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Ikone ihrer Zeit, Rebellin, Weltstar.
Paris, 1859: Als die fünfzehnjährige Sarah Bernhardt von der Klosterschule nach Paris zurückkehrt, stellt ihre Mutter sie vor die Wahl: Entweder Sahra wird eine Kurtisane wie sie, oder sie heiratet einen Kaufmann aus Lyon. Beides ist für das rebellische Mädchen keine Option – sie will zum Theater. Doch Sarah eckt an, und ihre Bühnenkarriere an der Comédie-Française ist nur von kurzer Dauer. Aber auch wenn sie sich nun dem Willen ihrer Mutter beugen muss, gibt Sarah ihren Traum nicht auf, eines Tages die ganze Welt mit ihrem Schauspiel zu begeistern ...
»Ein intimes und fesselndes Porträt von Sarah Bernhardts atemberaubender Karriere und turbulentem Leben.«Allison Pataki.
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Seitenzahl: 659
Veröffentlichungsjahr: 2022
Paris, 1853: Aufgewachsen bei einer Pflegemutter in der Bretagne, lernt die achtjährige Sarah Bernhardt erstmals das große, laute Paris kennen, als ihre Mutter Julie sie zu sich holt. In der Wohnung in der Rue de Provence gehen Julies Verehrer ein und aus, Sarah erkennt jedoch erst, womit ihre Mutter sich ihr Geld verdient, als sie erneut fortgeschickt wird, diesmal an eine Klosterschule in Grandchamp. Hier blüht Sarah auf, rebelliert und brilliert beim Krippenspiel auf der Bühne. Für Sarah steht fest: Sie will niemals so werden wie ihre Mutter: eine Kurtisane. Wild entschlossen lehnt sie zurück in Paris den Antrag eines Kaufmanns ab und widmet sich der Schauspielerei. Doch Sarahs Karriere an der renommierten Comédie-Française endet bereits in ihrer zweiten Saison in einem Skandal. Allen Widerständen zum Trotz lässt sie sich dennoch nicht von ihrem Traum abbringen, auf den großen Bühnen der Welt das Publikum mit ihrer Kunst zu verzaubern.
C. W. Gortner wuchs in Südspanien auf. In Kalifornien lehrte er an der Universität Geschichte mit einem Fokus auf starke Frauen in der Historie. Heute lebt und schreibt er in Nordkalifornien. Im Aufbau Taschenbuch ist bereits sein Roman »Marlene und die Suche nach Liebe« erschienen.
Mehr Informationen zum Autor unter www.cwgortner.com.
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C. W. Gortner
Die Kameliendame
Sarah Bernhardt und die Bühnen der Welt
Roman
Aus dem Amerikanischen von Christine Strüh und Anna Julia Strüh
Cover
Inhaltsverzeichnis
Titelinformationen
Informationen zum Buch
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Widmung
Motto
Akt 1 — 1853–1859 Das ungewollte Kind
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Akt 2 — 1860–1862 Ingénue – die junge Naive
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Akt 3 — 1862–1864 Die Ohrfeige
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Akt 4 — 1865–1871 Das Odéon
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Akt 5 — 1871–1879 Mademoiselle Révolte
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Akt 6 — 1879–1880 Unternehmerin
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Epilog – 1896
Vorhang: Nachwort
Dank
Impressum
Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...
In Erinnerung an meine geliebte Tante Meme
Die Legende bleibt siegreich, der Geschichte zum Trotz.
Sarah Bernhardt
1853–1859 Das ungewollte Kind
Fast immer ist im kleinen Mädchen die Gefahr einer Frau zu erkennen.
Alexandre Dumas
Wenn aus widrigen Umständen großes Talent erwachsen kann, muss das meine seine Wurzeln in meiner Kindheit haben.
Ich war acht Jahre alt. Die Farben meiner Welt waren Grün und Grau: windgepeitschte Wälder und uralte Steinhügel, ausgewaschen vom über die bretonischen Felder fegenden Wind; ihre Klänge das Geläut der Schafglocken, wenn die Herden zur Weide geführt wurden, und das Gackern der Hühner in ihren Ställen dicht bei dem strohgedeckten, von Weinlaub überwucherten Häuschen, in dem ich wohnte. Es war eine bäuerliche Welt, geprägt vom Auf- und Untergang der Sonne, von unentwegten häuslichen Pflichten, von nasser Gaze, die den Ziegenkäse befeuchtete, von dem warmen, knusprigen Brot frisch aus dem Backofen und vom Brennen der wild wachsenden grünen Zwiebeln, die ich mit meinen nackten Füßen zertrat.
Bis zu dem Tag, an dem meine Mutter zurückkehrte.
»Sarah? Sarah, wo treibst du dich wieder herum?«
Ihre gereizte Stimme schallte vom Gemüsegarten zu mir herüber, wo ich zwischen verlassenen Eichhörnchenkobeln auf einem Ast des alten Feigenbaums hockte. Am Fuß des Baums rekelte sich Pitou, mein Hund, hechelnd in der Sommerhitze, doch die Frau, die mich rief, schien ihn nicht zu bemerken. Dabei hätte jeder, der mich kannte, meinen Aufenthaltsort sofort erraten, denn alle wussten, dass Pitou mir wie ein treuer Schatten überallhin folgte.
Vorsichtig spähte ich zur Terrasse, und dort entdeckte ich sie, eine ferne Gestalt wie auf einem Gemälde, die weiß behandschuhte Hand über die Augen gelegt, als sie mich, die Stimme voller Ungeduld, ein zweites Mal rief.
»Sarah, wo hast du dich verkrochen? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, komm raus, und zwar sofort.«
Ich erkannte sie, obwohl seit ihrem letzten Besuch so viel Zeit vergangen war. Als ihre Kutsche vorgefahren war, hatte mich im ersten Moment eine große Wut überschwemmt, und ich war sofort durch das hintere Gartentor zu diesem Baum gerannt, meinem Geheimversteck. Es war über drei Jahre her, dass sie hier gewesen war. Genau wie heute war sie auch damals unangekündigt gekommen, beladen mit Schokoladenbonbons und billigem Schmuck – eine kleine, rundliche Fremde mit klaren blauen Augen, in eleganten Rüschenröcken und einer mit Seidenblumen verzierten Haube, die so groß war wie eine Servierschüssel. Sie war nur lange genug geblieben, um Luft zu schnappen, ihre Anweisungen zu verkünden und dann sofort zurück dorthin zu verschwinden, wo sie hergekommen war. Am liebsten hätte ich sie nach dieser langen Zeit gar nicht zur Kenntnis genommen, auch wenn ihr Auftauchen immerhin bewies, dass sie mich nicht vergessen hatte.
Schwanzwedelnd, aber auch alarmiert von den zornigen Rufen meiner Mutter, rappelte Pitou sich auf, doch weil ich befürchtete, er würde mich verraten, bedeutete ich ihm, sich wieder zu setzen. Etwas verloren gehorchte er mir, und ich spähte zum Haus hinüber.
In diesem Moment trat Nana Hubert, die teigigen Hände an ihrer Schürze abwischend, aus der Küchentür. Ich sah, wie meine Mutter sich an sie wandte, woraufhin sie auf meinen Baum zeigte und in ihrem harten Bretonisch brüllte: »Milchblümchen! Komm her und sag deiner Mutter Guten Tag.«
Ärgerlich rutschte ich von meinem Ast und blieb dabei mit dem Saum meines Kleids an einem Zweig hängen. Der Stoff zerriss, und während ich, Pitou auf den Fersen, unglücklich zur Terrasse trabte, dachte ich schon daran, wie Nana mich nachher ausschimpfen würde, dass Kleider nicht wie Blätter auf den Bäumen wuchsen – ihre übliche Litanei.
Als ich näher kam, taxierte meine Mutter mich von oben bis unten.
Nana machte ein finsteres Gesicht. Sie war kein unfreundlicher Mensch und liebte mich, so gut sie konnte, wenn sie die Zeit dazu hatte. Leider hatte sie davon sehr wenig. Ihr Ehemann war tot, und nun musste sie sich allein um die Ziegen, die Hühner und das Gemüse kümmern. Gerade heute Morgen hatte sie mir ein blaues Haarband geschenkt – »Blau sieht zu deiner hellen Haut und deinen roten Locken so hübsch aus« –, und als ich jetzt etwas verspätet danach suchte, fand ich das Band an meinem zerzausten Zopf baumelnd wieder. Wenigstens hatte ich es nicht zusammen mit meinen Holzschuhen auf dem Baum gelassen.
Als ich dem Blick meiner Mutter begegnete, fühlte ich mich nicht nur an meinen nackten Füßen sehr schmutzig, sondern überall. Sie dagegen wirkte … untadelig. Makellos. Wie die heilige Jungfrau in der Dorfkirche. Dieselbe Marmorblässe. Fast erwartete ich, eine einzelne durchsichtige Träne auf ihrer Wange zu entdecken.
»Nun?«, fragte Nana. »Was sagen wir zu Mademoiselle Bernhardt?«
»Guten Tag, Mademoiselle«, murmelte ich.
Meine Mutter lächelte. Oder? Es war schwer zu erkennen. Ihre rosaroten Lippen zuckten, öffneten sich jedoch nicht, und die Zähne blieben unsichtbar. Doch ich vermutete, dass sie ebenso perfekt waren wie der Rest – nicht wie bei Nana, die ständig über ihre verfaulten Backenzähne jammerte und über Schmerzen klagte, wenn sie auch nur in ein Stück Brot biss.
