Der Anrufer - Michaela Dornberg - E-Book

Der Anrufer E-Book

Michaela Dornberg

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Beschreibung

Sie ist jung, sie ist schön, und sie ist stolz – ihr Vater, der alte Graf und Patriarch Benno von Waldenburg, weiß genau, warum er seine Lieblingstochter dazu auserkoren hat, die Herrin auf Schloss Waldenburg zu werden. Es ist die große Überraschung, die er auf der herrlichen Feier anlässlich seines 60. Geburtstags verkündet. Sie führt zum Eklat – denn sein maßloser, ungeratener Stiefsohn Ingo denkt gar nicht daran, auf seine Ansprüche zu verzichten. Er will vor Gericht klagen. Die gräfliche Familie wird unruhige Zeiten erleben. Die junge Gräfin ist eine Familiensaga, die ihresgleichen sucht. Die junge Gräfin ist eine weit herausragende Figur, ein überzeugender, zum Leben erwachender Charakter – einfach liebenswert. »Von Waldenburg.« Alexandras Stimme klang aufgeregt und dünn. Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, sie schloss die Augen, und dann hörte sie ihn endlich. »Joe Bechstein, guten Tag, Alexandra.« Wie lange hatte sie auf diesen Augenblick gewartet? Wie lange hatte sie sich danach gesehnt? Ach, es spielte doch überhaupt keine Rolle mehr. Jetzt war alles gut. »Guten Tag, Joe«, wisperte sie. Selbstverständlich nannte sie ihn Joe, nicht Joachim, wie die anderen, auch ihre Schwester Sabrina, ihn nannten. Sie hatte ihn als Joe kennen gelernt, sich in ihn unsterblich verliebt, und allein dieser Name hatte sich auf ewig in ihrem Herzen eingebrannt. »Alexandra, ich habe jetzt nur ganz wenig Zeit, aber ich möchte dir einen Vorschlag machen. Ich muss morgen für einen Tag nach Brüssel fliegen. Doch ich habe herausgefunden, dass ich auf eurem Flughafen einen Zwischenstop von zwei Stunden machen und dann mit einer anderen Maschine weiterfliegen könnte … Das bedeutet, dass wir uns, wenn du möchtest, sehen könnten. Ich möchte dich nicht nur wiedersehen, sondern ich habe dir auch etwas zu sagen, über dass sich am Telefon nicht so gut reden lässt.« Was sollte sie darunter verstehen? War das etwas Gutes oder etwas Schlechtes? Euphorische Freude und Niedergeschlagenheit kämpften in ihr, und sie konnte für einen Moment nichts sagen. Er deutete ihr Schweigen vollkommen falsch.

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Die junge Gräfin – 26 –

Der Anrufer

… gesteht der Schönen seine Liebe

Michaela Dornberg

»Von Waldenburg.«

Alexandras Stimme klang aufgeregt und dünn. Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, sie schloss die Augen, und dann hörte sie ihn endlich.

»Joe Bechstein, guten Tag, Alexandra.«

Wie lange hatte sie auf diesen Augenblick gewartet? Wie lange hatte sie sich danach gesehnt?

Ach, es spielte doch überhaupt keine Rolle mehr.

Jetzt war alles gut.

»Guten Tag, Joe«, wisperte sie.

Selbstverständlich nannte sie ihn Joe, nicht Joachim, wie die anderen, auch ihre Schwester Sabrina, ihn nannten.

Sie hatte ihn als Joe kennen gelernt, sich in ihn unsterblich verliebt, und allein dieser Name hatte sich auf ewig in ihrem Herzen eingebrannt.

»Alexandra, ich habe jetzt nur ganz wenig Zeit, aber ich möchte dir einen Vorschlag machen. Ich muss morgen für einen Tag nach Brüssel fliegen. Doch ich habe herausgefunden, dass ich auf eurem Flughafen einen Zwischenstop von zwei Stunden machen und dann mit einer anderen Maschine weiterfliegen könnte … Das bedeutet, dass wir uns, wenn du möchtest, sehen könnten. Ich möchte dich nicht nur wiedersehen, sondern ich habe dir auch etwas zu sagen, über dass sich am Telefon nicht so gut reden lässt.«

Er wollte sie sehen …

Er hatte ihr etwas zu sagen …

Was sollte sie darunter verstehen?

