Die Kane-Chroniken 3: Der Schatten der Schlange - Rick Riordan - E-Book

Die Kane-Chroniken 3: Der Schatten der Schlange E-Book

Rick Riordan

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Beschreibung

Ägyptische Götter, verlorene Zauber und ein Schatten, der das Schicksal entscheidet Irgendwie wird alles immer schwieriger! Chaos-Gott Apophis bereitet seinen Gefängnisausbruch vor. Den Geschwistern Carter und Sadie bleiben nur wenige Tage Zeit, das zu verhindern. Und leider können sie nicht sicher sein, dass die Magier auf ihrer Seite stehen. Wenn sie doch nur Apophis' Schatten beeinflussen könnten! Dann hätten sie eine Chance, die Welt nicht dem Chaos zu überlassen. Doch wer ist Freund und wer Feind? Packende Fantasy-Trilogie mit mächtigen Magiern, wild gewordenen Göttern und mythologischen Monstern Die Geschwister Carter und Sadie Kane entdecken, dass sie die Nachkommen von Pharaonen sind und eine besondere Verbindung zu den ägyptischen Göttern haben. Nach einer missglückten Götterbeschwörung durch ihren Vater begibt sich das ungleiche Geschwisterpaar auf eine abenteuerliche Reise. Nur wenn sie ihre Kräfte bündeln und zusammenarbeiten, können sie die Welt retten. In der Fantasy-Buchreihe "Die Kane-Chroniken" vermischt Rick Riordan die antike ägyptische Kultur und Mythologie mit der modernen Welt und entführt seine Leser*innen in ein rasantes Abenteuer mit spannenden Wendungen bis zur letzten Seite. ***Die Götter Ägyptens erwachen in der modernen Welt – rasant, actionreich und witzig: für Leser*innen ab 12 Jahren und für alle Fans der ägyptischen Mythologie*** 

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Von Rick Riordan im CARLSEN Verlag erschienen:Percy Jackson – Diebe im Olymp (Band 1) Percy Jackson – Im Bann des Zyklopen (Band 2) Percy Jackson – Der Fluch des Titanen (Band 3) Percy Jackson – Die Schlacht um das Labyrinth (Band 4) Percy Jackson – Die letzte Göttin (Band 5) Helden des Olymp – Der verschwundene Halbgott (Band 1) Helden des Olymp – Der Sohn des Neptun (Band 2) Helden des Olymp – Das Zeichen der Athene (Band 3) Die Kane-Chroniken – Die rote Pyramide (Band 1) Die Kane-Chroniken – Der Feuerthron (Band 2) CARLSEN-Newsletter Tolle neue Lesetipps kostenlos per E-Mail!www.carlsen.dewww.helden-abenteuer.de Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- und strafrechtlich verfolgt werden. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Carlsen Verlag GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt. Alle deutschen Rechte bei CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2014 Originalcopyright © 2012 by Rick Riordan Originalverlag: Disney · Hyperion Books, New York, USA Permission for this edition was arranged through the Nancy Gallt Literary Agency. Originaltitel: The Serpent’s Shadow. The Kane Chronicles, Book Three Umschlaggestaltung: Helge Vogt, trickwelt Umschlagtypografie: formlabor Innenabbildungen (Hieroglyphen): Michelle Gengaro-Kokmen. Reprinted by permission of Disney · Hyperion Books. Aus dem Englischen von Claudia Max Lektorat: Kerstin Claussen Herstellung: Karen Kollmetz Satz und E-Book-Erstellung: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN 978-3-646-92188-5 Alle Bücher im Internet unterwww.carlsen.de

Für drei wunderbare Lektorinnen, die meinen Weg als Schriftsteller geprägt haben: Kate Miciak, Jennifer Besser und Stephanie Lurie – die Magierinnen, die meine Worte zum Leben erweckten.

Warnhinweis    Dies ist die Mitschrift einer Aufnahme. Carter und Sadie Kane haben mir bereits zwei solcher Aufnahmen geschickt, die ich als »Die rote Pyramide« und »Der Feuerthron« niedergeschrieben habe.     Auch wenn ich mich geehrt fühle, dass die Kanes mir weiterhin ihr Vertrauen schenken, muss ich euch warnen: Dieser dritte Bericht ist wirklich beunruhigend. Die Kassette kam in einer verkohlten Kiste zu mir nach Hause und war von Klauen- und Zahnabdrücken durchlöchert, die mein Zoologe nicht zuordnen konnte. Ich bezweifle, dass die Kiste ohne die Schutzhieroglyphen auf der Außenseite ihre Reise überlebt hätte. Wenn ihr weiterlest, werdet ihr den Grund dafür erfahren.

Sadie

1.

Wir sprengen eine Party

Hier Sadie Kane.

Wenn ihr euch das anhört, Glückwunsch! Ihr habt den Weltuntergang überlebt.

