Die Jagd - Gabriel Bergmoser - E-Book + Hörbuch

Die Jagd Hörbuch

Gabriel Bergmoser

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Beschreibung

Willkommen im Outback – wo das Abenteuer endet und der Albtraum beginnt! »Die Jagd« ist ein harter, blutiger Thriller um einen Roadtrip ins Verderben und eine gnadenlose Verfolgungsjagd durch die Wildnis Australiens. Dass es im australischen Outback etwas rauer zugeht, damit haben Charlie und Delilah durchaus gerechnet. Immerhin sollte ihr Roadtrip durch die dünn besiedelte Wüste mit ihren eindrucksvollen Felsformationen ja ein echtes Abenteuer werden. Als sie jedoch an einer einsamen Tankstelle halten, begehen Charlie und Delilah den Fehler ihres Lebens: Plötzlich stecken die Touristen mitten in einer mörderischen Verfolgungsjagd, bei der Einheimische eine ganz besondere Beute zur Strecke bringen: sie! Mit »Die Jagd« liefert der australische Autor Gabriel Bergmoser hartes Thriller-Kopfkino für alle Fans actionreicher Pageturner, die man einfach nicht zur Seite legen kann. »Überzeugend böse und absolut suchterregend.« Observer

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Zeit:7 Std. 25 min

Veröffentlichungsjahr: 2022

Sprecher:Kris Köhler

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Gabriel Bergmoser

Die Jagd

Thriller

Aus dem australischen Englisch von Karin Diemerling

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Dass es im australischen Outback etwas rauer zugeht, damit haben Charlie und Delilah durchaus gerechnet. Immerhin sollte ihr Roadtrip durch die dünn besiedelte Wüste mit ihren eindrucksvollen Felsformationen ja ein echtes Abenteuer werden. Als sie jedoch an einer einsamen Tankstelle halten, begehen Charlie und Delilah den Fehler ihres Lebens: Plötzlich stecken die Touristen mitten in einer mörderischen Verfolgungsjagd, bei der Einheimische eine ganz besondere Beute zur Strecke bringen: sie!

Inhaltsübersicht

Prolog

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Epilog

Danksagung

Prolog

Die Sonne brannte auf den Highway, auf dem ein einzelnes Auto fuhr.

Die junge Frau am Steuer hielt den Blick fest nach vorn gerichtet. Der klare blaue Himmel, das gleißende Licht, der ferne Horizont. Sie drehte sich nicht um, sah nicht in den Rückspiegel.

Sie fuhr schnell, hart am Tempolimit. Die ausgedörrte, weite Landschaft flog zu beiden Seiten vorbei. Sie nahm sie aus den Augenwinkeln wahr, achtete aber nicht weiter darauf, genauso wenig wie auf ihr schmerzendes Bein und ihr hämmerndes Herz. Die Sonne ging unter, der blassblaue Himmel befleckte sich wieder mit Blut, und das Land um sie herum schien in Flammen zu stehen.

Erst da blickte sie in den Rückspiegel.

Erstes Kapitel

Jetzt

Frank wurde von Schüssen geweckt und war schon halb zur Tür hinaus, ehe er merkte, dass er geträumt hatte. Er schloss kurz die Augen, schluckte und ging im Dunkeln zurück zum Bett. Setzte sich und atmete gleichmäßig, bis das Zittern aufhörte.

Wieder dieser Traum. So lebhaft und realistisch, weil es kein Traum war, nicht nur. Eine Erinnerung an Bäume und tote Augen in der Dunkelheit, Gelächter und Schüsse, die in seinen Ohren widerhallten, der Kupfergeschmack von Blut.

Er fuhr sich mit der Hand durch die schütteren Haare, stand wieder auf und ging hinaus in den Flur. Einen Moment lang lauschte er an Allies Tür, hörte aber nichts. Also hatte er wohl nicht geschrien. Erleichtert betrat er das Bad und machte das Licht an.

Er wusste nicht, ob er es tröstlich fand, dass er kein bisschen mehr wie der Mann aussah, der diesen Albtraum durchlebt hatte. Wie er da in seinen Boxershorts vor dem zersprungenen Spiegel stand, machte er nicht mehr viel her. Die sanfte Wölbung seines Über-fünfzig-Bauchs drohte, bald nicht mehr sanft zu sein, und mit seinem hageren Gesicht, den eingesunkenen Augen und grauen Haaren wirkte er gut zehn Jahre älter, als er war.

Rasch putzte er sich die Zähne, kehrte ins Schlafzimmer zurück und zog sich im Dunkeln an. Er brauchte keinen Strom, um seine Sachen zu finden, die immer am selben Platz lagen. Nachdem er ein Flanellhemd in seine Jeans gestopft hatte, schnürte er seine Boots und ging in die Küche. Wünschte, die zuckenden Traumbilder würden aufhören, in seinem Kopf herumzuspuken.

Er öffnete den Küchenschrank und nahm die Müslimischung heraus, die er immer von der Raststätte für Allie mitbrachte. Zusammen mit einer Schüssel und einem Löffel stellte er sie auf den Platz, von dem er annahm, dass sie dort saß, fand dann, dass es zu akkurat aussah, und verrückte alles ein bisschen. Er sah zum Kühlschrank hin, wie jedes Mal unsicher, ob er die Milch schon herausnehmen sollte oder nicht. Er wusste nicht, wie lange Allie schlief, und es wurde tagsüber heiß zu dieser Jahreszeit. Etwas anderes wäre es, wenn er das Gefühl hätte, sie einfach fragen zu können, aber verschlossen, wie sie war, würde sie das wohl als zudringlich empfinden. Er war genauso in ihrem Alter, dachte er mit einem schiefen Lächeln. Kein Wunder, dass Nick Schwierigkeiten mit ihr hatte; sein Sohn konnte es noch nie leiden, wenn man Dinge für sich behielt.

Der Anruf war vor gut einer Woche gekommen. Frank hatte gerade vor dem Fernseher gesessen und überlegt, ob er versuchen sollte, das Bild schärfer zu bekommen, indem er die verbogene Antenne richtete, als das Telefon klingelte. Im ersten Moment war er nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. Nicht mal Telefonverkäufer wussten, wie man ihn erreichte.

Mit einem Anflug von fast vergessener Angst war er rangegangen. Das wurde nicht besser, als er die Stimme am anderen Ende hörte: ernst und gesetzt. Es klang offiziell. Erst als die Stimme stockte und seinen Namen nannte, begriff er.