»Sie erkennt mich anscheinend nicht mehr.« Die glatte Stirn meiner Mutter legte sich in Falten. »Und sie ist so dünn. War sie krank?«
Nana schnaubte. »Sie war in ihrem ganzen Leben noch keinen einzigen Tag krank. Als Sie mir die Kleine zum Stillen gebracht haben, hat sie ständig gesaugt, als wäre sie am Verhungern. Ich hab getan, worum Sie mich gebeten haben. Sie ist dünn, aber sie isst mehr als ein Maultier.«
»Und badet offensichtlich auch ungefähr so oft«, stellte meine Mutter fest.
»Kinder machen sich nun mal schmutzig«, meinte Nana achselzuckend. »Wozu Wasser verschwenden? Sie badet einmal die Woche.«
»Verstehe.« Meine Mutter musterte mich, als wüsste sie nicht, was sie mit mir anfangen sollte. »Spricht sie überhaupt französisch?«
»Wenn sie Lust dazu hat, ja. Wir haben hier nicht oft Gelegenheit dazu, das sehen Sie ja selbst. Den Kühen ist es gleich, ob man sie auf Französisch oder Bretonisch melkt.« Mit einer Grimasse fügte sie an mich gewandt hinzu: »Jetzt sag doch mal was auf Französisch zu deiner Mutter.«
Aber ich wollte überhaupt nichts zu ihr sagen, weder auf Französisch noch sonst wie. Warum sollte ich die Forderungen dieser Frau erfüllen, die sich ohnehin in weniger als einer Stunde wieder auf den Weg dorthin machen würde, wo sie hergekommen war? Doch Nana sah mich streng an, und ich hörte mich nuscheln: »Pitou est ma chien.«
»Sehen Sie?« Nana stemmte ihre Hände in die breiten Hüften. »Dumm ist sie nicht. Nur eigensinnig. Mädchen wie sie brauchen eine feste Hand.«
Damit wandte sie sich ab und wollte zurück ins Haus, doch meine Mutter sagte: »Es heißt mon chien«, und seufzte tief. »Vielleicht ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Ich bin zurzeit so beschäftigt … Aber ich kann Ihnen mehr anbieten, wenn Sie sie noch ein Jahr hierbehalten.«
Abrupt blieb Nana stehen und warf ihr über die Schulter einen bösen, sehr entschlossenen Blick zu, den ich nur allzu gut kannte. »Für mich ist der Zeitpunkt genau richtig. Ich werde alt, ich muss das Haus verkaufen und zu meinem Sohn in die Stadt ziehen. Sie werden die Kleine heute mitnehmen, wie wir es vereinbart haben. Ihre Tasche ist schon gepackt.«
Ich erstarrte, die Hand auf Pitous struppigem Kopf. Ich traute meinen Ohren nicht. Nach all der Zeit war meine Mutter gekommen, um mich hier wegzuholen? Ehe ich es mir verkneifen konnte, platzte ich heraus: »Das geht nicht! Was soll denn aus meinem Pitou werden, wenn ich nicht da bin?«
Mein Hund wimmerte, und meine Mutter richtete ihre kühlen blauen Augen auf mich. »Dein Pitou? Meinst du vielleicht, ich sollte dich und deinen Köter mit nach Paris nehmen?«
Paris?
Mein Herz begann wild zu klopfen. »Aber ich … ich kann ihn doch nicht einfach hierlassen«, sagte ich, aber meine Mutter hatte sich schon wieder Nana zugewandt. Während meine Mutter leise auf sie einredete, zog ein gequälter Ausdruck über das Gesicht meiner Kinderfrau, gleichzeitig schüttelte sie entschieden den Kopf. »Nein«, hörte ich sie sagen. »Unmöglich. Im Haus meines Sohns gibt es nicht genug Platz. Seine Frau erwartet ein Kind, ich muss mich um sie kümmern. Entweder, Sie nehmen Ihre Tochter heute mit, oder sie muss ins Waisenhaus.«
Plötzlich brannten Tränen in meinen Augen. Gerade als ich ein lautes Schluchzen in mir aufsteigen spürte, wandte Nana sich mir zu und sagte ganz ruhig: »Milchblümchen, du musst jetzt bei deiner Maman wohnen. Ich sorge dafür, dass Pitou ein Zuhause bekommt, mach dir um ihn keine Sorgen. Jetzt geh, wasch dich und hol deine Tasche. Mademoiselle Bernhardt wartet schon auf dich, und die Reise nach Paris ist lang.«
Aber ich konnte mich nicht rühren. Hier war mein Zuhause, dieses Häuschen mit seinen engen, rauchgeschwärzten Zimmern, bei meiner Nana und bei Pitou. Ich wollte nicht nach Paris und mit einer wildfremden, aufgeputzten Frau leben. Ich kannte sie doch überhaupt nicht.
»Nein«, sagte ich laut. Nanas Gesicht verfinsterte sich, und ich fügte hinzu: »Ich gehe nicht weg.«
Sie drohte: »Soll ich die Rute holen?«
Der dünne Weißdornzweig, der dicke Striemen auf meinen Schenkeln hinterließ, gehörte zu den wenigen Dingen, die ich fürchtete. Nur ein einziges Mal hatte Nana ihn benutzt, damals, als ich vergessen hatte, die Zäune zu beachten, und mit Pitou den Koriander zertrampelt hatte. Danach konnte ich eine ganze Woche lang nicht sitzen.
»Jetzt geh!«, befahl Nana. »Wasch dich und hol deine Sachen.«
Meine Mutter trat zur Seite, als ich mit Pitou an ihr vorbei ins Haus stürmte. In meinem kleinen Zimmer fand ich einen Stoffbeutel mit meinen wenigen Anziehsachen und der schon lange vernachlässigten Stoffpuppe. Mein einziges hübsches Kleid hatte Nana auf dem Bett bereitgelegt. Normalerweise trug ich es nur sonntags, wenn wir in der Stadt die Messe besuchten. Ganz still blieb ich stehen und starrte es an. Ich würde nicht gehen. Ich konnte Pitou nicht verlassen. Ich würde einfach weglaufen, meine Tasche nehmen und meinen Hund …
Nanas scharfer Pfiff von der Terrasse riss mich aus meinen Gedanken, Pitou rannte wieder nach draußen, und als ich aufschrie und ihm nachlaufen wollte, stand meine Mutter in der Tür und versperrte mir den Weg.
»Du brauchst dich nicht zu waschen«, sagte sie. »Ich halte es hier keine Sekunde länger aus.«
»Maman, bitte«, rief ich und kämpfte meine Panik nieder. »Ich kann Pitou nicht hierlassen, wenn Nana das Haus verkauft und …«
Doch sie hob die Hand und brachte mich zum Schweigen. »Tu, was ich dir sage.«
Als Pitou mich in die Kutsche klettern sah, fing er laut an zu bellen. Ich riss den Vorhang an der Kutschentür beiseite und starrte, durchflutet von einer schwarzen Woge qualvollen Kummers, zum Haus zurück. Auf der Schwelle stand Nana und hatte meinen Hund, der versuchte, zu entkommen und mir nachzulaufen, fast am Genick gepackt. Mir liefen die Tränen übers Gesicht, als die Kutsche sich mit einem Ruck in Bewegung setzte, das Knallen der Peitsche, die der Kutscher über dem Pferdegespann schwang, klang hart in meinen Ohren.
Innerhalb weniger Minuten hatten wir das Häuschen hinter uns gelassen, und die Kutsche ratterte über die unbefestigte Straße. Schweigend saß meine Mutter mir gegenüber. Sie blieb so lange stumm, dass die Tränen auf meinen Wangen trockneten, während ich unter ihrem bleiernen Blick den Kopf hängen ließ. Schließlich jedoch sagte sie: »Ich bin es nicht gewohnt, ein Kind um mich zu haben, habe viel zu tun und daher weder Zeit noch Geduld für Albernheiten. Du musst meinen Zeitplan respektieren, und zwar immer und jederzeit. Verstehst du das? Immer und jederzeit. Wenn du nicht gehorchst, werde ich ein anderes Arrangement für dich finden.«
»Ja, Maman«, flüsterte ich und hatte einen dicken Kloß im Hals. Ich war viel zu verängstigt, um ihr zu widersprechen, und ich zweifelte keine Sekunde daran, dass sie fähig war, mich in ein Waisenhaus zu schicken.
»Außerdem darfst du mich in Gesellschaft niemals Maman nennen«, fuhr sie fort, während sie mit ihren behandschuhten Fingern affektiert über ihr Kleid strich. »Meine Freunde nennen mich Julie. Du kannst mich entweder mit meinem Namen ansprechen oder als Mademoiselle Julie, wenn dir das lieber ist.«
»Ja, Mademoiselle Julie.«
Sie schenkte mir ein starres Lächeln und ließ den Blick einmal mehr über meine Person gleiten. Nur mit Mühe hatte ich mich in mein einziges gutes Paar Schuhe, mein kleines Cape und das Häubchen gequetscht, alles Sachen, die sie mir bei ihrem letzten Besuch gekauft hatte und die mir jetzt kaum noch passten. Die Schuhe drückten entsetzlich. Ich wackelte mit den Zehen, wünschte mir, ich könnte endlich wieder barfuß sein, und überlegte dabei auch, ob ich es vielleicht schaffen könnte, aus der Kutsche zu springen und zu Nanas Haus zurückzulaufen. Aber noch während ich mir den Schock auf dem Gesicht meiner Mutter vorstellte, wusste ich, dass sie mich nur zurückholen und noch unfreundlicher behandeln würde als ohnehin schon.