Als Erstes möchte ich mich für sämtliche Unannehmlichkeiten entschuldigen, die euch das Ende der Welt vielleicht bereitet hat. Die Erdbeben, Aufstände, Krawalle, Tornados, Überschwemmungen, Tsunamis und natürlich die Riesenschlange, die die Sonne verschluckt hat – ich fürchte, das meiste davon war unsere Schuld. Carter und ich sind deshalb übereingekommen, dass wir euch wenigstens erklären sollten, wie es dazu kam.

Das hier ist vermutlich unsere letzte Aufnahme. Wenn ihr unsere Geschichte gehört habt, wisst ihr auch, warum.

Unsere Probleme begannen in Dallas, als die feuerspuckenden Schafe die König-Tut-Ausstellung in Schutt und Asche legten.

In jener Nacht gaben die texanischen Magier eine Party im Skulpturengarten gegenüber dem Dallas Museum of Art. Die Männer trugen Smoking und Cowboystiefel, die Frauen Abendkleider und Frisuren, die an explodierte Zuckerwatte erinnerten.

Auf dem Podium spielte eine Band angestaubte Countrymusik. In den Bäumen schimmerten Lichterketten. Von Zeit zu Zeit kamen Magier aus geheimen Türen der Skulpturen oder zauberten Feuerfunken herbei, um lästige Moskitos abzufackeln, ansonsten machte jedoch alles den Eindruck einer ganz normalen Party.

Als wir ihn zu einer Krisenbesprechung wegzogen, plauderte JD Grissom, Oberhaupt des Einundfünfzigsten Nomos, gerade mit seinen Gästen und ließ sich einen Teller Rindfleisch-Tacos schmecken. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, aber in Anbetracht der Gefahr, in der er sich befand, blieb uns nichts anderes übrig.

»Ein Angriff?« Er runzelte die Stirn. »Die Tut-Ausstellung läuft schon einen Monat. Wenn Apophis zuschlagen wollte, hätte er das doch längst getan, oder?«

JD war groß und stämmig, hatte ein markantes wettergegerbtes Gesicht und federartige rote Haare und seine Hände fühlten sich so rau wie Baumrinde an. Ich schätzte ihn auf etwa vierzig, aber bei Magiern lässt sich das schwer sagen. Er hätte ebenso gut vierhundert sein können. Er trug einen schwarzen Anzug und eine Cowboykrawatte (ihr wisst schon, dieses Schnurdings, das von einer Brosche zusammengehalten wird) und eine große silberne Gürtelschnalle mit dem Lone Star von Texas, die ihn wie ein Wildwest-Sheriff aussehen ließ.

»Wir reden gleich«, sagte Carter. Er führte uns auf die andere Seite des Gartens.

Ich muss einräumen, mein Bruder trat erstaunlich selbstsicher auf.

Er ist natürlich immer noch ein absoluter Vollpfosten. Auf der linken Seite, wo ihm der Greif einen »Knutschfleck« verpasst hatte, fehlte in seinen braunen Kraushaaren ein Büschel, und den ganzen Kerben auf seinem Gesicht nach zu urteilen, hatte er es mit dem Rasieren auch noch nicht wirklich drauf. Seit seinem fünfzehnten Geburtstag war er jedoch in die Höhe geschossen und vom ausgiebigen Kampftraining muskulöser geworden. In seinen schwarzen Leinenklamotten sah er souverän und erwachsen aus, vor allem mit diesem Chepesch-Schwert um die Hüften. Allmählich konnte ich ihn mir als Oberhaupt vorstellen, ohne einen Lachanfall zu kriegen.

[Warum starrst du mich so böse an, Carter? Das war doch eine ziemlich schmeichelhafte Beschreibung.]

Carter nahm sich eine Handvoll Tortilla-Chips vom Buffet. »Apophis verfolgt ein Muster«, erklärte er JD. »Die anderen Attacken ereigneten sich alle in Neumondnächten, immer dann, wenn es am dunkelsten war. Glaub mir, er wird dein Museum heute Nacht angreifen. Und zwar mit allem, was ihm zur Verfügung steht.«

JD Grissom drückte sich an einer Gruppe Champagner trinkender Magier vorbei. »Diese anderen Angriffe …«, sagte er. »Damit meinst du Chicago und Mexiko-Stadt?«

»Und Toronto«, sagte Carter. »Und … noch einige andere.«

Ich wusste, dass er nicht deutlicher werden wollte. Die Angriffe, deren Zeuge wir im Laufe des Sommers geworden waren, hatten uns beiden Albträume beschert.

Der richtige, endgültige Weltuntergang hatte noch nicht stattgefunden. Die Chaosschlange Apophis war vor einem halben Jahr aus ihrem Gefängnis in der Unterwelt ausgebrochen, doch sie hatte noch immer nicht mit der erwarteten großflächigen Invasion der Menschenwelt begonnen. Aus irgendeinem Grund schien die Schlange noch immer abzuwarten und verlegte sich solange auf kleinere Angriffe auf Nomoi, in denen es bislang sicher und ruhig gewesen war.

So wie hier, dachte ich.

