Die junge Garde Band 2 - A. Fadejew - E-Book

Die junge Garde Band 2 E-Book

A. Fadejew

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Beschreibung

Die Hitler-Armeen besetzen das Donezbecken. Doch plötzlich tauchen Flugblätter gegen die Terrorherrschaft auf - von der Jungen Garde, der kommunistischen Jugendorganisation. Der Widerstand setzt ein. Der Roman die junge Garde basiert auf der wirklichen Geschichte des bewaffneten Widerstands der sowjetischen Jugend gegen die faschistischen Besatzer in der Stadt Krasnodon, die im Donez-Becken liegt. Am 20. Juli 1942 besetzen die deutschen Faschisten die Stadt und die Gräueltaten nehmen ihren Anfang. Im August werden von den deutschen Henkern 58 Menschen lebendig im Stadtpark begraben. Die Stimmung, die unter der nicht mehr aus der Stadt entkommenen Sowjetjugend herrscht, wird durch die Worte des sechzehnjährigen Komsomolzen Oleg Koschewoi charakterisiert: "Nein, das kann man nicht länger ertragen!" Er organisiert im September 1942 die illegale Gruppe "Junge Garde", die im Oktober schon 103 Mitglieder zählt. Wichtig ist auch, dass die Widerstandstätigkeit der "Jungen Garde" von der illegalen bolschewistischen Partei angeleitet wird. Ihnen wird von erfahrenen Kämpfern geholfen, organisiert, mit Ausdauer und Standhaftigkeit zu arbeiten, um sich in den ständig wechselnden Verhältnissen der Illegalität zurechtzufinden und bewähren zu können.Vier Monate arbeitet die "Jugend Garde". Sie tötet deutsche Soldaten und Polizisten und sammelt Waffen, um beim Herannahen der Roten Armee einen Aufstand organisieren zu können. Die junge Garde ist ein bewegender Roman besonders für Jugendliche. Er hilft, Klarheit über den Kampf für eine bessere Zukunft zu bekommen.

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Seitenzahl: 385

Veröffentlichungsjahr: 2018

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FADEJEW / DIE JUNGE GARDE

ALEXANDER FADEJEW

DIE JUNGE GARDE

VERLAG NEUER WEG STUTTGART

Titel der Originalausgabe: „Молодая Гвардия“

August 1974

Verlag Neuer Weg GmbH, Stuttgart

Nutzung der deutschen Übersetzung mit Genehmigung des Verlages Volk und Welt, Berlin-DDR

Alle Rechte vorbehalten

Gesamtherstellung:

Dußlinger Klein-Offset-Druckerei GmbH

Printed in Germany

ISBN 3-88021-096-9

ZWEITER BAND

Dem Morgenrot entgegen,

Ihr Kampfgenossen all! ...

Des Kampfes sei kein Ende,

Eh nicht im weiten Rund

Der Arbeit freies Volk gesiegt

Und jeder Feind am Boden liegt.

Vorwärts, du junge Garde

Des Proletariats!

Lied der Jugend

32

„Ich, Oleg Koschewoi, trete der Jungen Garde‘ bei und lege vor meinen Waffengefährten, vor meiner vielgeprüften Heimat, vor meinem ganzen Volke den feierlichen Schwur ab, jeden Auftrag der Organisation bedingungslos auszuführen und alles, was meine Arbeit in der ,Jungen Garde‘ betrifft, streng geheimzuhalten. Ich schwöre, rücksichtslos Rache zu nehmen für die eingeäscherten, zerstörten Städte und Dörfer, für das vergossene Blut unserer Brüder, für den Märtyrertod unserer heldenhaften Bergarbeiter. Und wenn diese Rache verlangt, daß ich mein Leben opfere, so will ich es hingeben, ohne einen Augenblick zu zaudern. Sollte ich aber diesen heiligen Schwur unter Foltern oder aus Feigheit brechen, so sei mein Name, meine Familie auf ewig verdammt, und mich selbst treffe die strafende Hand meiner Kameraden. Blut für Blut, Tod für Tod! ...“

„Ich, Ulja Gromowa, trete der Jungen Garde‘ bei und lege vor meinen Waffengefährten, vor meiner vielgeprüften Heimat, vor meinem ganzen Volke den feierlichen Schwur ab ...“

„Ich, Iwan Turkenitsch, lege vor meinen Waffengefährten, vor meiner vielgeprüften Heimat, vor meinem ganzen Volke den feierlichen Schwur ab ...“

„Ich, Iwan Semnuchow, lege vor meinen Waffengefährten, vor meiner vielgeprüften Heimat, vor meinem ganzen Volke den feierlichen Schwur ab ...“

„Ich, Sergej Tjulenin, lege den feierlichen Schwur ab ...“

„Ich, Lubow Schewzowa, lege den feierlichen Schwur ab ...“

Es schien, als habe dieser Sergej Lewaschow sie gar nicht verstanden, als er damals zum erstenmal zu ihr kam. Er hatte ans Fenster geklopft, sie war zu ihm hinausgelaufen, und sie hatten dann den ganzen Rest der Nacht miteinander geredet — wer mochte wissen, was der sich seit damals eigentlich einbildete!

Immerhin entstand die erste Schwierigkeit dieser Reise noch hier, durch Sergej Lewaschow. Sie waren natürlich alte Kameraden, und Lubka konnte nicht wegfahren, ohne ihm Bescheid zu sagen. Sergej Lewaschow war, als Onkel Andrej sich noch in Freiheit befand, auf seinen Rat hin als Fahrer in die Garage der Direktion eingetreten und fuhr einen Lastkraftwagen. Lubka schickte einen Burschen zu ihm, die ganze Schar der Gassenjungen tat ihr gern einen Gefallen, weil sie ihnen im Wesen so ähnlich war.

Sergej kam spätabends direkt von der Arbeit zu ihr, er trug dieselbe Berufskleidung, in der er aus Stalino gekommen war — unter den Deutschen hatten nicht einmal Grubenarbeiter Berufskleidung zu beanspruchen. Er war sehr schmutzig, müde und mürrisch.

In sie zu dringen, wohin sie fahre, und zu welchem Zweck, das lag nicht in seiner Art, aber offensichtlich konnte er den ganzen Abend an nichts anderes denken, und er brachte Lubka durch sein brütendes Schweigen ganz aus dem Häuschen. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und schrie ihn an. Was sie denn eigentlich sei — seine Frau oder wohl gar seine Liebste. Sie könne jetzt nicht an Liebe denken, wo doch noch so viel im Leben ihrer warte — was er sich denn eigentlich einbilde, sie so zu quälen. Er sei für sie einfach ein Genosse, und sie sei nicht verpflichtet, ihm Rede und Antwort zu stehen. Sie fahre, wohin sie eben fahren müsse — in Familienangelegenheiten.

Sie sah aber, daß er ihr nicht so recht glaubte und einfach eifersüchtig war, und das machte ihr ein gewisses Vergnügen.

Sie mußte sich gut ausschlafen, aber er saß da und ging nicht fort. Er war ja so dickfellig, die ganze Nacht hätte er so dasitzen können. Schließlich warf Lubka ihn einfach hinaus. Doch hätte es ihr leid getan, wenn er während der ganzen Zeit ihrer Abwesenheit so bedrückt herumgelaufen wäre, deshalb begleitete sie ihn ins Vorgärtchen, faßte ihn dicht bei der Gartentür unter und preßte sich einen Augenblick an ihn, dann lief sie ins Haus zurück, zog sich sogleich aus und kroch zur Mutter ins Bett.