»Hör auf zu zappeln.« Sie holte einen Fächer aus ihrer Tasche. »Ehrlich. Hat dir diese Bauersfrau denn gar nichts beigebracht? Du hast Manieren wie eine Wilde.« Einen Moment hielt sie inne und fragte dann: »Hast du überhaupt Lesen und Schreiben gelernt? Vermutlich nicht, oder?«
»Nein, Mademoiselle Julie.« Ich fühlte mich durch und durch erbärmlich. Nicht nur hatte sie mich gezwungen, mein Zuhause und meinen Hund zu verlassen, sie empfand obendrein keinerlei Zuneigung zu mir und wollte genauso wenig mit mir zusammenleben wie ich mit ihr.
»Dann müssen wir uns darum wohl auch kümmern«, meinte sie mit einem tiefen Seufzer. »Eine kleine Analphabetin«, sinnierte sie, als spräche sie mit sich selbst. »Ohne die geringsten Umgangsformen. Bestimmt glaubt mir keiner, dass dieses Mädchen mir gehört.«
Immerhin schien diese Einschätzung ihr Freude zu machen.
Drei Tage später kamen wir in Paris an. Jede Nacht hatte ich in den Gasthäusern, in denen wir übernachteten, in meinen Ärmel geweint, und sie hatte mir den Rücken zugewandt. Als wir die große Stadt erreichten, hatte ich keine Tränen mehr übrig und war sicher, dass ich nie mehr auch nur einen Augenblick des Glücks erleben würde.
Paris verwirrte mich – es war so laut, so voller ratternder Kutschen und Menschen, und erschien mir mit seinem verrauchten Himmel und den gepflasterten Straßen dennoch seltsam farblos. Die Stadt roch nach nasser Wäsche und verschiedenerlei Tierkot – wie ein alter Drachen, dem der angeschwollene Fluss zwischen den Krallen hindurchfloss. Um ein Haar hätte ich wieder angefangen zu weinen, als ich mich an die grünen Wälder der Bretagne erinnerte, die Felder und Verstecke, die ich mir zu eigen gemacht hatte. Würde ich jemals wieder einen Baum sehen?
Als die Kutsche hielt, sagte Julie: »Das ist die Rue de Provence«, als würde es für mich etwas ändern, wenn sie der Straße einen Namen gab. Von den langen Stunden in der Kutsche war ich wie gerädert und hatte einen Bärenhunger, weil ich in den letzten Tagen viel weniger gegessen hatte als gewohnt. Als wir ausgestiegen waren, stand ich vor einem rußgeschwärzten, hohen, schmalen Gebäude, das zwischen andere seiner Art eingeklemmt war.
Dann jedoch wurde die Haustür aufgerissen, und heraus stürmte eine hübsche junge Frau, die Julie verblüffend ähnlich sah. »Sarah, meine Kleine!« Sie küsste mich auf beide Wangen und roch so stark nach Rosenöl, dass ich husten musste. Ihre Augen strahlten in einem etwas dunkleren Blau als die von Julie, und ihre im Nacken zu einem Chignon hochgesteckten Haare glänzten rötlich golden. Genau wie die meinen. Wir sind sicher verwandt, dachte ich. »Oh, meine Kleine«, wiederholte sie liebevoll. »Erinnerst du dich nicht mehr an mich?«
Julie, die hinter uns dem Kutscher Anweisungen zum Ausladen des Gepäcks gab – sie hatte zwei mittelgroße Schrankkoffer mitgenommen, um mich abzuholen; wozu brauchte sie so viel? –, sagte streng: »Jetzt benimm dich doch nicht wie eine dumme Gans, Rosine. Als sie dich das letzte Mal gesehen hat, war sie noch ein Säugling.«
»Ja, natürlich. Sarah, Liebes, ich bin deine Tante Rosine. Deine Mutter ist meine große Schwester.« Meine Tante lächelte, und als sie ihre warme Hand um meine legte, um mich ins Haus zu führen, musste ich erneut gegen die Tränen kämpfen. Freundlichkeit war das Letzte, was ich hier erwartet hatte.
»Willkommen in Paris«, sagte sie, und ich schmiegte mich an sie.
Vielleicht würde es doch nicht so schrecklich werden, hier zu leben.
Im nächsten Jahr lernte ich sehr viel Neues.
Rosine übernahm die Verantwortung für mich, und durch sie erfuhr ich auch, woher meine Familie kam.
Als Töchter jüdischer Eltern in den Niederlanden geboren, waren meine Mutter und ihre beiden Schwestern von dort weggezogen, sobald sie alt genug waren. Henriette heiratete einen Tuchhändler und gründete eine eigene Familie, während Rosine und meine Mutter eine Zeit lang umherreisten, ehe sie sich schließlich in Paris niederließen. Womit sie ihren Lebensunterhalt verdienten, war jedoch ebenso ein Rätsel wie unser geistiges Erbe. Julie befolgte keine der Regeln unseres Glaubens, an unserem Türrahmen hing keine Mesusa, auch in der Wohnung gab es keinen einzigen hebräischen Kultgegenstand. Da Nana mich katholisch erzogen hatte, nahm ich an, dass der Glaube meiner Mutter mehr oder weniger ohne Bedeutung war.
Auch für meine Bildung war Rosine zuständig, und sie unterrichtete mich jeden Tag. Ich lernte, meinen Namen zu schreiben und das Alphabet aufzusagen, mühte mich mit den wichtigsten Buchstaben ab, bis meine Finger krampften und meine Augen tränten. Doch ich erwies mich als eifrige Schülerin, denn Worte faszinierten mich – ein Portal in eine neue Welt, in der Geschichten von Schwanenprinzessinnen und Froschkönigen, von Hexen und fliegenden Kutschen auf Kürbissen halfen, mit dem von Julie angeordneten Zeitplan fertigzuwerden, an den alle, die hier wohnten, sich zu halten hatten.
Der Tag, an dem sich mein neues Leben völlig veränderte, begann wie jeder andere. Der Abend davor war langweilig gewesen, denn Julie hatte wieder einmal ihre Freunde in ihren Salon eingeladen und sie unterhalten, bis nur noch ein Besucher da war. Inzwischen hatte ich mich daran gewöhnt, fremde Herren in der Wohnung ein und aus gehen zu sehen, obgleich es für mich ebenfalls ein Rätsel war, dass Julie ausschließlich männliche Freunde hatte. Manchmal musste ich diese Verehrer, wie Julie sie nannte, auch bedienen und wurde von ihr mit einem Tablett voller Canapés herbeizitiert. Nach einem flüchtigen Blick ignorierten die Männer mich meistens, nur gelegentlich tätschelte einer von ihnen mein Hinterteil und bemerkte: »Das Kind ist ja nur Haut und Knochen. Gibst du der Kleinen nicht genug zu essen, Julie?«, worauf meine Mutter mit ihrem Falsettkichern antwortete: »Sie isst wie ein Scheunendrescher und nimmt trotzdem kein Gramm zu. Dabei ist sie in der Bretagne aufgewachsen, an der guten Landluft … also, man sollte doch denken, sie wäre pummelig wie ich.«
Obwohl die Männer leise lachten, hörte ich den klagenden Unterton in Julies Stimme – es gefiel ihr ganz offensichtlich nicht, dass ich so dünn war. Doch zu meiner Verwunderung schalt sie mich jedes Mal, wenn ich es wagte, beim Frühstück oder Abendessen um eine zweite Portion zu bitten, und erklärte, ich hätte wohl immer noch nicht begriffen, dass das Essen in Paris nicht einfach so aus dem Boden sprießte oder reif von den Bäumen fiel.
Dennoch fanden ihre Verehrer Julie amüsant – ein weiteres Rätsel. Wieso merkten sie nicht, dass meine Mutter so tat, als wäre sie etwas, was sie gar nicht war? An den Nachmittagen vor ihren Einladungen im Salon verbrachte sie Stunden vor dem Spiegel, und ihr Kammermädchen half ihr in ein prunkvolles Kleid. Wenn sie dann allerdings darüber schimpfte, dass ihr Mieder nicht straff genug gebunden war, oder wenn das Mädchen ihr den falschen Armreif brachte, zeigte sich deutlich, dass sie keineswegs so hilflos war, wie sie zu sein vorgab, sondern dass vielmehr alles, was sie tat, einen bestimmten Zweck verfolgte.
Wenn die Verehrer eintrafen, setzte sie ein gleichbleibendes Lächeln auf und las ihren Gästen jeden Wunsch von den Augen ab, während ich beim Servieren der Canapés stets ihren strengen Blick auf mir spürte. Sobald einer der Gäste mir die geringste Aufmerksamkeit schenkte, bedeutete sie mir, in mein Zimmer zurückzugehen, wo ich unter dem Schall ihres Lachens und der Konversation der Männer irgendwann einschlief.