»Nick«, sagte er.

Sein Sohn räusperte sich. »Ja. Also, hm, wie geht’s dir so?«

Frank sah die Küche auf einmal mit Nicks Augen und fragte sich, warum er sie nicht ein bisschen hergerichtet, wenigstens ein Bild aufgehängt hatte. »Gut.«

Schweigen.

»Und du?«

»Viel zu tun mit den Jahresendberichten und alledem. Bei Emily das Gleiche, aber sonst ist sie wohlauf.«

Frank hatte nicht nach seiner Schwiegertochter gefragt; andererseits würde sie sich auch nicht nach ihm erkundigen.

Neues Schweigen. Frank merkte, wie sehr er sich danach sehnte, etwas sagen zu können. Eine Begleiterscheinung des langen Alleinlebens war, dass man verlernte, Small Talk zu machen.

»Hör mal.« Nicks Stimme wurde ein wenig tiefer, wie immer, wenn er selbstsicher klingen wollte. »Ich rufe an, weil ich dich um einen Gefallen bitten möchte. Wir sind gerade ein bisschen im Stress hier, und Allie, na ja, sie ist vierzehn, weißt du. Voll der Teenieterror oder wie man das nennt.«

Frank wusste nicht, wie man das nannte.

»Ich glaube, sie … na ja, es sind wahrscheinlich nur Wachstumsschmerzen oder so, aber sie hat in letzter Zeit ein bisschen Mist in der Schule gebaut. Sie hat sich geprügelt und … es ist einfach so, dass Emily und ich uns nur begrenzt um sie kümmern können in der jetzigen Situation. Und selbst wenn wir alle Zeit der Welt hätten, würde das nicht viel nützen, habe ich das Gefühl. Du weißt ja, wie das ist in dem Alter, die Eltern sind dein größter Feind.« Nick klang nervös, sprach immer schneller. Worum auch immer er ihn bitten wollte, es fiel ihm schwer, damit herauszurücken. »Also haben wir hin und her überlegt und gedacht, ob nicht vielleicht eine Luftveränderung das Beste wäre, verstehst du. Damit Allie mal … mal aus allem rauskommt und die Dinge mit anderen Augen sieht.«

Frank umklammerte das Telefon. Eine neue Furcht beschlich ihn, Furcht vor etwas, mit dem er absolut nicht umgehen konnte.

»Also, Emilys Eltern wohnen ja nun mal in Übersee und … und du bist ganz allein dort draußen, deshalb, na ja, wäre es vielleicht auch für dich gut?«

»Was wäre gut?«

»Wenn du … wenn sie eine Weile bei dir wohnen würde.«

Frank lehnte sich an die Spüle. Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren, suchte nach Ausreden. Was zum Teufel sollte er mit einem mürrischen Teenager anfangen, der gelangweilt hier herumhing? Er konnte ja kaum für sich selbst sorgen, wüsste nicht, was er mit ihr reden sollte, und das Haus … Die Küche sah auf einmal sehr viel schlimmer aus als einfach nur spartanisch. Der umherkriechende Schimmel hinter der Spüle, die Spinnweben in den Ecken, der schief stehende Kühlschrank; alles so unübersehbar und deprimierend, nur ein paar der zig Makel und Fehler in seinem Leben, von denen er wirklich nicht wollte, dass sein Sohn davon erfuhr.

»Nick, hör mal …«

»Du würdest uns wirklich einen Gefallen tun, Dad. Einen großen.«

Er hörte das Flehen in Nicks Stimme, das er so angestrengt hinter seiner Beherrschtheit zu verbergen suchte. Das letzte Mal, als er so mit ihm gesprochen hatte, hatten sie noch unter einem Dach gewohnt, und er war zu betrunken gewesen, um anders darauf zu reagieren, als ins Bett zu kriechen und sich tot zu stellen.

»Okay«, sagte er. »Okay, ab wann hattest du gedacht?«

Danach war alles ganz schnell gegangen, schneller, als er es gewohnt oder ihm lieb war. Und jetzt mussten sie sehen, wie sie zurechtkamen.

Wie jeden Morgen blieb er einen Augenblick auf der Veranda stehen. Sein Holzschindelhaus war klein und mehr als bescheiden, aber er hatte schließlich nicht die Absicht, irgendwen zu beeindrucken. Vor ihm, hinter der dunklen, gewundenen Linie der ungeteerten Zufahrt, erstreckte sich eine Fläche aus sanft schwankendem, langem braunem Gras, bis hin zu der gerade noch erkennbaren Rückseite der Raststätte, hinter der unsichtbar der Highway lag und der weite, vom ersten Schimmer des Morgengrauens zum Leben erweckte Horizont. Er atmete tief ein. Die Luft war bereits sehr warm und roch nach nichts als Erde. Manchmal, wenn es geregnet oder in der Nähe ein Buschfeuer gebrannt hatte, war es anders. Dann roch es lebendig und frisch oder nach Gefahr. Sonst immer nur nach Erde. In der Ferne wurden die Finger der um sich greifenden Morgenröte zusehends länger. Frank dachte nicht daran, aufs Quad zu springen oder ins Auto zu steigen. Er liebte seinen Morgenspaziergang, und es müsste schon ein ungewöhnlich betriebsamer Tag sein, wenn jemand vor dem Mittag vorbeikäme.

Von seinem Haus bis zur Raststätte war es nur knapp ein Kilometer, ein Kilometer trockene Steppe und harter Boden mit unregelmäßigen Erhebungen und plötzlichen Gräben. Frank kannte das Gelände mittlerweile ziemlich gut. Das Grasmeer mochte die Konturen verdecken, aber der immergleiche tägliche Spaziergang hatte alles Unvorhersehbare getilgt. Als er das Ganze vor fast zehn Jahren gekauft hatte, hatte der vorige Eigentümer ihm erzählt, dass das Wohnhaus als Keimzelle einer Farm gedacht gewesen sei, ehe das Land sich als zu rau und unzähmbar erwiesen habe. Was nicht gerade ein tolles Verkaufsargument gewesen war, aber Frank hatte die Vorstellung gefallen. Das Gras wuchs schnell, und der Boden darunter wehrte sich dagegen, geglättet oder irgendwie nutzbar gemacht zu werden. Viel Glück damit, irgendetwas anzupflanzen, das nicht schon von selbst dort wuchs. Die Raststätte und das Haus verschmolzen mit der Umgebung, die Beschaffenheit der Landschaft tarnte beides für das ungeübte Auge. Wenn man zur Tür hinaustrat, besonders um diese Zeit am Morgen, konnte man meinen, ringsherum auf eine endlose Grassteppe zu blicken, die Schlangen und sonst fast nichts beherbergte. Eine von Allies wenigen Fragen an ihn hatte gelautet, ob er je gebissen worden sei, doch er hatte schon vor langer Zeit gelernt, sich vor ihnen zu hüten.

