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Die kalten Sekunden E-Book

Remigiusz Mróz

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Beschreibung

Hätte ich ihr den Heiratsantrag einen Moment früher gemacht, wäre das nie passiert. Wir wären nicht angegriffen worden, und sie wäre nicht für immer aus meinem Leben verschwunden. Zehn Jahre nach dem Verschwinden seiner Verlobten Ewa ist Damian Werner ein Schatten seiner selbst. Er ist sich sicher, dass er sie nie wiedersehen wird. Eines Tages stößt er jedoch auf eine Spur – jemand sucht nach Ewa und hat ein Bild von ihr ins Netz gestellt. Kurz darauf postet der Unbekannte ein weiteres Foto. Wer sucht die junge Frau? Und kann es nach all den Jahren wirklich Ewa sein? Damian und Ewa waren bereits als Kinder unzertrennlich, sie hatten keine Geheimnisse voreinander. Doch als Damian weitere Nachforschungen anstellt, muss er feststellen, dass er seine große Liebe wohl doch nicht so gut kannte, wie er immer gedacht hatte.

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Remigiusz Mróz

Die kalten Sekunden

Thriller

Aus dem Polnischen von Marlena Breuer und Jakob Walosczyk

Über dieses Buch

Hätte ich ihr den Heiratsantrag einen Moment früher gemacht, wäre das nie passiert. Wir wären nicht angegriffen worden, und sie wäre nicht für immer aus meinem Leben verschwunden.

 

Zehn Jahre nach dem Verschwinden seiner Verlobten Ewa ist Damian Werner ein Schatten seiner selbst. Er ist sich sicher, dass er sie nie wiedersehen wird. Eines Tages stößt er jedoch auf eine Spur – jemand sucht nach Ewa und hat ein Bild von ihr ins Netz gestellt. Kurz darauf postet der Unbekannte ein weiteres Foto. Wer sucht die junge Frau? Und kann es nach all den Jahren wirklich Ewa sein? Damian und Ewa waren bereits als Kinder unzertrennlich, sie hatten keine Geheimnisse voreinander. Doch als Damian weitere Nachforschungen anstellt, muss er feststellen, dass er seine große Liebe wohl doch nicht so gut kannte, wie er immer gedacht hatte.

Vita

Remigiusz Mróz, geboren 1987, hat einen PhD in Jura und gab seine Anwaltskarriere auf, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Mit gerade mal 30 Jahren hat er bereits 25 Bücher veröffentlicht, darunter eine Justizthrillerreihe, die sich in Polen millionenfach verkauft hat und für das Fernsehen verfilmt wird. In Polen ist jedes seiner Bücher auf Platz 1 der Bestsellerliste.

For those who know that silence is the most powerful scream.

 

There are two kinds of males – men who stand up for women’s rights & cowards.

 

Abaida Mahmood

Teil I

1

Hätte ich die Frage nur einen Moment früher gestellt, wäre all das nie passiert. Man hätte uns nicht überfallen, ich wäre nicht ins Krankenhaus gekommen und sie nicht für immer aus meinem Leben verschwunden.

Dreißig Sekunden hätten gereicht, vielleicht sogar weniger. Aber manchmal ist das genug, und dann zerstört ein kurzer Moment das ganze Leben. Und das, was davon bleibt, wird zu einem einzigen langen Versuch, zu vergessen.

Mir gelang es nicht. Immer wieder ging ich die Ereignisse im Kopf durch und überlegte, was gewesen wäre, wenn wir ein Bier weniger getrunken, den Pub früher verlassen oder nicht so lange am Fluss geraucht hätten.

In der Psychologie nennt man das «kontrafaktisches Denken»: Der Verstand erfindet alternative Szenarien für etwas, das bereits stattgefunden hat. Das ist kein seltenes Phänomen, auch kein negatives – es erlaubt uns ja, in der Zukunft denselben Fehler zu vermeiden, und manchmal baut es uns wieder auf und gibt uns das Gefühl, Kontrolle über das eigene Schicksal zu haben.

In meinem Fall war es genau umgekehrt. Ich verfiel in noch tiefere Depressionen, mein Schuldgefühl wuchs ebenso wie das Gefühl, jeglichen Einfluss auf meine Umgebung verloren zu haben.

Immer wieder sagte ich mir, dass ich den Ring nur ein paar Sekunden früher aus der Tasche hätte holen müssen.

Aber das hatte ich nicht. Jeder noch so kleine Schritt an jenem unglücklichen Tag, jede noch so belanglose Entscheidung führten zu dem, was passiert ist.

Der Samstagabend vor zehn Jahren hatte ganz normal begonnen. Ich war mit Ewa in den Highlander gegangen, unseren Lieblingspub in der Altstadt von Opole. Er befand sich in einer Gasse direkt am Fluss.

Wir waren Stammgäste dort, schon lange, bevor wir überhaupt legal Alkohol trinken durften. Ebenso oft saßen wir an der Loża Szyderców, der Spötterloge, einer Stelle am Ufer der Młynówka, zu der hinter dem Pub schmale Stufen hinunterführen. Ich weiß nicht, wer sich diesen Namen ausgedacht hat. Er war vor über einem Jahrzehnt dort an eine Mauer gesprüht worden und hatte sich schnell verbreitet.

Als wir nach unten gingen, ahnte Ewa schon etwas. Allerdings hatte das nichts mit der Gruppe Männer zu tun, die im Highlander Bier trank. Sie kannte mich einfach gut und hatte meine Nervosität sicherlich bemerkt.

Wir waren schon ewig zusammen. Als Kinder tobten wir durch die Siedlung an der Ulica Spychalskiego in Zaodrze, unbeschwert und ohne uns zu fragen, was die Zukunft uns wohl bringen würde.

Wir waren unzertrennlich. Wir gingen in der Grundschule in dieselbe Klasse, mit zehn küssten wir uns das erste Mal auf der Treppe zur Garderobe. Zu Beginn des Gymnasiums, auf einer Klassenreise, schliefen wir das erste Mal miteinander. Vor dem Studium prophezeiten uns alle, dass es zwischen uns bald aus sein würde, denn Ewa ging aufs Polytechnikum und ich zur Uni. Laut unseren Freunden würden wir Opfer unserer Unzertrennlichkeit werden. Sie lagen falsch.

Wir mieteten eine Wohnung und planten unsere Zukunft. Es schien mir nur natürlich, ihr früher oder später einen Heiratsantrag zu machen. Und vielleicht wusste Ewa genau an diesem Tag, dass ich das vorhatte.

Ich wählte die Loża Szyderców dafür aus, den Ort, an dem wir so viel Zeit zusammen verbracht hatten. Dort hatten wir tonnenweise Nikotin geraucht, literweise billigen Branntwein getrunken und zum ersten Mal gekifft.

Früher war dieser Ort alles andere als romantisch gewesen, ein mit Müll übersätes Fleckchen Ufer, das sich unter der dürren Krone eines einsamen alten Baumes versteckte. Als ich ihr den Antrag machte, war das anders: Plötzlich war die Spötterloge Teil des «Oppelner Venedig», des sanierten Ufergebiets mit seinen charakteristischen, bunt angestrahlten Gebäuden, die fast das Wasser zu berühren scheinen.

Die Loża Szyderców war der richtige Ort. Zumindest dachte ich das.

Ich kniete vor ihr nieder und hätte mich sicherlich wie der letzte Idiot gefühlt, wenn ich vorher nicht so viel getrunken hätte. Ewa schlug theatralisch die Hand vor den Mund und gab mir damit zu verstehen, dass sie genau wusste, was jetzt kam.

Ich schob ihr den Ring auf den Finger, wir küssten uns, hielten uns in den Armen und schwiegen einen Moment lang. Unsere Beziehung war so eng, dass das Schweigen eine Verbindung zwischen uns war und nicht eine Wand, die Menschen trennt.

Wir waren trunken vor Glück und übermütig. Ich legte einen Arm um Ewa, dann stiegen wir die Stufen zum Pub hinauf, um zum Parkplatz zu gehen. Kurz bevor wir den Eingang des Highlander erreichten, traten fünf Männer aus der Tür. Sie waren ziemlich betrunken, grölten und schubsten sich gegenseitig.

Sie beunruhigten uns nicht, sie gehörten einfach zu einer Samstagnacht in der Altstadt von Opole. Doch das änderte sich schnell.

Einer von ihnen starrte Ewa an und verstummte. Er machte plötzlich den Eindruck, als befände er sich im Auge eines Zyklons. Seine Kumpels stießen ihn an, riefen ihm etwas zu, doch er blieb reglos stehen und starrte meine Verlobte an.

«Fuck», sagte er.

Immer noch kehre ich in Gedanken zu diesem Moment zurück, zu dem Blick und der Stimme dieses Mannes. Sie sind für mich genauso verschwommen wie damals, als ich Ewa fester an mich zog und den Schritt beschleunigte.

Derjenige, der gesprochen hatte, stellte sich uns in den Weg. Seine Kumpels schauten ihn fragend an, dann traten sie neben ihn.

«Gibt’s ein Problem?», wollte Ewa wissen.

Jetzt weiß ich, dass ich etwas hätte sagen sollen. Ihre Aufmerksamkeit auf mich lenken, dann wäre vielleicht alles anders verlaufen.

