Die Kane-Chroniken 2: Der Feuerthron - Rick Riordan - E-Book
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Die Kane-Chroniken 2: Der Feuerthron E-Book

Rick Riordan

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Beschreibung

Ein verwirrter Gott, eine bösartige Schlange und ein Mädchen mit Herzflattern   Ausruhen ist nicht. Gerade haben die Geschwister Carter und Sadie den finsteren Gott Seth besiegt, da wartet schon die nächste Aufgabe auf sie: Die Chaos-Schlange Apophis erhebt sich und strebt nach der Weltherrschaft. Der Einzige, der ihr Einhalt gebieten könnte, ist Sonnengott Ra. Allerdings ist der seit Jahrhunderten im Ruhestand und niemand weiß so ganz genau, wo er sich niedergelassen hat. Auf ihrer Suche durchqueren Sadie und Carter Wüsten, Tempel und gefährliche Regionen der Unterwelt. Und dabei müssen sie sich gegen ägyptische Götter, Monster und unfreundliche Magier behaupten. Als wäre das nicht genug, führt Sadie einen ganz eigenen Kampf. Gegen ihren Herzschmerz, denn sie hat sich das erste Mal verliebt und es ist … kompliziert. Packende Fantasy-Trilogie mit mächtigen Magiern, wild gewordenen Göttern und mythologischen Monstern Die Geschwister Carter und Sadie Kane entdecken, dass sie die Nachkommen von Pharaonen sind und eine besondere Verbindung zu den ägyptischen Göttern haben. Nach einer missglückten Götterbeschwörung durch ihren Vater begibt sich das ungleiche Geschwisterpaar auf eine abenteuerliche Reise. Nur wenn sie ihre Kräfte bündeln und zusammenarbeiten, können sie die Welt retten. In der Fantasy-Buchreihe "Die Kane-Chroniken" vermischt Rick Riordan die antike ägyptische Kultur und Mythologie mit der modernen Welt und entführt seine Leser*innen in ein rasantes Abenteuer mit spannenden Wendungen bis zur letzten Seite. ***Die Götter Ägyptens erwachen in der modernen Welt – rasant, actionreich und witzig: für Leser*innen ab 12 Jahren und für alle Fans der ägyptischen Mythologie*** 

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Rick Riordan: Die Kane-Chroniken 2: Der Feuerthron

Aus dem Englischen von Claudia Max

Der finstere ägyptische Gott Seth ist besiegt! Carter und Sadie Kane könnten sich also ganz ihrer neuen Aufgabe widmen: der Ausbildung von Nachwuchs-Magiern. Doch schon wieder kommt etwas dazwischen: Die Chaos-Schlange Apophis erhebt sich und strebt nach der Weltherrschaft. Der Einzige, der sie zurückschlagen könnte, ist der Sonnengott Ra. Allerdings wirkt der Gott etwas – nun ja – unmotiviert. Um ihn aus seiner Lethargie zu wecken, brauchen die Kane-Geschwister mehr als ihre magischen Kräfte.

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Für Conner und Maggie, das geniale Bruder-Schwester-Gespann der Riordans

Warnung    Dies ist die Abschrift einer Aufnahme. Carter und Sadie Kane sind bereits durch eine Aufzeichnung bekannt, die ich letztes Jahr erhielt und unter dem Titel Die rote Pyramide niederschrieb. Die zweite Kassette traf kurz nach der Veröffentlichung des oben genannten Buches bei mir zu Hause ein, die Kanes scheinen mir also zu vertrauen, dass ich auch diese Geschichte wieder veröffentliche. Falls es sich hierbei um einen wahren Bericht handelt, kann die Entwicklung der Ereignisse nur als alarmierend bezeichnet werden. Den Kanes und auch der Welt zuliebe hoffe ich jedoch, dass das Folgende erfunden ist. Andernfalls stehen uns allen schwerwiegende Probleme bevor.

Carter

1.

Feuerspielchen

Carter hier.

Also, wir haben jetzt keine Zeit für lange Erklärungen. Wenn ich diese Geschichte nicht schnell erzähle, wird keiner von uns überleben.

Falls ihr unsere erste Aufnahme nicht gehört habt, dann … hier die Kurzfassung: Die ägyptischen Götter marodieren ungehindert durch die moderne Welt; ein Haufen Magier, der sich Lebenshaus nennt, versucht sie aufzuhalten; alle hassen Sadie und mich; und eine große Schlange wird jeden Moment die Sonne verschlucken und die Welt zerstören.

[Autsch! Wofür war das denn schon wieder?]

Sadie hat mich gerade geboxt. Sie meint, ich mache euch unnötig Angst. Ich solle mich wieder einkriegen, weiter ausholen und von Anfang an erzählen.

Von mir aus. Ich finde trotzdem, ihr habt allen Grund, Angst zu haben.

Wir machen diese Aufnahme, damit ihr erfahrt, was wirklich los ist und wie es dazu kam, dass einiges schiefgelaufen ist. Ein Haufen Leute wird euch dummes Zeug über uns erzählen, aber wir haben diese Todesfälle wirklich nicht verursacht. Und was die Schlange anbelangt, das war auch nicht unsere Schuld. Na ja … jedenfalls nicht ausschließlich. Sämtliche Magier der Welt müssen sich vereinigen. Es ist unsere einzige Chance.

Jetzt kommt also die Geschichte. Entscheidet selbst. Es fing damit an, dass wir Brooklyn angezündet haben.

Eigentlich war die Aufgabe nicht besonders schwierig: ins Brooklyn Museum schleichen, ein bestimmtes ägyptisches Artefakt ausborgen und unerkannt verschwinden.

Nein, mit Diebstahl hatte das nichts zu tun. Wir hätten das Artefakt ja bei Gelegenheit wieder zurückgebracht. Aber vermutlich sahen wir doch verdächtig aus: vier Jugendliche in schwarzen Ninja-Klamotten auf dem Dach des Museums. Ach, und der Pavian, ebenfalls als Ninja ausstaffiert. Eindeutig verdächtig.

Als Erstes gaben wir unseren Auszubildenden Jaz und Walt den Auftrag, das Seitenfenster zu öffnen; in der Zwischenzeit inspizierten Cheops, Sadie und ich die große Glaskuppel in der Mitte des Dachs, durch die wir später den Rückzug antreten wollten.

Unsere Rückzugsstrategie erwies sich allerdings als problematisch.

Es war lange nach Einbruch der Dunkelheit und das Museum hätte eigentlich geschlossen sein sollen. Stattdessen war die Glaskuppel hell erleuchtet. Im Museum, zwölf Meter unter uns, plauderten und tanzten Hunderte von Leuten in Fräcken und Abendkleidern in einem Ballsaal, der die Größe eines Flugzeughangars hatte. Ein Orchester spielte, aber ich konnte die Musik nicht hören, weil mir der Wind in den Ohren heulte und meine Zähne klapperten. Ich fror erbärmlich in meinem Leinenschlafanzug.

Weil es das durchlässigste Material für Zauberkraft ist, sollen Magier Leinen tragen. In der ägyptischen Wüste, wo es so gut wie nie kalt ist oder regnet, mag sich diese Tradition bewährt haben. In Brooklyn – im März – sieht es anders aus.

Meiner Schwester Sadie schien die Kälte nichts auszumachen. Sie öffnete die Verankerungen der Kuppel und summte dabei ein Lied von ihrem iPod mit. Also, mal ehrlich – wer bringt denn bei einem Museumseinbruch seine eigene Musik mit?

Ihre Kleider ähnelten meinen, allerdings trug sie Springerstiefel dazu. Sie hatte rote Strähnchen in den blonden Haaren – wirklich ausgesprochen dezent für eine geheime Mission. Mit ihren blauen Augen und der hellen Haut sieht sie mir überhaupt nicht ähnlich, worüber wir beide ganz froh sind. Schließlich ist es praktisch, wenn ich leugnen kann, dass es sich bei dem durchgeknallten Mädchen neben mir um meine Schwester handelt.

»Du hast behauptet, im Museum wäre niemand«, beschwerte ich mich.

Sadie hörte mich erst, als ich ihr die Ohrstöpsel herauszog und alles noch mal wiederholte.

»Na ja, eigentlich sollte auch niemand hier sein.« Sie wird es nicht gern hören, aber nach drei Monaten in den USA verliert sie allmählich ihren britischen Akzent. »Auf der Homepage stand, dass das Museum um fünf schließt. Wie soll ich ahnen, dass hier eine Hochzeit stattfindet?«

Eine Hochzeit? Nach einem Blick in die Tiefe musste ich Sadie Recht geben. Ein paar der Damen trugen apricotfarbene Brautjungfernkleider und auf einem der Tische thronte eine gewaltige mehrstöckige weiße Torte. Zwei Gästegruppen hatten die Braut und den Bräutigam auf Stühle gesetzt und trugen sie unter dem Johlen und Klatschen ihrer Freunde durch den Saal. Die ganze Aktion sah aus, als müsste es jeden Moment zu einer Möbelkarambolage kommen.

Cheops klopfte gegen die Glaskuppel. Selbst schwarz gekleidet war er wegen seines goldenen Fells in der Dunkelheit deutlich zu erkennen, von seiner regenbogenfarbenen Schnauze ganz zu schweigen.

»Agh!«, grunzte er.

Da er ein Pavian ist, konnte das von »Hey, da unten gibt’s was zu fressen« über »Die Scheibe ist dreckig« bis zu »Mann, diese Nummer mit den Stühlen ist echt bescheuert« alles Mögliche heißen.

»Cheops hat Recht. Es wird schwierig werden, uns durch die Party hinauszuschleichen«, interpretierte Sadie sein Grunzen. »Vielleicht wenn wir so tun, als wären wir Techniker –«

»Klar doch«, unterbrach ich sie. »Entschuldigen Sie bitte. Vier Jugendliche schleppen gleich eine Drei-Tonnen-Statue hier raus. Sie wird bloß mal eben durchs Dach davonschweben. Kein Grund zur Panik.«

Sadie verdrehte die Augen. Sie nahm ihr Zaubermesser – ein gebogenes Stück Elfenbein mit eingravierten Abbildungen von Ungeheuern – und deutete damit auf den Kuppelrand. Eine goldene Hieroglyphe leuchtete auf und das letzte Vorhängeschloss öffnete sich mit einem Klicken.