 

Allie saß an die Wand gelehnt auf ihrem schmalen Bett. Sie hatte Franks schwere Schritte im Haus gehört. Hier und da war er stehen geblieben, doch sie hatte sich nicht gerührt. Erst als die Haustür hinter ihm zufiel, stand sie auf, wartete aber immer noch ein paar Augenblicke, ehe sie hinaus in den Flur ging.

Sie mochte ihr Zimmer nicht. Auch wenn Frank geputzt und versucht hatte, es ein bisschen wohnlicher zu machen mit den in eine Vase gestopften halb welken Blumen und eselsohrigen alten Büchern auf dem Nachttisch, kam doch nichts gegen den Staubgeruch von Vernachlässigung an, der das ganze Haus erfüllte. Es war ein Drecksloch mitten in der Pampa, und dass ihre Eltern glaubten, so etwas würde ihr guttun, zeigte nur, wie wenig Ahnung sie hatten.

Eigentlich wollte sie nicht so denken. Sie hatte sich ernsthaft vorgenommen, nett zu Frank zu sein, sich zu bemühen, mit ihm auszukommen, und sei es nur, um ihrer Mutter eins auszuwischen. Aber er machte es ihr wirklich schwer, brachte kaum mehr als zwei Worte auf einmal heraus, war den ganzen Tag drüben in der Raststätte und lümmelte sich abends vor den Fernseher, um sich irgendeine uralte Show anzusehen, die er wahrscheinlich nicht mal selber mochte.

»Also, wenn es ganz schlimm ist, kannst du uns anrufen«, hatte ihre Mutter in diesem geheuchelt fröhlichen Ton gesagt, mit dem sie auch immer beteuerte, dass zwischen ihr und Dad alles gut sei. »Aber ich erwarte von dir, dass du dich wie eine Erwachsene benimmst, okay? Es ist eine tolle Erfahrung, und manchmal müssen wir eben unsere Komfortzone verlassen.«

Dummerweise wusste Allie, dass sie es noch wenige Tage zuvor nicht für eine tolle Erfahrung gehalten hatte. Da hatten ihre Eltern sich nämlich laut über die Idee, sie hierherzuschicken, gestritten. Doch das war typisch ihre Mutter. Alles konnte in ein bescheuertes Lernerlebnis umgemünzt werden.

Allie ging in die kleine Küche – sie bestand aus nicht viel mehr als einer Arbeitsplatte und einer Spüle, einem alten Herd, einem ächzenden Kühlschrank, der etwas zu groß für den Raum war, und einem Tisch mit zwei Stühlen. Frank schien nur ein paar wenige Teller und Tassen zu besitzen und ein bisschen nicht zusammenpassendes Besteck. Sie blickte auf die Müslipackung und die Schüssel, säuberlich angeordnet wie jeden Morgen. Normalerweise räumte sie alles einfach wieder weg. Sie mochte kein Müsli, aber es wäre ihr undankbar vorgekommen, sich zu beschweren. Sie zog den Stuhl heraus und setzte sich. Das schreckliche, hohle Gefühl in ihrem Bauch war wieder da. Es war schwer zu ignorieren, wenn man stundenlang hier allein festsaß, umgeben von diesen dünnen Wänden, die ebenso gut dick und hoch wie Gefängnismauern hätten sein können. Dieses quälende Gefühl, dass sie tun konnte, was sie wollte, und trotzdem immer jemand anders über den Ausgang bestimmte. Wenn sie sich gegen Hannah Bond behauptete, wurde sie vom Unterricht ausgeschlossen. Wenn sie den Kopf einzog und sich unauffällig benahm, wurde sie hierher zu Franks Schweigen und seinem Müsli geschickt.

Immerhin machte es ihr inzwischen nichts mehr aus, beinahe jeden Morgen in aller Frühe von einem Schrei aus seinem Zimmer geweckt zu werden, sosehr sie das anfangs erschreckt hatte. Dadurch wirkte er wenigstens doch ein bisschen lebendig.

 

Eine Raststätte zu führen hatte nicht ganz oben auf der Liste seiner Lebensziele gestanden, als Frank jung war. Andererseits hatte eigentlich nie viel darauf gestanden, und als die Jahre vergingen und die Möglichkeiten schrumpften, stellte er irgendwann fest, dass er irgendeine unausgegorene Wunschvorstellung von Einsamkeit und Routine in sich trug. Den Laden samt Haus hatte er für ’n Appel und ’n Ei gekauft, die ganze Katastrophe umfasste nicht mehr als achttausend Quadratmeter. Er hatte sich in der Stille eingelebt und gehofft, dass sie mit der Zeit auf ihn abfärben würde.

Die Raststätte mit ihren Zapfsäulen lag gut hundert Meter von der Fahrbahn zurückgesetzt. Die nächsten Ortschaften in jeder Richtung waren mehrere Stunden entfernt, und Franks Auskommen beruhte darauf, dass sein Laden die einzige Anlaufstelle für Proviant und Benzin in einem der ödesten Teile des sogenannten zivilisierten Australien darstellte. Zu grasbewachsen für eine Wüste, zu hässlich für Touristen, zu trocken für Ackerland. Das Aufregendste, was einem im Umkreis von vielen Kilometern begegnen konnte, waren eine Handvoll heruntergekommener alter Scheunen, hier und da eine rostige, quietschende Windmühle und vielleicht ein paar Überreste von alten Landmaschinen, die einfach irgendwo abgeladen worden waren in der Gewissheit, dass keiner sie bemerken oder deswegen Ärger machen würde. Niemand kam hier heraus, wenn er nicht einen verdammt guten Grund dafür hatte. Die meisten fuhren einfach nur durch und hatten diesen Flecken und den mürrischen Mann, der sie bediente, schon wieder vergessen, kaum dass sie zurück auf dem Highway waren und auf irgendein lohnenswertes Ziel zusteuerten.