Vielleicht auch nicht.

«Jep …», gab einer zurück.

Die anderen schwiegen, ihre Mienen verhärteten sich, und alle fixierten meine Verlobte. Ich schaute mich nervös um. In der Nähe war niemand zu sehen. Noch ein Stück weiter die Straße hoch, auf dem Marktplatz, wäre sicherlich jemand vorbeigekommen. Am Fluss jedoch war niemand, der uns hätte helfen können.

Ewa murmelte «Sorry» und wollte weitergehen, aber die Männer rührten sich nicht. Sie standen dicht beieinander, ich hatte den Eindruck, mir würde das Herz aus der Brust springen.

«Worum geht es denn?», fragte ich.

«Ihr habt da unten was vergessen», antwortete der Muskulöseste von ihnen und zeigte auf die Treppe.

Die Übrigen waren nicht so kräftig, aber das war unwichtig. Sie waren zu fünft, ich war allein. Selbst ein professioneller Martial-Arts-Kämpfer wäre nicht mit ihnen fertiggeworden.

Das bestätigte mir schon der erste Schlag. Er war unsauber geführt, typisch Straßenkampf, aber so unerwartet, dass er mich beinahe umgehauen hätte.

Der Muskelprotz hatte ihn mir verpasst. Ich hörte Ewa rufen, aber das Rauschen in meinem Kopf war so laut, dass ich kein Wort verstand. Sie packten uns und drängten uns in Richtung Loża Szyderców.

Ehe ich mich versah, waren wir wieder am Fluss. Ich wollte mich losreißen, aber einer von ihnen hielt mich fest, der Erste schlug erneut zu. Noch drei, vier Mal. Ich brach unter dem Baum zusammen, wo wir den ersten Joint zusammen geraucht hatten.

Obwohl das Blut in Strömen aus meinem Mund floss, bemerkte ich den metallischen Geschmack nicht. Das Bild vor meinen Augen war verschwommen, und trotzdem nahm ich wahr, wie sie Ewa ein paar Meter von mir entfernt zu Boden warfen.

Sie sagten etwas, lachten. Ewa schrie. Bis heute kann ich ihre Worte nicht in meinem Gedächtnis finden.

Ich versuchte aufzustehen, doch sie schickten mich wieder zu Boden. Es reichte ein gutgezielter Schlag. Trotzdem versuchte ich, sofort wieder zu meiner Verlobten zu kriechen.

Sie beschäftigten sich schon mit ihr. Einer von ihnen hatte ihre Bluse zerrissen, ein anderer knetete wie verrückt ihre Brüste. Ich schrie tonlos, zumindest kam es mir so vor, während ich vergeblich versuchte, zu ihr zu gelangen.

Da bemerkten sie meinen jämmerlichen Versuch. Ich bekam einen Tritt an den Kopf, kurz wurde mir schwarz vor Augen. Als ich wieder etwas sehen konnte, zerrte einer der Typen Ewa die Hose herunter.

Die Welt schien mir irreal. Von etwas Schwerem erstickt, so wie der Schrei meiner Verlobten, als einer der Angreifer ihr den Mund zuhielt. Ich drohte, fluchte und flehte die Männer sogar an, aufzuhören. Als mir nichts anderes mehr blieb, betete ich zu Gott. Ich versprach ihm alles, wenn er Ewa nur retten würde.

Dann sah ich ihre rote Spitzenunterwäsche. Sie hatte sie vor einiger Zeit gekauft und gesagt, sie sei für spezielle Anlässe.

Brüllend vor Lachen zerrissen die Angreifer Ewas Slip. Der erste öffnete seine Hose und legte sich auf sie. Ein anderer stand hinter mir und hielt meinen Kopf so, dass ich gezwungen war, alles mit anzusehen.

Bei jedem Versuch, mich loszureißen, bekam ich einen Schlag auf den Hinterkopf. Ich schrie und versuchte immer noch, zu Ewa zu gelangen. Ich krallte meine Hände in die Erde, zog mich vorwärts, aber ich war keinen halben Meter weit gekommen, bevor der Vergewaltiger mit ihr fertig war.

Dann legte sich der nächste auf sie. Er presste sie nieder, als wollte er sie zerquetschen. Ich hörte sie kreischen und weinen, ich sah, wie sie versuchte, ihren Peiniger von sich zu stoßen. Sie hatte nicht die geringste Chance.

Es gelang mir, ein Stück näher zu kommen, dann bemerkten sie mich. Einer kam zu mir, sagte etwas und hob das Bein über meinen Kopf. Bevor er seinen schweren Schuh auf mich niederdonnern ließ, schaute ich Ewa an. Der Ausdruck von Leid, Schmerz und Demütigung auf ihrem Gesicht brannte sich mir ins Gedächtnis. Es war das letzte Mal, dass ich sie sah.

Zumindest bis zu dem Moment, als ich zehn Jahre später bei Facebook auf ihr Foto stieß.

2

Die Polizei fand nie heraus, wer die Angreifer waren. Weder sie noch meine Verlobte wurden gefunden. Sie verschwanden ohne jede Spur und mit ihnen das Leben, das ich geplant hatte.

Nicht nur, weil ich plötzlich ohne Ewa leben musste. Mein Leben veränderte sich in jeder Hinsicht.

Nach dem Abitur hätte ich mich für Wirtschaftswissenschaft in Wrocław, Poznań oder Krakau bewerben können. Man hätte mich an jeder Universität mit offenen Armen empfangen. Aber ich wählte die Fakultät für Management in Opole, um mit Ewa zusammen zu sein. Sie wollte die Stadt nicht verlassen.

Lange überreden musste sie mich nicht. Nur sie zählte, und mit guten Ergebnissen konnte ich auch in Opole eine anständig bezahlte Arbeit finden. Vielleicht nicht gerade umwerfend gut, aber so, dass sie uns ein angenehmes Leben ermöglichte. Mehr brauchte ich nicht.

Doch ich beendete das Studium nicht. Von dieser schrecklichen Nacht erholte ich mich nie. Die ersten Monate lief ich auf Hochtouren, versuchte fieberhaft, irgendeine Spur von Ewa zu finden. Ich checkte alle Möglichkeiten, verfolgte jede Fährte, nahm jede Behörde, Organisation und Institution in Anspruch, die mir möglicherweise hätte weiterhelfen können.

Nichts.

Als wäre Ewa in einem Schwarzen Loch verschwunden. Die Männer, die uns überfallen hatten, waren vermutlich nur auf der Durchreise in Opole gewesen. Anfangs war ich davon überzeugt, dass sie aus einem Dorf vor der Stadt kamen, aber nach ein paar Monaten musste ich auch das ausschließen.

Sie blieben namenlos. Und ihre Gesichter existierten mit der Zeit nur noch in meinem Gedächtnis, unscharf und verstörend.

Nach diesen intensiven Monaten hatte ich keine Kraft mehr. Ich verließ die Uni und verschanzte mich in meiner Wohnung. Tiefer und tiefer versank ich in einem lethargischen Sumpf. Ich trank jeden Tag mehr und interessierte mich immer weniger für die Außenwelt.

Irgendwann ging es nur noch darum, das nächste Bier zu öffnen und die Zeit totzuschlagen. Meist machte ich das mit Computerspielen: Dead Space, Left 4 Dead, GTA IV und Fallout 3 ersetzten mir die Wirklichkeit. Und vielleicht überlebte ich nur durch sie irgendwie. Wobei «irgendwie» das Schlüsselwort ist.

Noch bevor ich mich an die neue Situation gewöhnt hatte, war es zu spät, um zu meinen früheren Plänen zurückzukehren. An der Uni hätte ich zu viel wiederholen und im Lebenslauf lügen müssen, zudem wäre ich gezwungen gewesen, mit allem aufzuhören, was mich die ganzen Monate lang am Leben gehalten hatte.

Ungefähr ein Jahr nach der Nacht an der Loża Szyderców kehrte ich an den Ort zurück. Ich fand einen Job als Barkeeper im Highlander und arbeitete dort ziemlich lange. So lange, dass ich alle Kratzer auf der Theke und alle Gäste kannte.

Die Ungeheuer, die Ewa vergewaltigt hatten, kamen nicht zurück. Ich weiß nicht einmal, ob ich wirklich damit gerechnet hatte.

Ich zog von Kneipe zu Kneipe, blieb nirgendwo lange, freundete mich mit niemandem an. In der Stadt, in der zwanzigtausend Menschen leben, kannte mich trotzdem jeder, und niemand wunderte sich, dass ich zum Eigenbrötler wurde.

Das war ich nach wie vor, als ich fast zehn Jahre nach den Ereignissen einen Job in einem neueröffneten Restaurant am Marktplatz bekam, in der Nähe des Denkmals, das «Die Alte auf dem Stier» genannt wurde. Das SpiceX servierte indische Küche, ich arbeitete als Kellner. Es war das einzige Lokal dieser Art in Opole, außerdem günstig gelegen, deshalb reichten Gehalt und Trinkgeld, um meine Wohnung, Alkohol und Breitbandinternet zu bezahlen. Etwas anderes brauchte ich eigentlich nicht.