Natürlich hatte sie es mit der Mutter auch nicht leicht. Lubka wußte, wie schwer es der alten Frau fiel, allein zu bleiben, sie war der Unbill des Lebens gegenüber sehr hilflos, aber Mutter war ziemlich leicht hinters Licht zu führen, und Lubka herzte und küßte sie und plapperte ihr so viel vor, daß diese auch wirklich alles glaubte, und sie schlief dann gleich hier in Mutters Bett ein.

Lubka erwachte, als es kaum tagte, und begann, ein Liedchen summend, sich reisefertig zu machen. Sie beschloß, sich möglichst einfach anzuziehen, um ihr bestes Kleid zu schonen, aber immerhin doch möglichst grell, um aufzufallen; ihr bestes Kleid aber aus feinem Crepe de Chine, die blauen Schuhe und die Spitzenwäsche und Seidenstrümpfe packte sie ins Köfferchen. Sie brannte ihr Haar zwischen zwei einfachen kleinen Spiegeln, in denen man kaum den ganzen Kopf sehen konnte, das dauerte fast zwei Stunden, und sie saß dabei in Hemd und Schlüpfer da, drehte den Kopf hin und her, sang und verlegte ihr Körpergewicht vor Anspannung bald auf das eine, bald auf das andere, schräg auf den Boden gestemmte, kräftige nackte, milchweiße Bein mit den kleinen, ebenfalls kräftigen Zehen. Dann band sie den Strumpfbandgürtel um, wischte die rosigen Füße mit der Hand ab, zog fleischfarbene Florstrümpfe und beigefarbene Schuhe an und warf dann das kühle, raschelnde Kleid mit den Tupfen, Kirschen und bunten Kringeln über. Sie aß bereits im Gehen und hörte nicht auf, vor sich hinzusummen.

Es war ein kalter Tag, die Wolken hingen tief am Himmel und jagten über die Steppe, aber Lubka spürte die Kälte nicht; rotwangig vom Wind, der den Rock ihres grellen Kleides flattern ließ, stand sie auf der Woroschilowgrader Chaussee, mit dem Köfferchen in der Hand und einem leichten Sommermantel über dem Arm.

Deutsche Soldaten und Gefreite in Lastkraftwagen, die ratternd an ihr vorüberfuhren, luden sie zum Mitkommen ein, sie lachten laut und machten manchmal zynische Gebärden, Lubka aber kniff nur verächtlich die Augen zusammen und nahm gar keine Notiz von ihnen. Dann sah sie einen langgestreckten, niedrigen, hellen Personenwagen herankommen und erkannte einen deutschen Offizier neben dem Fahrer. Da hob sie lässig die Hand.

Der Offizier drehte sich im Wagen rasch um und ließ seinen von der Sonne ausgeblichenen Uniformrücken sehen — den Rücksitz mußte wohl ein Vorgesetzter einnehmen —, dann hielt der Wagen mit kreischenden Bremsen.

„Steigen Sie ein, rasch!“ sagte der Offizier, öffnete den Schlag und lächelte Lubka zu, wobei sich nur sein Mund verzog. Er schloß den Schlag wieder und machte den Durchgang zum Rücksitz frei.

Lubka bückte sich, schlüpfte, das Köfferchen und den Mantel in den ausgestreckten Händen, hinein, und der Wagenschlag klappte hinter ihr zu.

Der Wagen fuhr an und sauste mit dem Winde davon.

Neben Lubka saß ein steifer, dürrer Oberst mit unfrischem, glattrasiertem Gesicht, Hängelippen und hoher, von der Sonne ausgeblichener Mütze. Der deutsche Oberst und Lubka sahen sich an. In den Blicken beider lag Unverfrorenheit. Der Oberst war unverfroren, weil er die Macht, Lubka dagegen, weil sie eine Heidenangst hatte. Der junge Offizier vorn hatte sich umgedreht und musterte Lubka ebenfalls.

„Wohin befehlen Sie zu fahren?“ fragte der glattrasierte Oberst mit dem Lächeln eines Buschmanns.

„Verstehe keine Silbe!“ zwitscherte Lubka, „reden Sie russisch oder halten Sie sonst lieber ganz den Mund ...“

„Wohin, wohin? ...“ fragte der Oberst russisch und zeigte mit der Hand unbestimmt ins Weite.

„Nun endlich begreifst du, Gott sei Dank!“ antwortete Lubka. „Woroschilowgrad oder richtiger Lugansk ... Verstehst? Na, also! ...“

Kaum hatte sie zu sprechen begonnen, da war all ihre Angst verflogen, und sie gewann gleich ihre natürlichen und ungezwungenen Umgangsformen wieder, die jeden, auch den deutschen Obersten, zwang, alles, was Lubka sagte und tat, als selbstverständlich hinzunehmen.

„Sagen Sie, wie spät ist es? ... Wieviel Uhr, Uhr — na, so ein Dummkopf!“ sagte Lubka und tippte sich mit dem Finger aufs Handgelenk.

Der Oberst streckte seinen langen Arm aus, um das Handgelenk vom Ärmel freizumachen, bog mechanisch den Ellbogen ein und hielt ihr eine quadratische Uhr an seinem knochigen, von schütterem aschgrauem Haar bewachsenen Arm vors Gesicht.

Schließlich brauchte man nicht unbedingt Sprachen zu kennen. Wenn man nur wollte, konnte man sich auch so verständigen.

Wer sie sei? Eine Schauspielerin. Nein, sie spiele nicht Theater, sie singe und tanze. Natürlich, in Woroschilowgrad gäbe es sehr viele Wohnungen, wo sie absteigen könne, viele anständige Leute kenne sie da, sie sei ja die Tochter eines bekannten Industriellen, eines Grubenbesitzers aus Gorlowka. Leider habe ihm die Sowjetmacht alles weggenommen, und der Unglückliche sei in Sibirien gestorben und habe Frau und vier Kinder hinterlassen — lauter Mädchen, und alle sehr hübsch. Ja, sie sei die Jüngste. Nein, sein gastfreundliches Angebot könne sie nicht annehmen, das könnte ein schlechtes Licht auf sie werfen, sie sei ja nicht so eine. Ihre Adresse? Die würde sie ihm bestimmt geben, sie wisse nur noch nicht genau, wo sie absteigen werde. Wenn der Herr Oberst erlaube, so wolle sie seinem Leutnant Bescheid sagen, wie sie sich treffen könnten.

„Es scheint, Sie haben mehr Chancen als ich, Rudolf!“

„Wenn das der Fall sein sollte, dann werde ich mir für Sie die größte Mühe geben, Herr Oberst!“

Ob es noch weit sei bis zur Front? An der Front stehe es so, daß ein so hübsches Mädchen wie sie sich nicht mehr dafür zu interessieren brauche. Jedenfalls könne sie ganz ruhig schlafen. In ein paar Tagen würden sie Stalingrad nehmen. Sie wären schon in den Kaukasus eingedrungen — ob sie das befriedige? ... Wer ihr gesagt habe, daß am oberen Don die Front nicht gar so weit fort sei? ... Oh, diese deutschen Offiziere! Da sehe man ja, daß nicht er allein so redselig sei ... Man sage, alle hübschen russischen Mädchen seien Spioninnen, ob das wahr sei ... Gut: das war deshalb geschehen, weil an diesem Frontabschnitt Ungarn standen. Die seien natürlich besser als diese stinkigen Rumänen oder die Makkaronifresser, aber auf die ganze Bande sei kein Verlaß ... Die Front sei schrecklich ausgedehnt, Stalingrad verschlinge ungeheuer viele Menschen. Sollte mal einer versuchen, das alles zu versorgen! Er würde ihr das an den Linien ihrer Hand erklären, sie solle mal ihr Patschhändchen geben ... Diese große Linie da führe nach Stalingrad, diese unterbrochene hier nach Mosdok — sie habe übrigens einen sehr unbeständigen Charakter! ... Jetzt solle sie das alles um das Millionenfache vergrößern, dann würde sie verstehen, daß ein Intendant des deutschen Heeres eiserne Nerven haben müsse. O nein, sie solle nur nicht glauben, er habe es nur mit Soldatenhosen zu tun, es würde auch etwas für ein hübsches Mädchen abfallen, reizende Sächelchen, hier, für die Beinchen, und hier — sie verstehe doch, was er sage? Vielleicht hätte sie nichts gegen Schokolade einzuwenden? Auch ein Schluck Wein wäre nicht übel bei dem ekelhaften Staub! ... Na, das sei ja ganz natürlich, wenn ein Mädchen nicht trinke, aber immerhin, französischer Wein! „Rudolf, laß mal halten ...“