Sie selbst schlief ausnahmslos bis Mittag. Rosine kümmerte sich um mein Frühstück und meinen Unterricht, ehe sie mich zum Spielen auf den Hof schickte, damit ich nicht störte.
»Für deine Maman ist guter Schlaf sehr wichtig«, erklärte mir Rosine. »Sie muss sich so viel wie möglich ausruhen.« Noch ein Rätsel, denn mir schien, dass meine Mutter kaum etwas anderes tat, als entweder in ihrem Schlafzimmer oder im Salon zu faulenzen, was nur gelegentlich unterbrochen wurde, wenn sie einkaufen ging oder sich für einen Abend in der Oper mit Juwelen ausstaffierte.
An diesem speziellen Morgen erwachte ich schon vor Rosine. Wir teilten uns ein Schlafzimmer, denn die Wohnung war nicht groß, aber meine Tante schlief wie ein Stein, müde von den täglichen Strapazen des Haushalts, für den sie allein zuständig war. Durch den Türspalt sah ich, wie ein älterer Herr auf Zehenspitzen leise Julies Zimmer verließ. Er hatte schütteres Haar, aber einen sehr langen Schnurrbart. In seinem grauen Bratenrock mit den glänzenden Ärmelaufschlägen, dem schwarzen Zylinder und dem Gehstock mit silbernem Griff ähnelte er in meinen Augen einem etwas übertrieben fein gekleideten Großvater.
Dass er sich so verstohlen aus dem Staub machte, wunderte mich nicht weiter. Ich hatte ihn schon des Öfteren gesehen, denn er war bereits zur Zeit meiner Ankunft regelmäßig in Julies Salon zu Gast gewesen und offensichtlich ein besonderer Günstling, der oft hier in der Wohnung übernachtete, wenn alle anderen Herren gegangen waren. Auch er hatte mich nie anders als flüchtig gemustert, doch als er jetzt innehielt, um seinen Mantel zu richten, blickte er zufällig in meine Richtung und erwischte mich dabei, wie ich ihn anstarrte. Ich hatte mich noch nicht angezogen, sondern stand in meinem Nachthemd in der halb offenen Tür, mein Zopf aufgelöst zu der krausen Mähne, die meine Tante vergeblich mit heißen Bügeleisen und Holunderspülungen zu bändigen versuchte.
Die milden braunen Augen des Mannes nahmen einen seltsamen Glanz an, und er winkte mich mit dem Zeigefinger zu sich. »Komm her, ma petite«, flüsterte er, und mein Gesicht wurde heiß. »Lass dich mal anschauen.«
Da Rosine mir strengstens verboten hatte, zu fragen, wusste ich nicht, warum diese Männer unser Haus fast jeden Abend außer sonntags besuchten. Sie waren »besondere Freunde« meiner Mutter, und ich hatte ihnen angemessenen Respekt zu zollen.
»Kinder sollte man sehen, aber nicht hören«, ermahnte mich meine Tante. »Hast du das verstanden, Sarah? Julie möchte nicht, dass ihre Verehrer sich irgendwelche Albernheiten anhören müssen.«
Natürlich hatte ich immer mein Möglichstes getan, ihr zu gehorchen. Ich kannte nicht einmal den Namen des Mannes, der jetzt vor mir stand, spürte jedoch, dass seine Aufforderung nicht gehörig war. Noch während ich einzuschätzen versuchte, mit welchen Konsequenzen ich würde rechnen müssen, wenn ich mich weigerte, seinen Wunsch zu erfüllen, trat er einen Schritt auf mich zu.
»Ma petite«, wiederholte er. »Warum versteckst du dich? Ich möchte dich doch nur anschauen.«
Womöglich würde er es Julie erzählen. Behaupten, ich sei unhöflich zu ihm gewesen. Also kam ich vorsichtig hinter der Tür hervor und zupfte in dem Versuch, meine knubbeligen Knie zu bedecken, mit einem schüchternen Knicksen mein Nachthemd zurecht.
Ein Lächeln erschien zwischen den beiden Schnurrbartteilen, gelbliche Zähne kamen zum Vorschein. »Ah, très belle, genau wie deine Maman. Komm näher, mein Kind. Lass dir vom alten Morny ein Küsschen geben.«
Abrupt blieb ich stehen. Vorhin hatte er behauptet, er wolle mich nur ansehen, und jetzt sollte ich mich von ihm küssen lassen? Als er die Hand nach mir ausstreckte – eine knotige, mit Leberflecken bedeckte Hand, wie die eines Trolls im Märchen –, schlug ich seine Finger weg, ehe er mich berühren konnte.
Mit zornig blitzenden Augen wich er zurück. »Weißt du denn nicht, wer ich bin?«, polterte er, und ich hörte Rosine hinter mir heftig schnaufen und die Decke von sich werfen.
Ich musterte den Mann böse. »Ja. Sie sind Julies besonderer Freund, also können Sie doch stattdessen ihr einen Kuss geben.«
Rosine stürzte zu mir, legte mir die Hände auf die Schultern und stieß stockend hervor: »Bitte verzeihen Sie ihr, Monsieur. Sie ist nur ein Kind, und …«
»Ein Kind?« Stirnrunzelnd blickte er auf seine Hand, als hätte ich ihn schwer verletzt. »Sie ist eine streunende Katze. Julie sollte ihr lieber rechtzeitig die Krallen stutzen.«
Eine schreckliche Stille entstand. Doch dann hörte ich meine Mutter vom anderen Ende des mit Gemälden geschmückten Flurs her flöten: »Und das werde ich auch, liebster Morny. Bitte nehmen Sie meine Entschuldigung für ihr unverzeihliches Betragen an.« In einen Morgenmantel aus gemusterter Chinaseide gehüllt, die Haare wie ein Strahlenkranz um ihre Schultern, so schwebte Julie herbei, um den Mann mit zärtlichem Geflüster zur Wohnungstür zu geleiten, durch die er kopfschüttelnd und schmollend verschwand.
Sobald die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, wandte meine Mutter sich blitzschnell zu mir um. Ich drückte mich schutzsuchend an Rosine, die stammelte: »Du darfst Sarah nicht die Schuld geben, Monsieur le Duc hat sich wirklich sehr unpassend benommen. Er wollte sie küssen, und sie – schau sie doch mal an. In ihrem Nachthemd. So etwas tut man doch nicht.«
»So etwas tut man nicht?«, wiederholte Julie. Sie war regelrecht erstarrt, die milchweißen Hände in den Morgenmantel gekrallt, als wolle sie die darauf gestickten Kraniche erwürgen. »Sie hat ihn beleidigt. Womöglich verlässt er mich jetzt und erzählt es auch den anderen. Wovon sollen wir dann leben? Wenn sie hören, dass wir diese verwilderte Kreatur, die uns nur Unannehmlichkeiten bereitet, in meinem Haus beherbergen?«
Kreatur. Für sie war ich also ein Tier. Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass ich noch zornig werden konnte, doch nun riss ich mich von Tante Rosine los und brüllte: »Wenn du mich nicht willst, dann bringe ich mich eben um! Dann hast du wenigstens keine Unannehmlichkeiten mehr!«
Meine Mutter fixierte mich mit ihren eisig blauen Augen, und ihr Blick ging mir durch Mark und Bein. Rosine schrie auf, und mir war endgültig klar, dass Julie nichts für mich empfand – sie liebte mich nicht, hatte mich nie geliebt, mein Tod würde sie nicht kümmern.
Taumelnd floh ich in den Salon. Rosine folgte mir und hielt mich fest, während ich so heftig um mich schlug, dass ich den kleinen Tisch mit den Porzellanfiguren und der Blumenvase umstieß. Kreischend wie das wilde Tier, für das meine Mutter mich hielt, rannte ich zum Fenster und kämpfte mit dem Riegel, fest entschlossen, mich auf die Straße hinunterzuwerfen. In Gedanken sah ich vor mir, wie mein dünner Körper im Nachthemd direkt vor die Kutschen stürzte und auf dem Kopfsteinpflaster blutig zerschellte.
Julies Stimme durchbrach das Chaos. »Sarah Henriette Bernhardt. Es reicht.«
Halb in Rosines Griff gefangen, mit den Händen das Fensterbrett umklammernd, beobachtete ich, wie meine Mutter über den Orientteppich zum Zentrum des maßlos überfüllten Raums marschierte. Zwischen all den Nachbildungen römischer Büsten, den kitschigen Landschaftsgemälden, den Rosshaarsofas und der Polsterbank, den Unmengen nach Kräutern duftender Kissen und Spitzenschals wirkte sie so klein, kaum größer als ich. Wieso hatte ich solche Angst vor ihr?
Ihr Morgenmantel stand ein Stück offen, und ich sah ihren Bauch, der sich unter ihrem Nachtkleid deutlich wölbte. Als sie merkte, dass mein Blick dorthin wanderte, sagte sie: »Du blamierst dich. Schlimmer noch, du blamierst mich. Ich werde diese Ausbrüche keinen Augenblick länger tolerieren.«
Mir gefror vor Angst das Blut in den Adern. Das Waisenhaus. Hinter jedem Tadel, jedem Moment, in dem ich ihr missfiel, lauerte diese Drohung. Hinter mir hörte ich Rosine sagen: »Julie, sie ist doch nur ein Kind. Wie soll sie das denn verstehen?«
»Oh, ich denke, sie versteht viel mehr, als sie zugibt«, entgegnete meine Mutter.