In den Jahren, in denen es nicht so gut lief, half mir Adam Blicki, den wir schon in der Grundschule «Blitz» genannt hatten. Er war der Einzige, den ich als meinen Freund bezeichnen konnte. Zumindest in einem gewissen Sinn. Wir gingen nie gemeinsam irgendwo hin, ich besuchte ihn nicht, und er kam auch nie zu mir. Er gab nach mehreren Versuchen auf, weil ich so tat, als wäre ich nicht zu Hause.

Dafür kam er regelmäßig in alle Bars, in denen ich arbeitete, als wären es seine Lieblingsorte. Das ging schon fast zehn Jahre so und passte uns beiden am besten.

Normalerweise brachte er gute Neuigkeiten, als betrachtete er es als Ehrensache, meine Laune zu verbessern. Doch diesmal war es anders. Er kam mit dem Laptop unter dem Arm ins SpiceX, sah sich um und winkte mich mit einer nervösen Geste zu sich.

«Werner», rief er und setzte sich an einen Tisch am Fenster.

Ich beeilte mich nicht zu sehr, denn meist geriet er wegen Sachen aus dem Häuschen, die mir eigentlich egal waren. Ich stellte mich neben seinen Tisch und öffnete den Mund, um ihn etwas zu fragen, aber er ließ mich gar nicht erst zu Wort kommen.

«Du musst dir das anschauen», stieß er hervor und klappte den Laptop auf. «Setz dich.»

Es war früh am Morgen, im Restaurant saß nur der Gast, dem ich kurz zuvor ein Mango-Lassi gebracht hatte. Ich musste keine Angst haben, dass ich Schwierigkeiten mit dem Chef bekam, weil ich mich mit einem Freund unterhielt. Ich setzte mich neben Blitz und starrte auf den Monitor.

«Sag jetzt nicht, dass sie das nicht ist», platzte Blitz heraus.

«Was meinst du?»

«Schau», befahl er und zeigte auf den Bildschirm.

Der Computer startete aus dem Ruhemodus, auf dem Monitor erschien ein Post auf Facebook. Das Foto war leicht verwackelt, aber nicht so sehr, dass ich nicht erkannt hätte, wer darauf zu sehen war.

Plötzlich war die Luft um mich herum elektrisch geladen, so als würde sich ein Gewitter ankündigen. Aber nicht in der Ferne donnerte es – der Donner befand sich direkt über mir.

Ewa.

Sie hatte sich so verändert, wie Menschen sich im Lauf eines Jahrzehnts verändern. Die Lachfalten traten deutlicher hervor, sie hatte ein wenig zugenommen, ein bisschen die Haare gefärbt, vielleicht hatte sie ihre Nase korrigieren lassen, aber ich hatte nicht den geringsten Zweifel, dass ich auf dem Foto vor mir Ewa sah.

«Wie …», dann brachte ich kein Wort mehr heraus.

Blitz, den wir auch Blitzer oder Blitzkrieg nannten, reagierte normalerweise blitzartig auf alles, als verpflichtete sein Spitzname ihn dazu. Diesmal war er jedoch in völlige Starre verfallen und konnte mir nicht antworten.

Ich hatte das Gefühl, meine Umgebung würde immer unwirklicher. So wie zehn Jahre vorher am Ufer der Młynówka. Ich wollte schlucken, aber mein Mund schien mit Watte gefüllt zu sein.

«Wie kann das sein?», brachte ich schließlich hervor.

«Weiß ich nicht.»

«Was ist das für eine Fanpage?»

Diese Frage war wohl typisch für unsere Zeit. Früher hätte ich Blitzer gefragt, wie er das Foto gefunden habe, wo es gemacht worden sei usw., doch jetzt musste ich das nicht, denn die Antwort meines Freundes sagte mir alles.

«Spotted: Wrocław.»

Ich schüttelte den Kopf, und erst jetzt wurde mir bewusst, dass das Bild real war. Ich fasste mir an den Hals und schaute mich nervös um. Ich fühlte mich wie Wild in einem dunklen, undurchdringlichen Dickicht, dem sich eine ganze Schar Jäger nähert.

«Werner, das ist sie wirklich.»

Ich zwang mich zu einem kurzen Nicken.

«Und sie war nicht einmal hundert Kilometer von hier entfernt.»

Ich beugte mich wieder über den Computer und riss mich zusammen. Nach langer Suche hatte ich endlich eine Spur. Einen Hauch von Hoffnung, dass ich Antworten auf all die Fragen finden würde, die mir seit zehn Jahren im Kopf herumspukten.

Was war mit ihr nach der Vergewaltigung passiert? Warum war sie spurlos verschwunden? Was hatte sie die ganzen Jahre über gemacht? Hatte sie ihre Angreifer gekannt?

Alle Fragen, die unbekannten und ungelösten Aspekte, kehrten zurück wie eine Artilleriesalve und machten meine Welt dem Erdboden gleich.

Ich schaute das Bild an. Es zeigte Ewa auf einem Open-Air-Konzert. Es war dunkel, spätabends, die Bühne strahlte in verrückten, irgendwie paranoiden Farben.

Sie schaute nicht in die Kamera, vielleicht wusste sie gar nicht, dass jemand sie auf einem Foto verewigte. Sie lachte und streckte eine Hand Richtung Bühne. Neben ihr stand ein Mann im Sweatshirt und hielt sie an der Schulter, als wollte er ihre Aufmerksamkeit auf sich lenken oder sie zu sich heranziehen. Sein Gesicht war nicht zu sehen, er kehrte der Kamera den Rücken zu. Auf dem grauen Kapuzenshirt war das Logo der Foo Fighters zu sehen, eine Bombe mit Flügeln, und die Aufschrift «There is nothing left to lose».

Die Foo Fighters, Blitz’ Lieblingsband. Er mochte ihre Musik schon fünfundneunzig, als wir anderen den Altersgenossen damit imponieren wollten, «Klappmesser» Liroys Texte auswendig zu kennen, heimlich aber die Soundtracks von «Toy Story» hörten.

«Das …», setzte ich unsicher an und zeigte auf das Sweatshirt. «Das ist auf ihrem Konzert? Warst du dort?»

«Ja.»

«Verdammt, Blitz! Hast du sie gesehen?»

Ich hatte den Impuls, ihn zu packen und zu schütteln, hielt mich aber gerade noch zurück. Mein Herz hämmerte, und Hitze breitete sich in meinem Körper aus. Mein Verstand kapierte abwechselnd, was los war, und verlor dann wieder den Kontakt zur Wirklichkeit.

«Nein», antwortete Blitz, «ich hab sie erst vor einer halben Stunde auf dem Foto gesehen, als …»

«Wie hast du es gefunden? Und von wem ist es?», fiel ich ihm ins Wort und machte mir dann bewusst, dass ich mich beruhigen musste, um Blitz nicht mit meinen Fragen zu überfahren. Ich schloss die Augen, richtete mich auf und verharrte einen Moment reglos.

«Wenn du mich ausreden lässt, kann ich’s dir erzählen.»

«Sag schon.»

«Das Konzert war gestern. Die Foo Fighters haben im Städtischen Stadion gespielt.»

«Gestern?!»

«Ganz ruhig …»

Ich holte tief Luft.

«Du hast mir nichts davon gesagt.»

«Weil wir nicht über solche Sachen sprechen», antwortete er und zuckte die Schultern. «Dir geht das am Arsch vorbei, und ich habe keine Lust, davon zu erzählen. Wenn ich eine Tussi aufreiße, sag ich’s dir ja auch nicht.»

Nur Blitzer konnte Frauen auf diese Weise beschreiben. Normalerweise hätte ich das irgendwie kommentiert, aber diesmal kam es mir überhaupt nicht in den Sinn.

«So war es dieses Mal», fügte er hinzu, ohne den Blick von dem Bild abzuwenden. «Leider ist mir das Mädchen abhandengekommen, ich hab sie irgendwo in der Menge verloren. Also hab ich sie gleich heute Morgen gesucht. Und bin ich auf diese Fanpage gestoßen … und auf das Bild.»

Jetzt schauten wir sie beide an wie einen Altar. Im Gegensatz zu dem Mann im Sweatshirt trug Ewa ein T-Shirt einer anderen Band. Zu sehen war nur ein Teil des Namens, Gutierrez Y Angelo. Das Album oder die Single hieß «Better Days». Es sagte mir nichts.

Das Schweigen zog sich hin, und ich bemerkte gar nicht, dass der einzige Gast im Lokal sein Mango-Lassi längst ausgetrunken hatte und sich ungeduldig umsah.

«Vielleicht …», begann ich unsicher. «Vielleicht habe ich voreilig geglaubt, dass sie es ist.»

«Was?»

«Das kann doch nicht sein! Nach zehn Jahren taucht sie einfach so auf?»

«Und was sonst?»

Da hatte er auch wieder recht. Vielleicht hatte ich mich einer falschen Hoffnung hingegeben und voreilig akzeptiert, dass das Ewa auf dem Bild war – aber vielleicht auch nicht. Vielleicht war sie es wirklich.

«Mein Gott …», stöhnte ich und schüttelte den Kopf. «Sie sieht glücklich aus», fügte ich hinzu.

«Sie ist auf einem Foo-Fighters-Konzert!»

«Aber …»

«Hast du gedacht, sie wäre zehn Jahre lang in einem Keller eingesperrt gewesen?»

«Ich weiß nicht, was ich gedacht habe.»

