte nicht mehr an sich halten und brach in Tränen aus.
»Bleib, wo du bist. Ich bin ganz in der Nähe, und du solltest jetzt nicht allein sein. Du wirst bei mir übernachten. Keine Widerrede.«
Als Cara und Duncan sechzehn Jahre alt wurden, starb Duncans schüchterne Mutter so, wie sie gelebt hatte, still und ohne Aufsehen. Sie ging eines Abends schlafen und wachte nicht mehr auf. Jeder war überzeugt, ihr armes Herz sei einfach von der Trauer über den Verlust ihres anständigen, stattlichen Mannes verbraucht gewesen.
Es wurde eine kleine, würdevolle Beerdigung. Duncan hielt die Trauerrede, die schlicht, aber so ernst war, dass die Frauen in ihre Taschentücher schnieften und die Männer sich räuspern mussten, damit man sie nicht für übermäßig emotional hielt.
Duncan fühlte sich zutiefst unbehaglich, da alle Blicke auf ihn gerichtet waren, und stand die Tortur nur durch, weil er den Blick auf Cara gerichtet hielt. Am Grab, als sie seine Hand nahm und festhielt, wusste er, er würde ohne sie nicht leben können.
Er musste die Farm nun allein mit zwei Knechten betreiben. Das war für so junge Schultern eine schwere Bürde, obwohl sich die Freunde seiner Mutter um ihn scharten und mit Ratschlägen und praktischer Hilfe unterstützten.
Er musste die Schule aufgeben, und an seinem letzten Tag bat Cara ihn, mit ihr in seinem verbeulten alten Lieferwagen zum Yesnaby Castle zu fahren, weil sie ihm etwas Wichtiges sagen müsse. Um zum Castle zu gelangen, dem beeindruckenden Brandungspfeiler vor der Westküste, musste man vom Parkplatz aus gut zwanzig Minuten wandern. Sie hatte ein einfaches Picknick aus selbst gebackenem Brot und Hrossey-Käse eingepackt und breitete es auf dem struppigen Gras auf dem Steilfelsen aus.
Sie saßen nah beieinander und betrachteten beim Rauschen der Brandung die spektakuläre Aussicht. Der Sommerwind war lau und sanft, die Klippenmöwen stellten ihre Flugkünste zur Schau, die Papageientaucher waren niedlich, und im Wasser tollten Delfine herum. Es hätte nicht idyllischer sein können.
»Weißt du, dass Delfine sich ein Leben lang treu bleiben?«, fragte Cara in einem weichen sinnlichen Ton, den sie aus Kinofilmen kannte.
»Nein, das tun sie nicht, Cara. Sie treiben es ständig mit jedem anderen Delfin, der gerade Lust dazu hat. Sie bumsen, was das Zeug hält.« Er kniff die Augen zusammen. »Und wieso redest du überhaupt in diesem albernen Ton?«
Cara schnaubte verärgert.
»Duncan John Muir, du weißt wirklich, wie man einen schönen Moment verdirbt.«
»Was meinst du damit?«
»Ich hatte das geplant. Mir war klar, dass du dich nicht überwinden wirst und ich die Sache in die Hand nehmen muss. Ich wollte es nach allen Regeln der Kunst machen, mit Kniefall und allem. Ich habe sogar einen Ring für dich. Na ja, er ist so billig, dass die Haut darunter wahrscheinlich grün wird, aber wir müssen sparen und dürfen kein Geld für unwichtige Dinge verschwenden.«
Duncan sah sie verblüfft an. »Du willst mich wirklich heiraten? Bist du sicher? Das ist kein Scherz, oder?«
Cara kicherte. »Nein, du Riesentrottel. Ich will eigentlich Elvis heiraten, aber ich werde wohl mit dir vorliebnehmen müssen.«
Duncan lachte schallend und hob Cara in die Luft.
»Lass mich runter, du Dummkopf«, verlangte sie lachend, »sonst fallen wir beide noch von der Klippe, und dann gibt’s keine Hochzeit.« Aber in Wirklichkeit gefiel es ihr sehr, seine starken Arme zu spüren.
Er setzte sie ab und drückte sie an sich. Es täte ihm leid, dass er nicht zuerst gefragt hatte, sagte er. Aber er könne einfach nicht glauben, dass sie das ganze Leben mit ihm verbringen wolle. Cara schmiegte sich an ihn, und er küsste sie herzhaft.