»Maman«, flüsterte ich, und in meiner Verzweiflung kam das Wort, das ich sonst nie benutzte, über meine Lippen. »Verzeih mir. Ich verspreche, dass so etwas nie wieder passiert.«
Sie holte tief Luft. »Das will ich auch hoffen. Geh auf dein Zimmer und sorge dafür, dass ich keinen Mucks mehr von dir höre, bis man dich ruft.«
Sehr langsam und vorsichtig, um nicht auf die Scherben ihrer zerbrochenen Vase zu treten, ging ich an ihr vorbei. Als ich den Raum verlassen hatte, hörte ich Rosine etwas murmeln. Aber Julie unterbrach sie. »Kein weiteres Wort zu ihrer Verteidigung! Dieses Haus ist kein Ort für ein Kind und war es auch nie. Es ist Zeit für ein anderes Arrangement.«
»Ich will nicht weg! Nein! Ihr könnt mich nicht zwingen!« Mein Geschrei hallte durch die Straße, und Passanten schauten sich erschrocken um, als Rosine mich zu der wartenden Kutsche schleifte. Die Pferde schnaubten, das Zaumzeug klirrte, während der Kutscher ironisch amüsiert zuschaute, wie ich mich wehrte.
Seit Julie mir erklärt hatte, ich müsse eine Einrichtung besuchen, in der man mir die dringend notwendigen Manieren beibringen würde, hatte ich auf unterschiedliche Art meinen Protest deutlich gemacht. Einen ganzen Tag lang verweigerte ich jegliche Nahrungsaufnahme, wollte weder baden noch mir die Haare bürsten, bis Julie, bevor sie in einer Wolke von Parfüm und Organza zu einer ihrer Abendgesellschaften verschwand, mit den Fingern schnippte und das Dienstmädchen mich daraufhin mit dem Befehl, mich auszuziehen und zu waschen, ins Badezimmer schubste. Ich weigerte mich zu sprechen und biss mir auf die Zunge, als Julie am darauffolgenden Vormittag nach Hause kam, mir stumm einen Blick zuwarf, sich mit dem Fächer auf die Taille klopfte – die so eng geschnürt war, dass ich mich fragte, wie sie überhaupt Luft bekam – und dann achselzuckend in ihrem Zimmer verschwand, um den Rest des Nachmittags zu verschlafen. Ich weigerte mich zu glauben, dass ich einfach so wieder weggeschickt werden könnte, an irgendeinen entlegenen Ort, wo man mich zwingen würde, das zu tun, was Mädchen angeblich tun mussten. Doch mein Protest fruchtete nicht.
Am festgelegten Morgen zwang Rosine mich in ein unbequemes Kleid mit passendem kleinem Cape, striegelte mir die Haare zu einem Knoten, schmückte diesen mit einem Band und erklärte mir, wir würden in die Tuilerien gehen, um die Menagerie anzuschauen. Sie wusste, dass ich die Menagerie liebte, denn ich vermisste die Gesellschaft von Tieren. Doch in dem Moment, als ich die wartende Kutsche erblickte – eine gute Equipage, die wir für den kurzen Weg zu den Tuilerien niemals gemietet hätten –, wusste ich, dass sie mich angelogen hatte, und begann laut zu heulen.
Auch Rosine war der Verzweiflung nahe. »Sarah, bitte. Es ist kein Weltuntergang, sondern nur ein Internat. Möchtest du nicht zusammen mit anderen gleichaltrigen Mädchen etwas lernen?«
»Nein!« Ich versuchte, mich zu befreien, und es war mir gleichgültig, dass einige vorübergehende Damen stehen blieben, um mich unter ihren Sonnenschirmen stirnrunzelnd anzuschauen. »Ich glaube dir nicht. Sie schickt mich weg, genau wie damals. Ihr werdet mich beide verlassen, genau wie in der Bretagne.«
»Das ist nicht wahr.« Atemlos von unserem Kampf hielt Rosine inne. »Sarah, es war nicht meine Entscheidung, dich wegzuschicken.« Sie machte Anstalten, die Hand unter mein Kinn zu legen, aber ich drehte mich weg. »Sarah, hör mir zu. Es ist zu deinem eigenen Besten, bis du älter bist. Das schwöre ich dir bei meinem Leben.«
Ihr Bekenntnis klang so ehrlich, dass meine Angst zu schwinden begann. Ich liebte meine Tante mehr, als ich es selbst für möglich gehalten hätte, und ganz sicher mehr als meine Mutter. Rosine war so gut zu mir gewesen, hatte mich in ihre Obhut genommen, mir Schlaflieder vorgesungen, wenn wir uns abends ins Bett kuschelten, mich auf Ausflüge mitgenommen, damit ich die Stadt kennenlernte, und dafür gesorgt, dass ich Julie nicht zu oft oder zu heftig auf die Nerven ging.
»Dann hilf mir jetzt!« Meine Stimme versagte. »Lesen und Schreiben hast du mir schon beigebracht. Kannst du mir denn nicht auch noch alles andere beibringen, was ich unbedingt wissen muss?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das kann ich nicht, mein Kind. Wir müssen beide tun, was man uns sagt.«
Wieder wollte sich ein hilfloses Heulen aus meiner Kehle lösen, aber ich zwang mich, es hinunterzuschlucken. Es gab kein Entkommen, es sei denn, ich wollte mich vor die Pferde werfen und mich von ihren Hufen zermalmen lassen – ein Gedanke, der mir gefiel, wenn auch nur aufgrund der Aufmerksamkeit, die es auf sich ziehen würde. Doch wenn ich weiterhin Widerstand leistete, würde es die Sache für Rosine nur schlimmer machen und Julie niemals von ihrem Entschluss abbringen. Sie war nicht einmal mit nach draußen gekommen, um sich von mir zu verabschieden.
»Ich werde dich besuchen, so oft ich kann«, fuhr Rosine fort. »Und an Feiertagen kannst du uns besuchen. Deine neue Schule wird dir gefallen. Es ist eine sehr gute Einrichtung, deine Mutter hat das Beste für dich ausgesucht.«
»Das bezweifle ich«, widersprach ich, stieg jedoch in die Kutsche, setzte mich entgegen der Fahrtrichtung auf den gepolsterten Ledersitz und musterte meine Tante grimmig, die, meinen Koffer vor den Füßen, mir gegenüber Platz nahm. Mit einem Peitschenknall setzte die Equipage sich in Bewegung.
Als wir auf die Durchgangsstraße einbogen, die mich in meine ungewisse Zukunft entführen würde, starrte ich aus dem Fenster zu der sich entfernenden Wohnung, hinauf zu dem mit Spitzenvorhängen verhängten Salonfenster, aus dem ich mich vor einer gefühlten Ewigkeit zu stürzen versucht hatte.
Für einen Moment glaubte ich, einen Schatten dort zu entdecken – die Gestalt meiner Mutter, die mir nachblickte.
Doch als ich blinzelte, war sie verschwunden.
Während der zweistündigen Kutschfahrt versuchte Rosine erneut, mich zu beruhigen. »Die Sacré Cœur in Grandchamp ist eine der für höhere Töchter angesehensten Bildungsanstalten von ganz Frankreich. Sie liegt in Versailles, nicht weit von Paris. Du wirst dort glücklich sein und wirst mit anderen privilegierten Mädchen angemessen unterrichtet.«
Diesen Refrain wiederholte sie, während die Stadt hinter uns immer kleiner wurde und der Blick sich auf Weizenfelder und Kastanienwälder öffnete. Stumm saß ich da, die Hände im Schoß zu Fäusten geballt, und immer wieder stellte ich mir vor, die Tür aufzureißen und hinauszuspringen. Ich würde weglaufen und einfach verschwinden, in irgendeinem Dörfchen Zuflucht suchen und auf der Straße betteln, bis irgendwann ein freundliches kinderloses Paar mich bei sich aufnehmen würde. Gebeutelt von schlechtem Gewissen würde Julie mich suchen, aber sie würde mich nicht finden. Denn ich würde ein anderer Mensch werden und endlich nicht mehr das unerwünschte Kind sein.
»Wir sind da«, sagte meine Tante unvermittelt, und die Kutsche blieb stehen. Ich war überrascht, denn ich hatte eine viel längere Reise erwartet. Als ich vorsichtig ausstieg und die Füße auf die unbefestigte Landstraße setzte, konnte ich nur hohe, von Flechten überwachsene Steinmauern entdecken, durchbrochen von einem einzigen robusten Holztor.
Mir wurden die Knie weich. Obwohl der Tag recht warm war, war mir kalt wie in einem Grab.
Rosine nahm meine Hand. »Du brauchst keine Angst zu haben. Hier bist du in Sicherheit, Sarah. Dieses Kloster genießt höchstes Ansehen. Und ist sehr teuer«, fügte sie hinzu, als mache das irgendetwas besser. »Deine Mutter hat keine Mühe gescheut, hier einen Platz für dich zu bekommen.«
Auch das bezweifelte ich. Ich erinnerte mich an den säuerlichen Herrn mit dem herunterhängenden Schnurrbart, den Duc du Morny, nach dessen Hand ich geschlagen hatte. Es war alles seine Schuld. Bestimmt hatte er dieses Gefängnis für mich vorgeschlagen. Hatte Julie ihm etwa nicht versprochen, Maßnahmen zu ergreifen?