Treffender hätte ich es nicht formulieren können. Es gab zu viele Theorien – einen Teil davon hatte ich mir selbst überlegt. Mich hatte aber auch das beeinflusst, was Journalisten oder anonyme Internetnutzer auf lokalen Portalen alljährlich dazu schrieben – dass Ewa noch immer nicht gefunden sei. Ständig erschienen Artikel, begleitet von Fotos und Bemerkungen, dass das Mädchen höchstwahrscheinlich in den Fluss gefallen wäre. Den Körper habe man jedoch nie gefunden, erklärten die Autoren dieser Beiträge.

Ein paarmal war es vorgekommen, dass jemand eine Sensation hervorrufen wollte. Einmal las ich sogar die Überschrift: «NEUE HINWEISE! DAMIAN WERNER VERHÖRT».

Tatsächlich wurde ich, ungefähr nachdem die Hälfte der Verjährungsfrist verstrichen war, als Zeuge verhört. Einer der Ermittler wollte prüfen, ob die Sache durch Mangel an Beweisen rechtskonform eingestellt worden war.

Das waren die «neuen Hinweise» aus der Überschrift. Eine gewöhnliche Zeitungsente – im Gegensatz zu dem, was ich jetzt vor mir zu sehen bekam.

«Sucht sie jemand?», fragte ich.

«Der Typ, der das Foto veröffentlicht hat. Phil Braddy.»

Ich schaute mir das winzige Bild und den Post an.

«Ein Amerikaner?»

«Engländer», antwortete Blitzer. «Sieht so aus, als hätte er sich für das Konzert extra aus London herbemüht. Und ihm gefiel das Mädchen, das er zufällig dort traf. Er schreibt, sie hätten ein paar Worte gewechselt, gelacht, und dann sei er kurz zu seinen Freunden gegangen. Als er wiederkam, war sie weg. Jetzt will er sie finden.»

Sofort beschloss ich, ihm zu schreiben. Ich wollte wissen, was Ewa gesagt hatte – als hätte das irgendeine Bedeutung.

«Ich hab ihm eine Nachricht geschickt, bevor ich losgegangen bin», fügte Blitzer hinzu.

Ich nickte ihm dankbar zu. Der Gast, der in der Nähe saß, räusperte sich vielsagend, aber ich ignorierte ihn.

«Hat jemand auf seinen Post geantwortet?», fragte ich.

«Mehr als zehn Leute, immerhin ist das Foto ziemlich auffällig.»

Blitzkrieg hatte recht. Die leicht verwischten Lichteffekte im Hintergrund, die große Party und das im Mittelpunkt stehende lachende, hübsche Mädchen. Alle, die die Seite besuchten, mussten es bemerken.

«Hat jemand was Konkretes geschrieben?», wollte ich wissen.

«Nein. Nur sinnlose Kommentare. Die willst du nicht lesen.»

Ich wollte nicht, aber ich würde sie lesen, sobald ich zu Hause war. Vorher musste ich allerdings woandershin. Ich hatte zu viele Filme und Serien gesehen, um nicht zu wissen, dass es ein grundlegender Fehler ist, den Ermittlungsbehörden solche Informationen vorzuenthalten.

Ich dankte Blitz und ging ins Hinterzimmer, um meinen Chef anzurufen. Ich behauptete, ich fühle mich nicht wohl. Die Arbeit in der Gastronomie hatte den entscheidenden Vorteil, dass die Lokalbesitzer solche Meldungen ernst nehmen. Besonders diejenigen, die wollten, dass ihre Gäste wiederkommen.

Meine Vertretung traf ziemlich schnell ein, aber ich schaffte es noch, dem Gast einen Papadam zu servieren, einen dünnen Pfannkuchen aus Kichererbsenmehl, und Ewas Foto so genau anzuschauen, dass ich später jedes Detail im Kopf hatte.

Als ich mich im Präsidium an der Ulica Powolnego meldete, hätte ich dem Beamten, der mich empfing, im Prinzip das ganze Foto aus dem Gedächtnis beschreiben können. Aber das musste ich nicht. Wir gingen auf das Profil, und ich zeigte ihm das Foto. Er sah mich lange an und runzelte die Stirn.

Der Beamte Prokocki hatte die Untersuchung vor zehn Jahren geleitet. Ich erwartete in seinen Augen ein Aufflackern zu entdecken, das mir selbst bestätigen würde, was ich sah.

Der Polizist machte aber eher den Eindruck, als hätte er das Bild irgendeiner Person vor sich.

«Das ist normal», sagte er schließlich.

«Was?»

«Dass Sie in anderen Frauen Ihre vermisste Verlobte suchen.»

Ich öffnete den Mund, doch es kam nichts heraus.

Sein bestimmter Ton hatte mich völlig aus der Bahn geworfen. Prokocki löste den Blick vom Bildschirm, holte tief Luft und sah mich mitfühlend an.

«Sie hatten seitdem keine Beziehung mehr, stimmt’s?», fragte er.

«Nein, ich hatte keine Beziehung. Aber was hat das damit zu tun?»

«Sie fehlt Ihnen immer noch, also ist es nur natürlich, dass …»

«Machen Sie Witze?»

«So etwas kommt vor.»

Ich zeigte mit dem Finger auf den Bildschirm, als wollte ich jemanden beschuldigen.

«Sehen Sie dasselbe wie ich?»

«Ich sehe ein Mädchen, das Ewa ähnelt, Herr Werner. Das ist alles.»

Ich schaute mich ratlos um, als hoffte ich, jemand würde mir helfen.

«Aber das ist sie doch, Herrgott!», rief ich. «Sehen Sie das nicht?»

Er holte wieder tief Luft.

«Ich kann Ihnen leider nicht zustimmen», sagte er in amtlichem Ton. «Zugegeben, die Ähnlichkeit ist da, aber …»

«Ich weiß, wie meine Verlobte aussieht.»

Er erhob sich langsam, als wollte er mich nicht beleidigen. Dann legte er mir die Hand auf die Schulter und erklärte bedächtig, ich wüsste, wie sie vor zehn Jahren ausgesehen hatte, und dass mir mein Verstand nun einen Streich spiele. Das ging ein paar Minuten so, und mit jedem Satz hörte ich ihm weniger zu.

Seine Sicherheit, die Entschiedenheit in seiner Stimme und die fehlende Bereitschaft, anzuerkennen, dass sie es sein könnte, beunruhigten mich.

«Natürlich werden wir das untersuchen», versicherte er und führte mich zum Ausgang. «Bitte zweifeln Sie nicht daran.»

Natürlich zweifelte ich nicht. Vor allem nicht daran, dass hier etwas überhaupt nicht stimmte.

3

Ich war mir sicher, dass mir die Rückkehr nach Hause zumindest etwas Trost bringen würde. Das war jeden Tag so, wenn ich die Tür hinter mir geschlossen und die drei stabilen Schlösser zugesperrt hatte.

Wenn ich nicht mehr aus dem Haus gehen musste, fühlte ich mich wie im Rausch. Wenn ich jedoch aus irgendeinem Grund später noch einmal wegmusste, war ich unruhig und nervös.

Heute sollten meine vier Wände beruhigend auf mich wirken. Nur taten sie das nicht – im Gegenteil, ich fühlte mich in meiner Wohnung wie ein Fremder. Ich füllte den Raum mit den Klängen von Rainbow, im Gegensatz zu Blitzer mochte ich Bands, die schon lange keiner mehr hörte.

Meine Hände zitterten, ich fühlte mich, als hätte ich Fieber. Erst dann bemerkte ich, dass ich völlig verschwitzt war. Das T-Shirt klebte an meinem Rücken, doch die Hitze war aus meinem Körper gewichen. Vor dem Spiegel erkannte ich mich selbst nicht wieder. Ein leichenblasses Gesicht mit schwarzen Schatten unter den Augen. Meine Frisur, die sowieso immer etwas unordentlich war, erinnerte an Kabelsalat.

Ich wusch mir das Gesicht mit kaltem Wasser, dann machte ich ein Bier auf und setzte mich an den Computer. Ich hatte ihn selbst zusammengebaut und ziemlich viel Geld dabei gespart. Während die neueste Reihe von Elder Scrolls hochgeladen wurde, griff ich nach dem Smartphone – um es abzuschalten.

Ich musste aus der Welt verschwinden. Sofort, solange ich noch nicht total verrückt war. Warum sollte ich mich foltern, indem ich den Post auf Facebook noch einmal ansah oder darauf wartete, dass Phil Braddy zurückschrieb.

Ich hatte zehn Jahre gewartet. Jetzt kam es auf ein paar Minuten auch nicht mehr an, und ich musste mich dringend beruhigen.

Blitzer ließ mich allerdings nicht dazu kommen. Kaum hatte ich das Smartphone in die Hand genommen, erschien das lachende Gesicht meines Freundes auf dem Display, und aus dem Lautsprecher tönte mein Standardklingelton. Das Foto hatte Blitz selbst gemacht, vor Jahren, als ich noch im Highlander arbeitete.

Ja, ich gehöre zu diesen Menschen, die, wenn sie das Handy wechseln, alle Fotos übertragen. Heutzutage war das nicht mehr schwierig, aber der Umzug von meinem ersten Sony Ericsson mit Kamera auf das neue Nokia war ziemlich kompliziert gewesen.