Sie hielten etwa zweihundert Meter vor einem großen Vorwerk, das sich zu beiden Seiten der Chaussee hinzog, und stiegen aus. Vor ihnen lag der staubige Abstieg zu einem Feldweg, der an den Rand einer Schlucht führte, auf deren Grund Weiden standen und deren Hang von dichtem, an der windgeschützten Seite schon ganz welkem Gras bewachsen war. Der Leutnant wies den Fahrer an, den Feldweg zur Schlucht hinunterzufahren. Der Wind fing sich in Lubkas Kleid, sie hielt es mit den Händen fest und lief hinter dem Wagen her den Offizieren voraus. Ihre Füße versanken in der zerstampften, trockenen Erde und sie hatte sofort die Schuhe voll Sand.

Der Leutnant, dessen Gesicht, Lubka bisher fast nicht gesehen hatte, da er ihr immer seinen ausgeblichenen Rücken zukehrte, sowie der uniformierte Fahrer holten einen weichen Lederkoffer und einen weißlichgelben, feingeflochtenen schweren Korb aus dem Wagen.

Sie ließen sich an der windgeschützten Seite am Abhang der Schlucht im dichten trockenen Grase nieder. Lubka trank, wie sehr man auch in sie drang, keinen Wein. Aber hier auf dem Tischtuch gab es so viele gute Sachen, daß es dumm gewesen wäre, darauf zu verzichten, um so mehr, als man ja eine Schauspielerin, die Tochter eines Industriellen war, und so langte sie denn tüchtig zu.

Der Sand in den Schuhen war ihr furchtbar lästig, und sie löste die Gewissensfrage, ob eine Industriellentochter so gehandelt hätte oder nicht, kurzerhand damit, daß sie ihre beigefarbenen Schuhe abstreifte, den Sand ausschüttete, die kleinen, beflorstrumpften Füße mit der Hand abwischte und dann so in Strümpfen sitzenblieb, damit die Füße Luft bekamen, solange sie saß. Es schien alles in bester Ordnung — wenigstens nahmen die deutschen Offiziere alles hin, als ob sich das ganz so gehöre.

Sie hätte aber gar zu gern gewußt, ob an dem Frontabschnitt, der Krasnodon am nächsten lag und der sich durch den nördlichen Teil des Rostower Gebiets zog, viele Divisionen standen. Lubka wußte schon von den deutschen Offizieren, die bei ihnen einquartiert gewesen waren, daß die Rote Armee sich in einem Teil des Rostower Gebiets nach wie vor behauptete. Zum Mißvergnügen des Obersten, der mehr lyrisch als sachlich gestimmt war, sprach sie andauernd von ihrer Angst, die Front könne an dieser Stelle durchbrochen werden, und sie würde dann wieder in bolschewistische Sklaverei geraten.

Schließlich kränkte den Obersten dieses Mißtrauen gegen die deutsche Waffe, und er befriedigte — „Verdammt noch einmal!“ — ihre Neugierde.

Wahrend sie so saßen, hörte man vom Vorwerk her das immer lauter werdende ungleichmäßige Getrappel von Füßen auf der Chaussee. Zuerst achteten sie nicht darauf, aber es schwoll immer mehr an und füllte die ganze Gegend, als zöge eine endlos lange Kolonne vorbei. Selbst von hier, vom Hang der Schlucht aus, sah man Staubwolken, die der Wind von der Chaussee seitlich hochwirbelte. Man hörte einzelne Stimmen und Schreie, männliche grobe und weibliche klagende, als beweine man einen Verstorbenen.

Der deutsche Oberst, der Leutnant und Lubka standen auf und reckten sich über den Rand der Schlucht. Die Chaussee entlang kam eine endlose, von rumänischen Soldaten und Offizieren bewachte Kolonne kriegsgefangener Rotarmisten aus dem Vorwerk heran. An der Kolonne entlang, und manchmal durch die Kette rumänischer Soldaten in sie einbrechend, liefen alte und junge Kosakenfrauen und Mädchen, sie schrien und wehklagten und warfen bald der einen, bald der andern sich ihnen aus der Kolonne entgegenstreckenden dürren, schwarzen Hand Brotkanten, Tomaten, Eier, manchmal einen Laib Brot oder gar ein geknüpftes Bündel zu.

Die Kriegsgefangenen waren halbnackt, in zerschlissenen, geschwärzten, verstaubten Fetzen von Militärhosen und Feldblusen, die meisten barfuß oder mit grauenhaften schuhähnlichen Gebilden oder ausgetretenen Bastschuhen an den Füßen. Sie gingen dahin, bärtig und so mager, daß es schien, ihre Kleidung verhülle nur Gerippe. Und erschütternd war es, wenn auf diesen Gesichtern ein Lächeln aufleuchtete, mit dem sie sich den die Kolonne entlanglaufenden und schreienden Frauen, die von den Soldaten mit Faust- und Kolbenschlägen fortgetrieben wurden, zuwandten.

Lubka lugte aus der Schlucht hervor, aber schon im nächsten Augenblick lief sie, nachdem sie mechanisch weiße Brötchen und noch irgendwelche Eßwaren vom Tischtuch zusammengerafft hatte, wie sie war, in Florstrümpfen über die zerstampfte, trockene Erde des Feldwegs, kletterte zur Chaussee hinauf und brach in die Kolonne ein. Sie steckte die Brötchen und andere Eßwaren in eine, eine zweite, eine dritte entgegengestreckte schwarze Hand. Ein rumänischer Soldat wollte sie packen, sie aber entwand sich ihm, Faustschläge regneten auf sie herab, sie aber zog nur den Kopf ein, schützte ihn bald mit dem einen, bald mit dem andern vorgehaltenen Arm und schrie: „Hau nur, hau, du Hund! Au, nicht auf den Kopf!“

Starke Hände zogen sie aus der Kolonne. Sie fand sich am Straßenrand wieder und sah, wie der deutsche Leutnant dem rumänischen Soldaten tüchtige Ohrfeigen verabreichte; vor dem rasenden Obersten aber, der einem zähnefletschenden Hund glich, stand, die Hände an der Hosennaht, ein rumänischer Offizier in salatgrüner Uniform und stammelte etwas Zusammenhangloses in der Sprache der alten Römer.

Endgültig kam sie aber erst zu sich, als sie die beigefarbenen Schuhe wieder an den Füßen hatte und der Wagen mit den deutschen Offizieren und ihr nach Woroschilowgrad davonsauste. Das Erstaunlichste war, daß auch diese Tat Lubkas von den Deutschen als selbstverständlich hingenommen wurde.

Ungehindert passierten sie den deutschen Kontrollpunkt und fuhren in die Stadt ein.