Die Sonne ging gerade auf, als Frank den kleinen betonierten Hof hinter dem Rasthaus überquerte. Er schloss den Hintereingang auf und betrat einen tristen, aber ordentlichen Lagerraum. Ohne Licht anzumachen, ging er durch den angrenzenden Flur in die Küche. Dort schaltete er die Deckenlampe und das Frittiergerät an. Ein leicht widerlicher Fettgeruch hing im Raum, was nicht ideal war, schätzte Frank, aber den Gästen, die verzweifelt genug waren, hier zu essen, schien es nichts auszumachen. Er hielt alles sauber genug, um den Hygieneanforderungen zu genügen, und tat ansonsten kaum mehr, als Tiefkühlkost zu frittieren. Da konnte man nicht viel falsch machen.

Von der Küche ging ein enger, gefliester Essbereich ab, mit drei Tischen und einem Blick durch eine große Fensterfront auf seine zwei Zapfsäulen, den Highway und die Grasebene dahinter. Die Rigipswand rechts wurde von einer großen Glasschiebetür unterteilt, die in den eigentlichen Shop hinüberführte und die Frank gewöhnlich offen ließ. Der Shop bestand aus einem großen Raum mit drei Regalen voller Snacks, Autozubehör und ein paar alten Zeitschriften sowie einer wackeligen Fliegengittertür gleich gegenüber den Tanksäulen. Im hinteren Bereich gab es eine Theke samt Kasse, von wo aus Frank die Tankanlage im Auge behalten und durch die Zwischentür hinter sich ins Lager oder über den Flur in die Küche gelangen konnte. Er bemühte sich, alles halbwegs gut in Schuss zu halten, machte sich aber keine Illusionen. Niemand erwartete von einer Raststätte am Ende der Welt, besonders anregend oder anheimelnd zu sein. Sie hatte für Rast und Treibstoff zu sorgen, und das konnte er bieten.

Diese fast trotzigen Gedanken hatten sich bei Allies Ankunft eingestellt, als Nick mit seinem Allrad-SUV vorgefahren war. Frank hatte gerade halbherzig Inventur gemacht, und obwohl er den Wagen nicht kannte, war ihm das Herz in die Hose gerutscht.

Er hatte sein Notizbuch abgelegt und versucht, erfreut dreinzusehen, als sie hereinkamen. Nick mit einem Gesichtsausdruck, der vermutlich seinen eigenen widerspiegelte, Allie hinterdreinschlurfend, ein dünnes Ding in einem überweiten Hoodie und engen Jeans, obwohl es schon über dreißig Grad waren. Sie würdigte ihn keines Blickes, sondern sah sich mit zunehmender Verzweiflung in der Raststätte um. Was genügte, damit Frank eine Entschuldigung brummen und sich im Lagerraum einsperren wollte, bis Nick zu der Einsicht kam, dass es am besten war, seine Tochter wieder mitzunehmen und die Sache als einen dummen Irrtum abzuschreiben.

Stattdessen gab er Allie die Hand, die vor sich hin starrte und irgendetwas murmelte, das Nick ihr wahrscheinlich eingetrichtert hatte. Dann holte sie ihr Handy heraus und verzog sich in den Essbereich, von wo sie sich nicht mehr fortbewegte, bis Nick weggefahren war und Frank den Vorschlag machte, ihr das Haus zu zeigen. Ihr Blick, als sie durch die vordere Gittertür trat, hatte ihn beinahe dazu bewogen, Nick anzurufen und auf der Stelle zurückzuholen. Doch er hatte sich zusammengenommen, und so hatte die größtenteils schweigsame gegenseitige Duldung begonnen, mit der sie nun lebten. Nick hatte von zwei Wochen geredet, was Frank allerdings eher wie zehn Jahre vorkam.

Als die Sonne über dem Horizont stand, war die Raststätte voll betriebsbereit. Er füllte die Regale auf, kontrollierte die Zapfsäulen und ließ sich dann hinter der Theke nieder, um sein Buch zu lesen. Gelegentlich sah er auf, wenn er eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm, aber die wenigen Autos, die vorbeikamen, hielten nicht an. Hatten wohl schon in Coogan getankt. Er las weiter.

Beinahe überrascht hörte er am späten Nachmittag einen Kleinbus heranfahren. Ein junges Paar stieg aus und kam kurz darauf herein. Der Typ war lang und dünn, ein Schlaks mit ungekämmten blonden Haaren und großen, unsteten Augen. Er trug ein schwarzes T-Shirt und ausgewaschene Jeans. Das Mädchen, klein, schlank und attraktiv, braune Haare und eine entspannte Haltung, trug ein weites Hanfshirt, eine Thai-Fischerhose und Sandalen. Ihr Bus war nicht mit einem Regenbogen und psychedelischen Mustern bemalt, aber er schätzte, dass sie dieses Versäumnis in der nächsten Stadt nachholen würden.

»Funktioniert nicht«, sagte das Mädchen mit englischem Akzent.

Frank legte sein Buch ab.

»Die Benzinpumpe«, erklärte sie. »Können Sie mal nachsehen?«

Der Junge betrachtete derweil die Regale. Die junge Frau stemmte die Hände in die Hüften, erwartungsvoll, ungeduldig.

Frank stand auf. Mit den Händen in den Hosentaschen ging er zur Tür, ließ sich Zeit. Der Typ sah ihn kein einziges Mal an, während seine Freundin beobachtete, wie er das Fliegengitter öffnete und hinaus in die Sonne trat. Die von einem leuchtend blauen Himmel brannte, den man hätte schön finden können, wenn die Hitze einem nicht das Gefühl gegeben hätte, in einer Sauna eingesperrt zu sein.

Wie erwartet, lag es am Griff des Einfüllstutzens, der etwas schwergängig war. Frank drückte ihn fest, Benzin schoss heraus. Er drehte sich zum Laden um, sah durchs Fenster. Die Hippies standen jetzt ein Stück näher am Tresen. Frank hängte den Stutzen ein und musterte flüchtig ihr Auto. Eine halb leere Weinflasche lag auf dem Beifahrersitz. Er ignorierte das Ziehen in seiner Brust und ging wieder hinein.

»Alles in Ordnung«, sagte er.

Der Typ zuckte zusammen. Er war nur noch einen knappen Meter vom Tresen entfernt.