Meinen Koffer umklammernd, stand ich neben Rosine, die sich an der Klingelschnur neben dem Tor zu schaffen machte. Erst jetzt flüsterte ich: »Bitte. Ich werde brav sein. Ich werde mich im Salon um Mamans Verehrer kümmern. Ich kann singen lernen und Gedichte vortragen. Die Männer amüsieren wie Maman. Du kannst es mir beibringen.«
Doch meine Tante seufzte nur. »Du verstehst das nicht, mein Kind. So ein Leben wünscht Julie sich nicht für dich. Sie hatte es so schwer und musste auf so vieles verzichten, um das zu erreichen, was sie jetzt hat. Sie möchte nicht, dass du in ihrem Salon lernst, wie du Männer dazu bringst, dich zu küssen. Vielleicht hältst du sie für gefühllos, aber auf ihre eigene Art liegt ihr sehr viel an dir. Sie möchte, dass du ein besseres Leben hast als sie.«
Ich verstand es tatsächlich nicht. Ich sah nur eine Wohnung auf einem eleganten Pariser Boulevard, ein gut eingerichtetes Zuhause, meine Mutter in Samt und Seide, glamourös und umschwärmt. Was konnte an ihrem Leben auszusetzen sein? Warum musste sie mich im Stich lassen, um sich für mich aufzuopfern? Dann fiel mir wieder ihr dicker Bauch ein, ihre Schattengestalt am Fenster, die meinen Abschied beobachtet hatte, und ich verbiss mir alle Bitten, die ich noch auf Lager hatte.
Da niemand auftauchte, bediente Rosine die Klingelschnur ein zweites Mal. Kurz darauf wurden mehrere Riegel zurückgeschoben, und das Tor öffnete sich. Mir klopfte das Herz bis zum Hals.
Die Gestalt vor mir war groß und kräftig, ganz in Schwarz gekleidet, das runde, kindliche Gesicht von einer Nonnenhaube umrahmt. Ich war überrumpelt von den klaren, braunen Augen und dem warmen Lächeln, das ganz und gar nicht zu ihrer Kleidung passte – ein Engel in Witwentracht.
»Willkommen in Grandchamp. Ich bin Mère Sophie, die Mutter Oberin dieses gesegneten Hauses der Schwestern von Sion.« Sie senkte den Blick. »Und du bist sicher die kleine Sarah Bernhardt.«
Das war zu viel für mich. Mit einem verzweifelten Schluchzen warf ich mich der Mutter Oberin in die Arme und vergrub mein Gesicht in ihrer fliederduftenden Robe.
Obgleich ich es in diesem Moment noch nicht wusste, hatte ich meinen Zufluchtsort gefunden.
Das Kloster hatte einen wunderschönen Garten mit weiß bekiesten Wegen, Lindenbäumen und Vogelbädern – ein Paradies der Ruhe an einem heiteren, wohlgeordneten Ort. Eigentlich hatte ich vorgehabt, das Internat zu hassen, weil ich dachte, es könnte hier niemals so sein wie in Paris, das ich am Ende doch lieb gewonnen hatte – die schmalen, kurvigen Gassen und kühnen, modernen Boulevards, die lärmenden Brasserien, verrauchten Cafés und luxuriösen Warenhäuser, sogar das ohrenbetäubende Klappern der Landauer, Droschken und wackligen Pferdeomnibusse, die den Montmartre hinauffuhren. Rosine hatte mich, damit ich mich an die Stadt gewöhnte, zu vielen schönen Stellen und auch zu den Geschäften mitgenommen, wo es alles, was das Herz begehrte, zu kaufen gab. Paris war meine Heimat geworden.
Nach ein paar unangenehmen Monaten der Anpassung begann ich jedoch zu begreifen, dass ich in Grandchamp endlich ich selbst sein konnte. Jedenfalls insoweit die Klosterregeln es zuließen.
Die unveränderbare Routine erwies sich für mich als seltsam tröstlich: Viermal am Tag Gebete in der Kapelle (als ich, um den Gebeten zu entkommen, erklärte, ich sei Jüdin, zeigten sich die Nonnen vollkommen unbeeindruckt); Unterricht in Mathematik, Grammatik, Geschichte und Geographie, gefolgt von Sprachstil und Benehmen, nachmittags leichte Leibesübungen. Ich war keine beispielhafte Schülerin, denn für Fakten und Zahlen hatte ich wenig Sinn. Mein Interesse galt ausschließlich dem Lesen, dem alten Klosterhund César und den Kreaturen, die ich im Garten unter den Steinen aufsammelte – Eidechsen, Spinnen und Frösche, die ich in einer durchlöcherten Blechbüchse mit Fliegen fütterte.
Und der Kunst. Schon bald entpuppte ich mich als beste Malerin meiner Klasse, vielleicht sogar der ganzen Schule, denn ich konnte fast jede erdenkliche Form mit Holzkohle auf einem Stück Papier wiedergeben. Unendliche Male zeichnete ich den zu meinen Füßen schlafenden César, aber auch Blumen oder die Spatzen im Vogelbad. Meine Bilder waren so bemerkenswert, dass die Nonnen sie zur Nachahmung für die anderen Schülerinnen an die Tafel pinnten.
Mère Sophie wusste, dass ich nicht getauft war. Zwar hatte Nana mich katholisch erzogen, doch meine religiöse Bildung hatte sich auf die Messe am Sonntag und das Beten vor dem Schlafengehen beschränkt, und so bewirkte meine Erklärung, Jüdin zu sein, denn auch genau das Gegenteil dessen, was ich beabsichtigt hatte. Statt zusätzlichen Unterrichtsstunden zu entgehen, sah ich mich – in der Hoffnung, eines Tages der Heiligen Kommunion für würdig befunden zu werden – gezwungen, den Katechismus zu studieren. Ich dachte, ich würde mich langweilen, doch stattdessen stellte ich fest, dass die Erzählungen vom bösen Pharao und dem von Gott gesandten brennenden Busch, von der mit Tierpaaren gefüllten Arche und der schrecklichen Flut mich zutiefst faszinierten. Ich erfuhr, dass die Juden einst versklavt worden waren und in dieser zeitlosen Geschichte von Wundern und Märtyrern eine wichtige Rolle spielten. Im Grunde fühlte es sich überhaupt nicht an, als studierte ich Religion, sondern viel eher, als tauchte ich in ein phantastisches, endloses Märchen ein.
Ich teilte mir mit den anderen Mädchen meines Alters einen großen Schlafsaal. Einige Mädchen spielten sich wegen ihrer Familientitel auf, andere jedoch, wie Marie Colombier, mit der ich mich rasch anfreundete, waren wie ich – von ungewisser Herkunft, mit Müttern, deren Arbeit mit Namen bedacht wurden wie …
»… Halbweltdamen«, flüsterte Marie mir eines Tages zu, als wir in den Garten geschickt wurden, um unsere Rollen im anstehenden Krippenspiel zu studieren, das jedes Jahr zu Ehren des Erzbischofs von Paris, einem der Wohltäter des Klosters, aufgeführt wurde. Ich war gerade elf geworden und nun alt genug, um eine Nebenrolle in dem Stück zu übernehmen. Zwar hatte ich mir so verzweifelt gewünscht, für die Hauptrolle des Erzengels Raphael ausgewählt zu werden, dass ich jede seiner Textzeilen auswendig konnte, aber die Nonnen hatten den Part Louise anvertraut, einem älteren Mädchen aus einer Familie von Stand.
Interessiert blickte ich jetzt von den drei Sätzen auf, die ich als Hirte zu sagen hatte, und begegnete Maries schelmischem Blick. Sie war dunkelhaarig, hatte samtbraune Augen, und ich beneidete sie um ihre Schönheit, ihre knospende Figur und ihre verblüffende Weltklugheit.
»Halbweltdame?«, wiederholte ich verwirrt. »Was soll das denn sein?«
»Nicht was. Wer.« Marie verdrehte die Augen. »Eine Kurtisane, Dummerchen. Eine Kokotte. Eine Dame, die dem horizontalen Gewerbe nachgeht. Erinnerst du dich? Wie Maria Magdalena.« Als ich nicht antwortete, fügte sie hinzu: »Aber das weißt du doch bestimmt. Wie könnte deine Mutter sich sonst eine solche Wohnung leisten? Wir sind ja keine Rothschilds, Sarah.«
»Aber das würde ja bedeuten, dass unsere Mütter … Huren sind?« Das unaussprechliche Wort wollte mir kaum über die Lippen gehen, und ich kannte es auch nur wegen Maria Magdalena. Ihre Geschichte hatte in mir viele Fragen aufgeworfen, doch die Nonnen hatten sich geweigert, sie zu beantworten. Also hatte Marie mir schließlich erklärt, Maria Magdalena sei eine Hure. Ich fand das Wort hässlich, aber als Marie es definierte, wurde mir klar, dass es genau meine Mutter beschrieb. Julies Salon und ihre Verehrer, die sie manchmal auch Freier nannte, der gruslige Morny, der sich frühmorgens aus ihrem Zimmer schlich – es musste so sein, so verdiente sie ihren Lebensunterhalt.