»Aber wenn wir das gar nicht als Ausgang benutzen«, sagte sie, »wozu öffne ich das Schloss überhaupt? Können wir nicht einfach auf demselben Weg rausgehen, auf dem wir reingekommen sind – durch das Seitenfenster?«

»Das hab ich dir doch schon erklärt. Die Statue ist riesengroß. Sie passt da nicht durch. Außerdem, die Fallen –«

»Und wenn wir es morgen Abend noch mal probieren?«, fragte sie.

Ich schüttelte den Kopf. »Morgen wird alles in Kisten verpackt und verschifft.«

Sie musterte mich auf ihre übliche nervige Art mit hochgezogenen Augenbrauen. »Wenn uns jemand vielleicht mal früher Bescheid gesagt hätte, dass wir diese Statue klauen müssen –«

»Jaja, wenn.« Mir war klar, in welche Richtung sich diese Diskussion entwickeln würde, und es brachte nichts, wenn Sadie und ich uns die ganze Nacht auf dem Dach stritten. Sie hatte natürlich Recht. Es war wirklich kurzfristig gewesen. Aber, hallo – meine Quellen waren nicht gerade der Ausbund an Verlässlichkeit. Nachdem ich wochenlang um Hilfe gebettelt hatte, gab mir mein Kumpel, der Falkenkriegergott Horus, im Traum einen Tipp: Ach, übrigens, dieses Artefakt, hinter dem du her bist …? Das möglicherweise den Schlüssel zur Rettung der Welt enthält? Das steht seit dreißig Jahren die Straße runter in Brooklyn, aber morgen wird es nach Europa verschickt, also spute dich lieber! Du hast fünf Tage, um herauszufinden, wie du es einsetzen musst, oder wir sind alle dem Untergang geweiht. Viel Glück!

Am liebsten hätte ich ihn zusammengebrüllt, weil er mir das nicht früher verraten hatte, nur hätte das auch nichts geändert, denn Götter reden nur, wenn ihnen danach ist. Das Zeitkonzept der Sterblichen ist nicht so ihr Ding. Nachdem Horus sich ein paar Monate meinen Kopf mit mir geteilt hatte, habe ich das irgendwann kapiert. Ein paar seiner asozialen Eigenschaften waren mir geblieben – zum Beispiel das gelegentliche Bedürfnis, kleine pelzige Nagetiere zu jagen oder Leute zum Kampf auf Leben und Tod herauszufordern.

»Wir bleiben einfach bei unserem Plan«, sagte Sadie. »Steigen durch das Seitenfenster ein, suchen die Statue und lassen sie durch den Ballsaal nach draußen schweben. Wenn wir so weit sind, fällt uns schon was für die Hochzeitsgesellschaft ein. Irgendein kleines Ablenkungsmanöver.«

Ich runzelte die Stirn. »Ein Ablenkungsmanöver?«

»Carter, du machst dir zu viele Gedanken«, sagte sie. »Es wird genial. Oder hast du vielleicht eine andere Idee?«

Das Problem war – ich hatte keine.

Man sollte glauben, Zauberkräfte würden alles leichter machen. Aber im Gegenteil. Wenn man sie einsetzt, wird alles nur noch komplizierter. Es gibt immer tausend Gründe, warum dieser oder jener Zauberspruch in bestimmten Situationen nicht funktioniert. Und ständig gibt es andere Zauber, die einem einen Strich durch die Rechnung machen – so wie der Schutzzauber, der auf diesem Museum lag.

Wir wussten nicht genau, wer es mit einem Bann belegt hatte. Vielleicht war einer der Museumsangestellten in Wirklichkeit ein Magier, das wäre ja nichts Ungewöhnliches. Unser Vater hatte seinen Doktortitel in Ägyptologie schließlich auch als Tarnung benutzt, um Zugang zu bestimmten Artefakten zu bekommen. Das Brooklyn Museum besaß außerdem die weltweit größte Sammlung ägyptischer Schriftrollen mit Zaubersprüchen. Ihretwegen hatte unser Onkel Amos sein Hauptquartier in Brooklyn aufgeschlagen. Ein Haufen Magier konnte Gründe haben, die Schätze des Museums zu bewachen.

Was auch immer davon zutraf, jede einzelne Tür und jedes Fenster war mit einem ziemlich fiesen Fluch gesichert. Wir konnten weder ein magisches Portal öffnen, um in die Ausstellungsräume zu gelangen, noch unsere Such-Uschebti einsetzen – die magischen Tonstatuen, die uns in unserer Bibliothek alle Bücher brachten, die wir brauchten.

Sowohl hinein als hinaus blieb uns nur der direkte Weg und falls uns ein Fehler unterlief, war nicht abzusehen, welche Art Fluch wir freisetzen würden: Wächter-Ungeheuer, Seuchen, Feuersbrünste, explodierende Esel (ohne Quatsch; die sind richtig mies).

Der einzige ungesicherte Ausgang war die Kuppel über dem Ballsaal. Anscheinend rechnete niemand damit, dass Diebe Artefakte durch eine zwölf Meter hohe Öffnung hinausschweben lassen könnten. Aber vielleicht hatte die Kuppel ja auch einen Haken und wir hatten ihn bloß noch nicht entdeckt, weil er zu gut getarnt war.

So oder so, wir mussten es versuchen. Wir hatten nur diese Nacht, um das Artefakt zu stehlen – Pardon, auszuleihen. Danach blieben uns fünf Tage, um herauszufinden, wie wir es einsetzen mussten. Deadlines sind echt das Größte.

»Also, wir ziehen das wie geplant durch und improvisieren?«, wollte Sadie wissen.

Ich sah zu der Hochzeitsgesellschaft hinunter und hoffte, wir würden ihnen die schöne Feier nicht verderben. »Bleibt uns wohl nichts anderes übrig.«

»Bezaubernd«, erwiderte Sadie. »Cheops, du wartest hier und hältst Wache. Wenn du uns kommen siehst, öffnest du die Kuppel, okay?«

»Agh!«, lautete die Antwort des Pavians.

Mir stellten sich die Nackenhaare hoch. Irgendwas sagte mir, dass dieser Raubzug kein Spaziergang würde.

»Los, komm, Sadie. Mal schauen, wie es bei Jaz und Walt läuft.«

Wir ließen uns zum Fenstersims im dritten Stock hinunter, dort war die ägyptische Sammlung untergebracht.

Jaz und Walt hatten ihre Aufgabe vorbildlich erledigt und vier Statuen der Söhne des Horus mit Klebeband an den Fensterrahmen befestigt und Hieroglyphen auf die Scheiben gemalt, um sowohl den magischen Flüchen als auch der Alarmanlage der Sterblichen entgegenzuwirken.

Als Sadie und ich neben ihnen auf dem Sims landeten, schienen sie in eine ernsthafte Unterhaltung vertieft zu sein. Jaz hielt Walts Hände. Das überraschte mich, Sadie allerdings noch mehr. Das Quieken, das sie von sich gab, klang, als wäre jemand auf eine Maus getreten.

[Und ob du gequiekt hast. Ich war schließlich dabei.]

Warum Sadie so zickig reagierte? Na ja, kurz nach Neujahr, nachdem Sadie und ich unser Djed-Amulett als Signal ausgelegt hatten, um andere Jugendliche mit magischen Fähigkeiten in unsere Zentrale zu locken, hatten Jaz und Walt sich gemeldet. Sie waren jetzt seit sieben Wochen bei uns im Training, länger als alle anderen Auszubildenden, deshalb kannten wir sie mittlerweile ganz gut.

Jaz ist Cheerleaderin. Sie kommt aus Nashville und ihr Name ist eine Kurzform von Jasmin, aber falls ihr nicht in einen Busch verwandelt werden wollt, nennt sie bloß nie so. Auf diese blonde Cheerleader-Art ist sie ganz hübsch – zwar nicht mein Typ, doch man muss sie einfach mögen, weil sie immer nett zu allen ist und immer hilfsbereit. Da sie auch ein Talent für Heilmagie hat, war sie genau die Richtige, falls bei diesem Einsatz etwas schiefgehen sollte, und das ist bei Sadie und mir in neunundneunzig Prozent aller Fälle so.

In dieser Nacht trug Jaz ein schwarzes Kopftuch. Über ihre Schulter hing ihre Zaubertasche, auf der das Symbol der Löwengöttin Sachmet prangte.

Genau in dem Moment, als sie zu Walt sagte: »Uns fällt schon was ein«, landeten Sadie und ich neben ihnen.

Walt wirkte peinlich berührt.

Er war … Tja, wie soll ich Walt am besten beschreiben?

[Nein danke, Sadie. Ich werde ihn nicht als Hottie bezeichnen. Warte, bis du dran bist.]

Walt ist vierzehn, genau wie ich, aber er könnte von der Größe her für die Elitemannschaften am College ausgewählt werden. Er hat den richtigen Körperbau dafür – schmal und muskulös – und die Füße von dem Kerl sind gigantisch. Seine Haut hat das Braun von Kaffeebohnen, ein bisschen dunkler als meine, und seine Haare waren immer so raspelkurz, dass sie eher wie ein Schatten auf seinem Kopf wirkten. Trotz der Kälte trug er ein ärmelloses schwarzes Shirt und Trainingshosen – nicht gerade die Standardaufmachung für einen Magier. Doch bei Walt gab es darüber keine Diskussionen. Er war der erste Auszubildende, der zu uns gekommen war – den ganzen Weg von Seattle; und er war ein geborener Saw, so nannte man die Amulettmacher im alten Ägypten. Um seinen Hals hing ein Haufen goldene Ketten mit magischen Amuletten, die er selbst angefertigt hatte.