Dann sah er ihr in die Augen und sagte feierlich: »Cara, ich werde mein Leben lang dafür sorgen, dass du glücklich bist. Ich liebe dich sehr und werde immer für dich sorgen. Und ich kann es nicht erwarten, mit dir Kinder zu bekommen. Solange sie so schön und klug sind wie du.«
Caras Herz schlug höher. »Dann werden wir ein größeres Haus brauchen.« Ihr Wunschtraum war ein Haus voll pummeliger, glücklicher Babys, die mit beiden Eltern um sich herum aufwuchsen.
Natürlich musste vor der Hochzeit das traditionelle schottische »Blackening« stattfinden. Duncan wurde von seinen Freunden geschnappt, ausgezogen und mit Sirup übergossen, in Federn gewälzt und mit Mehl beworfen, dann auf der Ladefläche eines Kleinlasters durch Kirkwall gefahren, während sie mit Trommeln und Mülleimerdeckeln einen Lärm machten, der Tote aufwecken konnte. Vor der Kathedrale wurde er an Händen und Füßen gefesselt an einen Laternenpfahl gebunden, gnädigerweise in Unterhosen. Andere Bräutigame hatten nicht so viel Glück, sodass ihre haarigen Ärsche und mehr den Blicken der Passanten ausgesetzt waren. Die Freunde hielten ein ordentliches Besäufnis ab, dann banden sie Duncan los, brachten ihn zum Strand, wälzten ihn im Sand und schubsten ihn ins kalte Meer, was ihn sofort nüchtern machte und wo er die klebrige Masse loswurde, die bis zu den intimsten Stellen vorgedrungen war.
Als sie wieder trocken waren und zum Auto zurückgingen, ließ Hugh sich mit Duncan hinter den anderen zurückfallen, weil er mit ihm allein sprechen wollte. Er war ein schlaksiger, linkischer Kerl mit graubraunen Haaren und Sommersprossen.
»Duncan. Du weißt, du bist mein bester Freund.«
Seit jener Unterrichtsstunde im Physiksaal, als Duncan seinen Bunsenbrenner anzünden wollte und sich fast selbst in Brand gesteckt hätte, waren sie eng befreundet. Hugh zeigte ihm geduldig, wie man das machte, ohne sich zu verletzen. Er half ihm auch bei den Hausaufgaben, und niemand wagte mehr, sich über Hugh, den Streber, lustig zu machen, weil er jetzt den kräftigen Kerl an seiner Seite hatte.
»Ja«, sagte Duncan.
Hugh räusperte sich. »Es fällt mir nicht leicht, das zu sagen. Aber bist du sicher, dass Cara die Richtige für dich ist? Ihr seid sehr verschieden.« Er errötete heftig.
Duncan war erst mal sprachlos. Er hatte geglaubt, Cara wäre allgemein beliebt.
»Gerade deshalb klappt es zwischen uns.«
»Es tut mir leid, falls ich eine unpassende Bemerkung gemacht habe«, stotterte Hugh.
Duncan klopfte ihm auf den Rücken. »Ich weiß, Cara kann anstrengend sein. Aber mach dir keine Gedanken. Sie ist genau die Richtige für mich.«
Caras Blackening fiel harmloser aus, hauptsächlich weil sich die Mädchen, mit denen sie zur Schule gegangen war, vor ihr fürchteten, und auch weil sie nur mit wenigen befreundet war. Trotzdem musste sie mehrmals in der Badewanne untergetaucht werden, damit sie das klebrige Zeug loswurde.
Die Hochzeit fand auf Hrossey in der schlichten weißen Kirche am Meer statt, zusammen mit Caras Mutter und ihren vielen Tanten, Onkeln, Cousinen und Cousins. Etliche Freunde und Verwandte von Duncan nahmen die zweieinhalbstündige Fahrt mit der Fähre auf sich und wurden auf der Insel verstreut bei verschiedenen Leuten untergebracht.
Im Laufe des Tages kam es zu einigen unangenehmen Momenten, weil Cara wegen der Blumen und der Brautjungfernkleider einen Wutanfall bekam, doch ihre leicht manische Stimmung wurde der typischen Angst und Nervosität vor der Hochzeit zugeschrieben. Ihr langes weißes Seidenkleid war schlicht und elegant, hatte einen herzförmigen Ausschnitt und ein enges Oberteil, das ihre schmale Taille betonte. Dazu trug sie den langen Schleier, auf dem sie bestanden hatte, und künstliche Rosen im Haar. Sie sah schön aus, aber auch ein wenig fiebrig, denn ihre Augen glänzten, und ihre Wangen waren fleckig rot.