»Natürlich nennen sie sich selbst anders«, fuhr Marie fort, »sie verkaufen sich ja nicht auf der Straße. Halbweltdamen müssen sehr kultiviert sein. Sie sind …« Sie zögerte und suchte nach dem richtigen Wort. »Sie sind in erster Linie Unterhaltungskünstlerinnen. Ähnlich wie Schauspielerinnen.«
»Unterhaltungskünstlerinnen?« Ekel überkam mich, als mir einfiel, wie meine Mutter darauf bestanden hatte, dass ich gute Manieren lernte. Wie sie mich ausgeschimpft hatte, weil ich ihren Freiern nicht genügend Respekt entgegenbrachte. »Wie kann eine Frau so etwas mit übel riechenden alten Männern tun?«
Marie kicherte. »Na ja, wenn der übel riechende alte Mann genug dafür bezahlt …«
Nur mit Mühe konnte ich ein Schaudern unterdrücken, aber im gleichen Moment verschwand meine Angst vor meiner Mutter. Auf einmal fühlte ich sogar ein wenig Mitleid mit ihr. Und ich war felsenfest davon überzeugt, dass ich, ganz gleich, welche Mühsal das Leben für mich bereithalten mochte, niemals so tief sinken würde.
Dann erklärte Marie mir, dass der Status einer Halbweltdame sehr begehrt und schwierig zu erlangen war. Mittellose Mädchen aus ganz Europa strömten nach Paris, genau wie meine Mutter damals. Wie Marie erklärte, gehörte das Erlernen einer komplexen Sprache aus subtilen Gesten und Blicken dazu, die das ausdrückten, was nicht ausgesprochen werden durfte. Jede junge Frau, die sich diesem Gewerbe verschrieb, hoffte inständig auf Erfolg, doch nur den Talentiertesten unter ihnen wurde er zuteil.
»Meine Mutter hat mir einmal von einer erzählt, die sich den Sohn eines Prinzen geangelt hat«, berichtete Marie. »Er war so in sie verliebt, dass er sein gesamtes Erbe verspielte, um ihre Gunst zu gewinnen. Jeden Sou hat sie ihm abgeluchst und ihn dann für einen anderen abserviert, worauf der Prinzensohn den neuen Liebhaber zum Duell forderte und von ihm erschossen wurde. Sein Vater war so erbost, dass er damit drohte, die Kurtisane aus Paris vertreiben zu lassen, aber stattdessen verführte sie ihn, und er machte sie so reich, dass sie sich schließlich auf einem Schloss zur Ruhe setzte.« Marie seufzte, als fände sie diese vulgäre Geschichte absolut unwiderstehlich.
»So ist meine Mutter aber überhaupt nicht«, entgegnete ich und dachte an Julies vollgestopfte Wohnung, den überladenen Salon, ihr gekünsteltes Lächeln, so verkrampft und gezwungen, als hätte sie Angst, ein falscher Schritt könnte sie in den Ruin treiben. »Ich glaube, sie ist weder erfolgreich noch sonderlich wohlhabend.«
»Na ja, sie muss schon Geld haben, um hier einen Platz für dich zu bekommen. Stell dir das doch mal vor. Als Frau nach deinem eigenen Gusto zu leben und dabei eine Menge Geld zu verdienen – so viel Freiheit hat nur eine Kurtisane.«
Ich überlegte. »Aber ist das wirklich Freiheit? Oder nur eine andere Form der Sklaverei, wie bei den Hebräern in Ägypten?«
»Die Hebräer in Ägypten?« Marie lachte. »Oh, Sarah, das ist Jahrhunderte her! Warte, bis du älter bist, jetzt kannst du es noch nicht verstehen.«
Mit argwöhnisch zusammengekniffenen Augen sah ich sie an. Marie war ein Jahr älter als ich – eine Tatsache, die sie oft anführte, um ihre Überlegenheit geltend zu machen –, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich meine Meinung irgendwann ändern würde. Allerdings ging ich auch nicht so weit, Marie meinen Verdacht anzuvertrauen, dass nicht Julie, sondern Morny meine Ausbildung hier bezahlte. Jetzt, da ich die Wahrheit kannte, war ich ziemlich sicher, dass das Bäuchlein, das ich bei meiner Mutter gesehen hatte, eine Schwangerschaft gewesen war, und vielleicht war Monsieur le Duc höchstpersönlich der Vater.
Der Gedanke, dass ich fortgeschickt worden war, um Platz für ein anderes Kind zu machen, bestärkte mich in meinem Entschluss, meine Zeit in Grandchamp nicht zu vergeuden. Ich musste mich beweisen, also stürzte ich mich mit neuem Elan in die Vorbereitungen für das Krippenspiel. Alle Eltern und Vormunde der hiesigen Schülerinnen würden kommen. Zwar hatte Rosine ihr Versprechen, mich regelmäßig zu besuchen, nicht gehalten, aber immerhin schickte sie mir jeden Monat ein Paket mit frischer Bettwäsche. Doch die Anwesenheit des Pariser Bischofs würde womöglich sogar meine nachlässige Tante und meine Mutter anspornen, mir einen lang überfälligen Besuch abzustatten, und sei es nur, damit ich nicht die Einzige in Grandchamp wäre, die bei ihrem Auftritt nicht von ihrer Familie unterstützt wurde.
Ich musste auf der Bühne glänzen, und sei es nur als Hirte mit ein paar mickrigen Textzeilen.
Am Tag der Aufführung war ich die Erste, die aufstand. Es war ein eisiger Morgen Ende November, denn das Krippenspiel fand immer schon ein paar Wochen vor dem Weihnachtsfest statt. Im schwachen Licht, das durch die hohen Fenster fiel, bändigte ich meine zerzausten Haare, so gut ich konnte, zu einem Zopf, machte mein Bett und schlug auch vorschriftsmäßig die Ecken des Lakens um, während die anderen Mädchen noch über den kalten Steinfußboden jammerten.
Die Schwestern holten uns ab, um uns zur Kapelle zu begleiten. In unseren Gebeten ertappte ich mich dabei, wie ich Gott nicht etwa bat, mich frommer und tugendhafter zu machen oder mir bei der Suche nach einem geeigneten Ehemann zu helfen, sondern mich in meiner Rolle bemerkenswert zu machen. Dann senkte ich die Augen, bat um Vergebung für meine Eitelkeit und bat Ihn, Louise in Seiner unergründlichen Weisheit eine leichte Magenverstimmung zu schicken, die sie daran hindern würde, heute Abend aufzutreten.
»Gnädiger Gott, ich erbitte dies nicht für mich selbst«, flüsterte ich, »sondern allein Dir zu Ehren. Sie kann die Rolle nicht so spielen wie ich. Sie isst zu viele Süßigkeiten. Und es gibt doch keine fetten Erzengel, oder?«
Bei der Generalprobe auf der kleinen Bühne mit den handgemalten Kulissen in der Haupthalle bemerkte ich, dass Louise tatsächlich etwas kränklich aussah. Der Gedanke, dass Gott mich so unverzüglich erhört hatte, versetzte mich in Hochstimmung und lenkte mich so ab, dass ich meinen eigenen Auftritt verpasste. Schwester Bernadette, die Leiterin der Produktion, tadelte mich: »Sarah Henriette, du bist zu spät.«
Ich stammelte meine Zeilen – »Hört nur! Ein Stern ist erschienen!« – und trat wieder zur Seite, konnte den Impuls, Louise mit dem Ellbogen anzustoßen, jedoch nicht unterdrücken. Sie stolperte, als sie hervortrat, um ihren Text aufzusagen. Ich erstarrte, denn ich dachte, sie würde mich bei Schwester Ana anschwärzen, doch zu meiner Überraschung sagte Louise kein Wort. Mit offenem Mund blieb sie mitten auf der Bühne stehen, als wäre sie von Stummheit geschlagen.
Ich konnte vor Spannung kaum atmen. Ich war vorbereitet. Sollte Louise zusammenbrechen und zu Anissirup und Bettruhe auf die Krankenstation geschickt werden, würde ich anbieten, ihre Rolle zu übernehmen. Ich kannte jedes Wort im Schlaf. Was blieb den Nonnen auch sonst übrig? Sie brauchten einen Erzengel, und für ein anderes eingebildetes Mädchen mit einem Familientitel war es zu spät, diese Rolle zu lernen.
Doch dann stieß Louise zu meinem Entsetzen ihren Text mit krächzender Stimme hervor, als hätte der Erzengel Asthma. Als sie fertig war, ging sie hastig, aschfahl im Gesicht, zurück an ihren Platz.
»Nun, das war …«, begann Schwester Ana, doch dann fehlten selbst ihr die Worte.
Auf ihrem Platz mitten in den leeren Stuhlreihen hörte man die Mutter Oberin seufzen. »Heute Abend musst du lauter sprechen, Louise. Ich konnte dich kaum hören. Meinst du, du wirst es schaffen, mein Kind?«
Louise nickte zittrig, und Mère Sophie runzelte die Stirn. Obwohl ich es nicht wagte, meinen Vorteil bereits jetzt zu nutzen, sah ich ihren Blick in meine Richtung wandern. Dann winkte sie Schwester Bernadette zu sich. Da wir zu einem zeitigen Abendessen aus dem Saal geführt wurden, konnte ich nicht verstehen, was sie sagten, aber als ich über die Schulter zurückblickte, sah ich Schwester Bernadette den Kopf schütteln.