War das etwas Gutes oder etwas Schlechtes?

Euphorische Freude und Niedergeschlagenheit kämpften in ihr, und sie konnte für einen Moment nichts sagen.

Er deutete ihr Schweigen vollkommen falsch.

»Es ist für dich zu kurzfristig«, sagte er. »So schnell kannst du dich nicht freimachen.« Enttäuschung klang aus seiner Stimme. »Schade, ich hatte es mir so schön vorgestellt.«

Dass er jetzt enttäuscht war, bemerkte jetzt sogar Alexandra trotz ihrer Aufgeregtheit. Und wenn er sagte, er habe sich das Treffen mit ihr schön vorgestellt, dann konnte das nicht bedeuten, dass er ihr eröffnen wollte, dass er sich entschieden hatte, die Verlobung mit Benita von Ahnenfeld aufrechtzuerhalten.

Endlich platzte der Knoten in ihr.

»Ich kann es einrichten«, rief sie rasch. »Natürlich kann ich das.« Und sie fügte ganz spontan hinzu: »Ich würde alles tun, jeden Termin platzen lassen, um dich zu treffen … Wann können wir uns sehen?«

Sie spürte sein erleichtertes Aufatmen.

»Ich lande kurz vor zwei Uhr und muss dann irgendwann nach Vier weiterfliegen.«

»Ich werde da sein, Joe«, sagte sie mit bebender Stimme.

»Das freut mich, Alexandra. Das freut mich sogar sehr … Bitte sei mir nicht böse, dass ich unser Telefonat jetzt beenden muss. Es warten ein paar sehr wichtige Geschäftsleute auf mich, die sich an einem großen Projekt beteiligen wollen. Die darf ich nicht warten lassen …, bis morgen dann, Alexandra. Ich kann es kaum erwarten, dich zu sehen … Ach, übrigens, der Flieger, den ich nehme, kommt aus Dubai …, ich möchte nicht, dass wir uns noch einmal verfehlen.«

»Bis morgen, Joe …, ich freue mich auch sehr«, sie war so aufgeregt, dass ihre Stimme ihr kaum gehorchte. Und auch als das Gespräch längst schon beendet war, saß sie noch lange Zeit mit dem Hörer in der Hand auf ihrem Schreibtischstuhl und lächelte versonnen vor sich hin.

Sie würde Joe wiedersehen …

Gewiss waren zwei Stunden nicht viel, doch sie würde sich auf den Weg machen, auch wenn sie ihn nur fünf Minuten sehen könnte.

Und eines stand für Alexandra jetzt auch schon fest. Sie würde beizeiten zum Flughafen fahren, und wenn sie sich dort Stunden vor seiner Ankunft herumdrücken musste.

Ich möchte nicht, dass wir uns noch einmal verfehlen …

Seine Worte klangen in ihr nach. Sie waren sehr bedeutsam, und eines wusste Alexandra. So etwas durfte niemals mehr passieren!

Wenn sie sich nicht verfehlt hätten, wäre alles ganz anders gekommen, dann müsste sie sich jetzt keine Sorgen machen, dann wäre sie die Frau an seiner Seite, nicht Benita!

Wenn sie geahnt hätte, dass sie auf dem Weg zu ihm in eine Massenkarambolage hineingeraten würde, wäre sie früher losgefahren.

Wenn sie das geahnt hätte, wäre sie mit ihm schon am ersten Abend irgendwohin gegangen, um mit ihm ein Glas Wein zu trinken. Dann hätten sie sich ihre vollständigen Namen verraten, hätten ihre Telefonnummern miteinander ausgetauscht.

Wenn …

Es war müßig, sich darüber noch den Kopf zu zerbrechen. Das hatte sie monatelang getan, und all ihr Suchen nach Joe war vergebens gewesen.

Es war ja nicht so, dass das Schicksal sie zusammengeführt hatte, um ihnen zu zeigen, dass es die berühmte Liebe auf den ersten Blick gab, diese Liebe, bei der Herz und Seele sich berührten.

Nein, sie hatte danach mehrfach die Chance bekommen, Joe wiederzusehen, doch das hatte sie abgelehnt, war jeder Begegnung ausgewichen, die ihre Schwester Sabrina arrangiert hatte.