Als wir an der Bühne vorbeikamen, beendete die Band gerade einen Song. Eine hübsche blonde Frau mit einer Fiedel winkte JD mit dem Bogen zu.

»Komm schon, Schatz!«, rief sie. »Du wirst an der Hawaiigitarre gebraucht!«

JD zwang sich zu einem Lächeln. »Moment noch, Süße. Bin gleich wieder da.«

Wir liefen weiter. JD drehte sich zu uns. »Meine Frau, Anne.«

»Ist sie auch Magierin?«, fragte ich.

Er nickte, seine Miene verdüsterte sich. »Diese Angriffe. Warum seid ihr so sicher, dass Apophis gerade hier zuschlagen wird?«

Da Carter den Mund voller Tortilla-Chips hatte, kam nur »Mhm-hmm« als Antwort.

»Apophis ist hinter einem bestimmten Artefakt her«, übersetzte ich. »Fünf Kopien davon hat er bereits zerstört. Das letzte Exemplar befindet sich in deiner Tut-Ausstellung.«

»Welches Artefakt denn?«, fragte JD.

Ich zögerte. Auch wenn wir vor unserer Abreise nach Dallas alle möglichen Abschirmzauber gesprochen und uns mit schützenden Amuletten eingedeckt hatten, um magische Lauschangriffe abzuwehren, machte es mich noch immer nervös, unsere Pläne laut auszusprechen.

»Wir zeigen es dir lieber.« Ich lief um einen Springbrunnen herum, wo zwei junge Magier mit ihren Zaubermessern leuchtende Ich liebe dich-Botschaften auf den Pflastersteinen verfolgten. »Wir haben unsere besten Leute zur Unterstützung mitgebracht. Sie warten im Museum. Wenn du uns das Artefakt untersuchen lässt, können wir es vielleicht mitnehmen und sicher aufbewahren –«

»Mitnehmen?« JD runzelte die Stirn. »Die Ausstellung steht unter strengster Bewachung. Meine besten Magier schützen sie Tag und Nacht. Glaubt ihr, im Brooklyn House könntet ihr das besser?«

Wir blieben am Rande des Gartens stehen. Auf der anderen Straßenseite hing ein zwei Stockwerke langes König-Tut-Banner an der Museumsfassade.

Carter zog sein Telefon heraus und zeigte JD Grissom ein Foto – eine ausgebrannte Villa, die früher einmal die Zentrale des Einhundertsten Nomos in Toronto gewesen war.

»Ich bin sicher, dass du tolle Wächter hast«, sagte Carter. »Aber es wäre uns lieber, wenn dein Nomos nicht zu Apophis’ Zielscheibe würde. Bei den anderen Angriffen dieser Art … haben die Schergen der Schlange niemanden verschont.«

JD starrte auf das Foto, dann blickte er zu seiner Frau Anne, die sich durch eine Tanznummer fiedelte.

»Gut«, sagte JD. »Ich hoffe, euer Team taugt wirklich was.«

»Sie sind absolut super«, versprach ich. »Komm, wir machen euch bekannt.«

Unsere Spitzenmagier waren damit beschäftigt, den Museumsshop auseinanderzunehmen.

Felix hatte drei Pinguine herbeigezaubert, die mit König-Tut-Masken aus Papier herumwatschelten. Unser Pavianfreund, Cheops, thronte auf einem Bücherregal und las Die Geschichte der Pharaonen, was eigentlich – hätte er das Buch nicht verkehrt herum gehalten – beeindruckend gewesen wäre. Walt – ach, Walt-Schätzchen, warum? – hatte die Schmuckvitrine geöffnet und untersuchte Bettelarmbänder und Halsketten, als wohnten ihnen magische Eigenschaften inne. Alyssa ließ mit Hilfe ihrer Erdelementarmagie Tongefäße schweben und jonglierte mit zwanzig oder dreißig davon in einem Achter.

Carter räusperte sich.

Walt erstarrte, die Hände voller Goldschmuck. Cheops kletterte vom Bücherregal, wobei er den Großteil der Bücher gleich mit runterfegte. Alyssas Tongefäße krachten auf den Boden. Felix versuchte seine Pinguine hinter die Kasse zu scheuchen. (Er ist von der Nützlichkeit von Pinguinen ziemlich überzeugt. Ich weiß auch nicht, warum.)

JD Grissom trommelte mit den Fingern gegen seine Lone-Star-Gürtelschnalle. »Das ist also euer Spitzenteam?«

»Ja!« Ich bemühte mich, ein gewinnendes Lächeln aufzusetzen. »Tut mir leid wegen des Durcheinanders. Ich werde einfach, ähm …«

Ich zog mein Zaubermesser aus dem Gürtel und sprach einen mächtigen Zauberspruch: »Hi-nehm!«

Mittlerweile klappte es besser mit diesen Zaubern. Meistens konnte ich die Kraft meiner Schutzgöttin Isis anzapfen, ohne in Ohnmacht zu fallen. Und ich war noch kein einziges Mal explodiert.