Ich war mir jedenfalls ziemlich sicher, dass Sadie eifersüchtig auf Jaz war und Walt anhimmelte, auch wenn sie sich lieber die Zunge abbeißen würde, als das zuzugeben. Schließlich hatte sie die letzten paar Monate damit zugebracht, wegen eines anderen Typen – genau genommen eines Gottes –, in den sie sich verknallt hatte, vor sich hin zu schmachten.

[Ist ja gut, Sadie. Ich belass es erst mal dabei. Aber mir fällt auf, dass du es nicht leugnest.]

Als wir ihre Unterhaltung unterbrachen, ließ Walt blitzschnell Jaz’ Hand los und trat einen Schritt zurück. Sadies Blick wanderte zwischen den beiden hin und her.

Walt räusperte sich. »Alles ist vorbereitet.«

»Super.« Sadie sah zu Jaz. »Was hast du damit gemeint: ›Uns fällt schon was ein‹?«

Jaz riss wie ein Fisch auf dem Trockenen den Mund auf.

Walt antwortete an ihrer Stelle: »Weißt du doch. Die Sonnenlitanei. Irgendwann fällt uns schon was dazu ein.«

»Genau!«, stimmte Jaz zu. »Die Sonnenlitanei.«

Es war offensichtlich, dass sie logen, aber mich ging es wohl nichts an, wenn sie sich mochten. Wir hatten keine Zeit für Beziehungsdramen.

»Okay«, sagte ich, bevor Sadie nachhaken konnte. »Der Spaß kann losgehen.«

Das Fenster ließ sich leicht öffnen. Keine magischen Explosionen. Keine Alarmglocke. Mit einem Seufzer der Erleichterung kletterte ich in den Ägyptischen Flügel. Vielleicht hatten wir ja ausnahmsweise mal Glück?

Die ägyptischen Artefakte riefen alle möglichen Erinnerungen wach. Bis vor einem Jahr war ich die meiste Zeit meines Lebens mit Dad, der von Museum zu Museum zog und Vorträge über das alte Ägypten hielt, um die Welt gereist. Das war, bevor ich herausfand, dass er eigentlich ein Magier war – bevor er eine Horde Götter freisetzte und unser Leben kompliziert wurde.

Nun konnte ich mir keine ägyptischen Kunstwerke mehr ansehen, ohne mich persönlich berührt zu fühlen. Mich schauderte, als wir an einer Horusstatue vorbeigingen – das ist der falkenköpfige Gott, der mich letztes Weihnachten als Gastkörper benutzt hat. Beim Anblick eines Sarkophags musste ich daran denken, wie der bösartige Gott Seth unseren Vater im British Museum in einen goldenen Sarg gesperrt hatte. Überall gab es Bilder von Osiris, dem Totengott mit der blauen Haut, und ich dachte daran, wie sich mein Vater geopfert hatte, um Osiris’ neuer Gastkörper zu werden. Im Augenblick war unser Vater der König der Unterwelt, irgendwo in den magischen Gefilden der Duat. Ich kann überhaupt nicht beschreiben, was für ein komisches Gefühl es war, ein fünftausend Jahre altes Bild irgendeines blauen ägyptischen Gottes zu sehen und zu denken: Ja, das ist mein Vater.

Sämtliche Artefakte kamen mir wie Familienerbstücke vor: ein Zaubermesser, das dem von Sadie glich; ein Bild der Serpoparden, die uns einmal angegriffen hatten; eine Seite aus dem Totenbuch mit dem Bild von Dämonen, die wir schon mal getroffen hatten. Dann gab es noch die Uschebti, magische Statuetten, die zum Leben erwachen, wenn man sie herbeiruft. Vor ein paar Monaten hatte ich mich in ein Mädchen namens Zia Rashid verliebt, und sie hatte sich als Uschebti entpuppt.

Sich das erste Mal zu verlieben ist schon kompliziert genug. Doch wenn sich herausstellt, dass das Mädchen, in das du verknallt bist, aus Ton ist, und vor deinen Augen in Stücke bricht – tja, dann gewinnt der Ausdruck »Das bricht mir das Herz« noch mal eine ganz neue Bedeutung.

Wir durchquerten den ersten Saal, dessen ägyptisch anmutendes Deckengemälde die Sternzeichen darstellte. Ich hörte die Feier im großen Ballsaal, der am Ende des Gangs rechts lag. Musik und Gelächter hallten durch das Gebäude.

Im zweiten Ägyptischen Saal blieben wir vor einem Steinfries von der Größe eines Garagentors stehen. In den Stein war das Bild eines Ungeheuers gemeißelt, das auf ein paar Menschen herumtrampelte.

»Ist das ein Greif?«, fragte Jaz.

Ich nickte. »Die ägyptische Version davon, ja.«

Das Tier hatte den Körper eines Löwen und den Kopf eines Falken, doch die Flügel waren anders als bei den üblichen Greifendarstellungen. Sie saßen nicht an der Seite, wie bei Vögeln, sondern mitten auf dem Rücken – lang, horizontal und borstig, wie ein paar auf den Kopf gestellte Stahlbürsten. Falls das Ungeheuer damit überhaupt fliegen konnte, mussten sie sich wie Schmetterlingsflügel bewegen. Der Fries war einmal bunt gewesen. Auf dem Fell der Kreatur waren noch rote und goldene Flecken zu erkennen; doch selbst ohne Farbe wirkte der Greif gespenstisch lebensecht. Seine Knopfaugen schienen mir zu folgen.

»Greife waren Beschützer«, sagte ich und erinnerte mich an etwas, das Dad mir einmal erzählt hatte. »Sie bewachten Schätze und so was.«

»Toll«, meinte Sadie. »Soll das heißen, sie griffen … ähm, zum Beispiel Diebe an, die in Museen einbrachen und Artefakte klauten?«

»Es ist bloß ein Fries«, erwiderte ich. Aber ich bezweifelte, dass sich nach dieser Erklärung irgendjemand besser fühlte. Die ganze ägyptische Magie dreht sich schließlich darum, dass Worte und Bilder sich in etwas Reales verwandeln.

»Da drüben.« Walt deutete in die Mitte des Saals. »Das ist sie, oder?«

Wir machten einen großen Bogen um den Greif und gingen auf die Statue zu, die dort stand.

Der Gott war ungefähr zweieinhalb Meter groß. Er war aus schwarzem Stein gemeißelt und trug typisch ägyptische Kleidung: Schurz und Sandalen, der Oberkörper war nackt. Sein Kopf war der eines Widders, von den Hörnern waren im Lauf der Jahrhunderte Stücke abgebrochen. Er trug eine frisbeeförmige Krone – eine Sonnenscheibe, aus Schlangen geflochten. Vor ihm stand eine wesentlich kleinere menschliche Figur. Die Gottheit hielt die Hände über den Kopf des kleinen Kerls, als wolle sie ihn segnen.

Sadie musterte mit zusammengekniffenen Augen die Hieroglypheninschrift. Seit sie der Gastkörper für den Geist von Isis, der Göttin der Magie, gewesen war, konnte Sadie verblüffenderweise Hieroglyphen entziffern.

»CNM«, las sie. »Das würde man vermutlich Chnum aussprechen. Reimt sich auf Ka-wumm?«

»Ja«, sagte ich. »Das ist die Statue, die wir brauchen. Laut Horus birgt sie das Geheimnis, wie man die Sonnenlitanei findet.«

Leider hatte Horus diesen Punkt nicht genauer ausgeführt. Als wir so vor der Statue standen, war mir schleierhaft, wie sie uns helfen sollte. Ich betrachtete die Hieroglyphen und hoffte auf einen Hinweis.

»Wer ist der Knirps, der vor ihm steht?«, fragte Walt. »Ein Kind?«

Jaz schnipste mit den Fingern. »Nein, ich weiß es! Chnum erschuf auf der Töpferscheibe Menschen. Ich wette, genau das macht er hier: einen Menschen aus Ton formen.«

Sie sah Bestätigung heischend zu mir. Die Wahrheit war, ich konnte mich nicht an diese Geschichte erinnern. Sadie und ich waren zwar eigentlich die Lehrer, Jaz kannte sich jedoch oft besser aus als ich.

»Ja, stimmt«, sagte ich. »Menschen aus Ton. Genau.«

Sadie betrachtete stirnrunzelnd Chnums Widderkopf. »Sieht ein bisschen aus wie in diesem alten Comic … Bullwinkle, oder? Könnte der Elchgott sein.«

»Er ist nicht der Elchgott«, sagte ich.

»Aber wenn wir nach der Sonnenlitanei suchen«, fuhr sie fort, »und Re ist der Sonnengott, was sollen wir dann mit einem Elch?«

Sadie kann einem echt auf die Nerven gehen. Hab ich das schon erwähnt?

»Chnum war eine der Erscheinungsformen des Sonnengottes«, erklärte ich. »Re hatte drei verschiedene Persönlichkeiten. Morgens war er Chepre, der Skarabäusgott; tagsüber Re; und bei Sonnenuntergang, wenn er in die Unterwelt eintauchte, war er Chnum, der widderköpfige Gott.«

»Ganz schön verwirrend«, sagte Jaz.

»Eigentlich nicht«, erwiderte Sadie. »Carter hat auch verschiedene Persönlichkeiten. Bei ihm reicht das Spektrum von morgens Zombie über nachmittags fauler Sack bis zu –«

»Sadie«, fuhr ich dazwischen, »halt die Klappe.«

Walt kratzte sich am Kinn. »Ich finde, Sadie hat Recht. Es ist ein Elch.«

»Danke«, sagte Sadie.

Walt grinste sie widerwillig an, doch er wirkte immer noch abwesend, irgendetwas anderes schien ihn zu beschäftigen. Ich ertappte Jaz dabei, wie sie ihn mit besorgtem Gesichtsausdruck musterte, und fragte mich, worüber sie vorher geredet hatten.