Da ihr Vater sie nicht zum Altar führen konnte, schritt sie tapfer allein den Mittelgang hinunter, worüber ein paar ältere Gemeindemitglieder die Nase rümpften. Cara hob trotzig das Kinn und tat, als kümmere sie das nicht, aber in Wirklichkeit war sie bitter enttäuscht. Insgeheim hatte sie gehofft, ihr Vater würde irgendwoher wissen, dass sie heiratete, und plötzlich aufkreuzen, um an dem wichtigsten Tag ihres Lebens teilzuhaben. Bis zur letzten Minute hielt sie Ausschau nach ihm. Vielleicht käme er doch noch in die Kirche gerannt und rief, das wolle er sich nicht nehmen lassen, um sie dann stolz dem Bräutigam zu übergeben.
Sie widerstand dem Drang zu weinen, setzte ihr kühnstes Lächeln auf, hob trotzig das Kinn und strahlte ihren künftigen Ehemann an. Mit ihm zusammen würde sie eine große, erfolgreiche Familie gründen. Sie würde besser sein als der ganze Haufen zusammengenommen.
Als Duncan gelobte, sie in Gesundheit und Krankheit zu lieben, weinte er Freudentränen und küsste seine triumphierende Braut. Nach der schlichten Feier verströmte ein leicht verblüffter Bräutigam seine Glücksgefühle und nahm von den vielen ausgelassenen neuen Verwandten schüchtern die Glückwünsche entgegen. Er hielt sich für den glücklichsten Mann der Welt.
Freya holte Evie rasch im Foveran ab und nahm sie mit nach Orphir in ihr Cottage am Meer. Sie fielen einander in die Arme und weinten. Freya war bestürzt, Evie so zerbrechlich und erschöpft zu sehen, doch sie überspielte das, gab ihr ein großes Glas Scapa-Whisky zu trinken und packte sie sofort ins Bett. Sie könnten sich am nächsten Morgen noch austauschen, sagte sie zu Evie. Sie brauche jetzt Ruhe und Schlaf.
In der Nacht setzte sich Freya im Bett auf, weil sie vor Sorge nicht schlafen konnte, und machte sich Gedanken über die arme Evie. Der Tod ihres Vaters hatte sie offensichtlich sehr mitgenommen, aber die Niedergeschlagenheit und Verzweiflung in ihren Augen schien tief verwurzelt zu sein und schon sehr lange zu bestehen. Um die zu überwinden, würde sie Hilfe benötigen. Viele Jahre lang hatte Freya sich damit getröstet, dass Evie sich in London ein gutes Leben aufgebaut hätte. Das erwies sich nun als Wunschdenken.
Sie selbst trauerte auch um Duncan. Er war immer gut zu ihr gewesen und hatte sie freundlich, respektvoll und verständnisvoll behandelt. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie ihm verschwiegen hatte, dass sie mit Evie in Kontakt stand. Hätte sie das nicht getan, wäre es mit ihm vielleicht nicht so schnell abwärtsgegangen, und er hätte etwas gehabt, für das es sich zu leben lohnte. Freya liebte Evie wie eine Tochter, und es hatte sie fast umgebracht, nicht nach London zu fliegen und sie zurückzuholen.
Sie hatte nie erfahren, warum Evie damals Hals über Kopf von Orkney wegwollte und dabei alle Kontakte abbrach. Während der vergangenen zwanzig Jahre hatte sie behutsam auf sie eingewirkt, sich doch bei ihrem Vater zu melden, immer in dem Bewusstsein, dass die schwache Verbindung zu Evie leicht abreißen könnte. Sie wollte nicht riskieren, sie ganz zu verlieren.
Nun beruhigte sie sich damit, dass Evie wieder zu Hause war und sie sich um sie kümmern würde, vielleicht sogar dazu bewegen könnte, für immer zu bleiben. Freya hatte in ihrem Leben schon vieles bewältigt und war immer reifer gewesen, als ihr Alter vermuten ließ.
Es gab nicht viele, die sich noch erinnerten, dass sie auf Hrossey als kleiner Kerl namens Magnus aufgewachsen war und ihr Geschlecht immer für einen Irrtum der Natur gehalten hatte. Sie konnte damals zwischen dem pummeligen Jungen, den sie im Spiegel sah, und dem Menschen, der sie ihrem Empfinden nach sein sollte, keine Verbindung spüren.