Die Hieroglyphe für Füg zusammen leuchtete kurz in der Luft auf:

Die Tonscherben flogen wieder zusammen. Die Bücher wanderten ins Regal zurück. Die König-Tut-Masken lösten sich von den Pinguinen und darunter kamen – Überraschung! – Pinguine zum Vorschein.

Unsere Freunde wirkten ziemlich verlegen.

»’tschuldigung«, murmelte Walt und legte den Schmuck in die Vitrine zurück. »Uns war langweilig.«

Ich konnte nicht lange auf Walt sauer sein. Er war groß und athletisch und hatte die Figur eines Basketballspielers, die Jogginghosen und ein Muskelshirt brachten seinen durchtrainierten Körper gut zur Geltung. Seine Haut hatte die Farbe von heißem Kakao, sein Gesicht war ebenso majestätisch und schön wie die Statuen seiner Pharaonenvorfahren.

Ob ich in ihn verknallt war? Na ja, das ist kompliziert. Später mehr davon.

JD besah sich unser Team.

»Schön, euch alle kennenzulernen.« Irgendwie schaffte er es, weiterhin begeistert zu wirken. »Kommt mit.«

Das Foyer des Museums war ein weitläufiger weißer Raum mit leeren Bistrotischen, einer Bühne und einer Decke, die hoch genug für eine ausgewachsene Giraffe gewesen wäre. Auf der einen Seite führte eine Treppe zu einer Galerie mit Büros. Auf der anderen Seite sah man durch eine Glasfront die nächtliche Skyline von Dallas.

JD deutete nach oben zur Galerie, wo zwei Männer in schwarzen Leinengewändern patrouillierten. »Seht ihr? Überall sind Wächter postiert.«

Die Männer hielten ihre Zauberstäbe und -messer einsatzbereit. Als sie zu uns herunterspähten, fiel mir auf, dass ihre Augen leuchteten. Die Hieroglyphen auf ihren Wangen erinnerten an Kriegsbemalung.

Alyssa flüsterte mir zu: »Was ist mit ihren Augen?«

»Überwachungsmagie«, vermutete ich. »Die Zeichen ermöglichen es den Wachen, in die Duat zu blicken.«

Alyssa biss sich auf die Lippe. Da Geb ihr Schutzgott war, bevorzugte sie feste Substanzen wie Stein und Lehm. Große Höhe oder tiefes Wasser waren nicht ihr Ding. Und die Vorstellung der Duat – des magischen Reiches, das parallel zu unserer Welt existierte – war ihr absolut zuwider.

Einmal, als ich ihr die Duat als einen Ozean beschrieb, der unter unseren Füßen in magischen Ausmaßen Schicht um Schicht endlos in die Tiefe reichte, dachte ich schon, Alyssa würde seekrank.

Dem zehnjährigen Felix hingegen waren solche Befindlichkeiten fremd. »Cool!«, meinte er. »Ich will auch Leuchtaugen.«

Als er mit dem Finger über seine Wangen fuhr, blieben leuchtend purpurfarbene Flecken in Form der Antarktis zurück.

Alyssa lachte. »Kannst du jetzt in die Duat blicken?«

»Nein«, räumte er ein. »Aber ich erkenne meine Pinguine viel deutlicher.«

»Wir sollten uns beeilen«, mahnte Carter. »Apophis schlägt normalerweise am höchsten Umlaufpunkt des Mondes zu. Der in –«

»Agh!« Cheops hielt alle zehn Finger hoch. Wenn Paviane mal nicht den perfekten astronomischen Riecher haben.

»In zehn Minuten«, sagte ich. »Na toll.«

Wir gingen auf den Eingang der König-Tut-Ausstellung zu, der mit dem riesigen goldenen Schild mit der Aufschrift KÖNIG-TUT-AUSSTELLUNG kaum zu verfehlen war. Er wurde von zwei Wächtern gesichert, die beeindruckend große Leoparden an der Leine hielten.

Carter sah JD erstaunt an. »Wie hast du dir ungehinderten Zugang zum Museum verschafft?«

Der Texaner zuckte mit den Schultern. »Meine Frau, Anne, ist Vorsitzende des Kuratoriums. So, und welches Artefakt wollt ihr nun sehen?«

»Ich habe mir die Ausstellungsübersicht angeschaut«, sagte Carter. »Komm. Ich zeig es dir.«

Die Leoparden interessierten sich ziemlich für Felix’ Pinguine, doch die Wächter hielten sie zurück.

Die Ausstellung war umfangreich, aber die Einzelheiten interessieren euch vermutlich nicht. Ein Labyrinth von Räumen mit Sarkophagen, Statuen, Möbelstücken, Goldschmuck – bla, bla, bla. Mir konnte das alles gestohlen bleiben. Ich hatte so viele ägyptische Sammlungen gesehen, dass es für mehrere Leben reichte.

Außerdem stieß ich überall auf Erinnerungen an schlechte Erfahrungen, die wir gemacht hatten.