»Schluss jetzt mit dem Elchgedöns«, sagte ich. »Wir müssen diese Statue ins Brooklyn House schaffen. Sie birgt irgendeinen Hinweis –«

»Aber wie finden wir den?«, fragte Walt. »Du hast uns übrigens immer noch nicht erklärt, wozu wir unbedingt diese Sonnenlitanei brauchen.«

Ich zögerte. Es gab eine Menge, was wir unseren Auszubildenden noch nicht erzählt hatten, nicht mal Walt und Jaz – zum Beispiel, dass vielleicht in fünf Tagen die Welt unterging. So was lenkt nur von der Ausbildung ab.

»Ich erkläre es euch, wenn wir wieder zu Hause sind«, versprach ich. »Jetzt sollten wir uns darum kümmern, diese Statue von hier wegzukriegen.«

Jaz runzelte die Stirn. »Ich glaube nicht, dass sie in meine Handtasche passt.«

»Ach, keine Angst«, erwiderte Sadie. »Wir belegen die Statue mit einem Schwebezauber. Wir zetteln irgendein Riesenablenkungsmanöver an, um den Ballsaal leer zu bekommen –«

»Warte mal.« Walt beugte sich vor und untersuchte die menschliche Gestalt. Der kleine Kerl lächelte, als wäre es ein Riesenspaß, aus Ton hergestellt zu werden. »Er trägt ein Amulett. Einen Skarabäus.«

»Das ist ein weitverbreitetes Symbol«, sagte ich.

»Schon klar …« Walt tastete die Amulettsammlung um seinen Hals ab. »Aber der Skarabäus ist ein Symbol der Wiedergeburt Res, oder? Und diese Statue zeigt Chnum, wie er ein neues Leben erschafft. Vielleicht brauchen wir nicht die ganze Statue. Vielleicht ist der Hinweis –«

»Ah!« Sadie zog ihr Zaubermesser heraus. »Genial.«

Ich wollte noch rufen: »Sadie, nein!«, aber das wäre natürlich sinnlos gewesen. Sadie hört sowieso nie auf mich.

Sie berührte das Amulett des kleinen Typen. Chnums Hände leuchteten. Der Kopf der kleineren Statue klappte wie die Spitze eines Raketensilos auf; im Hals steckte eine vergilbte Papyrusrolle.

»Voilà«, sagte Sadie stolz.

Sie schob das Zaubermesser in ihre Tasche und schnappte sich die Rolle genau in dem Moment, als ich rief: »Vielleicht ist es eine Falle!«

Wie ich schon sagte, sie hört nie auf mich.

Sobald sie die Rolle aus der Statue zog, rumpelte der gesamte Raum. Auf den Glasvitrinen zeigten sich Risse.

Als sich die Schriftrolle in ihrer Hand entzündete, schrie Sadie auf. Die Flammen verbrannten allerdings weder den Papyrus noch verletzten sie Sadie; doch als sie versuchte, das Feuer abzuschütteln, sprangen geisterhafte weiße Flammen auf die nächste Vitrine über und rasten durch den Raum, als folgten sie einer Benzinspur. Das Feuer kroch über die Fenster, auf denen sich weiße Hieroglyphen entzündeten, die möglicherweise Tausende von Schutzwächtern und -zaubern herbeiriefen. Anschließend züngelte das Geisterfeuer über den großen Fries am Eingang des Saals. Die Steinplatte erbebte heftig. Ich konnte die eingemeißelten Bilder auf der Rückseite zwar nicht sehen, aber ich hörte ein lautes Krächzen – es klang wie ein richtig großer, richtig wütender Papagei.

Walt ergriff seinen Zauberstab, der ihm über den Rücken hing. Sadie fuchtelte mit der brennenden Rolle herum, die an ihrer Hand festzukleben schien. »Befreit mich von diesem Ding! Das ist definitiv nicht meine Schuld!«

»Ähm …« Jaz zog ihr Zaubermesser heraus. »Was war das für ein Geräusch?«

Mich verließ der Mut.

»Ich vermute«, sagte ich, »das ist Sadies Riesenablenkungsmanöver.«

2.

Wir zähmen einen Drei-Tonnen-Kolibri

Vor ein paar Monaten wäre alles anders gelaufen. Sadie hätte mit einem einzigen Wort eine kriegsähnliche Explosion verursachen können. Ich hätte mich in einen magischen Kampfavatar gehüllt und wäre so gut wie unbesiegbar gewesen.

Doch damals waren wir noch vollständig mit den Göttern verbunden – ich mit Horus, Sadie mit Isis. Wir hatten diese Fähigkeiten aufgegeben, weil es einfach zu gefährlich war. Solange wir unsere eigenen Fähigkeiten nicht besser unter Kontrolle hatten, konnte die Vereinigung mit den ägyptischen Göttern uns den Verstand kosten oder uns schlicht verbrennen.

Nun verfügten wir nur noch über unsere eigene Zauberkraft, was bestimmte Dinge schwieriger machte – wie zum Beispiel zu überleben, wenn ein Ungeheuer zum Leben erwachte und uns umbringen wollte.

Der Greif kam hinter dem Fries hervor. Er war doppelt so groß wie ein gewöhnlicher Löwe, auf seinem rotgoldenen Fell lag Kalksteinstaub. Sein Schwanz war mit spitzen Federn besetzt, die hart und scharf wie Dolche zu sein schienen. Mit einem einzigen Hieb zertrümmerte er die Steintafel, aus der er herausgekommen war. Seine borstigen Flügel standen nun auf seinem Rücken in die Höhe. Als der Greif sich bewegte, flatterten die Flügel mit solcher Geschwindigkeit, dass man sie kaum mehr erkennen konnte. Sie surrten wie die Flügel des weltgrößten, hinterhältigsten Kolibris.

Der Greif starrte Sadie mit hungrigen Augen an. Die weißen Flammen, die noch immer über ihre Hand und die Schriftrolle züngelten, schien der Greif als eine Art Herausforderung zu betrachten. Ich hatte oft Falkenschreie gehört – ich war schließlich das ein oder andere Mal selbst ein Falke gewesen –, doch als dieses Viech den Schnabel aufriss, gab es einen so gellenden Schrei von sich, dass die Fensterscheiben klirrten und mir die Haare zu Berge standen.

»Sadie«, sagte ich, »lass die Schriftrolle los.«

»Wie denn? Sie klebt an meiner Hand!«, protestierte sie. »Und ich brenne! Hab ich das schon erwähnt?«

Mittlerweile loderten auf sämtlichen Fenstern und Artefakten kleine Geisterfeuer. Die Schriftrolle schien auch noch die letzte ägyptische Zauberkraft im Raum aktiviert zu haben, und das konnte nichts Gutes bedeuten. Walt und Jaz standen wie angewurzelt da. Aber daraus kann man ihnen keinen Vorwurf machen. Das hier war ihr erstes richtiges Monster.

Der Greif ging einen Schritt auf meine Schwester zu.

Ich stand direkt neben ihr und wandte den einzigen Zaubertrick an, den ich noch beherrschte: Ich griff in die Duat und zog mein Schwert aus dem Nichts – ein ägyptisches Chepesch mit einer mörderscharfen, gebogenen Klinge.

Sadie sah ziemlich albern aus mit ihrer brennenden Hand und der Schriftrolle, wie eine übereifrige Freiheitsstatue. Doch sie schaffte es, mit der freien Hand ihre wichtigste Angriffswaffe herbeizurufen – einen anderthalb Meter langen Zauberstab, in den Hieroglyphen geschnitzt waren.

Sadie fragte: »Irgendwelche Tipps zur Bekämpfung von Greifen?«

»Weiche den Körperteilen aus, die dich verletzen könnten?«, sagte ich aufs Geratewohl.

»Genial! Da wäre ich nie draufgekommen.«

»Walt!«, rief ich. »Schau mal, ob du eines dieser Fenster öffnen kannst.«

»A-aber sie sind mit einem Fluch belegt.«

»Richtig«, sagte ich. »Aber wenn wir versuchen, durch den Ballsaal herauszukommen, verspeist uns der Greif schon vorher.«

»Ich mach ja schon.«

»Jaz«, fuhr ich fort. »Hilf Walt.«

»Diese Symbole auf den Scheiben«, murmelte Jaz. »Ich … ich hab sie schon mal irgendwo gesehen –«

»Tu einfach, was ich dir sage!«, erwiderte ich.

Der Greif machte einen Satz, seine Flügel surrten wie Kettensägen. Sadie warf ihren Zauberstab. Er verwandelte sich im Flug in einen Tiger und krachte mit ausgefahrenen Krallen auf den Greif.

Der Greif schien nicht beeindruckt. Er stieß den Tiger zur Seite, anschließend schlug er mit unnatürlicher Geschwindigkeit um sich und öffnete seinen Schnabel unglaublich weit. Happs! Der Greif schluckte und rülpste und weg war der Tiger.

»Das war mein Lieblingszauberstab!«, rief Sadie.

Der Greif starrte mich an.

Ich umklammerte mein Schwert. Die Klinge begann zu leuchten. Hätte ich doch bloß noch Horus’ Stimme in meinem Kopf gehabt, die mich anstachelte! Mit einem persönlichen Kriegsgott ist es viel leichter, dämliche Mutproben zu bestehen.

»Walt!«, rief ich. »Wie läuft’s mit den Fenstern?«

»Wir arbeiten dran«, sagte er.

»W-warte mal«, sagte Jaz nervös. »Das sind Symbole von Sachmet. Walt, lass das!«

Dann passierte alles Mögliche gleichzeitig. Als Walt das Fenster öffnete, überrollte ihn eine Woge weißes Feuer und schleuderte ihn zu Boden.

Jaz rannte zu ihm. Der Greif verlor auf der Stelle das Interesse an mir. Wie jedes ordentliche Raubtier konzentrierte er sich auf das bewegliche Ziel – Jaz.