Der Leutnant drehte sich um und fragte Lubka, wohin man sie bringen solle. Lubka hatte sich wieder ganz in der Gewalt, sie zeigte mit der Hand geradeaus die Straße entlang. Vor einem Haus, das ihr für die Tochter eines Grubenbesitzers gut genug erschien, bat sie zu halten.

In Begleitung des Leutnants, der ihr den Koffer trug, ging Lubka mit über den Arm geworfenem Mantel in das unbekannte Haus. Im Flur schwankte sie einen Augenblick, ob sie versuchen sollte, den Leutnant schon hier loszuwerden, oder ob es ratsamer wäre, in seiner Anwesenheit an irgendeine Wohnungstür anzuklopfen. Sie sah ihn unentschlossen an, er verstand ihren Blick aber ganz anders und zog sie mit dem freien Arm an sich. Im selben Augenblick versetzte sie ihm ohne besondere Wut eine ziemlich tüchtige Ohrfeige und lief die Treppe hinauf. Der Leutnant nahm auch dies als zur Sache gehörig hin und trug Lubka mit einem Lächeln, das man in altmodischen Romanen als ein sauersüßes bezeichnet, demütig den Koffer nach.

Sie erreichte den ersten Stock und klopfte mit dem Fäustchen so energisch an die erste beste Tür, als kehre sie nach langer Abwesenheit heim. Eine große, hagere Dame öffnete mit gekränkter und hochmütiger Miene. Ihr Gesicht zeigte noch die Spuren wenn nicht einstiger Schönheit, so doch einstiger Schönheitspflege — nein, Lubka hatte wirklich Glück!

„Danke sehr, Herr Leutnant“, sagte Lubka sehr mutig und in fürchterlichem Deutsch, wobei sie ihren ganzen Wortschatz zu Hilfe ziehen mußte, und streckte die Hand nach dem Koffer aus.

Die Dame, die die Tür geöffnet hatte, blickte den deutschen Leutnant und diese Deutsche in dem grellbunten Kleid mit unverhohlenem Entsetzen an.

„Moment mal! ...“ Der Leutnant stellte den Koffer hin, entnahm mit rascher Bewegung seiner Feldtasche, die ihm an einem Riemen über der Schulter hing, einen Notizblock, schrieb mit einem dicken, unlackierten Bleistift etwas hinein und übergab Lubka das Blatt.

Es war eine Adresse. Lubka hatte keine Zeit, sie zu lesen noch zu überlegen, wie die Tochter eines Grubenbesitzers an ihrer Stelle handeln würde. Sie schob den Zettel schnell in die Bluse, nickte dem salutierenden Leutnant achtlos zu und betrat das Vorzimmer. Lubka hörte, wie die Dame hinter ihr eine Unzahl von Schlössern, Riegeln und Ketten vorlegte.

„Mama! Wer war da?“ rief ein kleines Mädchen aus dem Zimmer.

„Still! Ich komme sofort!“ sagte die Dame.

Lubka betrat das Zimmer mit dem Koffer in der Hand und dem Mantel über dem Arm.

„Man hat mich bei Ihnen einquartiert ... Ich störe doch nicht?“ fragte sie und sah die Kleine freundlich an. Sie überflog mit einem Blick die große, gutmöblierte, aber vernachlässigte Wohnung: hier mochte ein Arzt oder ein Ingenieur oder ein Professor wohnen, aber man merkte, der Mensch, für den man sie einst so schön eingerichtet hatte, war jetzt nicht da.

„Ich möchte wissen, wer Sie eigentlich hergeschickt hat“, fragte das Mädchen mit ruhiger Verwunderung. „Die Deutschen oder wer sonst?“

Die Kleine war anscheinend eben erst nach Hause gekommen, sie trug noch eine braune Baskenmütze auf dem Kopf und war vom Wind ganz rot. Sie war rundlich, kräftig und zählte etwa vierzehn Jahre, sie hatte einen stämmigen Hals und runde Backen, und glich im übrigen einem Fliegenpilz, dem man zwei lebhafte Braunaugen eingesetzt hatte.

„Tamotschka!“ sagte die Dame streng. „Das geht uns gar nichts an ...“

„Warum geht uns das nichts an, Mama, wo man sie doch bei uns einquartiert hat? Es interessiert mich nur ...“

„Entschuldigen Sie, sind Sie eine Deutsche?“ fragte die Dame verwirrt.

„Nein, ich bin eine Russin ... Ich bin Schauspielerin“, entgegnete Lubka nicht ganz selbstsicher.

Es entstand eine kurze Pause, in der sich die Kleine ganz über Lubka klar zu werden suchte.

„Die russischen Schauspielerinnen sind doch alle evakuiert worden! ...“

Und der Fliegenpilz rauschte, rot vor Entrüstung, hoheitsvoll aus dem Zimmer.

Und so stand es Lubka denn bevor, die ganze Bitternis bis zur Neige auszukosten, die einem Sieger im besetzten Gebiet die Freude am Leben vergällt. Doch sah sie ein, daß es vorteilhaft für sie war, sich an diese Wohnung zu halten und das zu bleiben, wofür man sie hielt.

„Ich bleibe nicht lange, ich werde mir eine ständige Wohnung suchen“, sagte sie. Und doch hätte sie gar zu gern gesehen, wenn man in diesem Hause netter zu ihr gewesen wäre, und sie fügte hinzu: „Wirklich und wahrhaftig, ich werde bald etwas anderes finden! Wo kann ich mich umziehen?“

Nach einer halben Stunde stieg die russische Schauspielerin in blauem Seidenkleid, in blauen Schuhen, den Mantel über dem Arm, zum Eisenbahnübergang in der Niederung hinab, die die Stadt in zwei Teile teilt, und stieg dann auf einer ungepflasterten Straße wieder in die Höhe zum Kamenny Brod. Sie war auf einer Gastspielreise in die Stadt gekommen und suchte eine feste Wohnung.

33

Als vorsichtiger Mensch glaubte Iwan Fjodorowitsch, keinem der Treffpunkte trauen zu dürfen, die man ihm in Woroschilowgrad angegeben hatte. Als beherzter Mann aber riskierte er es, eine alte Bekanntschaft auszunutzen — er wollte zu einer Freundin seiner Frau gehen, einer einsamen, stillen Frau, die im Leben viele Enttäuschungen erlitten hatte. Sie hieß Mascha Schubina, arbeitete als technische Zeichnerin in einer Lokomotivenfabrik und hatte weder bei der ersten noch bei der zweiten Evakuierung des Werks Woroschilowgrad verlassen, einfach, weil sie an ihrer Heimatstadt hing. Trotz allem, was geschah, war sie überzeugt, daß sich die Stadt niemals ergeben würde und daß sie sich noch nützlich machen könnte.

Iwan Fjodorowitsch beschloß also auf den Rat seiner Frau, zu Mascha Schubina zu gehen, er entschloß sich dazu noch in derselben Nacht, als er mit seiner Frau in Marfa Kornienkos Keller saß. Da sein Entschluß feststand, verlor er keinen einzigen Tag.

Er schickte den alten Nareshni nach Hause, nach Makarow Jar — im Heimatdorf Kornej Tichonowitschs wußte niemand, daß er und sein Enkel einer Partisanenabteilung angehört hatten —, und er trug ihm und Marfa Kornienko auf, die am Leben gebliebenen Kämpfer der Abteilung zu suchen, sie für die Sache zu gewinnen, unter den Bauern und Kosaken des Dorfes sowie unter den ehemaligen Rotarmisten, die eingekesselt worden waren und sich in den nahen Dörfern niedergelassen hatten, neue Leute zu werben.