Wir gingen an einer Vitrine mit Uschebti-Figuren vorbei, die zweifellos mit einem Zauber belegt waren, so dass sie auf Zuruf lebendig werden könnten. Uschebti hatte ich auch schon eine stattliche Anzahl erledigt. Wir passierten Statuen finster blickender Ungeheuer und Götter, gegen die ich eigenhändig gekämpft hatte – den Geier Nechbet, der einmal Besitz von meiner Gran ergriffen hat (lange Geschichte); das Krokodil Sobek, das versucht hat, meine Katze umzubringen (noch längere Geschichte); und die Löwengöttin Sachmet, die wir mal mit scharfer Soße besiegt haben (fragt nicht).

Am bedrückendsten: eine kleine Alabasterstatue unseres Freundes Bes, des Zwergengottes. Die Steinmetzarbeit war uralt, doch diese Knollennase war unverkennbar, der Rauschebackenbart, die Wampe und das liebenswert hässliche Gesicht, das aussah, als hätte man immer wieder mit der Bratpfanne daraufgeschlagen. Wir hatten nur ein paar Tage mit Bes verbracht, aber er hatte im wahrsten Sinne des Wortes seine Seele verkauft, um uns zu helfen. Sein Anblick erinnerte mich jedes Mal an eine Schuld, die ich nie würde begleichen können.

Ich muss länger vor seiner Statue stehen geblieben sein, als mir bewusst war. Der Rest der Gruppe war schon an mir vorbei und ging in den nächsten Raum ungefähr zwanzig Meter weiter, da zischte eine Stimme neben mir: »Psst!«

Ich blickte mich um. Vielleicht hatte Bes’ Statue gesprochen? Die Stimme rief noch einmal: »Hey, Püppi. Hör zu. Is nicht viel Zeit.«

Mitten in der Wand, auf meiner Augenhöhe, wölbte sich aus dem weißen Rauputz das Gesicht eines Mannes hervor, als versuche es durchzubrechen. Das Gesicht hatte eine Hakennase, grausame dünne Lippen und eine hohe Stirn. Obwohl es dieselbe Farbe hatte wie die Wand, wirkte es höchst lebendig. Die leeren Augen schafften es sogar, ungeduldig auszusehen.

»Du wirst die Schriftrolle nicht retten, Püppi«, warnte der Mann. »Und selbst wenn es dir gelänge, würdest du sie nie im Leben verstehen. Du bist auf meine Hilfe angewiesen.«

Seit ich zauberte, hatte ich viele seltsame Dinge erlebt, deshalb war ich nicht besonders überrascht. Trotzdem war ich nicht so naiv, irgendeiner alten, weiß verspachtelten Erscheinung zu trauen, die mich anquatschte, und jemandem, der mich Püppi nannte, schon gar nicht. Er erinnerte mich an Onkel Vinnie aus diesen dämlichen Mafiafilmen, die sich die Jungs im Brooklyn House gern reinziehen – vielleicht gehörte das Gesicht ja zu einem dieser Mafiaonkel.

»Wer bist du?«, wollte ich wissen.

Der Mann schnaubte. »Tu nicht so, als wüsstest du das nicht. Als gäbe es irgendjemanden, der das nicht wüsste. Dir bleiben zwei Tage, bis sie mich zur Schnecke machen. Wenn du Apophis besiegen willst, lässt du besser deine Beziehungen spielen und holst mich hier raus.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, sagte ich.

Der Mann klang nicht wie Seth, der Gott des Bösen, oder wie die Schlange Apophis oder irgendeiner der anderen Gauner, mit denen ich mich schon mal herumgeschlagen hatte, aber man konnte ja nie wissen. Immerhin gab es da diese Sache, auch Magie genannt.

Der Mann schob trotzig das Kinn vor. »Okay, verstehe. Du verlangst einen Vertrauensbeweis. Die Schriftrolle wirst du niemals retten, aber such nach dem goldenen Schrein. Wenn du eins und eins zusammenzählen kannst, wird er dir einen Hinweis geben. Übermorgen bei Sonnenuntergang, Püppi. Danach gilt mein Angebot nicht mehr, weil ich dann nämlich dauerhaft –«

Er würgte und bekam große Augen. Er sträubte sich, als würde sich eine Schlinge um seinen Hals zuziehen. Dann verschwand er langsam wieder in der Wand.

»Sadie?«, rief Walt vom anderen Ende des Ganges. »Alles in Ordnung?«

Ich sah in seine Richtung. »Hast du das gesehen?«

»Was?«, fragte er.

Natürlich nicht, dachte ich. Wo wäre auch der Spaß, wenn andere meine Vision von Onkel Vinnie sehen könnten? Da könnte ich mich doch gar nicht mehr fragen, ob ich nun endgültig den Verstand verlor.

»Nichts«, sagte ich und rannte den anderen hinterher.