Mit fünfzehn Jahren eröffnete sie allen gelassen, sie sei jetzt Freya, die nordische Göttin der Liebe und des Krieges, die goldene Tränen weinte. Freyas Eltern und ihre Schwester, Anne Marie, überraschte das nicht, denn sie hatten Augen im Kopf.
Die übrigen Verwandten zuckten nur mit den Schultern. Wie jeder auf Hrossey hatten sie Magnus schon lange, bevor er in die Schule ging, in Mädchenkleidern gesehen. Nicht mal die mürrische Mrs Linklater aus dem Gemischtwarenladen war verblüfft.
Sie rümpfte nur die Nase und sagte: »Magnus war schon immer anders, so ist es nun mal. Wenn seine Eltern damit einverstanden sind, dann soll es mir recht sein, obwohl ich sagen muss, dass es so was in unserer Familie nicht gab. Aber was kann man von solchen Leuten schon erwarten?«
Der alte Mr Linklater nahm Freyas Hand und sagte: »Du hast einen steinigen Weg vor dir, Schätzchen. Du wirst sehr stark sein und viel Mut beweisen müssen. Es tut mir leid, falls ich es manchmal noch durcheinanderbringe und dich Magnus nenne. Ich bin alt und vergesslich und hoffe, du bist mir dann nicht allzu böse.«
Sie strahlte ihn an und umarmte ihn. Von dem Moment an war sie Freya, und Magnus gehörte der Vergangenheit an.
Sie war nur eins fünfundsechzig groß, hatte ein rundes, breites Gesicht und große hellbraune Augen. Da sie Süßes und das gute Brot, die Sahne und den Käse der Insel liebte, war sie schön mollig und hatte Wangen wie reife Pfirsiche, aber – zugegeben – auch ein kleines Doppelkinn und einen Kugelbauch.
Sie ließ sich die Haare schulterlang wachsen und lackierte sich die Nägel. Anne Marie half ihr bei Modefragen. Sie vertieften sich in Versandhauskataloge und warteten auf die Ankunft der Pakete, worauf sie dann eine Modenschau in ihrem Schlafzimmer veranstalteten.
Manche Leute nannten sie noch Magnus, aber nie boshaft. Dann korrigierte sie freundlich lächelnd. »Ich bin jetzt Freya.« Und dabei fühlte sie sich mit jedem Mal stärker.
Natürlich wurde sie auf der Sekundarschule in Kirkwall auch manchmal schikaniert, aber Freya ertrug das mit stoischer Miene. Sie hatte gute Freunde von zu Hause in Hrossey, die auf sie aufpassten. Es half auch, dass sie eine wirklich freundliche Person war, die nur in Frieden leben wollte.
Die meisten gemeinen Bemerkungen kamen von der dreizehnjährigen Cara. Sie glaubte, dass der Junge, der die Kleider seiner Mutter trug, sich nur wichtigmachen wollte. Sie blieb dabei, dass das nur eine Phase wäre und sich noch auswachsen würde.
Cara musste sich bei ihren Äußerungen mäßigen, nachdem selbst Duncan sie zaghaft gebeten hatte, Freya in Ruhe zu lassen. Da sie die perfekte Prinzessin für ihn sein wollte, hörte sie auf, Freya zu ärgern, und beschloss, sie betont zu ignorieren, während sie sie weiter verachtete.
Freya war nicht wissenschaftlich interessiert, und daher entschied sie sich nach dem Schulabschluss, auf Mainland zu bleiben und im Kirkwall Hotel zu kellnern. Wie der alte Mr Linklater gesagt hatte, wurde es für sie ein steiniger Weg.
Ständig bekam sie anzügliche Blicke und höhnische Sprüche von Jugendlichen und wurde von den Touristen der Kreuzfahrtschiffe, die wie Heuschreckenschwärme über Kirkwall herfielen, schief angesehen. Diese Leute waren so erpicht darauf, die Sehenswürdigkeiten abzuhaken, dass sie eigentlich nichts in sich aufnahmen, sondern am Abend mit einem Kühlschrankmagneten und einer vagen Erinnerung an Denkmäler und Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg in ihre Kabinen zurückkehrten.