Ich hielt Elder Scrolls an und wischte mit dem Finger über das Display.

«Dein Anruf kommt ungelegen», begrüßte ich ihn.

«Hast du es gesehen?», fragte er nervös und räusperte sich. «Nein, hast du nicht, sonst würdest du dich nicht so melden.»

«Was soll ich gesehen haben?»

«Den neuen Post auf Spotted.»

Schnell machte ich das Spiel aus, als hinge von der Geschwindigkeit, in der ich das tat, mein Leben ab. Ich öffnete den Browser und aktualisierte die Seite. Tatsächlich, da war ein neuer Eintrag von Phil Braddy.

«Vielleicht erkennt sie jemand mit diesem Foto», hatte er auf Englisch geschrieben und einen Link zu dem vorhergehenden Post eingefügt.

Ich schaute das Bild an und schien direkt durch ein Tor in eine alternative Wirklichkeit zu schauen. Dieses Foto, ich kannte es, sehr gut sogar. Es war für mich einzigartig.

«Bist du noch dran?», fragte Blitzer.

Ich wollte etwas sagen, konnte aber nicht.

«Werner!»

«Ich … ja.»

«Das ist sie, tausend Prozent», meinte er. «Übrigens steht sie irgendwo auf der Ulica Krakowska, nicht weit entfernt von der ‹Alten auf dem Stier›, und sie ist ein paar Jahre jünger.»

«Zehn Jahre», stöhnte ich.

«Was?»

«Ich hab das Foto selbst gemacht.»

«Wie bitte? Wann? Wo?»

«Ein paar Tage, bevor sie verschwunden ist. Aber … Blitz …»

«Was denn?»

«Ich hab es noch nie jemandem gezeigt. Ich hab es nie ins Netz gestellt und auch niemandem gesagt, dass ich es gemacht habe.»

«Was? Wieso denn?»

«Weiß ich nicht», antwortete ich und rieb mir fieberhaft den Kopf. «Wahrscheinlich, weil ich etwas haben wollte, was nur ich kannte, etwas, das nur meins war, weil …»

«Okay, ist egal», fiel er mir ins Wort. «Woher hat dieser Engländer das Bild?»

«Keine Ahnung.»

Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, woher Phil Braddy das Foto haben könnte. Dieses Foto. Mein Foto.

Alle Erklärungen waren völlig absurd. Selbst wenn er länger mit Ewa geredet hätte, als er im ersten Post behauptete – sie hatte das Foto ja gar nicht. Ich hatte es ihr nicht einmal zeigen können, ja, ich hatte mich selbst erst an das Bild erinnert, als sie schon verschwunden war.

Ich griff nach dem Bier und leerte es in einem Zug. Die Kohlensäure rumorte in meinem Bauch.

Heute hatte ich viel mehr bekommen als nur eine dünne Spur, das war klar. Die Tatsache, dass Braddy das Foto besaß, zeigte doch, dass er irgendwie in die Sache verwickelt sein musste.

«Hat er zurückgeschrieben?», fragte ich.

«Ja.»

Mir lief ein Schauer über den Rücken.

«Gleich, nachdem er das Foto veröffentlicht hat.»

«Und?»

«Er behauptet, dass er sie tatsächlich nicht kennt, sie nie vorher oder hinterher gesehen hat und einfach mit ihr Kontakt aufnehmen wollte. Und er hat gefragt, ob ich sie kenne.»

«Schreib ihm, dass …»

Ich unterbrach mich, weil ich zu dem Schluss gekommen war, dass ich mich nicht länger nur auf Blitz verlassen sollte. Ich ging auf Phil Braddys Profil und starrte das Gesicht an, das mir jetzt so bekannt war, weil ich es stundenlang angeschaut hatte. Dann schrieb ich ihm eine Nachricht:

«Ich kenne das Mädchen. Woher hast du das zweite Foto?»

Blitzer sagte etwas ins Telefon, aber seine Stimme schien sich in der Leitung zu verlieren. Ich starrte auf den Bildschirm, mir wurde noch heißer. Schließlich tauchte das blaue Icon rechts neben meiner Nachricht auf: Braddy hatte die Nachricht gelesen. Allerdings erschien keine Info, dass er eine Antwort schrieb.

Ich schob den Stuhl ein bisschen zurück, beugte mich vor und trommelte mit den Händen auf meine Schenkel. Während ich weiter auf den Monitor starrte, hatte ich das Gefühl, ich würde Braddy herausfordern.

Nur nahm der die Herausforderung nicht an.

«Er antwortet nicht», sagte ich.

«Hä?», murmelte Blitzer. «Hast du ihm geschrieben?»

«Ja, aber …»

«Du solltest das doch mir überlassen.»

Ich konnte mich nicht erinnern, dass wir das so verabredet hatten, aber vielleicht nahm Blitzer ja an, dass er die Sache zu Ende führen musste, die er begonnen hatte.

«Er schreibt immer noch nicht zurück», sagte ich. «Aber die Nachricht gelesen hat er.»

«Warte ein bisschen.»

«Ich mache nichts anderes, Blitz», murmelte ich vor mich hin. «Eigentlich schon seit zehn Jahren.»

Jede Sekunde schien noch langsamer zu vergehen als die vorherige, ich wurde ungeduldig. Ich spürte, dass ich die Antwort genau vor mir hatte. Ich musste diesen Typen nur noch ein bisschen unter Druck setzen.

«Schwachsinn», bemerkte ich. «Die ganze Sache, dass er ein Mädchen vom Konzert finden will. Hier geht es um etwas anderes.»

«Um was?»

«Weiß ich nicht. Aber ich kriege es schon noch raus.»

«Allein?»

«Mit deiner Hilfe», antwortete ich, während mir klarwurde, dass ich ihm wohl nie etwas Netteres gesagt hatte. Eigentlich behandelte ich ihn zum ersten Mal so, wie ich es sollte. Wie einen Freund, auf den ich mich verlassen konnte.

«Klar, mit meiner. Aber vielleicht reicht das nicht.»

«Ich gehe gleich morgen aufs Präsidium.»

«Du warst noch nicht?»

«Doch, aber sie haben mich wieder weggeschickt.»

Nachdem ich ihm von dem Gespräch mit Prokocki erzählt hatte, schwieg er. Mein Blick klebte immer noch am Monitor, als könnte ich Phil Braddy damit zwingen, irgendetwas zu offenbaren.

Doch das Textfeld blieb leer. Mir wurde klar, dass er nicht vorhatte, mir zu antworten. Auch Blitz schrieb er nicht mehr. Ich ging zum nächsten Bier über und wusste schon, dass ich heute ein paar schlechte Entscheidungen treffen und am Morgen mit rasenden Kopfschmerzen aufwachen würde.

«Prokocki hat die Sache gar nicht interessiert?», fragte Blitz schließlich.

«Nicht nur das, er hat sogar versucht, mich abzuwimmeln.»

«Komisch.»

«Dachte ich am Anfang auch.»

«Und dann hast du deine Meinung geändert?»

«Mhm», bestätigte ich. «Jeden Tag verschwinden in Polen etwa fünfzig Personen spurlos. Prokocki bekommt wahrscheinlich ständig Hinweise, dass eine von ihnen wundersamerweise aufgetaucht ist.»

«Aber er hat das Foto gesehen! Er muss sie erkannt haben, schließlich hat er sie monatelang gesucht.»

«Vielleicht hat er sie erkannt», lenkte ich ein. «Und er wollte mir nur keine Hoffnungen machen.»

Das war die einfachste Erklärung, die begründen würde, warum er diesen neuen Beweis so missachtet hatte. Eine andere Möglichkeit, die ich mir überlegt hatte, führte zu viel düstereren Schlussfolgerungen.

Aber eigentlich war all das bedeutungslos. Jetzt, wo das Bild, das ich mit meinem Handy gemacht hatte, im Internet aufgetaucht war, gab es einen unstrittigen Beweis.

Prokocki würde die Gelegenheit nutzen, vorerst war noch Zeit. Die Sache war noch nicht verjährt. Sicher wollte auch er den Fall lösen und die Akte schließen. Wer weiß – vielleicht hatte er nur den Eindruck erwecken wollen, den neuen Beweis nicht ernst zu nehmen, aber in Wirklichkeit saß er schon wieder dran. Ich konnte mir das vorstellen, obwohl ich dazu noch zwei grüne Dosen flüssigen Optimismus öffnen musste.

 

Wie vermutet, wachte ich verkatert auf. Ich war auf dem Sofa eingeschlafen, der Laptop stand aufgeklappt auf dem Couchtisch. Von Braddy hatte ich keine Antwort erhalten. Er ignorierte auch Blitzer.

Ich duschte schnell, eigentlich nur deshalb, um auf dem Präsidium nicht den Eindruck zu erwecken, ich hätte es mit der Ausnüchterungsanstalt verwechselt.

Auf Prokocki musste ich ein Weilchen warten, aber ich hatte auch nicht angenommen, dass er mich sofort empfangen würde. Wahrscheinlich vermutete er, ich sei gekommen, um ihn grundlos zu nerven.