Iwan Fjodorowitsch aber beschloß, sich außer dem alten Nareshni und Marfa Kornienko noch einen persönlichen Stützpunkt im Dorf zu sichern. Er ließ seine Frau Katja als Marfas Verwandte bei ihr, damit man sich an sie gewöhne und damit sie die Behörden des Bezirks kennenlerne. Sie konnte dann irgendwo in einem großen Dorf oder in einer Kosakensiedlung ihre Lehrtätigkeit wieder aufnehmen.

Während Marfa Iwan Fjodorowitsch zu essen gab, durchbrach ein Alter, ein entfernter Verwandter Marfas, doch den Kordon der Kinder und kam gerade zum Frühstück zurecht. Der wißbegierige Iwan Fjodorowitsch horchte den Alten nach allen Regeln der Kunst aus, er wollte wissen, wie ein einfacher alter Dörfler die Lage einschätzte. Es war derselbe schlaue Alte, der Koschewoi und seine Verwandten gefahren hatte, und dem vorbeiziehende deutsche Intendanten wirklich, seinen Falben weggenommen hatten, weshalb er auch in sein Heimatdorf zu seinen Angehörigen zurückgekehrt war. Der Alte begriff sofort, daß er es nicht mit einem einfachen Menschen zu tun hatte, und gab anfangs ausweichende Antworten.

„Ja, sieh mal an, die Sache ist nämlich so ... über drei Wochen lang sind ihre Truppen durchgezogen. Eine große Macht ist durchmarschiert! Die Roten kommen jetzt nicht wieder, nein ... Ja, was ist da noch viel zu reden, wo doch schon hinter der Wolga vor Kubyschew gekämpft wird, Moskau ist umzingelt, Leningrad gefallen! Hitler hat gesagt, Moskau will er aushungern ...“

„Und ich soll mir einreden lassen, daß du dieses ganze Lügengeschwätz glaubst?“ fragte Iwan Fjodorowitsch mit dem Teufelsfünkchen in den Augen. „Also hör mal zu, mein lieber Freund von der Ofenbank, wir sind wohl beide gleich groß, gib mir irgend was zum Anziehen, Schuhwerk auch, und ich laß dir dafür mein Zeug da.“

„Ach, so ist die Sache, sieh mal einer an!“ sagte der Alte, aus seinem Ortsdialekt ins Russische übergehend. „Sachen bring ich dir sofort ...“

In der Kleidung des Alten, mit einem Sack auf dem Rücken, trat der kleine Iwan Fjodorowitsch, selbst zwar noch kein greises Haupt, aber doch geschmückt mit einem ansehnlichen Bart, ganz unerwartet ins Zimmer der Mascha Schubina auf dem Kamenny Brod.

Eigenartig war das Gefühl, in fremder Gestalt durch die Straßen der Heimatstadt zu wandern.

Iwan Fjodorowitsch war hier geboren und hatte viele Jahre lang hier gearbeitet. Zahlreiche Gebäude, Betriebe, Ämter, Klubs, Wohnhäuser wurden vor seinen Augen gebaut, und er hatte auch sein gut Teil zu ihrem Entstehen beigetragen. Er erinnerte sich zum Beispiel, wie in einer Sitzung des Präsidiums des Stadtsowjets diese Grünanlage dort geplant worden war, und Iwan Fjodorowitsch hatte selbst die Einteilung der Fläche und die Anpflanzung der Sträucher beaufsichtigt. Wieviel Mühe hatte er selbst auf die Verschönerung der Heimatstadt verwandt; und doch schimpfte man im Stadtparteikomitee immer, die Höfe und Straßen seien nicht sauber genug, und das stimmte auch.

Jetzt war ein Teil der Gebäude durch Bomben zerstört. In der Hitze des Gefechts hatte man nicht so gemerkt, wie schrecklich sich das Stadtbild verändert hatte. Aber auch das war nicht die Hauptsache: die Stadt war in wenigen Wochen derart verwahrlost, daß es schien, die neuen Herren glaubten selbst nicht daran; daß sie für immer hier eingezogen seien. Die Straßen wurden weder gesprengt noch gefegt, die Blumen in den Grünanlagen welkten, Unkraut überwucherte den Rasen Papierschnitzel und Zigarettenstummel wirbelten inmitten dichter, rostroter Staubwolken durch die Luft.

Das war eine der Hauptstädte des Kohlengebiets. In früheren Zeiten wurde sie besser mit Waren beliefert als viele andere Bezirke des Landes — die Menge auf den Straßen war stets farbenfreudig elegant. Die Stadt wirkte ausgesprochen südlich, es gab immer viel Obst, Blumen und Tauben. Jetzt war die Menge spärlich, unauffällig und grau, die Leute kleideten sich ohne Sorgfalt und eintönig, als ließen sie sich absichtlich gehen, ja sie machten sogar einen ungewaschenen Eindruck. Das Straßenbild beherrschten die Uniformen, Achselstücke und blanke Rangabzeichen der feindlichen Soldaten und Offiziere, meist Deutsche und Italiener, aber auch Rumänen und Ungarn — nur sie hörte man sprechen, nur ihre Wagen rasten, vielstimmig hupend und Staub aufwirbelnd durch die Straßen. Noch nie im Leben hatten Iwan Fjodorowitsch die Stadt und ihre Menschen so bitter leid getan, noch nie hatte er sie so geliebt.

Er hatte ein Gefühl, als habe er einmal ein Haus besessen und sei aus diesem Hause vertrieben worden. Und nun habe er sich heimlich herangeschlichen und müsse mitansehen, wie die neuen Hausherren seine Habe stahlen, alles, was ihm teuer war, mit schmutzigen Klauen anpackten, seine Verwandten und Mitarbeiter herabwürdigten, ihm aber bliebe nichts übrig als machtlos zuzusehen.

Auch die Freundin seiner Frau trug den Stempel der allgemeinen Niedergeschlagenheit und Verwahrlosung. Sie hatte ein abgetragenes schwarzes Kleid an, ihr blondes Haar war achtlos in einen Knoten zusammengedreht, an den Füßen, die lange nicht gewaschen zu sein schienen, trug sie Pantoffeln, und man sah, daß sie sich wohl auch so wie sie war, mit ungewaschenen Füßen, zu Bett legte.

„Mascha, wie kann man sich nur so gehen lassen!“ Iwan Fjodorowitsch konnte diese Bemerkung nicht unterdrücken.

Gleichgültig sah sie an sich herab und meinte: „Wirklich? Ich merke es gar nicht. Alle leben doch so, und so ist es auch günstiger: sie lassen einen in Ruhe ... Übrigens gibt es in der Stadt auch kein Wasser ...“

Sie schwieg, und es fiel Iwan Fjodorowitsch jetzt erst auf, wie mager sie selbst und wie leer und ungemütlich ihr Zimmer geworden war. Er sagte sich, daß sie sicher hungerte und schon längst alles, was sie besaß, verkauft hatte.

„Na, dann wollen wir einmal essen ... Eine gute Frau hat mir da alles mögliche eingepackt — so ein kluges Frauchen!“ sagte er verlegen und machte sich hastig an seinem Sack zu schaffen.

„Großer Gott, geht es denn darum?“ Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. „Nehmen Sie mich mit“, rief sie plötzlich leidenschaftlich. „Nehmen Sie mich mit zu Katja, ich will Ihnen helfen, wie ich nur kann! ... Ich will Ihr Dienstbote sein, wenn nur diese tägliche gemeine Erniedrigung aufhört, dieses langsame Hinsterben ohne Arbeit, ohne jeden Lebenszweck! ...“

Sie siezte ihn wie immer, obwohl sie ihn seit seiner Verheiratung mit Katja kannte, dabei war Katja doch ihre Jugendfreundin. Er hatte auch früher erraten, daß sie ihn deshalb nicht duzte, weil sie den Abstand zwischen sich, einer einfachen technischen Zeichnerin, und ihm, dem hohen Funktionär, gefühlsmäßig nicht überbrücken konnte.