Links und rechts des Durchgangs zum nächsten Raum standen zwei riesige Obsidiansphingen mit Löwenkörpern und Widderköpfen. Carter behauptet, diese spezielle Art Sphinx heiße Criosphinx. [Danke, Carter. Diese nutzlose Information haben wir echt noch gebraucht.]

»Agh!«, warnte Cheops und hielt fünf Finger hoch.

»Noch fünf Minuten«, übersetzte Carter.

»Moment …«, sagte JD. »Dieser Raum ist mit sehr mächtigen Zaubern geschützt. Ich muss Änderungen vornehmen, damit ihr hineingehen könnt.«

»Oh«, sagte ich nervös, »die Zauber halten dann aber hoffentlich trotzdem noch Feinde wie die Riesenchaosschlange ab, oder?«

JD warf mir einen gereizten Blick zu – irgendwie passiert mir das ziemlich oft.

»Von Schutzmagie verstehe ich ein bisschen was«, sagte er. »Das kannst du mir glauben.« Er hob sein Zaubermesser und stimmte einen Sprechgesang an.

Carter zog mich zur Seite. »Alles in Ordnung mit dir?«

Ich muss nach meiner Begegnung mit Onkel Vinnie ziemlich mitgenommen ausgesehen haben. »Mir geht’s gut«, versicherte ich. »Hab da hinten was gesehen. Vielleicht bloß einer von Apophis’ Tricks, aber …«

Mein Blick wanderte zum anderen Ende des Ganges, wo Walt einen goldenen Thron in einer Glasvitrine anstarrte. Er stützte sich mit einer Hand an der Scheibe ab, als wäre ihm übel.

»Merk dir, worüber wir gerade gesprochen haben«, befahl ich Carter.

Ich stellte mich neben Walt. Im Strahler der Vitrine sah sein Gesicht so rotbraun aus wie die Hügel Ägyptens.

»Was hast du?«, fragte ich.

»Tutanchamun ist auf diesem Thron gestorben«, sagte er.

Ich las die Beschriftung. Es wurde nicht erwähnt, dass Tutanchamun in dem Sessel gestorben war, doch Walt klang sehr überzeugt. Vielleicht konnte er den Familienfluch spüren. König Tut war Walts Uronkel aus grauer Vorzeit und dasselbe genetische Gift, das Tut mit neunzehn getötet hatte, floss nun durch Walts Blut und wurde immer tödlicher, je mehr er zauberte. Trotzdem weigerte sich Walt kürzerzutreten. Beim Anblick des Thrones seines Vorfahren muss es ihm vorgekommen sein, als läse er seinen eigenen Nachruf.

»Wir finden ein Heilmittel«, versprach ich. »Sobald wir Apophis erledigt –«

Als er mich ansah, versagte mir die Stimme. Wir wussten beide, dass es so gut wie aussichtslos war, Apophis zu besiegen. Selbst wenn es uns gelänge, gab es keine Garantie, dass Walt lange genug leben würde, um den Sieg zu feiern. Obwohl es einer von Walts guten Tagen war, sah ich in seinen Augen, wie sehr er litt.

»Hey, ihr zwei«, rief Carter. »Wir sind so weit.«

Der Raum hinter den Criosphingen war eine »Greatest Hits«-Sammlung des ägyptischen Jenseits. Ein lebensgroßer hölzerner Anubis starrte von seinem Sockel herunter. Auf einer Nachbildung der Waage der Gerechtigkeit saß ein goldener Pavian, mit dem Cheops sofort zu flirten begann. Es gab Masken von Pharaonen, Karten der Unterwelt und massenhaft Kanopenkrüge, in denen früher die inneren Organe der Mumien aufbewahrt wurden.

Carter beachtete nichts davon, sondern versammelte uns vor einer langen Papyrusrolle in einer Vitrine an der hinteren Wand.

»Auf die hast du es abgesehen?« JD runzelte die Stirn. »Das Buch zur Niederwerfung des Apophis? Dir ist aber klar, dass selbst die besten Zauber nicht viel gegen Apophis ausrichten können?«

Carter zog ein Stück verbrannten Papyrus aus der Hosentasche. »Das ist alles, was wir aus Toronto retten konnten. Es war eine Abschrift desselben Texts.«

JD nahm den Papyrusfetzen, der nicht größer war als eine Postkarte und so verkokelt, dass man nur ein paar Hieroglyphen erkennen konnte.