»Sind Sie sicher?«, fragte die junge Frau. Schwer zu sagen, ob ihre Verwirrung gespielt war oder nicht.

»Geht bloß ein bisschen schwer, das ist alles«, sagte Frank und kehrte an seinen Platz hinter der Theke zurück. »Kann ich sonst noch was für Sie tun?« Er widerstand dem Drang, betont zur Kasse zu blicken. Nicht nötig, Ärger heraufzubeschwören, solange nichts passiert war.

Das Mädchen warf seinem Partner einen vernichtenden Blick zu. »Geh und betätige deine Muskeln, Babe.«

Der Typ verzog sich kopfschüttelnd nach draußen. Frank behielt die junge Frau im Auge.

»Kann ich sonst noch was tun?«, wiederholte er.

Sie biss sich auf die Lippen, sprach auf einmal leiser. »Ich hätte gern ein Päckchen Zigaretten. Menthol, die billigsten.«

Frank drehte sich zu dem Schränkchen hinter ihm um, schob die Glastür auf und fuhr mit der Hand über die Weichpackungen, prüfte dabei die handgeschriebenen Preisangaben.

»Entschuldigung.« Sie klang jetzt dringlich. »Macht es Ihnen etwas aus, sich zu beeilen?«

Frank ließ sich nicht hetzen. Er zog die Marke heraus, die ihm die günstigste zu sein schien, und warf sie auf die Theke, genau in dem Moment, als ihr Typ wieder hereinkam.

»Bitte sehr«, sagte Frank.

»Ich dachte, du hättest aufgehört.« Der Junge klang vorwurfsvoll.

»Ja, äh, war gelogen«, murmelte sie, während sie bezahlte. »Sorry, Charlie, ich weiß, ich bin ein schrecklicher Mensch und so.«

Charlie lachte nicht. »Die sind echt schädlich.«

»Ich weiß, aber ich reduziere sie schon, Babe. Das ist meine letzte Packung, versprochen.« Sie nickte Frank zu. »Sie rauchen doch auch, oder? Sie verstehen das.«

»Nee«, sagte Frank. »Ist schädlich. Sonst noch was?«

»Was zu essen wäre gut«, sagte Charlie. »Del?«

Sie gingen zusammen in den Essbereich hinüber. Frank hoffte, dass sie nicht wählerisch waren, während er hintenherum in die Küche schlurfte.

»Gibt es irgendwas Vegetarisches?«, rief das Mädchen – Del? – ihm zu.

»Sie könnten die Veggie-Pie probieren, aber keine Garantie.«

Ihr Mund verzog sich, als wäre sie kurz vorm Lachen. »Ich riskier’s.«

Frank schob eine vegetarische Pastete und eine mit Rindfleisch in die Mikrowelle. »Seid ihr schon lange in Australien?«, fragte er, als er die Teller zu ihrem Tisch trug.

»Sechs Monate«, sagte Charlie.

»Zwei Jahre«, ergänzte das Mädchen. »Fast schon eine Einheimische.« Charlie verdrehte die Augen. »Ich bin übrigens Delilah, und das ist Charlie. Und Sie?«

»Frank«, sagte er und setzte sich an den Nachbartisch. »Weiß nicht, was ihr hier draußen wollt. Gibt nicht gerade viel zu sehen.«

»Ich würde gern behaupten, dass wir einen ernsthaften, triftigen Grund haben«, flapste Delilah, »aber ich fürchte, Charlie ist einfach irgendwo falsch abgebogen. Aber es ist trotzdem cool, ein bisschen auf Entdeckungstour zu gehen. Gegenden zu sehen, an denen andere Leute vorbeifahren.«

»Glauben Sie einem, der in einer Gegend lebt, an der die Leute vorbeifahren«, sagte Frank. »Es gibt Interessanteres zu sehen.«

»Haben wir alles schon gemacht«, entgegnete Charlie. »Die Harbour Bridge, die Oper, Flinders Street Station in Melbourne, das Great Barrier Reef …«

»Daintree Rainforest, Nullarbor-Wüste, Uluru«, fügte Delilah hinzu. »Wir haben alle Sehenswürdigkeiten abgehakt.«

»Na, dann habt ihr mehr von den schönen Seiten des Landes gesehen als ich«, bemerkte Frank. »Keine Ahnung, warum ihr noch hier seid.«

Ein Knarren hinter ihm. Er drehte sich um und sah Allie in dem Durchgang zur Theke stehen. Ihre schwarzen Haare hingen ihr in das zarte, dunkelhäutige Gesicht, und ihre braunen Augen wurden schmal, als sie von ihm zu dem jungen Paar blickte.

Eine absurde, beinahe panische Verlegenheit ergriff Frank. Auf keinen Fall wollte er, dass Fremde mitbekamen, wie er den Großvater für ein Mädchen spielte, das kein Interesse an ihm hatte. Nicht dass es ihn kümmerte, was Charlie und Delilah dachten, es wäre ihm nur lieber, wenn sie nichts von der Befangenheit zwischen ihnen merken würden. »Meine Enkelin, Allie«, sagte er und hoffte, angemessen zärtlich zu klingen. »Bist du gekommen, weil du Hunger hast, Liebes?«

Allie antwortete nicht. Ihr Schweigen war oft schwer zu deuten, aber da sie extra vom Haus herübergekommen war, nahm er an, dass es diesmal »ja« hieß. Schnell entschuldigte er sich und ging in die Küche. Allie folgte ihm und besah sich das Angebot mit offensichtlichem Widerwillen.

»Ich könnte dir was anderes machen«, schlug er vor.

»Was liest du da?«

Frank stutzte.

»Das Buch«, sagte sie. »Auf der Theke.«

»Ach so. Der weiße Hai«, sagte er. »Nicht so gut wie der Film, aber ohne DVD-Player …« Er hatte einen Scherz draus machen wollen, was nicht so richtig gelang.

Allie zupfte an ihrem Ärmel herum. »Ich wusste nicht, dass du gern liest. Ich wollte dir ein Buch kaufen, aber Mum … Jedenfalls, habe ich dir deshalb das Fernglas mitgebracht.«

Frank blinzelte überrascht. Nicht wegen der Einmischung ihrer Mutter – er konnte sich Emilys selbstgefälliges Kichern über den Vorschlag mit dem Buch gut vorstellen –, sondern weil Allie von sich aus daran gedacht hatte, ihm etwas mitzubringen. Er hatte angenommen, das Fernglas wäre Nicks Idee gewesen.