Freya entwickelte einen bissigen Humor, um mit den Blicken und dem Geflüster fertigzuwerden, und trug ihn wie eine Rüstung. Doch sie wusste, dass die Menschen, die wirklich zählten, sie im Stillen unterstützten. Einmal warf Duncan zwei Idioten aus Manchester aus der Hotelbar, weil sie sich ihr gegenüber respektlos verhalten und sie beleidigt hatten. »Ihr könnt wiederkommen, wenn ihr euch entschuldigt und euch Manieren angeeignet habt.« Die beiden bekamen Angst vor dem hünenhaften Duncan und setzten keinen Fuß mehr in die Bar oder auch nur auf die Insel.
Freya war am glücklichsten, wenn sie am Strand saß und aufs Meer schauen konnte. Auf Orkney war man nie weit vom Wasser entfernt, und sie liebte das Rauschen der Wellen und die Schreie der Vögel über ihr. Als Teenager ging sie immer allein in dem schlichten schwarzen Badeanzug ihrer Schwester schwimmen und jubelte vor Freude, wenn sie ins Wasser rannte, fühlte sich frei, glücklich und zufrieden.
Sie sparte ihren Lohn und ihre Trinkgelder, und mit Anfang dreißig reiste sie nach England, um sich ein erstes Mal operieren zu lassen. Sie würde die physischen und mentalen Schmerzen nie vergessen, bereute es aber kein einziges Mal. Für ein paar Jahre blieb sie in London und arbeitete in verschiedenen Hotels, vermisste aber ihre Familie und Freunde, den Frieden und die frische Luft von Orkney.
All das zog sie nach Hause zurück. Sie mietete südlich von Kirkwall nahe bei dem kleinen Fährhafen von Houton ein Cottage, von dem sie die Überfahrten zu den Inseln Flotta und Hoy beobachten konnte, und begann, zierlichen Schmuck herzustellen, zu dem sie sich von der Bewegung und den Farben des Meeres und der Landschaft inspirieren ließ.
Sie konnte sich bei der Kleiderwahl nie so recht entscheiden und zog deshalb vieles übereinander an, trug knallige Farben und behängte sich mit Seidenschals und ihrer gesamten Schmuckkollektion. »Ich bin ein wandelndes Werbeplakat«, sagte sie immer. »Jeder soll meine Ware sehen und wissen, wie hinreißend die Stücke sind.«
Freya betrachtete sich als glückliches Wesen. Sie hatte sich auf der Insel ein erfüllendes Leben aufgebaut und wurde als weise Frau mit einem großen Freundeskreis angesehen, in dem sie jeder in sein Familienleben einbezog. Man konnte sich stets um Hilfe und Rat an sie wenden, sogar wenn es manchmal eigentlich nicht nötig war, denn sie wollte einfach alles und jeden verbessern und in Ordnung bringen.
Sie trank den Rest von ihrem Whisky aus und ging ins Bett, entschlossen, Evie zu bewegen, auf Orkney zu bleiben und ihr über Trauer und Schmerz hinwegzuhelfen.
Freya erkannte, dass Evie kurz vor einem hysterischen Anfall war.
»Also gut, Liebes, setzen wir uns ans Feuer und atmen mal durch«, sagte sie ruhig. »Dann kannst du mir alles erzählen. Hat Liv wieder ihr Unwesen getrieben? Oder hast du dich mit Brodie gestritten?«
Als sein Name fiel, wurde Evie blass und rang nach Luft.
Freya suchte in Evies Handtasche, gab ihr den Inhalator und befahl ihr, ihn zu benutzen und nicht panisch zu werden.
»Sicher wird sich das mit Brodie wieder einrenken. Er betet dich an. Er hat dir doch das hübsche Armband geschenkt.«
Evie schüttelte energisch den Kopf. »Du verstehst nicht, ich muss hier weg! Irgendwohin, weit weg von hier.«
»Glaub mir, Evie, in ein paar Tagen hat sich der Sturm gelegt. Wie wär’s, wenn du heute bei mir übernachtest, und morgen früh reden wir über alles? Wenn die Sonne wieder aufgegangen ist, sieht alles hoffnungsvoller aus.«
»Ich kann nicht. Ich kann dir nicht erzählen, was passiert ist.«
Freya sah das junge Mädchen an, das sie liebte wie eine Tochter. Evie war ein höchst besonnener, realistisch denkender Teenager und machte keinen unnötigen Wirbel. Anscheinend ging es um etwas Ernstes. Aber sosehr sie Evie überreden wollte, sich ihr anzuvertrauen, sie weigerte sich, auch nur anzudeuten, was vorgefallen war.