Doch da hatte sie nicht ahnen können, dass ihr Joe und der Graf Joachim von Bechstein ein und dieselbe Person waren.

Das hatte sie erst bei der Taufe ihrer kleinen Nichte Elisabeth festgestellt, und da war es zu spät gewesen.

Joachim von Bechstein hatte sich mittlerweile mit Benita Komtess von Ahnenfeld verlobt!

Und seither hing sie komplett in den Seilen.

Vielleicht nicht mehr so ganz. Es gab einen winzigen Lichtstreif am Horizont, denn eines wusste sie, dass Joe sie auch nicht vergessen hatte, dass er so empfand wie sie.

Und nun …

Sie legte den Telefonhörer weg.

Nun würde sie ihn wiedersehen!

*

Als es an ihrer Tür klopfte, zuckte Alexandra zusammen. Sie hatte seit dem Telefonat noch keinen einzigen Handschlag getan, sondern sich in Träume verloren.

»Ja, bitte«, sagte sie, und schon kam Peter Zumbach zur Tür herein, der Leiter der Waldenburgschen Forstbetriebe, der für sie arbeitete, solange Alexandra sich zurückerinnern konnte.

Richtig, sie waren ja miteinander verabredet. Das hatte sie vollkommen vergessen.

Sie begrüßte ihren langjährigen Mitarbeiter, den sie über alles schätzte, bot ihm einen Platz an, dann griff sie nach den Unterlagen, die sie vorbereitet hatte.

Warum schaute er sie so an, dachte sie, und da sie sehr offen miteinander umgingen, erkundigte sie sich: »Ist was, Herr Zumbach?«

Ein breites Lächeln glitt über sein Gesicht.

»Ich frage mich, Gräfin, ob Sie irgendwo einen Jackpot geknackt haben«, auch er war ihr gegenüber offen und ehrlich und machte aus seinem Herzen keine Mördergrube.

Alexandra spürte, wie sie rot anlief.

»Wie kommen Sie darauf, Herr Zumbach?«

»Nun, weil das Strahlen an Ihnen nicht zu übersehen ist. Ihre gute Laune kann ganz gewiss nicht durch das verursacht worden sein, was wir gleich besprechen müssen. Das ist ernst, um nicht zu sagen, sehr ernst.«

Sah man ihr an, dass sie glücklich war?

Auch wenn sie offen miteinander waren, dann doch nicht so, dass sie gegenseitig ihr Privatleben voreinander ausbreiteten.

»Ich habe eine gute Nachricht erhalten«, sagte sie deswegen nur, und damit gab er sich auch zufrieden.

»Das freut mich, Gräfin. Nach dem vielen Ärger, den Sie in der letzten Zeit hatten, ist das auch mal wieder nötig.«

Dann hielt er sich damit nicht länger auf, sondern sagte: »Es ist bewundernswert, dass Sie sich vorgenommen haben, jetzt auch noch Beyen für den jungen Freiherrn zu retten.«

Sie nickte.

»Ich will es versuchen, Herr Zumbach … Mit so vielen Baustellen hätte ich allerdings nicht gerechnet, und wenn Sie mir jetzt auch noch sagen, dass von dort aus die Preise kaputtgemacht werden auf dem Holzmarkt, dann kann ich mir nicht vorstellen, dass Enno dahintersteckt, der hat doch von nichts eine Ahnung. Entweder hat er schlechte Berater, oder aber da wirtschaftet jemand an ihm vorbei in seine eigene Tasche.«

»Ich habe rasch noch mal telefoniert, Gräfin. Es scheint so zu sein, dass man die Geschäfte an ihm vorbei macht, vielleicht mit dem Hintergedanken, dass sowieso bald alles vorbei sein wird und hinterher kein Hahn mehr danach kräht, was vorher noch beiseitegeschafft wurde … Es sieht ja um Beyen wirklich nicht gut aus, und nichts verbreitet sich schneller als solche Nachrichten. Wenn Sie mich fragen, dann muss sofort etwas geschehen. Sie wissen, welchen Schaden Ihr Bruder angerichtet hat, als illegal ein großes Areal durch ihn abgeholzt wurde. Bäume brauchen Zeit, um zu wachsen, vor allem bricht doch das ganze Ökosystem eines Waldes zusammen, wenn man so einfach drauflosgeht.«

»Herr Zumbach, ich weiß ja, was Sie hier zu tun haben, aber …, halten Sie es für unverschämt, wenn ich Sie bitte, nach Beyen zu fahren und die Sache in die Hand zu nehmen? Ich mein, nicht nur für einen Tag, sondern dass Sie so lange vor Ort bleiben, bis man einen Überblick hat?«

Er antwortete nicht sofort, sondern überlegte, was sie auch gut verstehen konnte.