»Na, dann eben beim nächsten Mal«, sagte er. »Nicht dass du mir etwas zu schenken brauchst.« Beinahe hätte er etwas in dem Sinn hinzugefügt, dass ihr Besuch Geschenk genug sei, aber er bremste sich, wollte nicht schmalzig oder gezwungen klingen.

»Ich nehme einen Burger«, sagte Allie. »Keine Pickles.«

Frank brauchte nicht lange, um ein tiefgefrorenes Fleisch-Patty zu braten und ein Burger-Brötchen zu toasten. Er fügte ein paar schlaffe Salatblätter und wässrige Tomatenscheiben hinzu und quetschte einen Klacks Barbecuesoße obendrauf. Dann tat er alles auf einen Teller, und Allie trug ihn in den Essbereich, wo sie sich so weit weg wie möglich von den beiden Travellern setzte und mit gesenktem Kopf aß. Frank sah nicht nach, ob das englische Pärchen sie beobachtet hatte. Er wollte es nicht wissen.

Gerade dachte er daran, sich gleich auch selbst etwas zu essen zu machen, als er es hörte. Lautes Reifenquietschen. Er fuhr herum und sah einen alten Kombi seltsam quer zu den Zapfsäulen halten. Die Schnauze war knapp an einer davon vorbeigeschrammt und zeigte nun auf die Raststätte.

Frank wartete, dass der Fahrer zurückstieß und richtig parkte. Nichts passierte.

Er ging durch den Gastraum zum Eingang, vorbei an Charlie und Delilah, die mit großen Augen hinausstarrten, und öffnete die Gittertür.

Da er das Auto jetzt deutlicher sah, spürte er ein kribbelndes Unbehagen. Es war nicht nur alt, sondern zerbeult. Und …

Die Fahrertür ging auf. Jemand taumelte heraus.

Sie schien jung zu sein, vielleicht nicht viel älter als Allie, aber es war schwer zu sagen. Wie sie sich da vor dem Nachmittagshimmel abzeichnete, wirkte sie kaum menschlich. Sie war von Kopf bis Fuß mit einer dunklen Kruste überzogen, einer Mischung aus getrocknetem Schlamm und Blut, erkannte er. Schwankend machte sie ein paar Schritte auf ihn zu. Ihre dunklen Augen, die aus ihrem schmutzverkrusteten Gesicht und den verklebten, wirren Haaren hervorleuchteten, bohrten sich in ihn.

Sie öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, schwankte und brach auf dem Betonboden zusammen.

Zweites Kapitel

Vorher

Anfangs hatte Simon die langen Highways genossen, die an ausgedehnten Weiden mit grasenden Kühen vorbeiführten und sich kilometerlang durch weites, dürres Buschland wanden. Berge ragten im Hintergrund auf, gezackte Felsformationen wuchsen aus der sonst flachen Landschaft heraus, und kleine Orte mit schlichten braunen, um Kriegsdenkmäler gruppierten Häusern folgten im Abstand von wenigen Minuten aufeinander. Darüber spannte sich ein endlos blauer Himmel, über den langsam die brennende Sonne wanderte. Hin und wieder tauchte eine Wolke auf, von der kleinen, bauschigen, trägen Sorte, die nur das Blau unterbrach, statt Regen anzudrohen. Das alles war wunderschön und kontrastreich: die Farbe des Himmels, die Trockenheit des Landes, dazu das Gefühl, dass dies Australien war, der Kontinent krasser Extreme, nie richtig gezähmt. Zufrieden und dankbar hatte er seine Umgebung in sich aufgenommen.

Nach dem ersten Tag hatte er angefangen, Musik und Hörbücher zu hören, dann aber wieder ausgeschaltet, um erneut die Landschaft auf sich wirken zu lassen und das Erlebnis nicht zu verwässern. Das Problem war nur, dass es einem nach Stunden um Stunden in einem heißen Kombi mit schlecht funktionierender Klimaanlage schwerfiel, irgendetwas richtig auf sich wirken zu lassen. Außerdem beschlich ihn langsam der Verdacht, dass er im Kreis fuhr, denn er hätte schwören können, an genau dieser Weide mit genau diesen Kühen schon mindestens sechsmal vorbeigekommen zu sein. Ohne Gesellschaft gab es keine Ablenkung, nichts, was darüber hinwegtäuschen konnte, wie langweilig die Fahrt allmählich wurde. Beim Blick in den Spiegel fand er, dass er etwas mitgenommen aussah, unrasiert, verquollene Augen und ein schweißglänzendes Gesicht. Was ihn im Grunde nicht störte, so kam er sich bodenständiger vor, nicht bloß ein braver Musterstudent auf einem bescheuerten Selbstfindungstrip. Seinen Freunden zu Hause hatte er zu erklären versucht, dass es mehr war als das, war jedoch gegen ihre Witzeleien nicht angekommen. Auch nicht gegen das ungute Gefühl, dass der Spott womöglich gerechtfertigt war. Neue Erfahrungen zu suchen war eine tolle Idee, solange man in seiner Wohngemeinschaft auf dem Sofa lag und Kerouac las. Weniger toll war es, wenn der Entschluss, einfach der Straße zu folgen, immer nur noch mehr Straße mit sich brachte. Und wenn bei der ganzen Fahrerei selbst ein großzügig bemessenes Benzinbudget allmählich naiv zu wirken begann. Das hätte er vielleicht bedenken sollen, bevor er zu einem Roadtrip mit mehr Asphalt als interessanten Orten, an denen man haltmachen konnte, aufbrach.

Was er brauchte, war ein Fleckchen, wo er ein paar Tage bleiben, sich entspannen und Dinge sehen konnte, die es zu Hause in Melbourne nicht an jeder Ecke gab. Etwas Echtes, Ursprüngliches, nicht so wie die wenigen vielversprechenden Nester, an denen er angehalten hatte, nur um festzustellen, dass sie voller Stadtmenschen waren, wie er einer war, die alle nach einer Zuflucht suchten, aber eigentlich nur ihren Alltag ein paar Breitengrade weiter westlich verlagert hatten. So lange zu sparen, um »sich Australien anzusehen«, erschien plötzlich ziemlich dumm, wenn die einzigen sich bietenden Erfahrungen kleinstädtische Versionen des Altbekannten waren. Simon fuhr an den Rand und sah auf seine Karte, eine ziemlich alte, die er ein paar Wochen zuvor in einem Antiquariat in Brunswick gekauft hatte. Schwer abzuschätzen, wie lange diese Ödnis sich noch hinziehen würde und wo er eventuell fündig werden konnte. Falls er richtig las, müsste es etwa hundert Kilometer weiter eine Ortschaft geben.