Ich sprintete hinterher. Doch statt sich unsere Freunde zu schnappen, flog der Greif über Walt und Jaz hinweg und klatschte gegen das Fenster. Jaz riss Walt zur Seite, als der Greif wie verrückt nach den weißen Flammen schlug und biss.

Er versuchte, das Feuer anzugreifen, schnappte aber nur in die Luft. Der Greif drehte sich, dabei fegte er einen Schaukasten mit Uschebti um. Mit dem Schwanz zertrümmerte er einen Sarkophag.

Ich weiß nicht, was über mich kam, jedenfalls brüllte ich: »Aufhören!«

Der Greif erstarrte. Er wandte sich mir zu und krächzte gereizt. Ein weißer Feuervorhang raste davon und brannte in einer Ecke des Saals, als wolle er sich wieder sammeln. Dann bemerkte ich andere Feuer, die sich zusammenscharten und feurige Gestalten bildeten, die vage menschlich aussahen. Eine sah mir direkt in die Augen und ich spürte eine unverkennbare Aura von Bösartigkeit.

»Carter, lenk ihn ab.« Sadie waren die brennenden Gestalten offensichtlich nicht aufgefallen. Als sie ein Stück Zauberzwirn aus ihrer Hosentasche zog, ließ sie den Greif nicht aus den Augen. »Wenn ich es schaffe, nah genug heranzukommen –«

»Sadie, warte.« Ich versuchte zu begreifen, was vor sich ging. Walt lag auf dem Rücken und zitterte. Seine Augen leuchteten weiß, als würde das Feuer in ihm brennen. Jaz beugte sich über ihn und murmelte einen Heilzauber.

»KRAAAAAH!« Der Greif krächzte traurig, als bitte er um Erlaubnis – als würde er meinem Befehl gehorchen, auch wenn es ihm nicht gefiel.

Die glühenden Umrisse wurden heller und bekamen Konturen. Ich zählte sieben brennende Gestalten, die langsam Arme und Beine ausformten.

Sieben Gestalten … Jaz hatte etwas über die Symbole von Sachmet gesagt. Als mir klar wurde, welche Art Zauber das Museum tatsächlich schützte, bekam ich Angst. Die Freisetzung des Greifs war bloß ein Zufall gewesen. Er war nicht das eigentliche Problem.

Sadie warf ihren Zwirn.

»Warte!«, brüllte ich, aber es war mal wieder zu spät. Der Zauberzwirn peitschte durch die Luft und verlängerte sich, während er auf den Greif zuraste, zu einem Seil.

Der Greif kreischte empört und stürzte sich auf die brennenden Gestalten. Die Feuergeschöpfe stoben auseinander und spielten Fangen – mit dem Ziel der totalen Vernichtung.

Der Greif flatterte durch den Saal, seine Flügel surrten. Ausstellungsvitrinen gingen zu Bruch. Sirenen heulten. Ich brüllte den Greif an aufzuhören, aber dieses Mal half es nichts.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Jaz zusammenbrach, vielleicht von der Anstrengung des Heilzaubers.

»Sadie!«, schrie ich. »Hilf ihr!«

Sadie rannte zu Jaz. Ich jagte dem Greif hinterher. Als ich über zerbrochene Artefakte stolperte und einer riesigen Kolibri-Katze Befehle hinterherbrüllte, sah ich mit meinem schwarzen Schlafanzug und dem glühenden Schwert vermutlich wie der letzte Volltrottel aus.

Genau in dem Moment, als ich dachte, es könne nicht mehr schlimmer kommen, bog ein halbes Dutzend Partygäste um die Ecke, weil sie nachsehen wollten, was es mit diesem Lärm auf sich hatte. Ihnen klappte die Kinnlade herunter. Eine Dame in apricotfarbenem Kleid kreischte.

Die sieben weißen Feuergeschöpfe fegten mitten durch die Hochzeitsgäste, die auf der Stelle einen Kollaps bekamen. Die Feuer rannten weiter und zischten ab Richtung Ballsaal. Der Greif flog ihnen hinterher.

Ich drehte mich zu Sadie um, die neben Jaz und Walt kniete. »Wie geht es ihnen?«

»Walt kommt zu sich«, antwortete sie, »aber Jaz ist völlig weggetreten.«

»Folg mir, sobald du kannst. Ich glaube, ich komme mit dem Greif klar.«

»Carter, hast du sie noch alle? Unsere Freunde sind verletzt und mir klebt eine glühende Schriftrolle an der Hand. Das Fenster steht offen. Hilf mir, Jaz und Walt hier rauszuschaffen!«

Sie hatte ja Recht. Es war möglicherweise die einzige Chance, unsere Freunde lebend wegzubringen. Aber ich wusste mittlerweile, was es mit diesen sieben Feuern auf sich hatte, und ich wusste auch, wenn ich ihnen nicht nachging, würden viele unschuldige Menschen verletzt werden.

Ich murmelte einen ägyptischen Fluch – eine Verwünschung, keinen magischen Fluch – und sprintete zu den Hochzeitsgästen.

Im großen Ballsaal herrschte das Chaos. Überall rannten Gäste hin und her, schrien und warfen Tische um. Ein Typ im Smoking war in die Torte gefallen und krabbelte mit der Plastikhochzeitspaardeko auf dem Hintern herum. Ein Musiker versuchte, mit einer kleinen Trommel um den Fuß davonzulaufen.

Die weißen Feuer hatten ihre Gestalt so weit ausgeformt, dass ich sie erkennen konnte – irgendwas zwischen Hund und Mensch, mit überlangen Armen und krummen Beinen. Sie leuchteten wie überhitztes Gas, als sie durch den Ballsaal flitzten und um die Säulen rings um die Tanzfläche. Einer rannte direkt durch eine Brautjungfer hindurch. Die Augen der Dame wurden trübe, sie stürzte hustend und zitternd zu Boden.

Am liebsten hätte ich mich auch zusammengerollt. Ich kannte keinerlei Zaubersprüche, die gegen so etwas ankamen, und falls eine der Feuergestalten mich berührte …

Plötzlich stieß der Greif aus dem Nichts herunter, dicht gefolgt von Sadies Zauberzwirn, der noch immer versuchte, ihn zu fesseln. Der Greif schnappte sich eine der Feuergestalten, schluckte einmal und flog weiter. Aus seinen Nasenlöchern traten kleine Rauchfahnen, doch ansonsten schien es ihm nichts auszumachen, weißes Feuer zu fressen.

»Hey!«, brüllte ich.

Zu spät erkannte ich meinen Fehler.

Als der Greif sich zu mir umwandte, war er endlich so langsam geworden, dass sich Sadies Zauberzwirn um seine Hinterbeine wickeln konnte.

»KRAHHH!« Der Greif klatschte in das Buffet. Das Seil wurde länger und wand sich um den Körper des Ungeheuers, dessen Hochgeschwindigkeitsflügel in der Zwischenzeit den Tisch, den Boden und die Sandwichplatten wie eine außer Kontrolle geratene Hackschnitzelmaschine zerlegten.

Die Hochzeitsgäste rannten aus dem Ballsaal, die meisten von ihnen zu den Aufzügen, Dutzende waren allerdings bewusstlos oder hatten Zitteranfälle, ihre Augen leuchteten weiß. Andere waren unter Trümmerbergen verschüttet. Noch immer heulten die Sirenen, und die weißen Feuer – nun nur noch sechs – waren völlig außer Rand und Band.

Ich rannte auf den Greif zu, der sich herumwälzte und verzweifelt versuchte, das Seil zu durchbeißen. »Krieg dich ein!«, schrie ich. »Ich will dir doch helfen, du dämliches Stück!«

»FRIEEK!« Der Schwanz des Greifs sauste über mich und hätte mich um Haaresbreite geköpft.

Ich holte tief Luft. Ich war im Wesentlichen ein Kampfmagier. Hieroglyphenzauberei hatte mir noch nie sonderlich gelegen, trotzdem zielte ich mit meinem Schwert auf das Monster und sagte: »Ha-tep.«

Eine grüne Hieroglyphe – das Symbol für Gib Ruhe! – entflammte in der Luft, direkt auf der Spitze meines Schwerts.

Der Greif hörte auf, um sich zu schlagen. Das Surren seiner Flügel wurde langsamer. Obwohl noch immer Chaos und Geschrei im Ballsaal herrschten, versuchte ich ruhig zu bleiben, als ich auf das Monster zuging.

»Du weißt, wer ich bin, oder?« Als ich die Hand ausstreckte, entflammte ein anderes Symbol über meiner Handfläche – ein Symbol, das ich jederzeit herbeirufen konnte: das Horusauge.

»Du bist eines der heiligen Tiere des Horus, oder? Deshalb gehorchst du mir.«

Der Greif betrachtete blinzelnd das Symbol des Kriegsgottes. Er plusterte die Halsfedern auf und ließ ein anklagendes Krächzen hören. Er wand sich unter dem Seil, das sich langsam um seinen Körper wickelte.

»Ja, ich weiß«, sagte ich. »Meine Schwester stellt sich manchmal doof an. Warte einen Moment. Ich werde dich befreien.«

Irgendwo hinter mir brüllte Sadie: »Carter!«

Als ich mich umdrehte, sah ich Walt und sie auf mich zuwanken, sie stützten Jaz. Sadie markierte immer noch die Freiheitsstatue und hielt die brennende Schriftrolle in einer Hand. Walt hatte sich hochgerappelt und seine Augen glühten nicht mehr, doch Jaz hing zwischen ihnen, als hätten sich sämtliche Knochen in ihrem Körper in Wackelpudding verwandelt.

Sie versuchten, einem glutroten Geist und ein paar panischen Hochzeitsgästen auszuweichen und irgendwie durch den Ballsaal zu kommen.

Walt starrte den Greif an. »Wie hast du den beruhigt?«

»Greife sind Diener des Horus«, erklärte ich. »Sie zogen bei Schlachten seinen Streitwagen. Ich glaube, er hat meine Verbindung zu Horus erkannt.«

Der Greif stieß einen ungeduldigen Schrei aus und nietete mit dem Schwanz eine Steinsäule um.