Peter Zumbach war jemand, der seine Arbeit nicht nur hundertprozentig machte, sondern immer noch eins draufsetzte. Und leider war er auch jemand, der nur schlecht delegieren konnte. Er liebte seinen Job, und die Bäume waren so etwas wie seine Kinder, an die nichts drankommen durfte und über die er alles wissen musste.

Für Alexandra war es schrecklich gewesen, das Ausmaß der Verwüstung auf dem großen Waldstück zu sehen, auf dem ihr Bruder illegal hatte wüten lassen, Peter Zumbach hatte es fast das Herz gebrochen.

War es eigentlich nicht vermessen von ihr, mit einer solchen Bitte an ihn heranzutreten? Er hatte wirklich genug zu tun, und konnte seine Arbeit nicht vernachlässigen, um einen anderen Betrieb zu retten.

»Herr Zumbach, vergessen Sie es«, sagte sie, »es war dumm von mir, Sie darum zu bitten. Wir müssen eine andere Lösung finden. Aber vielleicht …, nun …, vielleicht werfen Sie einen Blick in die Unterlagen, um zu sagen, was man bei dieser verfahrenen Kiste am besten tun kann?«

Wieder antwortete er nicht sofort, sondern schaute sie nachdenklich an.

»Diese ganze Angelegenheit liegt Ihnen sehr am Herzen, nicht wahr, Gräfin?«

Sie nickte.

»Ja, auch wenn ich weiß, dass Enno sich selbst in diese Situation gebracht hat. Als seine Eltern bei diesem schrecklichen Unfall starben, haben sie ihm geordnete Verhältnisse, ein stattliches Vermögen hinterlassen. Er hat alles verprasst, anders kann man es nicht nennen, und leider erst viel zu spät begriffen, was es bedeutet, einen solch alten Namen zu tragen und welche Verpflichtung man damit übernimmt …, das Kind ist in den Brunnen gefallen … Ich möchte ihm ganz einfach helfen, da wieder hinauszukommen, weil ich Enno trotz seines Leichtsinnes mag und wegen seiner Eltern, die ganz wunderbare Menschen waren. Sie und meine Eltern waren miteinander befreundet, und wir haben früher viel Zeit miteinander verbracht, uns gegenseitig besucht. Wenn Sie so wollen, ist Enno für mich so etwas wie mein kleiner Bruder.«

Er lächelte schief.

»Mit Brüdern scheinen Sie kein Glück zu haben, Gräfin, weder mit dem eigenen noch mit dem, der so etwas wie ein Bruder für Sie ist. Zum Glück ist das mit Ihrer Schwester anders. Gräfin Sabrina weiß, was sie will, die geht ihren Weg und weiß, was sie ihrem guten Namen schuldig ist.«

Alexandra nickte.

»Ja, Herr Zumbach, zum Glück ist Sabrina anders. Die hat sich standesgemäß verheiratet, liebt ihren Mann und ihre vier kleinen Töchter …, eine Bilderbuchfamilie. Doch das löst leider nicht mein Problem. Ich schlage deswegen vor …«

Er ließ sie nicht aussprechen, sondern sagte: »Ich mache es, Gräfin. Ich nehme mich der Sache an, und das geht nur vor Ort … Für ein paar Tage kann Thomas Koch mich vertreten, oder die Jungens übernehmen es im Team gemeinsam.«

Alexandra ahnte, wie schwer ihm diese Zusage gefallen war, und sie war sich durchaus bewusst, dass er es nur ihretwegen gemacht hatte. Er mochte sie, mochte sie sogar sehr, und er wusste auch, welche Verantwortung sie trug und mit welcher Bravour sie alles meisterte. So weit es ihm möglich war, nahm er ihr sehr viel Arbeit ab.