Nachdem er in einen lohnenden Sonnenuntergang hineingefahren war, der den Horizont in ein pink-oranges Flammenmeer verwandelt hatte, stieß er auf eine Reihe von Läden und Wohnhäusern – dem Schild »Welcome to Cotham« zufolge offenbar ein Städtchen. Nicht weit von einem hell erleuchteten Pub in einem Haus aus Bluestone, das, von scheinbar nirgendwohin führenden Seitenstraßen eingerahmt, allein auf einem kleinen Grundstück stand, hielt er. Er stieg aus und streckte sich. Durch einen letzten Rest von Tageslicht war der Himmel noch eher samtblau als schwarz, und er nahm sich einen Moment Zeit, um zu beobachten, wie die Dunkelheit zunahm und die Sterne hervorkamen. So etwas ließ einen nicht kalt.

Er vergewisserte sich, dass er den Wagen abgeschlossen hatte, und ging in den Pub. Es war nicht viel los, aber eine Tafel verkündete, dass später eine Band spielen würde. Das klang schon mal gut. Er setzte sich an den Tresen, bestellte ein Bier bei dem älteren, ein bisschen weggetreten wirkenden Barmann und sah sich um. Irgendwie hatte er etwas Schäbigeres erwartet, aber der Laden war gut gepflegt, wenn auch altmodisch. Natursteinwände, Sitznischen aus Mahagoni und ein Billardtisch vor einem leeren Kamin. Countrymusik lief, und an den Wänden hingen Fotos von irgendwelchen Typen, bei denen es sich vermutlich um Footballstars handelte. Frustriert stellte er fest, dass der Pub auch gut in einen Vorort von Melbourne gepasst hätte. Die Frage war nur, wie er sich hier draußen halten konnte. Vielleicht kamen viele Trucker her. Vielleicht war es eine Fassade zur Geldwäsche. Vielleicht ein geheimes Biker-Klubhaus. Vielleicht sollte er dem Barmann besser keine Fragen stellen.

Als er sein erstes Bier ausgetrunken hatte, hatte sich der Raum etwas gefüllt, vorwiegend mit Männern mittleren Alters, die ihm neugierige Blicke zuwarfen. Nach der Hälfte seines zweiten betrat die Band die Bühne. Die Musiker passten zur Kundschaft, Karohemden und graue Bärte, in die sie lustlos ein paar Worte murmelten, ehe sie anfingen zu spielen.

Simon merkte, dass er auf etwas Überraschendes gehofft hatte, ein Stück echter Folklore, aber nein, es war eine irische Band, zwei Geiger, die wahnsinnig schnell spielten, während ein Drummer den Takt vorgab und eine Flöte dazu trällerte. Sie klangen gut, was um so bedauerlicher war. Sie klangen, als gehörten sie in ein anderes Land. Er trank sein zweites Bier aus und hatte gerade das dritte bestellt, als die Frau hereinkam.

Sie fiel ihm sofort auf. Mittelgroß und schlank, schulterlange schwarze Haare mit dazu passenden großen, dunklen Augen. Fein geschnittene Gesichtszüge, auch wenn um ihr Kinn und in ihrem Blick, den sie durch den Raum schnellen ließ, ein harter Ausdruck lag. Sie war schlicht gekleidet: Jeans, T-Shirt und trotz der Hitze eine weite, abgetragene schwarze Lederjacke. Über einer Schulter hing ein kleiner Rucksack, dessen Riemen sie in der Hand hielt. Sie war ausgesprochen hübsch und vollkommen fehl am Platz hier.

Ein paar von den älteren Typen schienen sie auch bemerkt zu haben, und einige panische Sekunden lang befürchtete Simon, dass er einschreiten und den Ritter würde spielen müssen, aber niemand belästigte sie, als sie zum Tresen ging und sich auf den Barhocker neben ihm setzte. Sie bat um einen Wodka pur, kippte ihn hinunter und bestellte noch einen.

Er merkte, dass er schon ein bisschen beschwipst war. Wie erbärmlich, zwei Pints sollten ihm nichts ausmachen, auch wenn der Flüssigkeitsmangel und kaum mehr als ein Müsliriegel den ganzen Tag über bestimmt nicht halfen. Er nippte an seinem Glas und versuchte, nicht zu dem Mädchen hinzusehen, während die wenigen Gäste höflich klatschten und die Band einen neuen Song anstimmte.

»Magst du irische Musik?«, fragte er.

Sie sah ihn nicht an. »Das ist schottisch.«

»Ja, okay, stimmt.«

Sie trank, er auch.

»Entschuldigung«, sagte er. »Du willst wahrscheinlich in Ruhe gelassen werden.«

»Wie kommst du darauf?«

»Weiß nicht. Du strahlst so was aus.«

»War mir nicht klar, dass ich was ausstrahle.«

»Nur ein bisschen.«

»Aber genug, um zu zeigen, dass ich in Ruhe gelassen werden will?«

»Na ja, ich geh lieber auf Nummer sicher.«

Sie bestellte sich noch einen Drink. »Dagegen ist nichts zu sagen. Andererseits, mal abgesehen von meiner Ausstrahlung, warum sollte ich in einen Pub gehen, wenn ich in Ruhe gelassen werden will? Dann könnte ich auch zu Hause was trinken.«

»Könntest du«, sagte er und nahm einen Schluck von seinem Bier. Vielleicht lag es am Alkohol, vielleicht hatte er auch einfach seinen draufgängerischen Tag. »Warum tust du’s dann nicht? Mal angenommen, ich habe deine Ausstrahlung richtig gedeutet, meine ich.« Er grinste albern.

Endlich sah sie ihn an, und ihre Augen bewirkten, dass er zugleich den Blick abwenden und sie bis in alle Ewigkeit anschauen wollte. »Ich habe kein Zuhause, in dem ich trinken könnte«, antwortete sie. »Und auf der Straße zu trinken habe ich keine Lust. Also bin ich hier.«

»Du bist obdachlos?«

»Genau.« Ihre Miene zeigte keine Regung.