Als er mich schließlich begrüßte, zeigte ich ihm das zweite Bild, dann den Post auf Facebook. Die User zeigten langsam Solidarität mit dem Engländer, der die Polin suchte – sie identifizierten den Ort in Opole, informierten ihn, es sei nicht weit von Wrocław entfernt und dass er am ehesten dort suchen sollte. Allerdings: Niemand erkannte Ewa.

Auch Prokocki nicht.

«Das ist sie?», fragte er reserviert.

Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er diese Frage tatsächlich stellte. Ich schüttelte den Kopf und erklärte ihm noch einmal, dass ich dieses Foto selbst gemacht hatte. Dann zeigte ich es ihm auf meinem Handy.

Er schaute es sich lange an; dann sah er mich an, als sei ich ein Krimineller und nicht jemand, der seine verschwundene Freundin sucht.

«Haben Sie heute früh etwas getrunken?»

Eine rhetorische Frage. Mein Atem ging schnell, und sicher verbreitete ich den Geruch nach Alkohol in seinem Büro.

«Ist das wichtig?», gab ich zurück.

«Nein. Das ist Ihr Leben.»

«Eher ein schlechter Ersatz», murmelte ich und zeigte auf das Display. «Denn nur das ist mir von ihr geblieben, verstehen Sie?»

«Natürlich …»

«Und sehen Sie auch, dass die Fotos identisch sind?»

«Zweifellos.»

«Warum glauben Sie mir dann nicht?»

Er atmete tief durch.

«Das ist nur professionelle Zurückhaltung. Sie können mir glauben, dass ich schon ein paar solcher Fälle hinter mir habe.»

Ich schwieg, um nichts zu sagen, was ich später bereuen würde.

«Sie können sich auf meine Erfahrung verlassen.»

«Ich verlasse mich auf Sie», erklärte ich, obwohl ich im Moment überhaupt kein Vertrauen zu ihm hatte.

«Ich bitte Sie, uns diesen Fall zu überlassen. Und ich verspreche Ihnen, dass wir alles tun, was in unserer Macht steht, um die Umstände zu klären.»

«Daran zweifle ich nicht.»

Ich wartete, dass er noch etwas sagen würde. Dass er den Engländer kontaktieren würde, zum Beispiel, ihn ausfindig machen, was auch immer. Prokocki jedoch erhob sich und streckte mir die Hand entgegen.

Ich dachte, er wolle sich auf diese Art von mir verabschieden, aber das war es nur halb.

«Ich fürchte, Sie müssen uns Ihr Handy überlassen.»

«Wie bitte?»

«Es könnte sich als wichtiger Beweis herausstellen.»

«Aber …»

«Herr Werner, vertrauen Sie mir bitte. Wir werden alles tun, um Ihre Verlobte zu finden.»

Ich schaute das Handy an und hatte plötzlich das Gefühl, ich müsste mich von etwas viel Wertvollerem als nur einem Telefon verabschieden. Eigentlich benutzte ich es gar nicht so oft, dazu gab es keinen Grund, aber das Foto war darauf gespeichert. Und ich hatte keine Kopie.

«Ich würde gerne …»

«Wollen Sie sie finden?», unterbrach mich der Polizist.

Ich nickte.

«Na also, dann geben Sie mir Ihr Handy. Wir wissen, was wir tun.»

Er stand noch immer mit ausgestreckter Hand da und wartete, dass ich ihm das Smartphone gab. Vielleicht hätte ich es mir zweimal überlegt, wäre ich nicht so verkatert gewesen. Und wenn mich das alles nicht sowieso in totale Verwirrung gestürzt hätte.

«Also nehmen Sie das Verfahren wieder auf?», fragte ich, während er mich zur Tür begleitete.

«Falls uns das neue Material das erlaubt, natürlich.»

«Falls?»

«Wir bleiben in Kontakt», versicherte Prokocki.

Für den Moment vergaß ich, dass das ziemlich schwierig sein würde, wo er mir doch gerade das Handy abgenommen hatte.

Aber das Smartphone war nicht das Einzige, das ich an diesem Tag verlor.

Ich kehrte nach Hause zurück mit dem Gedanken, so schnell wie möglich das Foto von Facebook herunterzuladen. Ich musste es haben, denn in gewisser Weise war es mir wichtiger als die Erinnerungen an Ewa.

Doch das Foto war verschwunden. Der Post auch.

Und Phil Braddys Account.

4

In Opole am Vormittag ein Lokal zu finden, in dem man anständig essen konnte, war gar nicht so einfach. Das SpiceX gehörte zu den Ausnahmen. Der Chef öffnete schon am Morgen, wir arbeiteten bis mittags, dann machte er für ein paar Stunden zu, und am Nachmittag ging es mit Volldampf weiter.

In den Mittelmeerländern oder in Indien funktionierte dieses Konzept vielleicht. Hier musste es früher oder später in den Bankrott führen, aber ich hatte nicht vor, dem Eigentümer das zu sagen.

Blitzer tauchte kurz vor elf auf, wieder mit dem Laptop. Er sah nicht viel besser aus als ich, wahrscheinlich war er auch fast die ganze Nacht wach gewesen. Ich würde tippen, dass er erst am Morgen eingeschlafen war. Denn als ich ihn nach meinem Besuch im Präsidium auf Skype anrief, um ihm kurz zu erzählen, was er wissen musste, hatte ich den Eindruck, ich hätte ihn geweckt.

Es fühlte sich merkwürdig an, jemanden an meinem Leben teilhaben zu lassen. Und dadurch wurde mir bewusst, dass ich es zehn Jahre lang vor der Außenwelt abgeschottet hatte. Selbst wenn ich meine Eltern in ihrer kleinen Wohnung in der Ulica Grottgera besuchte, sprachen wir so ziemlich über alles, nur nicht darüber, was bei mir los war.

Blitz setzte sich an denselben Tisch wie letztes Mal und winkte mich zu sich.

«Mir geht das nicht in den Kopf», sagte er. «Die Posts sind einfach verschwunden.»

«Hast du dem Admin geschrieben?»

«Gleich nach unserem Gespräch.»

Diesmal blieb mir nichts anderes übrig, als mich auf ihn zu verlassen. Am liebsten hätte ich mir selbst ein paar Tage freigenommen, nicht nur, weil ich jetzt einen Schluck hätte vertragen können, aber ich wusste, dass ich dann Probleme mit dem Chef bekommen würde. Und ich konnte es mir nicht leisten, meine einzige Einkommensquelle zu verlieren. Ich nahm an, dass ich das Geld noch brauchen würde.

«Sie haben geantwortet, sie hätten keine Einträge gelöscht», fügte Blitzkrieg hinzu. «Und im Internet geht ja nichts verloren, trotzdem habe ich keine einzige Spur von den Posts gefunden.»

«Genau wie von Braddy.»

«Eben», antwortete Blitz und drehte gedankenverloren die Speisekarte um, die auf dem Tisch lag. Einen Moment später stockte er, dann hob er langsam den Blick. Er musste nichts sagen, wir waren beide zu dem Ergebnis gekommen, dass sich die Sache als ziemlich zwielichtig herausstellen könnte.

Gelegentlich berichteten die Medien über Polizeibeamte, deren Verfehlungen erst nach Jahren ans Licht kamen. Vor nicht allzu langer Zeit waren mehrere Polizisten wegen Fahrlässigkeit angeklagt worden, weil sie den Mord an einem Mädchen vor über zehn Jahren nicht mit der nötigen Sorgfalt aufzuklären versucht hatten. Man warf ihnen Pflichtverletzung, Amtsmissbrauch und obendrein Strafvereitelung vor.

Jahrelang hatten sie Spuren gefälscht und die Wahrheit verschleiert. Sie waren mit mehreren Personen in eine Verschwörung verwickelt gewesen und hatten sich und die Täter gedeckt. War das auch in Ewas Fall so? Oder stellte ich jetzt schon Verschwörungstheorien auf?

Doch selbst wenn ich annehmen würde, dass die Polizei ihre Finger im Spiel hätte – wie konnten sie dann auf Facebook alle Spuren verschwinden lassen? Und das so schnell?

Und woher hatte Braddy das Foto, das ich gemacht hatte?

Immer neue Fragen schossen mir durch den Kopf, trotzdem war ich überzeugt, endlich die Antworten auf all das zu finden. Ich brauchte nur einen Anhaltspunkt. Etwas, das mich auf die richtige Spur führen würde.

«Ich hab dir gesagt, dass es nicht ausreicht, wenn ich dir helfe», meldete sich Blitzer.

«Stimmt. Und jetzt siehst du, wohin das führt.»

«Eigentlich hatte ich da nicht die Polizei gemeint.»

«Was dann?»

«Eine Detektei.»

Ich schaute ihn ungläubig an. Privatdetektive – ich musste unwillkürlich an billige Szenen vor laufender Kamera denken oder an vermeintlich untreue Ehepartner, denen man nachspionierte.

«Echte Experten», fügte Blitz hinzu und drehte den Laptop zu mir.

Ich sah mich um, ob ein Gast etwas bestellen wollte, dann beugte ich mich über den Tisch. Ein bisschen widerwillig begann ich die Selbstdarstellung einer Firma namens Reimann Investigations zu lesen.

«Der Inhaber war früher Geheimdienstoffizier», sagte Blitzer. «Die Firma hat eine Lizenz vom Ministerium. Sie ist im Staatsregister der Detekteien aufgeführt, ich hab das alles schon gecheckt.»