Eine tiefe, waagrechte Falte grub sich in die offene Stirn Iwan Fjodorowitschs, und seine lebhaften blauen Augen nahmen einen bitteren, besorgten Ausdruck an. Er stellte sich plötzlich vor, wie viele Sowjetmenschen in Städten und Dörfern sich unter der deutschen Herrschaft ganz ebenso fühlten wie Mascha. Und ihn verblüffte das Mißverhältnis zwischen der verschwindend geringen Widerstandskraft, die er, Iwan Fjodorowitsch und seine Genossen dem Feind entgegensetzten, und der unorganisierten, unausgenutzten Kraft des Hasses und der Widerstandsbereitschaft, die jeden Ortsansässigen beseelte. Er war klug und ehrlich genug, um zu verstehen, daß an diesem Mißverhältnis niemand anders schuld war als er selbst und seine Genossen. Und das mußte so rasch wie möglich wiedergutgemacht werden.

„Ich will offen mir dir reden, vielleicht werde ich grob sein“, sagte er und sah sie nicht an. „Mascha, wenn es sich um dich oder um mich handeln würde, könnte ich dich zu Katja mitnehmen und euch beide und mich selbst in Sicherheit bringen.“ Er sagte das mit bösem, beißendem Hohn. „Aber ich bin ein Diener des Staates, und ich will, daß auch du so gut du kannst unserem Staate dienst. Ich lasse dich nicht nur hier, sondern ich will dich außerdem noch ins Fegefeuer stürzen. Sag offen: Bist du einverstanden? Hast du die Kraft dazu?“

„Ich bin mit allem einverstanden, wenn nur das Leben, das ich jetzt führe, ein Ende nimmt“, antwortete sie.

„Nein, das ist keine Antwort!“ sagte Iwan Fjodorowitsch grimmig. „Ich schlage dir einen Ausweg vor nicht zur Rettung deiner Seele — ich frage dich: Bist du einverstanden, dem Volk und dem Staat zu dienen?“

„Ich bin einverstanden“, antwortete sie leise.

Er beugte sich rasch über die Tischecke zu ihr und ergriff ihre Hand.

„Ich muß Verbindung zu meinen Leuten hier in der Stadt herstellen, aber ich kann mich auf keinen einzigen der Treffpunkte verlassen, die man mir angegeben hat ... Du mußt jetzt mutig und schlau sein, wie der Teufel in eigener Person, um die Adressen zu prüfen, die ich dir angebe. Willst du?“

„Ja“, antwortete sie.

„Wenn du hochgehst, wird man dich langsam am Feuer rösten. Wirst du mich nicht verraten?“

Sie schwieg, als müßte sie erst mit sich selbst zu Rate gehen.

„Ich verrate Sie nicht“, sagte sie dann.

„Also dann hör zu ...“

Und er gab ihr beim trüben Schein der Öllampe, noch näher zu ihr gebeugt, so, daß sie die frische Narbe über der Stirn sehen konnte, eine Adresse hier am Kamenny Brod, die er für besonders wichtig hielt. Dieser Treffpunkt schien ihm auch zuverlässiger als die andern, weil die Adresse von den Aufklärungsorganen empfohlen worden war, und besonders wichtig erschien sie ihm deshalb, weil er nur dort erfahren konnte, was nicht nur hier, sondern auch auf der Sowjetseite vor sich ging.

Mascha erklärte sich bereit, sofort hinzugehen, und dieser naive Opferwille und ihre Unerfahrenheit gingen Iwan Fjodorowitsch zu Herzen. Das mutwillige Fünkchen begann wieder in seinen Augen zu tanzen.

„So willst du das machen? Nein, so geht das nicht“, sagte er mit lustigem, gutmütigem Spott. „Das muß elegant gehandhabt werden, wie in einem Modesalon. Du gehst ganz offen hin, am hellen Tage, ich werde dir beibringen, wie man das macht ... Ich muß mir doch auch den Rücken decken. Bei wem wohnst du eigentlich hier?“

Mascha bewohnte ein Zimmer in einem Haus, das einem alten Arbeiter des Lokomotivenwerks gehörte. Das Haus war aus Stein und durch einen Korridor mit einem Vorder- und einem Hinterausgang in zwei Teile geteilt. Die Hintertür führte auf den von einer niedrigen Steinmauer eingefaßten Hof. In der einen Hälfte waren ein Zimmer und eine Küche, in der anderen zwei kleine Zimmer, deren eines Mascha gemietet hatte. Der Alte war kinderreich, aber seine Söhne und Töchter waren alle schon längst selbständig, die Söhne waren teils in der Armee, teils evakuiert, die Töchter hatten nach auswärts geheiratet. Wie Mascha sagte, war der Hausherr sehr wirtschaftlich, zwar etwas eigenbrötlerisch, ein Bücherwurm, aber ein ehrlicher Mann.

„Ich sage einfach, Sie sind mein Onkel aus dem Dorf, ein Bruder meiner Mutter, meine Mutter war nämlich auch Ukrainerin. Ich sage, ich hätte Ihnen selbst geschrieben, daß Sie kommen sollen, ich hätte es allein zu schwer ...“

„Na, dann führ deinen Onkel zum Hausherrn, ich will mir doch den Eigenbrötler selbst mal ansehen“, sagte Iwan Fjodorowitsch lächelnd.

„Was ist das schon für eine Arbeit, und wo soll man denn Hand anlegen?“ brummte der „Eigenbrötler“ finster und ließ seine großen, hervorquellenden Augen über Iwan Fjodorowitschs Bart und über die Narbe rechts über der Stirn gleiten. „Zweimal haben wir Maschinen selbst abtransportiert, aber die Deutschen haben uns mehrmals mit Bomben belegt ... Wir haben Lokomotiven gebaut, Panzer, Kanonen, und jetzt reparieren wir Petroleumkocher und Feuerzeuge ... Die Wände von manchen Werkabteilungen sind ja stehengeblieben, und wenn man ordentlich sucht, findet man hie und da im Werk noch eine ganze Menge Maschinen, aber dazu braucht man, wie man so sagt, einen Herrn über dem Ganzen. Die Deutschen aber ...“ er machte mit seiner knotigen Faust an dem kurzen, hageren Arm eine wegwerfende Gebärde, „die sind nicht ernst zu nehmen, die Leute ... sind zu oberflächlich und — stehlen. Man sollt’s nicht glauben, aber gleich drei Inhaber auf einmal sind ins Werk gekommen: Krupp —früher hat nämlich die Fabrik Hartmann gehört, und Krupp hat seine Aktien aufgekauft —, die Eisenbahnverwaltung und die Elektrizitätsgesellschaft, die hat unsere Heiz- und Kraftzentrale bekommen, die Unseren haben sie allerdings, bevor sie gingen, in die Luft gesprengt ... Sind in der Fabrik ohne Ende herumgekrochen und haben sie dann in drei Teile geteilt. Zum Lachen und zum Weinen war das: eine zerstörte Fabrik, und sie pfählen sie ab, wie die Bäuerlein unter dem Zaren ihren Ackerstreifen, sogar quer über die Wege weg, die den einen Teil des Werks mit dem anderen verbinden. Löcher für die Pfähle haben sie aufgewühlt, wie die Schweine. Geteilt, abgepfählt haben sie, und dann hat jeder die Überreste der Ausrüstung nach Deutschland verfrachtet. Und mit den Sachen, die unbedeutender und wertloser sind, schachern sie nach rechts und nach links wie die Schleichhändler und Schieber. Unsere Arbeiter lachen sich ins Fäustchen: Schöne Herren hat uns Gott da geschickt! ... Unsereiner hat sich in diesen Jahren an solche Maßstäbe gewöhnt, weißt es ja selbst, wenn man die aber bloß ansieht, dann wird einem schon ganz übel, geschweige denn, wenn man für sie arbeitet. Im übrigen aber ist das ein Lachen unter Tränen ...“