»Aber …« Er merkte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. »Aber du … du siehst gar nicht so aus.«

»Ach so, dann muss ich wohl lügen.«

»Wo schläfst du denn?«

Sie zuckte die Achseln. »Meistens in Motels. Manchmal auch draußen.«

»Wie viele Motels gibt es in diesem Ort?«

»Eins vielleicht. Bin nicht sicher. Ich war noch nie hier.«

»Du reist per Anhalter?«

»Ich nenne es lieber nomadisieren.«

Das klang lächerlich. Simon hielt sich nicht für besonders weltklug, aber er wusste, dass eine junge Frau wie sie sich nicht allein auf einsamen Straßen herumtreiben und irgendwelche Fremden anhalten sollte. Das war gefährlich. Es gab zwielichtige Typen hier draußen. Womöglich, schoss es ihm durch den Kopf, log sie wirklich, oder sie übertrieb, und er sollte auf der Hut vor ihr sein. Doch wenn er sie ansah, spürte er nichts als eine wachsende Faszination, durchsetzt mit noch etwas anderem, einer Art kribbelnder Erregung.

»Und was ist mit dir?«, fragte sie. »Stadtkind?«

»Wie kommst du darauf?«

»Du siehst so aus.«

»Wie sehen Stadtkinder denn aus?«

»Würde sagen, wie du oder ich.«

Da hatte sie nicht unrecht. Er trank sein Bier aus und hob die Hand, um noch eins zu ordern. Erst da merkte er, dass sie ihn immer noch musterte.

»Was?«, fragte er dämlich.

»Ich warte darauf, dass du dich vorstellst.«

»Ich …« Er wurde schon wieder rot. Mist, er war aus der Übung. »Ich heiße Simon. Und du?«

»Maggie.«

»Kurzform von Margaret?«

»Langform von Maggie.« Sie trank aus. »Eine Runde Billard?«

Zwei drahtige Männer in Unterhemden und mit Zigaretten hinter dem Ohr beendeten gerade eine Partie. Maggie legte eine Zweidollarmünze auf den Rand des Pooltisches, ohne sie oder ihre zudringlichen Blicke zu beachten, und ging zu dem Stehtisch an der Seite, den Simon derweil besetzt hatte. Er hatte eine neue Runde geholt, obwohl seine Reisekasse ihm nicht mehr viele Drinks gestattete. Seine ängstlichen Berechnungen beschämten ihn, doch Maggies Lächeln, als sie ihr Glas hob, brachte ihn schnell auf andere Gedanken.

Simon setzte den Queue für den Anstoß an und wünschte fast, er hätte sich nicht auf die Partie eingelassen. Poolbillard war eine Universalsprache, die er noch nie gut beherrscht hatte, schon gar nicht, wenn er betrunken war, obwohl er eigentlich nur dann spielte. Er bemühte sich, lässig und entspannt zu wirken, während er sich darauf konzentrierte, das Dreieck der Kugeln so hart wie möglich zu treffen, um dieses befriedigende Klacken zu hören, das er mit guten Spielern verband. Es war kein toller Break, aber Maggie machte keine Bemerkung, als sie sich über den Tisch beugte und locker eine Kugel versenkte. Dabei erhaschte er einen Blick auf eine kleine runde Narbe unterhalb ihres Schlüsselbeins, wie von einer Brandwunde durch eine Zigarette. Ihr zweiter Stoß verfehlte das Ziel, und Simon nutzte die günstige Position der weißen Kugel, um zu lochen, wobei er sich mehr konzentrieren musste, als er sich eingestehen wollte. Sein nächster Versuch ging vorhersehbarerweise daneben.

»Bin außer Übung«, gestand er.

Maggie versenkte grinsend eine weitere Kugel und dann noch eine. »Ja, ich auch.«

Simon lachte. Eine Zeit lang spielten sie schweigend, verfehlten meistens, lochten manchmal. Er war so sehr darauf aus, sich nicht zu blamieren, dass er eine Weile brauchte, um mitzukriegen, dass sie ihn mit einem beinahe nachdenklichen Blick beobachtete.

»Was ist?«, fragte er.

»Na ja, ich habe dir meine Geschichte erzählt …«

»Nein, hast du nicht.«

»Ich habe dir genug erzählt. Was ist deine? Läufst du vor irgendwas davon?«

Er schnaubte. »Sehe ich aus, als wäre ich auf der Flucht?«

»Du siehst aus, als würdest du deine Sorgen ertränken.«

»Ich ertränke gar nichts.« Daneben. Er trat einen Schritt zurück, während Maggie den Tisch inspizierte. »Ich suche nach etwas.«

»Und was?«

Er zögerte. Obwohl leicht benebelt, wusste er doch, dass er manchmal zu viel plapperte, wenn er etwas getrunken hatte. Zu offenherzig war, und sich am nächsten Tag wie ein Volltrottel vorkam. Andererseits wollte diese Frau sich mit ihm unterhalten, und er würde sie wahrscheinlich nie wiedersehen, und er war ganz allein hier in der Pampa, also was soll’s.

»Australien«, antwortete er.

Er machte sich auf eine spöttische Bemerkung gefasst, die jedoch ausblieb.

»Okay, jetzt hast du mich neugierig gemacht«, sagte sie. »Was meinst du? Ich stelle es mir recht einfach vor, etwas zu finden, auf dem man mit beiden Beinen steht.«

»Das ist nicht … Okay, ich brauche mehr Alkohol, um das zu erklären.« Er zog sein Portemonnaie heraus. Zehn Dollar für ein Bier und einen Schnaps, mal zwei, vielleicht noch ein paar Runden …

»Ich hole Nachschub«, sagte Maggie, ohne durchblicken zu lassen, dass sie sein Zaudern bemerkt hatte. »Und was hältst du davon: Ich bezahle auch die nächste Runde, falls …« Sie hob den Zeigefinger. »Aber nur falls die Erklärung wirklich gut ist.«

»Einverstanden«, sagte Simon.

Sie nahm ihren Rucksack ab und zog den Reißverschluss auf, drehte sich dabei von ihm weg. Als sie hineingriff, traute er seinen Augen nicht …

Simon blinzelte. Der Rucksack war wieder zu und hing über ihrer Schulter, während sie zum Tresen ging. Er stützte sich auf seinen Queue und sah ihr nach. Erneut läutete von fern eine Alarmglocke.