»Die Niederwerfung des Apophis …«, las er. »Aber das ist eine der gängigsten magischen Schriftrollen. Von denen sind Hunderte erhalten geblieben.«

»Nein.« Ich unterdrückte den Drang, einen Blick über die Schulter zu werfen – für den Fall, dass wir von irgendwelchen Riesenschlangen belauscht wurden. »Apophis ist hinter einer bestimmten Version her, und zwar von diesem Typen.«

Ich tippte auf die Informationstafel neben der Vitrine. »Prinz Chaemwaset zugeschrieben«, las ich, »auch unter dem Namen Setne bekannt.«

JD runzelte wieder die Stirn. »Das ist ein böser Name … einer der hinterhältigsten Magier, die es je gab.«

»Das haben wir auch gehört«, sagte ich. »Und Apophis zerstört ausschließlich Setnes Version des Textes. Soweit wir wissen, existierten nur sechs Abschriften. Fünf davon hat Apophis bereits in Flammen aufgehen lassen. Dies hier ist das letzte Exemplar.«

JD musterte skeptisch den verbrannten Papyrusfetzen in seiner Hand. »Wenn Apophis tatsächlich im Vollbesitz seiner Kräfte aus der Duat ausgebrochen ist, warum schert er sich um ein paar Schriftrollen? Kein Zauber kann ihn wirklich aufhalten. Warum hat er die Welt noch nicht zerstört?«

Dieselbe Frage stellten wir uns auch schon seit Monaten.

»Apophis fürchtet diese Schriftrolle«, behauptete ich in der Hoffnung, dass ich Recht hatte. »Sie enthält offenbar das Geheimnis, wie er besiegt werden kann. Bevor er über die Welt herfällt, scheint er sichergehen zu wollen, dass alle Abschriften vernichtet sind.«

»Sadie, wir müssen uns beeilen«, sagte Carter. »Er kann jeden Moment angreifen.«

Ich trat näher an die Vitrine mit der Schriftrolle heran. Sie war ungefähr zwei Meter lang und einen halben Meter breit und engreihig mit Hieroglyphen und farbigen Abbildungen bedeckt. Ich hatte massenhaft Schriftrollen dieser Art gesehen, die Methoden zur Niederwerfung des Apophis und Sprechgesänge enthielten. Damit sollte er davon abgehalten werden, den Sonnengott Re auf seiner nächtlichen Reise durch die Duat zu verschlingen. Die alten Ägypter waren von dem Thema ziemlich besessen. Wirklich ein putziger Haufen, diese Ägypter.

Ich konnte die Hieroglyphen lesen – eines meiner vielen erstaunlichen Talente –, allerdings war die Rolle ziemlich lang. Auf den ersten Blick entdeckte ich nichts, was mir übermäßig hilfreich vorkam. Es gab die üblichen Beschreibungen des Flusses der Nacht, den Re auf seiner Sonnenbarke hinunterfuhr. Kannte ich in- und auswendig. Es gab Ratschläge, wie mit verschiedenen Dämonen der Duat zu verfahren war. Hatte ich längst getroffen. Und umgebracht. Olle Kamellen.

»Sadie?«, fragte Carter. »Irgendwas Wichtiges?«

»Weiß ich noch nicht«, brummte ich. »Einen Moment …«

Es war wirklich nervig, dass mein Bücherwurmbruder der Kampfmagier war, während von mir erwartet wurde, dass ich alle möglichen Zauber enträtselte. Dabei brachte ich kaum die Geduld auf, moderne Zeitschriften zu lesen, von modrigen Schriftrollen ganz zu schweigen.

Du wirst sie nie verstehen, hatte mich das Gesicht in der Wand gewarnt. Du bist auf meine Hilfe angewiesen.

»Wir müssen sie mitnehmen«, entschied ich. »Mit ein bisschen mehr Zeit kann ich sie bestimmt –«

Das Gebäude erbebte. Cheops kreischte und warf sich in die Arme des goldenen Pavians. Felix’ Pinguine watschelten aufgeregt hin und her.

»Das klang wie …« JD Grissom erbleichte. »Eine Explosion im Garten. Die Party!«

»Es ist ein Ablenkungsmanöver«, warnte Carter. »Apophis versucht, die Schutzmechanismen der Rolle zu schwächen.«

»Sie greifen meine Freunde an«, sagte JD mit erstickter Stimme. »Meine Frau.«

»Geh ruhig!«, rief ich und warf meinem Bruder einen bösen Blick zu. »Wir kümmern uns um die Rolle. JDs Frau ist in Gefahr.«

JD drückte meine Hände. »Nehmt die Rolle mit. Viel Glück.« Er rannte aus dem Raum.

Ich drehte mich wieder zu dem Ausstellungsstück. »Walt, kannst du die Vitrine öffnen? Wir müssen diese Rolle so schnell wie –«

Bösartiges Gelächter erfüllte den Raum. Rings um uns dröhnte eine tiefe, durchdringende Stimme wie der Knall einer Atombombe. »Nichts werdet ihr, Sadie Kane.«

Meine Haut fühlte sich plötzlich wie brüchiger Papyrus an. Diese Stimme kannte ich. Ich erinnerte mich daran, wie es sich anfühlte, dem Chaos so nah zu sein, mein Blut schien sich in Feuer zu verwandeln und es kam mir vor, als würden sich meine DNS-Stränge aufwinden.

»Ich glaube, ich werde dich mitsamt den Wächtern der Maat vernichten«, sagte Apophis. »Oh ja, das wird lustig.«

Im Durchgang drehten sich die zwei Obsidiansphingen um. Schulter an Schulter versperrten sie uns den Weg. Aus ihren Nasenlöchern züngelten Flammen.