»Na, meinetwegen. Ich werde dir helfen«, sagte Freya schließlich. »Hast du einen Plan?«
»Nein, aber hilf mir einfach, möglichst schnell von hier zu verschwinden, und ich will mir Arbeit suchen und auf eigenen Füßen stehen. Bitte, Freya, ich flehe dich an, versuch nicht weiter, mir das auszureden.«
Freya nickte. Es wäre vielleicht gar nicht schlecht für Evie, eine Zeit lang auf sich allein gestellt zu sein, unabhängig davon, was sie gerade durchmachte.
Sie fuhr Evie nach Stromness, wo sie die Frühfähre zum schottischen Festland nehmen und von dort nach England reisen wollte.
Am Anleger umarmte Freya sie und gab ihr einen Umschlag mit zweihundertfünfzig Pfund und der Telefonnummer und Adresse eines Hotels in der Nähe von London, das Jobs mit Unterkunft anbot.
»Bernie, der Geschäftsführer, schuldet mir einen Gefallen. Er sagt, er kann dir eine Stelle geben, wenn du hinkommst. Die Bezahlung ist nicht toll, und das Hotel ist ein bisschen heruntergekommen, aber das wäre ein Anfang, um auf die Beine zu kommen, und du brauchst dir erst mal keine Wohnung zu suchen.« Seufzend legte sie die Hände an Evies Wangen. »Ich weiß, ich kann es dir nicht ausreden. Das habe ich weiß Gott schon versucht, aber ich will deiner Familie sagen können, dass es dir gut geht. Wenn du mit ihnen nicht reden willst oder kannst, halte wenigstens mit mir Kontakt, damit wir wissen, wie es dir geht.«
Evie stand an der Reling der Fähre und sah Stromness verschwinden. Sehnsüchtig starrte sie auf die Steilfelsen bei St John’s Head und den berühmten Old Man of Hoy, der dort wachend zum Himmel zeigte, ein Symbol ihrer Heimat und all dessen, was sie zurückließ.
Mit ihren mageren Ersparnissen und Freyas Geld würde sie gut haushalten müssen. Sie hatte ihren Mut zusammengerafft und vom Fähranleger aus in dem Hotel angerufen, um einen Vorstellungstermin zu vereinbaren. Aber es war bereits klar, dass sie den Job bekommen würde. Sie brauchte dort nur zu erscheinen.
Sie buchte einen Platz in dem billigen Nachtbus, der vierzehn Stunden von Inverness nach London fuhr. Von dort würde sie sich zu dem Hotel in Crawley begeben. Es war eine lange, ermüdende Reise bei Dunkelheit und strömendem Regen.
Sie schlief, wurde aber häufig wach vom Schnarchen und Stimmengemurmel der Mitfahrer und dem gelegentlichen Hupen ungeduldiger Autofahrer, die den Bus überholten.
Während der ganzen Fahrt bekam sie die albtraumhaften Bilder jenes Abends nicht aus dem Kopf. Wie sollte sie je mit dem Schrecken und der Schuld leben können?
Am nächsten Morgen erwachte Evie in Freyas hellem, behaglichem Gästezimmer. Die Sonne schien herein, und einen Moment lang empfand sie inneren Frieden, dann spürte sie ihren Verlustschmerz im ganzen Körper.
Sie stand auf, zog sich den entzückenden Patchwork-Morgenmantel über, der an der Tür hing, und fand Freya in ihrem Sonnenzimmer. Es ging aufs Meer hinaus und war mit einem gemütlichen orangefarbenen Sofa und zwei weichen Sesseln mit üppigen Kissen und bunten Plaids eingerichtet.
An der Wand hing eines der Porträts, die Evie vor einundzwanzig Jahren von Freya gemalt hatte. Freya reichte ihr lächelnd einen Becher Kaffee.
»Erinnerst du dich daran, als du das gemalt hast?«
Für Evie war es schön und schmerzlich, sich an ihre Teenagerzeit zu erinnern, in der sie lange Sommerabende mit Zeichnen und Malen verbracht und dabei mit Kate und Edwyn Pläne geschmiedet hatte.
Sie hatten sich alles bis ins Einzelne überlegt. Kate würde eine sehr erfolgreiche Lehrerin, Edwyn ein berühmter Chirurg in Edinburgh werden und Evie die Kunsthochschule in Glasgow besuchen, um eine gefeierte Malerin und Bildhauerin zu werden. Alle drei wollten viel in der Welt bewirken.