»Na ja, ruhig sieht anders aus«, bemerkte Sadie. Sie blickte zur Glaskuppel hinauf, die sich zwölf Meter über uns wölbte. Dort oben winkte Cheops’ winzige Gestalt verzweifelt. »Wir müssen Jaz sofort hier rausbringen«, sagte sie.

»Mir geht’s gut«, murmelte Jaz.

»Nein, geht’s dir nicht«, sagte Walt. »Carter, sie hat diesen Geist aus mir herausgeholt, aber dabei ist sie fast gestorben. Es ist irgendeine Art Krankheitsdämon.«

»Ein Weputi«, erklärte ich. »Ein böser Geist. Diese sieben nennt man –«

»Die Pfeile der Sachmet«, sagte Jaz und bestätigte meine Befürchtungen. »Sie sind Unheil bringende Geister, die von der Göttin geboren wurden. Ich kann sie aufhalten.«

»Du kannst dich ausruhen«, widersprach Sadie.

»Genau«, sagte ich. »Sadie, befrei den Greif doch endlich von dem Seil und –«

»Dazu ist keine Zeit.« Jaz zeigte auf die Weputiu, die immer größer und heller wurden. Als die Geister ungehindert durch den Raum zischten, kippten noch mehr Hochzeitsgäste um.

»Sie werden alle sterben, wenn ich die Weputiu nicht aufhalte«, erklärte Jaz. »Ich kann die Kräfte von Sachmet kanalisieren und in die Duat zurückzwingen. Das habe ich geübt.«

Ich zögerte. Jaz hatte sich noch nie zuvor an einem so mächtigen Zauberspruch versucht. Sie war bereits geschwächt, weil sie Walt geheilt hatte. Aber sie war tatsächlich dafür ausgebildet. Es erscheint vielleicht komisch, dass Heiler den Weg Sachmets studierten, aber da Sachmet die Göttin der Zerstörung, des Unheils und der Hungersnöte ist, war es sinnvoll, dass Heiler lernten, wie man ihre Kräfte in den Griff bekommen konnte – die Weputiu eingeschlossen.

Außerdem war ich nicht hundertprozentig sicher, ob der Greif mir wirklich gehorchen würde, wenn ich ihn freiließ. Es bestand noch immer die Möglichkeit, dass er sich aufregte und lieber uns als die Geister verschlang.

Draußen näherten sich Polizeisirenen. Uns lief die Zeit davon.

»Wir haben keine Wahl«, beharrte Jaz.

Sie zog ihr Zaubermesser heraus, dann gab sie – zum großen Entsetzen meiner Schwester – Walt einen Kuss auf die Wange. »Mir passiert schon nichts, Walt. Gib nicht auf.«

Jaz holte noch etwas aus ihrer Zaubertasche – eine Wachsstatuette – und drückte sie meiner Schwester in die freie Hand. »Die wirst du bald brauchen, Sadie. Es tut mir leid, dass ich dir keine große Hilfe sein kann. Aber wenn es so weit ist, wirst du wissen, was du tun musst.«

Ich glaube, ich habe Sadie noch nie so sprachlos erlebt.

Jaz rannte in die Mitte des Ballsaals, wo sie mit ihrem Zaubermesser den Boden berührte und einen Schutzkreis um ihre Füße zog. Anschließend nahm sie eine Statuette von Sachmet, ihrer Schutzgöttin, aus der Tasche und hielt sie in die Höhe.

Sie stimmte einen Sprechgesang an. Rings um sie glühte rotes Licht. Ranken von Energie stiegen aus dem Kreis auf und breiteten sich wie die Äste eines Baumes im Raum aus. Sie begannen sich zu drehen, zuerst langsam, dann immer schneller, ihr magischer Sog zerrte an den Weputiu und zog sie schließlich allesamt in die Kreismitte. Die Geister heulten und sträubten sich gegen den Zauber. Obwohl Jaz taumelte und ihr Schweißperlen übers Gesicht liefen, setzte sie ihren Sprechgesang fort.

»Können wir ihr nicht helfen?«, fragte Walt.

»RAAARR!«, schrie der Greif, was vermutlich bedeuten sollte: Hallo! Ich bin auch noch da!

Es klang, als befänden sich die Sirenen nun direkt vor dem Museum. Am Ende des Korridors, neben den Aufzügen, brüllte jemand in ein Megafon und befahl den letzten Hochzeitsgästen, das Gebäude zu verlassen – als ob man sie dazu noch auffordern musste. Die Polizei war eingetroffen, und falls sie uns verhafteten, würden wir in Erklärungsnot geraten.

»Sadie«, sagte ich, »binde den Greif los. Walt, hast du immer noch dein Bootsamulett?«

»Mein –? Klar. Aber hier gibt’s kein Wasser.«

»Ruf einfach das Boot herbei!« Ich kramte in meinen Hosentaschen und fand meinen eigenen Zauberzwirn. Sobald ich einen Zauber gesprochen hatte, hielt ich ein fast sieben Meter langes Seil in der Hand. Als wäre es eine große Krawatte, band ich in der Mitte einen lockeren Laufknoten und ging vorsichtig auf den Greif zu.

»Ich leg dir das jetzt um den Hals«, sagte ich. »Flipp nicht aus.«

»FRI-EEK!«, entgegnete der Greif.

Obwohl mir bewusst war, wie schnell mich dieser Schnabel packen konnte, ging ich näher an den Greif heran und es gelang mir, ihm das Seil um den Hals zu legen.

Danach lief irgendetwas schief. Die Zeit verging langsamer. Die roten herumwirbelnden Ranken, die Jaz herbeigezaubert hatte, bewegten sich schwerfällig, als hätte sich die Luft in Sirup verwandelt. Das Geschrei und die Sirenen verschwammen zu einem entfernten Tosen.

Es wird dir nicht gelingen, zischte eine Stimme.

Ich drehte mich um und stand einem Weputi gegenüber.

Er schwebte nur ein paar Zentimeter von mir entfernt in der Luft, fast konnte ich seine brennenden weißen Züge erkennen. Er schien zu lächeln und ich hätte schwören können, dass ich sein Gesicht schon mal irgendwo gesehen hatte.

Das Chaos ist zu mächtig, Junge, sagte er. Du hast keine Kontrolle über die Welt. Es ist sinnlos weiterzusuchen!

»Halt die Klappe«, murmelte ich, doch mein Herz klopfte wie wild.

Du wirst sie niemals finden, höhnte der Geist. Sie schläft im Roten Sand; doch wenn du deine Suche fortsetzt, wird sie sterben.

Es fühlte sich an, als würde mir eine Tarantel den Rücken hinunterkrabbeln. Der Geist sprach von Zia Rashid – der richtigen Zia, nach der ich seit Weihnachten suchte.

»Nein«, entgegnete ich. »Du bist ein Dämon, ein Betrüger.«

Du weißt, dass es nicht stimmt, Junge. Wir sind uns schon mal begegnet.

»Halt die Klappe!« Als ich das Horusauge herbeirief, zischte der Geist. Die Zeit verging wieder schneller. Die roten Ranken, die Jaz herbeigezaubert hatte, schlangen sich um den Weputi und zogen ihn unter Geschrei in den Strudel.

Niemand sonst schien mitbekommen zu haben, was gerade passiert war.

Sadie war damit beschäftigt, sich zu verteidigen, und schlug, sobald die Weputiu näher kamen, mit der brennenden Schriftrolle nach ihnen. Walt legte sein Bootsamulett auf den Boden und sprach den Befehl. Innerhalb von Sekunden wuchs das Amulett – ähnlich wie diese Schwämme, die im Wasser aufquellen –, bis es schließlich detailgetreu und so groß wie ein echtes ägyptisches Schilfboot quer auf den Überresten des Buffets lag.

Mit zitternden Händen nahm ich die beiden Enden der neuen Krawatte des Greifs und befestigte ein Ende am Bug und das andere am Heck.

»Carter, schau mal!«, rief Sadie.

Ich drehte mich gerade noch rechtzeitig um, um blendendes rotes Licht aufblitzen zu sehen. Der Strudel saugte alle sechs Weputiu in Jaz’ Kreis und stürzte ein. Das Licht erlosch. Jaz wurde ohnmächtig, sowohl ihr Zaubermesser als auch die Sachmetstatue zerfielen in ihren Händen zu Staub.

Wir rannten zu ihr. Ihre Kleider dampften. Ich war mir nicht sicher, ob sie noch atmete.

»Schafft sie ins Boot«, sagte ich. »Wir müssen hier weg.«

Von weit oben hörte ich ein schwaches Grunzen. Cheops hatte die Kuppel geöffnet und fuchtelte mit den Armen, denn über ihm tauchten Suchscheinwerfer am Himmel auf. Das Museum war wahrscheinlich von Einsatzfahrzeugen umringt.

Überall im Ballsaal kamen die Gäste allmählich wieder zu sich. Jaz hatte sie gerettet, aber zu welchem Preis? Wir trugen Jaz zum Boot und kletterten hinein.

»Haltet euch fest«, warnte ich. »Das Ding ist nicht im Gleichgewicht. Wenn es kippt –«

»He!«, brüllte eine tiefe männliche Stimme hinter uns. »Was macht – he! Stopp!«

»Sadie, das Seil, schnell!«, rief ich.

Sie schnippte mit den Fingern und das Seil, das den Greif fesselte, löste sich auf.

»LOS!«, schrie ich. »NACH OBEN!«

»FRIEEK!« Der Greif schlug heftig mit den Flügeln. Wir erhoben uns schwankend in die Luft, das Boot wackelte wie verrückt und schoss direkt auf die geöffnete Kuppel zu. Der Greif schien unser zusätzliches Gewicht kaum zu spüren. Er stieg so schnell auf, dass Cheops einen ziemlichen Satz machen musste, um es an Bord zu schaffen. Ich zog ihn hinein, wir hielten uns mit ganzer Kraft fest und versuchten, nicht zu kentern.