Ich überflog die allgemeinen Informationen auf der Seite.

«Sie gehören auch zum WAPI.»

«Was?»

«Zum Weltverband der professionellen Ermittler», erklärte er. «Außerdem sind sie Mitglied des WAD, das ist eine seit 1925 bestehende weltweite Assoziation von Detektiven. Das sind nicht irgendwelche unbedeutenden Referenzen.»

Ich beugte mich weiter vor und klickte auf die Preisliste, auch um mir einen Überblick über die Spannbreite ihrer Arbeit zu verschaffen.

Der Stundensatz betrug hundert Złoty, für einen vollen Achtstundentag veranschlagten sie tausendeinhundert. Wirtschaftskriminalität zu untersuchen war ein bisschen teurer, Zeugen ausfindig zu machen günstiger. Reimann Investigations arbeitete außerdem für Anwaltskanzleien, ermittelte im Fall von Wirtschafts- und Eigentumsdelikten und beschäftigte sich natürlich auch damit, vermisste Personen aufzuspüren.

Letzteres wurde auf der Liste der Dienstleistungen ganz unten aufgeführt, mit dem höchsten Stundensatz.

Die Preise begannen bei viertausendsiebenhundert Złoty.

«Schau dir das Team an», riet mir Blitz.

Ich öffnete den nächsten Tab, wo sich Informationen zum Firmensitz und zu den Mitarbeitern befanden.

«Rewal?», fragte ich. «Das ist am Meer, ungefähr sechshundert Kilometer von hier entfernt, Blitz.»

«Egal.»

«Vielleicht für jemanden, der Kohle hat. Mein Geld reicht nicht mal, um dorthin und zurück zu fahren.»

«Sie arbeiten hauptsächlich aus der Ferne.»

Ich zog mir einen Stuhl heran und setzte mich vor den Laptop.

«Die Zeiten haben sich geändert. Heute rennt ein Detektiv nicht mehr mit Fotoapparat und Teleobjektiv hinter einem Verdächtigen her», redete Blitzer weiter. «Es reicht, wenn er weiß, wie man das im Internet macht. Und diese Leute wissen das offensichtlich.»

Ich schaute mir die Liste der Mitarbeiter an. Es waren nicht viele, und aus offensichtlichen Gründen wurden ihre Gesichter nicht gezeigt. Das Unternehmen gehörte Robert Reimann, einem ehemaligen Geheimdienstoffizier für Zollangelegenheiten. Er hatte eine Reihe von Auszeichnungen erhalten und war mehrfach zum Mann des Jahres seiner Woiwodschaft gewählt worden. Leitende Ermittlerin war seine Frau, Kasandra Reimann, was der Firma in gewisser Weise Glaubwürdigkeit verlieh. Ein Betrüger würde wohl kaum seine Familie engagieren. Aber vielleicht war auch das nur eine Illusion.

Das Team umfasste noch weitere Personen. Eine hatte die Wissenschaftlich-Technische Universität in Krakau besucht, die zweite die Technische Universität in Łodź, die dritte kam von der Technischen Universität Kaiserslautern. Alle hatten sie Erfahrung im IT-Bereich, Details wurden nicht preisgegeben.

«Sieht nicht schlecht aus», sagte ich. «Aber …»

«Werner, du brauchst solche Leute.»

«Vielleicht», räumte ich ein. «Aber ich brauche auch das Geld, um sie zu beauftragen.»

«Ich kann dir was leihen.»

«Und von was soll ich’s dir zurückzahlen?»

«Ach, das kriegen wir schon hin», sagte er leichthin und wischte meine Bedenken mit einer Handbewegung fort. «Jetzt ist es erst einmal wichtig, die Wahrheit herauszufinden, bevor sie alle Spuren verwischen.»

Skeptisch zog ich die Augenbrauen hoch.

«Wer genau?»

«Weiß ich nicht», sagte er. «Und das ist vermutlich das Schlimmste.»

Im ersten Moment wollte ich ihm recht geben, aber gleich darauf dachte ich, dass das Schlimmste etwas anderes war. Nämlich die Tatsache, dass jemand die Wahrheit vor mir verborgen hatte.

Nein, nicht jemand. Sie.

Und jetzt taten entweder Ewa oder die Leute, die ihr das Leid zugefügt hatten, alles, damit ich nicht erfuhr, was wirklich nach dieser Horrornacht passiert war.

«Na gut», antwortete ich.

Blitz runzelte die Stirn und musterte mich.

«Wenn du für die Reimanns bürgst, nehme ich sie.»

«Sie scheinen ziemlich tough zu sein», antwortete Blitzkrieg, ohne zu zögern. «Ich habe mir erlaubt, ein bisschen nachzuforschen.»

«Das heißt?»

«Ich hab sie gegoogelt.»

«Das ist nicht wirklich nachforschen, sondern das virtuelle Äquivalent, um rumzufragen.»

«Unterschätz die Macht dieses Instruments nicht. Einige Leute leben davon.»

«Ich unterschätze nichts», gab ich zurück.

«Zum Beispiel Informatiker. In neunundneunzig Prozent der Fälle resultiert ihre Überlegenheit den Normalsterblichen gegenüber daraus, dass sie die Suchergebnisse schnell überblicken, die ihnen Google anzeigt.»

Blitzer ließ sich noch ein bisschen über die historische Bedeutung der Firma aus, die von zwei Doktoranden aus Stanford gegründet worden war. Ich schaltete ungefähr in dem Moment ab, in dem er behauptete, eine nicht funktionierende Suchmaschine sei der eine universelle und unwiderlegbare Beweis, dass das Internet auf einem Computer nicht laufe. Und dass wir an den Punkt in der Geschichte gelangt seien, wo es schwierig sei zu glauben, dass Page und Brin Google geschaffen hatten … ohne es selbst nutzen zu können.

Während Blitzer munter weiterredete, vielleicht, um so mit seinen Gefühlen klarzukommen, schaute ich mir weitere Referenzen und Nachweise an, dass die Firma Reimann Investigations tatsächlich ihr Geschäft verstand.

Ich hörte erst wieder hin, als mein Freund auf das eigentliche Thema zurückkam.

«Egal, schau es dir doch selbst noch mal an», sagte er, als er mein Desinteresse bemerkte. «In Pomorze sind das keine Unbekannten. Die sponsern wohltätige Einrichtungen, unterstützen Unternehmen in der Region und unterhalten zwei Tierheime.»

«Klingt verdächtig.»

Blitz verdrehte die Augen.

«Wenn Leute, die anderen helfen, für dich verdächtig sind, dann will ich nicht wissen, wie die Welt aus deiner Perspektive aussieht.»

«Wie ein Ort, den ein paar Arschlöcher um jeden Preis zerstören wollen.»

«So schlimm ist es nicht.»

«Nein», gab ich zu und zuckte mit den Schultern. «Nur, dass alle anderen neugierig zuschauen und warten, wie sich die Ereignisse so entwickeln, anstatt sie aufzuhalten.»

«Das passt schon eher zu dir.»

«Hm», murmelte ich. Ich hatte nicht vor, mich weiter in den Pessimismus hineinzusteigern, der mich sowieso schon befallen hatte. «Was hast du noch über die Reimanns erfahren?»

«Nur, dass sie anonym irgendwelche NGOs unterstützen.»

«So anonym, dass du mir davon erzählst.»

Blitzer seufzte, als bedrückte ihn der Gedanke, dass ich ihn wie einen Advocatus Diaboli behandelte.

«Das haben irgendwelche Lokalreporter herausgefunden, die Information ist nicht bestätigt.»

«Es klingt aber trotzdem verdächtig», wiederholte ich und hob die Hand, um ihn davon abzuhalten, mir zu widersprechen. «Ich meine eher, wenn sie vermutlich ein kleines Vermögen gemacht haben, und …»

«Jupp, haben sie», bestätigte er.

«Mit ihrer Detektei?»

«Nein. Robert Reimann verließ den Dienst, weil er ein paar Yachthäfen, Restaurants und agrotouristische Betriebe in der Umgebung geerbt hatte. Seine Frau hatte ebenfalls eine Firma, ein schnell expandierendes Immobilienunternehmen.»

Blitzkrieg hatte seine Hausaufgaben gemacht, das musste ich ihm lassen. Er servierte mir eine mögliche Lösung meines Problems auf dem Silbertablett. Und obendrein bot er an, das zu bezahlen.

Ich sah ein, dass ich nicht länger zögern sollte.

«Okay», sagte ich, «wenn du bereit bist, mir das Geld zu leihen, versuchen wir es.»

«Super. Vor allem, weil ich mit ihnen schon einen Stundensatz ausgehandelt habe.»

«Wie bitte?»

«Ich habe das Finanzielle schon mit Kasandra besprochen. Ein echter Schatz.»

«Zweifellos.»

Ich stellte mir eine typische Businessfrau vor, die arrogante Gattin eines reichen Provinzmagnaten. Obwohl sie laut Blitz ihre Privatsphäre schützen wollten und sich selten in der Öffentlichkeit zeigten, nahm ich an, dass sie wie ein Hollywood-Traumpaar aussahen.

«Bezahlt wird im Voraus, denn sie können mehr oder weniger einschätzen, welchen Aufwand die Ermittlung erfordert.»