Sie saßen beim Schein der Tranfunzel, Iwan Fjodorowitsch mit seinem langen Bart, die stillgewordene Mascha, die gebückte Alte und der „Eigenbrötler“ — ihre Schatten führten an den Wänden und an der Decke einen gespenstischen Reigen auf, und wie sie hier so saßen, glichen sie Höhlenmenschen. Der „Eigenbrötler“ war so um die siebzig, er war klein und hager, sein Kopf war groß, er schien ihn mit Mühe zu tragen. Er sprach finster und monoton, alles floß in ein einziges Bu-bu-bu-bu ... zusammen. Aber Iwan Fjodorowitsch machte es Vergnügen, ihm zuzuhören, nicht nur, weil der Alte klug und wahr sprach, sondern weil ihm auch gefiel, daß dieser Arbeiter so ausführlich und umständlich ein zufällig hereingeschneites Bäuerlein in die Lage der Industrie unter deutscher Herrschaft einweihte.

Iwan Fjodorowitsch konnte es sich nicht verkneifen, auch seine Meinung zu äußern: „Wir im Dorf denken folgendermaßen: Für die hat es keinen Sinn, bei uns in der Ukraine die Industrie auszubauen, Industrie haben sie bei sich in Deutschland genug, von uns brauchen sie Getreide und Kohle. Die Ukraine ist für die so etwas wie eine Kolonie, und wir sind für sie Neger ...“ Iwan Fjodorowitsch schien es, als blickte ihn der „Eigenbrötler“ erstaunt an, er lachte und sagte: „Daß unsere Bäuerlein so klug denken, ist nicht weiter verwunderlich, das Volk ist geistig ordentlich gewachsen, wenn’s sein muß, können wir in unserem Dorf allein Minister genug für irgend so eine Schweiz finden ...“

„Das stimmt schon“, sagte der „Eigenbrötler“ ohne das geringste Erstaunen über Iwan Fjodorowitschs Ausführungen zu zeigen. „Na, schön, eine Kolonie; dann haben sie wohl die Landwirtschaft vorangebracht, ist’s nicht so?“

Iwan Fjodorowitsch lachte leise auf: „Die Wintersaat säen wir in die Furchen der vorjährigen Hackkulturen, dann säen wir auch Winter- und Sommersaat direkt auf den Stoppelfeldern und bearbeiten den Boden mit Hacken. Kannst dir vorstellen, wieviel wir da ausgesät haben.“

„So, so!“ sagte der „Eigenbrötler“, ohne auch darüber Verwunderung zu zeigen. „Die verstehen nicht zu wirtschaften ... Sind gewöhnt, andern das Fell über die Ohren zu ziehen, diese Gauner, davon leben die nun und glauben mit einer solchen — mit Verlaub zu sagen — Kultur die ganze Welt erobern zu können — blöde Viecher.“ Er sprach ohne Zorn.

E-he-he, du kannst einem Ackerbauern wie mir noch hundert Punkte vorgeben! dachte Iwan Fjodorowitsch vergnügt.

„Als Sie zu Ihrer Nichte kamen, hat Sie da niemand gesehen“, fragte der „Eigenbrötler“, ohne den Ton zu ändern.

„Gesehen hat mich keiner, aber warum sollte ich Angst haben? Ich habe alle nötigen Papiere ...“

„Versteht sich“, meinte der „Eigenbrötler“ ausweichend, „aber die Ordnung, die hier herrscht, verlangt doch, daß ich Sie bei der Polizei anmelde, wenn Sie aber nicht lange dableiben, kommen wir vielleicht auch ohne das aus. Denn ich will es Ihnen nur ganz offen sagen, Iwan Fjodorowitsch, daß ich Sie gleich erkannt habe, Sie waren ja oft genug bei uns in der Fabrik; will’s das Unglück, dann kann Sie noch irgendein schlechter Mensch erkennen ...“

Nein, seine Frau hatte doch wie immer recht gehabt, er war ein Glückskind.

Am nächsten Morgen ging Mascha früh zu einer Adresse und brachte einen Unbekannten zu Iwan Fjodorowitsch, der zur großen Verwunderung der beiden den „Eigenbrötler“ begrüßte, als habe er ihn erst gestern noch gesehen. Von diesem Mann erfuhr Iwan Fjodorowitsch, daß der „Eigenbrötler“ auch einer von denen war, die man zur illegalen Arbeit dagelassen hatte.

Von diesem Mann hörte er auch zum erstenmal, wie weit die Deutschen schon ins Land eingedrungen waren. Es war in den Tagen, als sich die große Stalingrader Schlacht entspann.

In den nächsten Tagen befaßte sich Iwan Fjodorowitsch mit der Herstellung der abgerissenen Verbindungen in Stadt und Gebiet.

Als er gerade alle Hände voll damit zu tun hatte, brachte derselbe Mann, durch den Iwan Fjodorowitsch in die Organisation hineingekommen war, Lubka, die Schauspielerin, zu ihm.

Wie die meisten Einwohner von Krasnodon, wußte Lubka nicht, auf welche Weise die Gefangenen aus dem Krasnodoner Gefängnis wirklich zugrunde gegangen waren. Auf Anfragen der Angehörigen hatte die deutsche Gendarmerie und Polizei geantwortet, daß man die Gefangenen nach Woroschilowgrad transportiert habe, aber aus den vorhergegangenen Erfahrungen zogen alle den Schluß, daß man sie irgendwo in den Hain von Werchneduwannaja gebracht und dort erschossen hatte.

Eine Zeitlang saß Iwan Fjodorowitsch finster da und konnte kein Wort sagen. Leid, bitter leid tat es ihm um Matwej Kostijewitsch. Was für ein guter Kosak das doch war, dachte er. Plötzlich fiel ihm seine Frau ein: Was sie wohl dort macht so allein? ...