Sie lächelte Freya an. »Du siehst noch genauso aus wie damals.«
Das stimmte. Freya war inzwischen dicker und grauer geworden, aber ihr Lächeln war noch dasselbe und hellte ihr Gesicht auf, das überraschend faltenfrei war und auch sonst keine Alterungserscheinungen zeigte.
»Tja, ein Ballon wirft keine Falten, wie mein alter Dad zu sagen pflegte. Mein Mondgesicht ist mit den Jahren voll zur Geltung gekommen. Aber vergiss nicht, ich bin älter als deine Mutter. Fast achtzig. Himmel, selbst wenn ich es laut sage, kann ich es kaum glauben.«
»Du siehst mindestens zwanzig Jahre jünger aus. Ich hatte immer das Gefühl, dass du meiner Altersgruppe näher bist als der meiner Eltern.«
Freya freute sich. »Jedenfalls hat meine Sehkraft nachgelassen, sodass ich keine Altersspuren erkennen kann, wenn ich zum Schminken die Brille abnehme und in den Spiegel gucke. Also, Evie, geh dich anziehen. Wir haben einiges zu tun.«
Freya fuhr mit Evie nach Kirkwall, um die Formalitäten zu erledigen, die nach einem Todesfall anfielen. Evie war erleichtert, dass ihr jemand dabei half, besonders bei der Vorbereitung von Duncans Beerdigung, die in einer Woche stattfinden würde.
Freya setzte eine Anzeige in den Orcadian und rief alle an, die mit Duncan befreundet gewesen waren, soweit sie ihr einfielen, um ihnen die Einzelheiten mitzuteilen. Ihr Vater hatte zwar in den letzten Jahren wie ein Einsiedler gelebt, war aber ein hoch geachteter und beliebter Mann geblieben, und ihr war klar, dass ihm viele Menschen das letzte Geleit geben würden.
Freya setzte sie um elf Uhr vor der Anwaltskanzlei ab, in der die Testamentseröffnung stattfinden sollte. Evie hatte vor Nervosität Magenschmerzen, und Freya bemerkte ihre Unruhe.
»Du bist wahrscheinlich nervös, weil Liv da sein wird. Bist du sicher, dass ich dich nicht begleiten soll? Du weißt, wie deine Schwester ist.«
»Nein, schon gut, Freya. Ich muss das allein bewältigen.«
Evie betrat das Foyer der Kanzlei. Dort stand eine spindeldürre Frau, der Seife und Wasser offenbar fremd waren, vor einer sichtlich gestressten Empfangssekretärin und beschimpfte sie. Evie erkannte in der hageren Person ihre Schwester Liv. Sie war inzwischen sechsundvierzig, sah aber Jahrzehnte älter aus. Sie hatte die faltige Haut einer Kettenraucherin, dunkelviolette Tränensäcke unter den Augen und strähnige, stumpfe Haare. Sie sah aus wie ein ausgehungerter Falke.
»Ich verstehe nicht, warum ich warten soll«, herrschte sie die Frau an. »Ich bin die Einzige, die im Testament stehen kann. Ich kenne meine Rechte. Ich erbe alles.«
»Miss Muir«, erwiderte die Frau müde seufzend, »ich sagte bereits, dass wir Ihre Schwester erwarten. Und da kommt sie auch schon.«
Liv fuhr herum. Wut und Verblüffung malten sich in ihrem Gesicht ab.
»Unglaublich!«, stieß sie giftig hervor. »Dass du den Nerv hast, dich hier blicken zu lassen, nach allem, was du mir angetan hast. Glaub ja nicht, dass du von dem alten Mann auch nur einen Penny kriegst. Du kannst hier keine Ansprüche geltend machen. Er hat dich gehasst. Wir alle haben dich gehasst. Keiner wollte, dass du zurückkommst.«
Die alten Schuldgefühle drohten Evie zu überwältigen. Liv würde ihr nie verzeihen, und nicht mal der Tod ihres Vaters würde daran etwas ändern.