«Und? Wie viel nehmen sie?»

Blitzer tat das Thema mit einer Handbewegung ab, aber ich vermutete, dass der Preis um einiges höher war als auf der Homepage angegeben.

«Du musst wissen, dass sie nicht jeden Fall annehmen.»

«Nur die, die in den Medien gut ankommen?»

«Nein. Sie sind nicht auf Sensationen aus.»

Arbeiteten die wirklich im Verborgenen? Eigentlich war das vom PR-Standpunkt her gesehen eine angemessene Strategie für ein Unternehmen, das bis zu einem gewissen Punkt undurchschaubar sein sollte. Vielleicht stellten sie wirklich die Antithese zu all den Detektiven dar, die ich immer im Fernsehen sah.

Solche, an die sich vor allem die Verzweifelten wandten. Ich seufzte und dachte, dass ich tatsächlich einer von ihnen war. Das bewies, in welch mieser Situation ich mich befand. Nun denn, wenn die Polizei mir nicht helfen wollte und die Beweise schneller verschwanden, als sie auftauchten, was blieb mir anderes übrig?

«Es gibt eine Bedingung», stellte Blitzer klar.

«Welche?»

«Du schaust heute Abend vorbei.»

«Was? Wo?»

«Scheiße, Werner …, das sagt man so, wenn man jemanden einlädt», stöhnte er. «Du hast es tatsächlich nicht so mit zwischenmenschlichen Kontakten, was?»

Auf diese Frage musste ich nicht antworten. Noch vor zehn Jahren hatte ich mich in nichts vom Durchschnittsabsolventen einer Universität unterschieden; die fünf Jahre Studium hatte ich, wann immer es ging, auf Partys verbracht, und ich hatte keine Defizite gehabt, wenn es um zwischenmenschliche Beziehungen ging.

Jetzt war ich an dem Punkt angelangt, an dem ich sogar virtuelle Multiplayer-Spiele aufgegeben hatte. Ich war im Einzelspielermodus.

«Du schaust vorbei, wir trinken Bier und besprechen alles.»

«Heute? Eigentlich wollte ich …»

«Was?», unterbrach er mich. «Dich allein besaufen?»

Obwohl mir mein Kater immer noch zusetzte, hatte ich genau das vorgehabt.

Schlussendlich hatte ich keine andere Wahl, als Blitzers Vorschlag zuzustimmen. Ich sah sogar ein, dass es mir guttun könnte. Und vielleicht konnten wir uns mit vereinten Kräften Klarheit über die Dinge verschaffen.

 

Am Schluss waren wir stockbesoffen.

Die ersten ein, zwei Stunden tranken wir tatsächlich Bier. Aber das war nur das unschuldige Präludium, bevor wir zu dem härteren Zeug griffen, das Blitz im Kühlschrank hatte. Als stärkstes Gift erwies sich Gin Tonic, aber ich vermute, dass bei der Mixtur, die wir schon intus hatten, uns sogar ein alkoholfreies Bier den Rest gegeben hätte.

Als ich aufwachte, fühlte ich mich gar nicht mal so übel, also lag die Schlussfolgerung nahe: Ich war noch immer betrunken. Das Schlimmste sollte jedoch noch kommen.

Ich quälte mich aus dem Bett im Gästezimmer und ging ins Wohnzimmer. Was ich sah, war eine postapokalyptische Landschaft. Mein Blick stolperte über leere Flaschen, zusammengedrückte Dosen, offene Chipstüten und überquellende Aschenbecher. Mir wurde flau im Magen.

Wie durch einen Nebel erinnerte ich mich, dass wir nach dem ersten oder zweiten Bier Reimann Investigations kontaktiert hatten. Ihre Vorgehensweise beunruhigte mich ein wenig, sie hatte etwas Konspiratives. Um mit der Person zu chatten, die mit dem Fall betraut war, erhielt man per SMS einen einmaligen Zugangscode, den man dann auf einer bestimmten Seite zusammen mit dem persönlichen Log-in und einem Passwort eingeben musste. Die Seite hatte keine Domain, nur eine IP-Adresse, außerdem wurde uns versichert, dass sie in keiner Suchmaschine verzeichnet war.

Ich bekam den Eindruck, dass das alles Marketingstrategien waren, die den Klienten den Eindruck vermitteln sollten, sie hätten es mit echten IT-Spezialisten zu tun. Vielleicht sogar mit einer Gruppe von Hackern, die sich nicht outen wollte.

Wir übergaben RI die wichtigsten Informationen, legten die Zeit für ein Gespräch am folgenden Tag fest und begannen dann alle alkoholischen Getränke durchzutesten, die Blitzer zu Hause hatte.

Vielleicht waren wir sogar irgendwann losgegangen, um mehr zu kaufen, ich war mir nicht sicher.

Jetzt, während ich das Ausmaß des im Wohnzimmer herrschenden Chaos betrachtete, kam es mir vor, als hätten wir Einkäufe im Großhandel getätigt.

Ich sammelte meine Sachen ein, dann schwankte ich Richtung Tür. Ich wollte Blitzer nicht wecken – für sein ganzes Engagement sollte er sich wenigstens ausschlafen dürfen.

Als ich die Wohnungstür erreichte, sah ich, dass sie nur angelehnt war.

Für einen Moment verspürte ich Angst, aber mein benebelter Verstand jubelte mir sofort den Gedanken unter, dass wir bei unserer Rückkehr aus dem Laden vermutlich zu betrunken gewesen waren, um sie zuzumachen.

Ich schluckte meinen zähen, nach Alkohol schmeckenden Speichel hinunter und drehte mich um. Nach kurzem Zögern ging ich zu Blitzers Schlafzimmer. Mir war leicht schwindlig, als ich die Tür öffnete. Das war jedoch nichts im Vergleich zu dem Gefühl, das mich überwältigte, als ich Blitzer sah.

Er lag rücklings auf dem Bett, ein Arm hing hinunter auf den Boden. Das Laken war voller Blut, und Blitzer starrte mit leeren, aufgerissenen Augen zur Decke. Sein Mund war unnatürlich weit offen, wie zu einem makabren Schrei erstarrt.

Ich weiß nicht, wie lange ich ebenfalls wie erstarrt dastand.

Dann stürzte ich stolpernd zum Bett. Ich legte einen Finger an seine Halsschlagader, aber das war nur ein reiner Reflex. Mir war absolut bewusst, dass es sinnlos war zu kontrollieren, ob mein Freund noch lebte.

5

Ich überlegte lange, wen ich auf den Fall der jungen Frau aus Opole ansetzen sollte. Im Grunde kamen nur zwei Personen in Frage, alle anderen hatten zu tun. Robert ließ ich außen vor – für ihn war Reimann Investigations nur noch Nebensache. Anfangs ein Hobby, war es inzwischen zu einem seiner vielen verschütteten Interessen verkommen.

Schließlich entschied ich mich für Jola Kliza, die in Deutschland, in Kaiserslautern, studiert hatte und die wir eigentlich nur aus diesem Grund eingestellt hatten.

Sie war dünn und voller Komplexe, machte aber keinen schüchternen, sondern einen eher schroffen Eindruck. Weil sie sich unwohl fühlte, nicht wegen eines bösartigen Charakters. Als wir sie einstellten, würdigte Robert sie keines Blickes, dabei wusste er weibliche Schönheit durchaus zu schätzen.

Wir trafen uns in einem von Roberts Lokalen in der Ulica Grunwaldzka in Pobierowo. In der Hochsaison befand sich das Baltic Pipe im Belagerungszustand, aber zu dieser Jahreszeit regelte ich geschäftliche Dinge gerne in diesem Café.

Obwohl unsere Klienten das sicher nicht vermuteten, hatten wir kein eigenes Büro. Im Unternehmensregister stand zwar die Adresse unseres Hauses an der Küste, aber das war nur der amtlichen Notwendigkeit geschuldet.

Mir schien das vernünftig, schließlich arbeiteten wir nur über das Internet. Unser Team bestand aus Leuten wie Kliza, die sich mit der Sicherheit der Surfer vom Kap Rewal im Netz bewegten.

Ich übergab Jola alle notwendigen Informationen, und sie nahm noch am selben Abend Kontakt mit dem Klienten auf. Auf dem Papier war Adam Blicki unser Auftraggeber, aber er legte Wert darauf, dass ein gewisser Damian Werner alle Entscheidungen traf.

Zum ersten Mal kam Kliza zu spät zu einem Treffen. Ich vermutete, sie hatte die ganze Nacht nach Informationen gesucht. Als wir sie einstellten, dachten wir, unser Team würde um eine Researcherin reicher, stattdessen aber holten wir uns einen ausgemachten Workaholic ins Boot. Aus unserer Sicht ein Volltreffer.

«Kasandra, das tut mir schrecklich leid», sagte Jola leise, als sie sich hinsetzte.

Ich bestand darauf, dass die Mitarbeiter uns duzten. Robert machte das auch, wenn auch nur ungern. Aber weil wir alle miteinander fast nur über Messenger kommunizierten, schienen mir Förmlichkeiten einfach fehl am Platz.

«Nicht schlimm», sagte ich und reichte ihr die Speisekarte.

Sie schüttelte den Kopf und strich sich das ungekämmte Haar zurecht.