„Ja ...“, sagte er, „eine schwere Illegalität! Eine so schwere hat die Welt noch nicht gesehen ...“, er begann, im Zimmer auf und ab zu gehen und sprach zu Lubka, als rede er mit sich selbst. „Man vergleicht unsere Illegalität mit der während der Intervention, unter den Weißen, aber was ist das für ein Vergleich? Damals waren die besten Kräfte des Volkes alle an Ort und Stelle — in der Grube, im Betrieb, im Dorf, bei uns aber sind die gewissenhaftesten, tüchtigsten, organisiertesten an der Front, evakuiert, übriggeblieben sind vereinzelte, ganz unerfahrene Menschen. Sie wären bereit, alles zu tun, um die Deutschen zu vertreiben, aber sie wissen nicht, wie sie es anfangen sollen, und wir, die wir es wissen, sind hier nur dünn gesät, und der Terror dieser Henker ist so groß, daß die Weißen die reinsten Wickelkinder dagegen waren — die bringen ja die Menschen zu Millionen um ... Aber eine schwache Stelle haben sie doch, wie niemand sonst: dumm sind sie, stumpf, machen alles nach Schema F, wie nach einem Fahrplan, sie leben unter unserem Volk und tappen herum wie in tiefster Finsternis, nichts begreifen sie ... Und das ist es, was ausgenutzt werden muß!“ Er blieb vor Lubka stehen und begann dann wieder von einer Ecke in die andere zu wandern. „Das muß man dem Volk klarmachen, damit es lernt, sie hinters Licht zu führen und sich nicht vor ihnen zu fürchten. Man muß das Volk aufmuntern, organisieren, es wird dann selbst Kräfte hervorbringen. Unsere Leute dürfen sich nicht im Wald verstecken. Zum Teufel noch einmal! Wir leben doch im Donezbecken! Sie müssen in die Gruben, in die Dörfer, ja sogar in die deutschen Behörden gehen, ins Arbeitsamt, in die Verwaltung, in die Direktionen, die Dorfkommandanturen, die Polizei, ja sogar in die Gestapo. Alles von innen heraus zersetzen durch Diversion, Sabotage, rücksichtslosen Terror! ... Kleine Grüppchen bilden aus Ortsansässigen, aus Arbeitern, Bauern, Jugendlichen, so etwa fünf Mann stark, überall, zu jeder Zeit ... Nein, so bleibt’s nicht, wie’s ist! Das Heulen und Zähneklappern sollen die Deutschen bei uns kriegen!“ sagte er so rachedurstig, daß auch Lubka davon angesteckt wurde und ihr der Atem verging. „Wie heißt du?“ fragte er und blieb wieder vor ihr stehen. „So, so! Ja, das paßt doch aber gar nicht, so ein feines Mädel kann man doch nicht wie jede x-beliebige einfach Lubka nennen. Luba muß das heißen.“ Ein lustiges Fünkchen begann in seinen Augen zu hüpfen. „Na, nun sag, was du brauchst ...“

Im selben Augenblick sah Lubka ganz lebhaft vor sich, wie sie alle sieben im Zimmer in einer Reihe standen und den Schwur ablegten. Dunkle Wolken eilten draußen niedrig am Himmel vorüber, und jeder, der vortrat, erbleichte, und jede Stimme, die den Schwur aussprach, schraubte sich zu einer hohen, klingenden Note hinauf, um das ehrfürchtige Zittern zu verbergen. Der von Oleg und Wanja Semnuchow verfaßte Schwur, den sie alle bestätigt hatten, löste sich in diesem Augenblick von ihnen los und schwebte über ihnen, härter und unerschütterlicher als ein Gesetz. Lubka dachte an all dies, und wieder überkam sie. diese Erregung, wieder wurde sie bleich, und aus ihrem bleichen Gesicht schauten die blauen Kinderaugen mit einem unerbittlich stählernen Schimmer besonders ausdrucksvoll hervor.

„Wir brauchen Rat und Hilfe“, antwortete sie.

„Was heißt ,wir‘?“

„Wir, die Junge Garde‘ ... Unser Kommandeur ist Iwan Turkenitsch, er war Leutnant der Roten Armee und geriet infolge einer Verwundung in einen Kessel. Kommissar ist Oleg Koschewoi aus der Gorkischule. Wir sind jetzt etwa dreißig Mann, die den Treueid abgelegt haben ... Wir sind in Fünfergruppen eingeteilt, genau, wie Sie gesagt haben — Oleg hat das vorgeschlagen ...“

„Ein tüchtiger Kerl, euer Oleg! ...“

Iwan Fjodorowitsch setzte sich mit außerordentlicher Lebhaftigkeitan den Tisch, hieß Lubka gegenüber Platz nehmen und bat, sie solle alle Mitglieder des Stabes nennen und jeden genau charakterisieren.

Als Lubka Stachowitsch nannte, senkten sich Iwan Fjodorowitschs Brauen an der Nasenwurzel.

„Wart mal“, sagte er und berührte ihre Hand, „wie heißt er mit Vornamen?“

„Eugen.“

„War er die ganze Zeit bei euch, oder ist er von irgendwoher gekommen?“

Lubka erzählte, wie Stachowitsch in Krasnodon aufgetaucht war und was er von sich erzählt hatte.

„Seid dem Jungen gegenüber vorsichtig, fühlt ihm einmal ordentlich auf den Zahn.“ Iwan Fjodorowitsch erzählte Lubka, unter welch eigenartigen Umständen Stachowitsch aus der Abteilung verschwunden war. „Wenn er nur nicht in deutschen Händen gewesen ist“, sagte er nachdenklich.

Lubkas Gesicht drückte Unruhe aus, die um so stärker war, als Stachowitsch ihr ohnehin nicht gefiel. Eine Weile blickte sie Iwan Fjodorowitsch schweigend an, dann glätteten sich ihre Gesichtszüge, die Augen hellten sich auf, und sie sagte ruhig: „Nein, das kann nicht sein. Sicher hat er nur schlapp gemacht und ist ausgerückt ...“

„Warum glaubst du das?“

„Die Jungen kennen ihn schon lange als Jungkommunisten, er ist ein eingebildeter Kerl, aber zu so was ist er doch nicht fähig. Er ist aus sehr anständiger Familie, sein Vater ist ein alter Kumpel, die Brüder sind Kommunisten, sie sind in der Roten Armee ... Nein, das kann nicht sein!“

Iwan Fjodorowitsch bewunderte die ungewöhnliche Reinheit ihres Denkens.

„Du neunmalkluges Mädel! ...“, sagte er mit ihr unverständlicher Trauer im Blick. „Es hat eine Zeit gegeben, da haben wir auch so gedacht, aber die Sache ist nun einmal die“, er sprach zu ihr so einfach wie zu einem Kind, „es gibt noch viele ehrlose Menschen, denen eine Idee etwas Zeitweiliges ist wie ein Kleidungsstück, oder die sie nur als Maske benutzer — he Volksfeinde haben nicht wenige Beispiele heinfür geliefer, die Faschisten aber crziehen solche Mensehen millionenweise in der ganzen Welt —, und dann gibt es auch einfach schwache Menschen, die nachgeben ...“

„Nein, das kann nicht sein“ sagte Lubka und dachte wieder an Stachowitsch.

„Gebe Gott! Aber Wenn er einmal schlappgemacht hat, dann kann er ja ein andermal wieder schlappmachen.“

„Ich werde Oleg Bescheid sagen“, antwortete Lubka kurz.

„Hast du aber auch alles verstanden, was ich dir gesagt habe?“

„Lubka nickte.

„Also, dann macht es so ... Hast du etwas mit dem Mann zu tun, der dich hergebracht hat? An diese Verbindung sollst du dich halten. Und wenn ihr mich in eurer Angelegenheit einmal ganz dringend braucht, dann kannst du zu mir kommen — ich werde diesem Mann Bescheid sagen ...“

„Danke“, sagte Lubka und blickte ihn wieder mit fröhlichen Augen an.

Sie standen beide auf.

„Bestell den Genossen Junggardisten unseren bolschewistischen Kampfgruß ...“ Mit seinen kleinen, knapp gestikulierenden Händen faßte er sie beim Kopf, küßte sie erst auf das eine, dann auf das andere Auge und schob sie sanft von sich fort. „Geh“, sagte er.

34

„Landsleute! Krasnodoner! Bergleute! Kollektivbauern!

Was die Deutschen sagen, ist alles Schwindel! Stalin ist in Moskau. Hitler lügt, wenn er sagt, der Krieg sei zu Ende. Der Krieg fängt erst richtig an. Die Rote Armee kommt ins Donezbecken zurück!

Hitler verschleppt uns nach Deutschland, damit wir in seinen Fabriken zu Mördern unserer Väter, Männer, Söhne und Töchter werden.

Fahrt nicht nach Deutschland, wenn ihr auf Heimatboden, in eurem Heim bald wieder den Vater, den Sohn, den Bruder in eure Arme schließen wollt!