»Bitte, Liv, ich kann das jetzt nicht. Man hat mich aufgefordert, zur Testamentseröffnung zu kommen. Ich will gar nichts haben. Es würde mir auch nicht zustehen. Ich will nur hören, was Dad sich für seine Beerdigung gewünscht hat.«
Mit hasserfülltem Blick neigte sich Liv zu ihr. »Und danach wirst du verschwinden«, zischte sie. »Du wirst Orkney ein für alle Mal verlassen. Andernfalls weißt du ja, was passiert. Ich habe dein dreckiges kleines Geheimnis all die Jahre für mich behalten. Aber vielleicht wäre es an der Zeit, allen die Wahrheit zu sagen.«
Evie durchlief ein eisiger Schauder bei dem Gedanken, dass Freya, Edwyn und Kate dann wüssten, was sie getan hatte. Sie nickte kläglich.
Die Empfangssekretärin hüstelte diskret und sagte: »Mr Sutherland empfängt Sie jetzt. Wenn Sie bitte dort hineingehen würden.«
In dem überheizten, mit Akten vollgestopften Büro sah ihnen ein junger Anwalt mitfühlend und neugierig entgegen. Evie erkannte ihn sofort. Er war in der Schule eine Klasse unter ihr gewesen.
Er räusperte sich. »Mr Duncan Muir hat im vergangenen Jahr, bevor er ernsthaft erkrankte, sein Testament gemacht. Darin sind die Einzelheiten zu seiner Beerdigung festgelegt, aber ich bedaure, Ihnen sagen zu müssen, dass nicht viel Geld vorhanden ist. Ihr Vater hat anscheinend große Summen von seinem Ersparten abgehoben, vor allem in den letzten paar Jahren, und er wollte, dass das übrige Geld an Sie ausgezahlt wird, Liv.«
Evie hatte damit gerechnet. Das war nur gerecht, nach allem, was gewesen war. »Tja, danke für Ihre Hilfe«, sagte sie steif. »Wenn das alles ist, sollten wir jetzt gehen, es gibt viel zu tun.«
»Augenblick, ich bin noch nicht fertig. Ihr Vater hat das Haus samt Inhalt Ihnen hinterlassen, Evie. Es liegt keine Hypothek auf dem Haus, es gehört also ganz allein Ihnen. Mr Muir hat sich da sehr klar ausgedrückt. Es ist ein wertvoller Gewinn, obwohl man wohl einiges an Arbeit reinstecken müsste.«
Liv schäumte. Sie stand auf und zitterte vor Wut.
»Das soll wohl ein Witz sein! Die kommt hier angerauscht und kriegt das Haus nach allem, was sie getan hat? Denk bloß nicht, dass ich mir das gefallen lasse.« Sie tippte mit dem Finger an Evies Brust. »Ich will, was mir gehört, und du gehörst in den nächsten Flieger nach London.«
Liv stürmte hinaus und schlug die Tür hinter sich zu, dass die Fenster bebten und der Staub von den Aktenstapeln wehte, die auf jeder verfügbaren Fläche lagerten.
Der Anwalt räusperte sich wieder. »Ich fürchte, bei einer Testamentseröffnung kochen die Gefühle über, Miss Muir, besonders wenn Geld und Immobilien unter Familienmitgliedern aufgeteilt werden, die sich nicht grün sind. Ich möchte es Ihnen vorlesen, damit die Angelegenheit ganz klar ist. Hier steht: Ich will, dass meine jüngste Tochter Evie immer ein Zuhause auf Orkney hat, in das sie zurückkehren kann. Es ist mein Herzenswunsch, dass sie zurückkommt und in dem Haus ihrer Kindheit lebt, wo sie hingehört.«
Er gab Evie einen dünnen Umschlag.
»Ihr Vater hat Ihnen auch diesen Brief hinterlassen, den er mir zur Aufbewahrung gab, als er sein Testament hinterlegte. Er hat ausdrücklich verlangt, dass er nur Ihnen persönlich ausgehändigt wird.«
Evies Hände zitterten, als sie ihn öffnete.
Meine liebste Teenie,
wenn Du das liest, bin ich nicht mehr da, aber ich konnte Dich nicht für immer verlassen, ohne Dir zu sagen, wie sehr Du mir all die Jahre gefehlt hast.
Ich denke jeden Tag an Dich, und Deine Stimme nicht zu hören, Dein Gesicht nicht zu sehen ist ein beständiger Schmerz in meinem tiefsten Innern.
Du dachtest sicher, Du hättest keine andere Wahl, als uns zu verlassen, doch es hat mir das Herz gebrochen, dass Du mich so völlig aus Deinem Leben verbannt hast. Ich bin jene grauenvolle Nacht so viele Male in Gedanken durchgegangen und habe mir gewünscht, ich könnte meine Worte zurücknehmen.
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