Bestimmt hatte die Mutter Oberin erfasst, dass Louises Auftritt eine Katastrophe sein würde. Wenn sie ihren Text schon jetzt kaum sprechen konnte, wie sollte sie ihre ganze Rolle dann erst vor Publikum spielen können? Sie würde uns vor allen Anwesenden blamieren, einschließlich dem Pariser Erzbischof.
Während wir unsere klare Suppe schlürften – wir bekamen nur eine leichte Mahlzeit, um unsere Verdauung bei der Aufführung nicht zu belasten –, behielt ich Louise im Auge, die ausdruckslos in die Gegend stierte und ihren Teller nicht anrührte. Marie fragte mich mehrmals, was denn los sei, bis ich ihr schließlich von meinem Pakt mit Gott erzählte.
Sie musterte mich skeptisch. »Du glaubst also, Gott würde sie dir zum Gefallen krankmachen?«
»Warum nicht? Sie ist …«
»Du bist nicht getauft«, fiel Marie mir ins Wort, in dem hämischen Ton, den sie gern anschlug, wenn sie das Bedürfnis hatte, ihre Überlegenheit zu zeigen. »Gott würde niemals auf dich hören, wenn es um eine Katholikin geht.«
»Nur weil meine Mutter Jüdin ist, heißt das noch lange nicht, dass Gott nicht …«
»Wenn deine Mutter Jüdin ist, bist du das auch«, unterbrach Marie mich erneut, und ich spürte den Wunsch, ihr meine Suppe über den Kopf zu schütten. »Außerdem bist du auch noch die illegitime Tochter einer Kurtisane. Das sind schon vier Sünden, falls du vergessen hast mitzuzählen.«
Ich sah sie böse an, als wir in den Bereich hinter der Bühne eilten, der mit an Seilen hängenden Laken zu einer provisorischer Garderobe umfunktioniert worden war. Zu meinem Leidwesen musste ich feststellen, dass Louise zwar keinen Bissen gegessen hatte, aber keineswegs an einer Magenkolik zu leiden schien, die sie außer Gefecht setzte.
Während ich in meine Schäfertunika schlüpfte und mir den Turban auf den Kopf setzte, hörte ich das Publikum in der Halle eintrudeln. Ich stellte mir vor, wie die Plätze von eleganten Männern und Frauen eingenommen wurden, die gekommen waren, um die brillanten schauspielerischen Leistungen ihrer verwöhnten Sprösslinge zu bewundern …
Da legte sich völlig unerwartet ein Schraubstock um meine Brust.
Ich hatte keinen Namen für diese lähmende Empfindung, aber sie war heftig genug, dass ich dachte, Gott sei dabei, mich an Louises Stelle mit einer Krankheit zu schlagen. Ich konnte mich nicht rühren. Ich konnte kaum atmen. Eiskalter Schweiß brach mir unter meinem Kostüm aus, und das Plappern der anderen Mädchen um mich herum war wie ein Strudel, ihre umhertanzenden Schatten auf den behelfsmäßigen Laken eine Übelkeit erregende Fata Morgana.
»Nehmt eure Plätze ein«, rief Schwester Bernadette wie von jenseits einer großen Leere, aber ich stand da wie angewurzelt, bis Marie mich anzischte: »Sarah, es ist Zeit. Oder willst du darauf warten, dass Gott dich persönlich auf die Bühne ruft?«
Benommen drehte ich mich um, zog César an der Leine hinter mir her die Treppe zum hinteren Teil der Bühne hinauf. Die Geräusche aus dem Saal – das verebbende Flüstern, das gedämpfte Lachen – überfluteten mich wie das Rauschen des Ozeans.
Ich würde in Ohnmacht fallen. Ich würde mich bis auf die Knochen blamieren.
Schwester Ana und Schwester Bernadette standen am Vorhang, und auf einmal spürte ich, wie jemand meine Hand packte, und entdeckte Louise.
»Ich … ich kann das nicht.« Ihre Stimme zitterte.
Schwester Ana kam zu uns. »Was ist los? Louise, mein Kind, bist du krank?«
»Ich kann das nicht. Ich schaffe es nicht.« Louise begann, an der papiernen Halskrause ihres Engelskostüms zu zerren. »Ich kriege keine Luft.«
»Unsinn«, erklärte Schwester Ana. Mère Sophie stand inzwischen schon draußen auf der Bühne, begrüßte das Publikum und dirigierte die Letzten noch zu ihren Plätzen. »Das sind nur die Nerven«, fuhr Schwester Ana fort. »Lampenfieber, das gibt es oft. Sobald das Stück beginnt, ist alles gut. Komm, tief einatmen, mein Kind.«
Fühlte ich etwa das Gleiche? Aufregung? Wenn, dann war sie wesentlich milder als bei Louise, die kurz davor zu sein schien, sich ihre Glitzerflügel und ihre Engelsrobe herunterzureißen, als stünde das Kostüm in Flammen.
»Nein! Ich kann nicht. Ich will nicht!« Sie brach in Tränen aus.
»Gesegnete Jungfrau, rette uns.« Schwester Ana schloss Louise in die Arme und wechselte einen Blick mit Schwester Bernadette, deren Gesicht einen grollenden Ausdruck annahm. »Was in aller Welt sollen wir jetzt machen?«
»Ich … ich kann die Rolle übernehmen«, flüsterte ich.
Schweigen senkte sich herab, durchbrochen von Louises Schniefen. »Ich kann die Rolle übernehmen«, wiederholte ich, lauter diesmal. »Ich weiß den ganzen Text auswendig. Ich kann den Erzengel spielen.« Beim Sprechen verschwand das erstickende Gefühl und wich einem plötzlichen Energiestoß, als Schwester Bernadette murmelte: »Wir haben keine andere Wahl, oder? Helfen wir Sarah, das Kostüm überzuziehen. Schnell.«
Ich zog die Schäfersachen aus, schlüpfte in die Engelsrobe und legte die Flügel an. Die Robe war Louises Körperbau angepasst und viel zu groß für mich, so dass ich darauf achten musste, nicht über den Saum zu stolpern. Die Flügel hingen mir fast bis zur Taille herunter, und ich straffte meine schmalen Schultern, um sie anzuheben. Als ich meinen Platz einnahm, fixierte Schwester Bernadette mich mit festem Blick. »Sieh zu, dass du uns keine Schande machst«, sagte sie, und ich hörte in ihrer Ermahnung das Echo meiner Mutter an dem Tag, als sie beschlossen hatte, mich wegzuschicken.
Dann zog Schwester Bernadette mit einem Ruck den Vorhang zur Seite und enthüllte eine gewaltige Dunkelheit.
Es fühlte sich an, als stünde ich vor einem Abgrund. Als das Stück begann, sprach Marie, jetzt als Schafhirte verkleidet, hastig meine Zeilen und zog César zu dem Mädchen in der Rolle des blinden Tobias, den der Engel durch ein Wunder sehend machen würde. Ich versuchte, in der anonymen Masse jenseits der Bühne etwas zu erkennen, ein vertrautes Gesicht – irgendetwas, an dem ich mich festhalten konnte. Das Leinengewand des Engels fühlte sich an wie aus Stein, die Flügel neigten sich auf meinem Rücken wie die Segel einer sturmgepeitschten Galeone.
Auf einmal entdeckte ich in der ersten Reihe den Erzbischof; sein Siegelring schimmerte an seiner Hand. Neben ihm saß Mère Sophie und blickte mich verwundert an.
Ich begann zu sprechen. »Ich bringe euch Kunde von der unermesslichen Liebe des Allmächtigen …«
Ich hörte mich selbst nicht, ich wusste nicht, ob ich laut genug sprach. Ob meine Stimme so kraftvoll klang, wie es sich für ein himmlisches Wesen gehörte, oder kratzig und heiser wie die eines Mädchens, das eine Rolle spielen musste, die ihm nicht zugeteilt worden war. Doch als ich die Arme in den weiten, fließenden Ärmeln ausbreitete, fühlte ich, wie bei der Segnung des Tobias göttliches Licht von mir ausströmte und die Stadtbewohner vor mir auf die Knie fielen. Ich bewegte mich über die Bühne, als stünden meine Flügel in Flammen, ein blendender Strahlenkranz heiligen Feuers.
Ich war nicht mehr die kleine Sarah Bernhardt, die uneheliche Tochter und ungetaufte Jüdin.
Ich war Gottes himmlische Botschafterin geworden.
In einer Minute war alles vorbei. Jedenfalls kam es mir so vor. Als der Applaus über uns hereinbrach und wir unsere Verbeugungen machten, merkte ich, dass ich nass geschwitzt war, strich mir die Haare aus dem Gesicht und war sicher, dass ich kein bisschen engelhaft aussah.
Selbst der Erzbischof war aufgesprungen und applaudierte heftig, ebenso Mère Sophie neben ihm. Sie strahlte solch eine Begeisterung aus, dass sie den Rest des Publikums mitriss.
Ich war euphorisch. Dieser ganze Beifall … er war Musik in meinen Ohren.
Bis mein Blick in dem Meer von Gesichtern auf meine Mutter und Rosine fiel. Es war wie ein Schlag in den Magen.
Rosine applaudierte stolz. Julie dagegen rührte sich nicht, und ihre behandschuhten Hände hingen starr und reglos an ihrer Seite.