»Agh!«, beschwerte sich Cheops.

»Ja«, stimmte ich zu. »Von wegen einfache Aufgabe.«

Aber wir waren nun mal die Kanes. Verglichen mit dem, was auf uns wartete, war dieser Tag noch ereignislos gewesen.

Aus irgendeinem Grund wusste unser Greif den richtigen Weg. Er schrie triumphierend und erhob sich in die kalte, regnerische Nacht. Während des Heimflugs brannte Sadies Schriftrolle heller. Als ich nach unten sah, loderten auf allen Dächern in Brooklyn geisterhafte weiße Feuer.

Langsam fragte ich mich, was genau wir gestohlen hatten – ob es überhaupt der richtige Gegenstand war oder ob unsere Probleme dadurch noch größer werden würden. So oder so hatte ich das Gefühl, dass wir zu weit gegangen waren.

Sadie

3.

Das Mordkomplott des Eisverkäufers

Komisch, wie leicht man vergessen kann, dass die eigene Hand brennt.

Oh, ’tschuldigung, hier ist übrigens Sadie. Ihr dachtet doch nicht, dass ich meinen Bruder ewig quasseln lassen würde, oder? Wirklich, eine solche Strafe hat niemand verdient.

Als wir im Brooklyn House ankamen, stürzten alle auf mich zu, weil eine brennende Schriftrolle an meiner Hand klebte.

»Mir geht’s gut!«, beharrte ich. »Kümmert euch um Jaz!«

Ehrlich, von Zeit zu Zeit finde ich ein bisschen Aufmerksamkeit toll, aber ich war ja wohl kaum das Interessanteste. Wir waren auf dem Dach der Villa gelandet, die schon für sich genommen kurios ist – ein fünfstöckiger Würfel aus Kalkstein und Stahl, eine Art Kreuzung zwischen ägyptischem Tempel und Kunstmuseum, das auf einem verlassenen Lagerhaus im Hafengebiet von Brooklyn thront. Ganz zu schweigen davon, dass die Villa magisch schimmert und für Normalsterbliche unsichtbar ist.

Unter uns stand ganz Brooklyn in Flammen. Meine nervige magische Schriftrolle hatte auf dem Heimflug vom Museum eine breite Schneise geisterhafter Flammen hinterlassen. Nichts brannte wirklich und die Flammen waren auch nicht heiß; trotzdem lösten wir eine ganz schöne Panik aus. Feuerwehrautos waren im Einsatz. Die Straßen waren von Menschen verstopft, die zu den brennenden Dächern hochgafften. Helikopter kreisten und suchten mit ihren Scheinwerfern die Gegend ab.

Als wäre das noch nicht aufregend genug, rangelte mein Bruder mit einem Greif und versuchte, ein Fischerboot loszubinden, das dem Vieh um den Hals hing und dieses daran hinderte, unsere Auszubildenden aufzufressen.

Dann war da noch Jaz, die wirklich Anlass zur Besorgnis gab. Wir waren der Meinung, dass sie noch atmete, doch sie schien in einer Art Koma zu liegen. Als wir ihre Augenlider anhoben, glühten ihre Augen weiß – meistens kein so gutes Zeichen.

Während der Bootsfahrt hatte Cheops ein paar seiner berühmten Pavianzaubertricks an ihr ausprobiert – ihr die Stirn getätschelt, unappetitliche Geräusche von sich gegeben und versucht, ihr Jelly Beans in den Mund zu stopfen. Bestimmt fand er sich sehr hilfreich, doch ihr Zustand hatte sich nicht großartig gebessert.

Nun kümmerte sich Walt um sie. Er hob sie vorsichtig hoch und legte sie auf eine Trage, deckte sie zu und strich ihr über das Haar, während sich unsere anderen Auszubildenden um sie versammelten. Und das war in Ordnung. Völlig in Ordnung.

Es war mir so was von egal, wie schön seine Züge im Mondschein aussahen oder seine muskulösen Arme in diesem Muskelshirt oder dass er mit Jaz Händchen gehalten hatte oder …

’tschuldigung. Bin vom Thema abgekommen.

Ich ließ mich am äußeren Rand des Dachs nieder, ich war völlig erledigt. Meine rechte Hand juckte, weil ich die Papyrusrolle so lange gehalten hatte.

Ich tastete meine linke Hosentasche ab und holte die kleine Wachsstatuette heraus, die Jaz mir gegeben hatte. Es war eine ihrer Heilfiguren, mit denen sie Krankheiten oder Flüche austrieb. Im Allgemeinen haben Statuetten keine Ähnlichkeit mit einer bestimmten Person, aber für diese hatte sich Jaz Zeit genommen. Sie war eindeutig dazu bestimmt, eine ganz spezielle Person zu heilen, und deshalb bestimmt mächtiger und aller Wahrscheinlichkeit nach einer Situation vorbehalten, in der es um Leben und Tod ging. Ich erkannte das lockige Haar der Statuette wieder, ihre Gesichtszüge, das Schwert, das sie umklammert hielt. Jaz hatte ihr sogar in Hieroglyphen den Namen auf die Brust geschrieben: CARTER.

Die wirst du bald brauchen, hatte sie zu mir gesagt.

Soweit ich wusste, war Jaz keine Wahrsagerin. Sie konnte die Zukunft nicht vorhersagen. Was hatte sie also gemeint? Und woher sollte ich wissen, wann ich die Statuette einsetzen sollte? Als ich den Mini-Carter anstarrte, hatte ich das schreckliche Gefühl, dass mir buchstäblich das Leben meines Bruders in die Hand gelegt worden war.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte die Stimme einer Frau.

Ich legte schnell die Statuette beiseite.

Meine alte Freundin Bastet stand über mir. Ihr verhaltenes Lächeln und die funkelnden gelben Augen konnten sowohl bedeuten, dass sie sich Sorgen machte, als auch, dass sie amüsiert war. Bei einer Katzengöttin lässt sich das schwer sagen. Ihr schwarzes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie trug wie immer ihren Leopardenanzug und sah aus, als wolle sie jeden Moment einen Rückwärtssalto schlagen. Es war ihr zuzutrauen. Wie ich schon sagte, bei Katzen weiß man nie.

»Mir geht’s gut«, log ich. »Es ist nur …« Ich machte mit meiner brennenden Hand eine hilflose Handbewegung.

»Mmm.« Die Schriftrolle schien bei Bastet ungute Erinnerungen wachzurufen. »Mal sehen, was ich da tun kann.«

Sie kniete sich neben mich und stimmte einen Sprechgesang an.

Ich dachte darüber nach, wie merkwürdig es war, dass mein ehemaliges Haustier einen Zauber für mich sprach. Jahrelang hatte sich Bastet als meine Katze Muffin ausgegeben. Mir war überhaupt nicht klar gewesen, dass nachts eine Göttin auf meinem Kissen schlief. Erst als mein Vater im British Museum eine Bande Götter freigesetzt hatte, gab sich Bastet zu erkennen.

Sie hatte uns erzählt, dass sie sechs Jahre lang über mich gewacht hatte, von dem Moment an, als unsere Eltern sie aus einer Zelle in der Duat freigelassen hatten, in die man sie gesteckt hatte, um für alle Ewigkeit gegen die Schlange des Chaos, Apophis, anzukämpfen.

Lange Geschichte, meine Mutter hatte jedenfalls vorhergesehen, dass Apophis irgendwann aus seinem Kerker in der Duat ausbrechen würde, was mehr oder weniger dem Jüngsten Tag gleichkäme. Wenn Bastet weiterhin allein gegen ihn hätte ankämpfen müssen, wäre sie vernichtet worden. Doch da meine Mutter davon überzeugt war, dass Bastet eine wichtige Rolle im bevorstehenden Kampf gegen das Chaos spielen würde, befreiten meine Eltern sie, bevor Apophis sie überwältigen konnte. Weil meine Mutter beim Öffnen und Schließen von Apophis’ Kerker gestorben war, fühlte sich Bastet verständlicherweise meinen Eltern verpflichtet. Und so war sie zu meiner Hüterin geworden.

Mittlerweile war sie auch noch meine und Carters Anstandsdame, Reisegefährtin und manchmal persönliche Küchenchefin (kleiner Tipp am Rande: Falls sie euch Friskies du Jour anbietet, lehnt ab).

Doch ich vermisste immer noch Muffin. Manchmal musste ich dem Drang widerstehen, Bastet hinter den Ohren zu kraulen und sie mit Leckerlis zu füttern; andererseits war ich froh, dass sie nicht mehr versuchte, nachts auf meinem Kissen zu schlafen. Das wäre ein bisschen komisch gewesen.

Als sie mit ihrem Sprechgesang fertig war, erloschen die Flammen. Meine Faust öffnete sich. Der Papyrus fiel mir auf den Schoß.

»Gott, vielen Dank«, sagte ich.

»Göttin«, verbesserte Bastet. »Gern geschehen. Es ist ja nicht nötig, dass Res Macht die ganze Stadt erleuchtet, oder?«

Ich sah über das Stadtviertel. Die Feuer waren verschwunden. Bis auf die Blaulichter und die schreienden Menschenmassen in den Straßen sah die nächtliche Skyline von Brooklyn wieder normal aus. Wenn ich es mir recht überlege, war das vermutlich tatsächlich einigermaßen normal.

»Res Macht?«, fragte ich. »Ich dachte, die Schriftrolle wäre nur ein Hinweis. Ist sie etwa die Sonnenlitanei?«

Bastets Pferdeschwanz bauschte sich auf, das tut er immer, wenn sie nervös ist. Mit der Zeit war mir klar geworden, dass sie einen Pferdeschwanz trug, damit ihr nicht jedes Mal, wenn sie erschrak, die Haare seeigelmäßig um den Kopf standen.