»Danke, Herr Zumbach. Das werde ich Ihnen nicht vergessen, und Enno wird Ihnen auch auf ewig dankbar sein. Wenn hier etwas zu retten ist, dann können nur Sie es, sonst niemand.«

Lob war ihm peinlich, da unterschied er sich kaum von seiner Chefin.

»Ist schon gut«, winkte er ab. »Dann werde ich mich mal in die Unterlagen vertiefen.«

Er griff nach dem Ordner.

»Wenn ich noch Fragen habe, rufe ich an, und am besten fahre ich dann auch gleich morgen früh los …, der frühe Vogel fängt den Wurm. Wir dürfen jetzt keine Zeit mehr verlieren.«

Am liebsten wäre Alexandra jetzt aufgestanden und hätte ihn umarmt, doch das ließ sie bleiben, weil sie sich sicher war, dass ihm das mehr als peinlich sein würde.

Peter Zumbach gehörte zu den Menschen, die Gefühle nur höchst ungern zeigten, deswegen beließ sie es bei einem erneuten: »Danke, Herr Zumbach.«

Sie besprachen noch die weitere Vorgehensweise, Alexandra gab ihm Informationen zu Beyen, redete mit ihm auch noch ein wenig über Enno, wobei sie sehr bemüht war, ein positives Bild von ihm zu zeichnen.

Ein wenig später verabschiedeten sie sich voneinander, Alexandra war wieder allein, doch die Euphorie wollte sich nicht wieder einstellen, und das war auch gut so. Sie durfte sich jetzt nicht in Träume verlieren, denn Entscheidungen standen an, die unaufschiebbar waren und die ihre ganze Aufmerksamkeit erforderten.

Später, dachte sie, während sie mit leichtem Widerwillen nach einem Vorgang griff, später würde sie wieder an Joe denken.

Für den Moment musste sie sich mit der Freude begnügen, von der sie erfüllt war, und das war schon eine ganze Menge.

Joe, dachte sie, und ein zärtliches Lächeln glitt über ihre Lippen, dann aber konzentrierte sie sich auf ihre Arbeit. Ob sie es nun wollte oder nicht, sie musste getan werden.

Nach getaner Arbeit wollte Alexandra wie eine Verrückte anfangen, sich ein Outfit für das Treffen auszusuchen, doch nachdem bereits Berge von Hosen, Blusen, Röcken, Jacken und Pullovern sich vor ihr auftürmten, hielt sie inne.

Darauf kam es doch überhaupt nicht an.

Als sie wusste, dass sie Joe bei ihrer Schwester Sabrina treffen würde, hatte sie auch einen solchen Zirkus veranstaltet, hatte sich schließlich aufgebrezelt mit dem Resultat, dass die kleine Elisabeth sich übergeben hatte und sie sich vor Joes Eintreffen umziehen musste, in ein schlichtes Oberteil, eine schlichte Hose. Die Welt war nicht zusammengebrochen. Ganz im Gegenteil, sie war sich nicht verkleidet vorgekommen und hatte sich wohlgefühlt.

Warum verfiel sie schon wieder in ein solches Verhaltensmuster?

Sie ging mit ihm nicht auf einen Ball, nicht zum Essen in ein Luxusrestaurant. Sie würde ihn in einer lärmerfüllten, unpersönlichen Ankunftshalle eines Flughafens treffen, vermutlich mit ihm in einem der ebenso unpersönlichen Bistros einen Kaffee trinken, und dann würde sie ihn in die Abflughalle begleiten, damit er seinen Flieger nach Brüssel nehmen konnte.

Es waren knappe zwei Stunden, die sie gemeinsam haben würden. Da würde er ihr vermutlich lieber in die Augen blicken anstatt sich Gedanken um ihr Outfit zu machen. Das würde er vermutlich überhaupt nicht bewusst wahrnehmen.

So wie sie Joe einschätzte gehörte er nicht zu den Männern, die Frauen über ihr Äußeres definierten.

Angesichts dieser Gedanken machte sie sich seufzend daran, das angerichtete Chaos wieder zu beseitigen und alles wieder in die Schränke und Schubladen zurückzuräumen.

Sie ärgerte sich über sich selbst und murmelte vor sich hin: »Wer keine Arbeit hat, der macht sich welche.«

Das alles hier hätte sie sich ersparen können, es war so unnötig wie ein Pickel auf der Nase.