»Die Schriftrolle ist … ein Teil der Litanei«, erklärte sie. »Und denk dran, ich habe dich gewarnt. Res Macht ist so gut wie unkontrollierbar. Wenn du weiterhin versuchst, ihn zu wecken, fallen die nächsten Feuer, die du auslöst, vielleicht nicht so harmlos aus.«

»Aber ist er nicht dein Pharao?«, fragte ich. »Willst du nicht, dass er geweckt wird?«

Sie senkte den Blick. Mir wurde klar, wie dumm meine Bemerkung gewesen war. Re war Bastets Herr und Meister. Vor langer Zeit hatte er sie zu seiner Favoritin erkoren. Doch er war auch derjenige gewesen, der sie in dieses Gefängnis gesteckt hatte, damit sie seinen Erzfeind Apophis für alle Ewigkeit beschäftigte und er sich guten Gewissens zurückziehen konnte. Ganz schön egoistisch, wenn ihr mich fragt.

Dank meiner Eltern war Bastet ihrer Gefangenschaft entronnen, allerdings hatte sie damit auch ihren Posten verlassen. Kein Wunder, dass sie ihrem alten Chef gegenüber gemischte Gefühle hatte.

»Am besten, wir reden morgen früh«, sagte Bastet. »Du brauchst Ruhe und diese Schriftrolle sollte nur bei Tageslicht geöffnet werden, wenn sich die Macht Res leichter handhaben lässt.«

Ich starrte auf meinen Schoß. Der Papyrus dampfte immer noch. »Einfacher zu handhaben … mich also nicht abfackeln wird, oder was?«

»Jetzt kannst du die Rolle gefahrlos anfassen«, versicherte mir Bastet. »Sie war bloß sehr empfindlich, nachdem sie ein paar Jahrtausende in der Dunkelheit eingeschlossen war, und reagierte auf jede Form von Energie – magische, elektrische, emotionale. Ich habe, wie soll ich sagen, die Energie runtergedimmt, damit sie sich nicht wieder entzündet.«

Ich griff nach der Schriftrolle. Zum Glück behielt Bastet Recht. Die Rolle blieb diesmal weder an meiner Hand hängen noch setzte sie die Stadt in Brand.

Bastet half mir aufzustehen. »Schlaf ein bisschen. Ich sag Carter Bescheid, dass es dir gut geht. Außerdem …«, sie brachte ein Lächeln zu Stande, »… ist morgen ein besonderer Tag.«

Wohl wahr, dachte ich niedergeschlagen. Und die Einzige, die sich daran erinnert, ist meine Katze.

Ich sah zu meinem Bruder, der immer noch bemüht war, den Greif zu bändigen, der allerdings seine Schnürsenkel im Schnabel hielt und keinerlei Anstalten machte, sie loszulassen.

Die meisten unserer zwanzig Auszubildenden standen um Jaz herum und versuchten, sie aufzuwecken. Walt war nicht von ihrer Seite gewichen. Er warf mir einen nervösen Blick zu, dann konzentrierte er sich wieder auf Jaz.

»Vielleicht hast du Recht«, sagte ich mürrisch zu Bastet. »Hier oben werde ich nicht gebraucht.«

Mein Zimmer war ein schöner Ort zum Schmollen. Die letzten sechs Jahre hatte ich in einer Dachkammer in Grans und Gramps’ Haus in London gehaust, und obwohl ich mein altes Leben vermisste, meine Schulfreundinnen Liz und Emma und so ziemlich alles an England, muss ich zugeben, dass mein Zimmer in Brooklyn wesentlich schicker war.

Von meinem privaten Balkon sah man über den East River. Ich hatte ein riesengroßes gemütliches Bett, mein eigenes Badezimmer und einen begehbaren Kleiderschrank mit zahllosen neuen Klamotten, die durch Zauberhand erschienen und sich bei Bedarf selbst wuschen. In der Kommode gab es einen eingebauten Kühlschrank mit meinen Lieblingssorten Ribena, aus England importiert, und Schokolade (tja, manchmal muss sich ein Mädchen auch was Gutes tun). Die Anlage war auf dem neuesten Stand der Technik und die Wände waren magisch schallisoliert, so dass ich so laut Musik hören konnte, wie ich wollte, und mir keine Gedanken über meinen Meckerbruder nebenan zu machen brauchte. Auf der Kommode stand einer der wenigen Gegenstände, die ich aus London mitgebracht hatte: ein ramponierter Kassettenrekorder, den mir meine Großeltern vor ewiger Zeit geschenkt hatten. Er war hoffnungslos altmodisch, klar, aber ich hielt ihn aus sentimentalen Gründen in Ehren. Immerhin hatten Carter und ich unsere Abenteuer bei der roten Pyramide darauf aufgenommen.

Ich steckte meinen iPod auf die Anlage, scrollte durch meine Playlists und wählte einen älteren Mix mit dem Namen DEPRI, denn so fühlte ich mich.

19 von Adele begann. Mann, dieses Album hatte ich nicht mehr gehört, seit …

Ziemlich unerwartet brach ich in Tränen aus. Ich hatte mir diese Lieder an Weihnachten angehört, bevor mich Dad und Carter zu unserem Ausflug ins British Museum abgeholt hatten – an dem Abend, als sich unser Leben für immer verändert hatte.

Adele sang, als würde ihr jemand das Herz herausreißen. Es ging um einen Jungen, in den sie verknallt war, und sie rätselte, was sie anstellen musste, damit er sich in sie verliebte. Das kam mir bekannt vor. Doch als ich den Song das letzte Mal gehört hatte, musste ich auch an meine Familie denken: an meine Mum, die gestorben war, als ich noch ziemlich klein war, und an Dad und Carter, die gemeinsam die Welt bereisten und mich bei meinen Großeltern in London zurückließen, weil sie mich offenbar nicht in ihrem Leben brauchen konnten.

Natürlich wusste ich, dass es viel komplizierter war. Es hatte einen fiesen Sorgerechtsstreit gegeben, Rechtsanwälte und Handgreiflichkeiten mit Spachteln inklusive; Dad hatte Carter und mich voneinander fernhalten wollen, damit wir nicht gegenseitig unsere magischen Kräfte auslösten, bevor wir mit dieser Macht klarkamen. Und es stimmte, wir waren uns seitdem alle nähergekommen. Mein Vater gehörte wieder ein bisschen mehr zu meinem Leben, auch wenn er gerade der Gott der Unterwelt war. Was meine Mutter anbelangte … na ja, ich habe ihren Geist kennengelernt. Vermutlich zählt das auch.

Trotzdem brachte die Musik den ganzen Schmerz und die Wut zurück, die ich damals gefühlt hatte. Wahrscheinlich saß das alles tiefer, als ich gedacht hatte.

Mein Finger schwebte über dem Vorspulsymbol, doch dann beschloss ich, den Song laufen zu lassen. Ich warf meinen Krempel auf die Kommode – die Papyrusrolle, den wächsernen Mini-Carter, meine Zaubertasche, mein Zaubermesser. Als ich die Hand nach meinem Zauberstab ausstreckte, fiel mir ein, dass ich ihn nicht mehr hatte. Der Greif hatte ihn ja aufgefressen.

»Dämliches Vogelvieh«, brummte ich.

Ich begann, mich bettfertig zu machen. Ich hatte meine Schrankinnenwand mit Fotos beklebt, die meisten zeigten meine Freundinnen und mich im letzten Schuljahr. Auf einem schneiden Liz, Emma und ich in einem Fotoautomaten am Piccadilly Grimassen. Wir sehen so jung und albern aus.

Ich konnte nicht glauben, dass ich sie am nächsten Tag zum ersten Mal seit Monaten sehen würde. Gran und Gramps hatten mich eingeladen und ich wollte einen Mädelsabend mit meinen Freundinnen machen – zumindest war das der Plan gewesen, bevor Carter die Bombe hatte platzen lassen, dass uns fünf Tage blieben, um die Welt zu retten. Wer konnte jetzt noch sagen, was passieren würde?

Es gab nur zwei Fotos ohne Liz und Emma auf meiner Schranktür. Eines zeigte Carter und mich mit Onkel Amos an dem Tag, als Amos nach Ägypten abreiste, um … Tja, wie nennt man es, wenn jemand zur Kur fährt, nachdem er von einem bösen Geist besessen gewesen ist? Vermutlich nicht Urlaub.

Das letzte Bild war eine Zeichnung von Anubis. Vielleicht habt ihr ihn schon mal gesehen: ein Typ mit einem Schakalkopf, Gott der Bestattungen, des Todes und so weiter. Er ist auf allen möglichen ägyptischen Kunstwerken abgebildet; er führt die Seelen in die Halle der beiden Wahrheiten, wo er sich neben die kosmische Waage kniet und ihr Herz gegen die Feder der Wahrheit aufwiegt.

Warum ich sein Bild habe?

[Na gut, Carter, ich geb es zu, und wenn es nur ist, damit du endlich die Klappe hältst.]

Ich war mal ein bisschen in Anubis verknallt. Ich weiß, wie bescheuert das klingt, ein Mädchen von heute, das wegen eines fünftausend Jahre alten hundeköpfigen Typen total den Verstand verliert, doch das sah ich nicht, wenn ich sein Bild betrachtete. Ich erinnerte mich an Anubis, wie er bei unserem Treffen in New Orleans ausgesehen hatte – ein Junge um die sechzehn, in schwarzem Leder und Jeans, mit verwuschelten dunklen Haaren und tollen traurigen Augen, die an geschmolzene Schokolade erinnerten. Keinerlei Ähnlichkeit mit dem Hundekopfheini.

Trotzdem bescheuert, ich weiß. Er ist ein Gott. Wir hatten absolut nichts gemeinsam. Seit unserem Abenteuer an der roten Pyramide hatte ich nichts mehr von ihm gehört und das hätte mich eigentlich auch nicht überraschen sollen. Obwohl er damals Interesse an mir zu haben schien und vielleicht sogar ein paar Andeutungen hat fallenlassen … Nein, das hab ich mir bestimmt nur eingebildet.