Mit Apophis’ Stimme sagten sie gleichzeitig: »Keiner kommt hier lebend raus. Auf Nimmerwiedersehen, Sadie Kane.«

2.

Ich rede ein ernstes Wörtchen mit dem Chaos

Überrascht es euch, dass von da an alles schieflief?

Vermutlich nicht.

Die ersten Opfer auf unserer Seite waren Felix’ Pinguine. Die Criosphingen spien Feuer auf die Pechvögel, worauf diese zu Wasserpfützen zerschmolzen.

»Nein!«, schrie Felix.

Der Raum erbebte, dieses Mal noch viel stärker.

Cheops sprang Carter kreischend auf den Kopf und riss ihn zu Boden. Unter anderen Umständen hätte ich das lustig gefunden, aber mir wurde klar, dass der Pavian Carter gerade das Leben gerettet hatte.

Denn dort, wo Carter gestanden hatte, löste sich der Boden auf, Marmorfliesen zerbrachen, als würde jemand mit einem unsichtbaren Vorschlaghammer auf sie einschlagen. Die Zerstörung schlängelte sich durch den Raum und machte alles kaputt, was ihr in die Quere kam, sie saugte Artefakte ein und zerkaute sie. Ja … schlängeln war das richtige Wort. Die Zerstörung schob sich genau wie eine Schlange vorwärts und steuerte zielsicher auf die hintere Wand und das Buch zur Niederwerfung des Apophis zu.

»Die Schriftrolle!«, schrie ich.

Keiner hörte mich. Carter lag noch immer auf dem Boden und versuchte, Cheops von seinem Kopf zu schieben. Felix kniete starr vor Schock über den Pfützen, die einmal seine Pinguine gewesen waren, während Walt und Alyssa ihn aus der Reichweite der wütenden Criosphingen zu ziehen versuchten.

Ich zog mein Zaubermesser aus dem Gürtel und rief das erste Zauberwort, das mir in den Sinn kam: »Drowah!«

Goldene Hieroglyphen – der Befehl für Schranke – brannten in der Luft. Zwischen der Vitrine und der auf sie zurückenden Schlängellinie der Zerstörung flammte eine Lichtwand auf:

Ich hatte diesen Zauberspruch schon oft angewandt, um zankende Initianden zu trennen oder den Süßigkeitenschrank vor nächtlichen Fressattacken zu schützen, aber ich hatte ihn noch nie für etwas so Wichtiges ausprobiert.

Sobald der unsichtbare Vorschlaghammer meine Schutzwand erreicht hatte, verlor der Zauber an Kraft. Die Zerstörungslinie kletterte die Lichtwand hinauf und schlug sie dabei in Stücke. Ich versuchte mich zu konzentrieren, doch eine sehr viel mächtigere Kraft – das Chaos höchstpersönlich – arbeitete gegen mich, drang in meine Gedanken ein und sabotierte meine magischen Fähigkeiten.

In Panik wurde mir klar, dass ich nicht aufgeben durfte. Dies war ein Kampf, den ich nicht gewinnen konnte. Apophis zerstörte meine Gedanken mit der gleichen Leichtigkeit wie die Bodenfliesen.

Walt schlug mir das Zaubermesser aus den Händen.

Dunkelheit hüllte mich ein. Ich sackte in Walts Arme. Als ich wieder klar sah, waren meine Hände verbrannt und dampften. Vor Entsetzen spürte ich keinen Schmerz. Das Buch zur Niederwerfung des Apophis war verschwunden. Außer einem Schutthäufchen und einem großen Loch war nichts davon übrig geblieben, es sah aus, als wäre ein Panzer durch die Wand gebrochen.

Verzweiflung schnürte mir die Kehle zu, doch meine Freunde versammelten sich um mich. Walt stützte mich. Carter zog sein Schwert. Cheops fletschte die Zähne und bellte die Criosphingen an. Alyssa schlang die Arme um Felix, der in ihren Ärmel schluchzte. Nach dem Verschwinden seiner Pinguine hatte er schnell den Mut verloren.

»Das ist es also, Apophis?«, brüllte ich die Criosphingen an. »Du fackelst die Schriftrolle ab und machst dich wie immer davon? Hast du so große Angst, dich zu zeigen?«

Noch mehr Gelächter hallte durch den Saal. Die Criosphingen standen reglos im Durchgang, doch in den Vitrinen klapperten die Statuetten und Schmuckstücke. Die goldene Pavianstatue, an die sich Cheops herangemacht hatte, drehte plötzlich mit einem unangenehm quietschenden Geräusch den Kopf.

»Aber ich bin doch überall.« Die Schlange sprach durch den Mund der Statue. »Ich kann alles zerstören, was dir etwas bedeutet … und jeden, der dir etwas bedeutet.«

Cheops heulte vor Wut. Er stürzte sich auf die Pavianstatue und warf sie um. Sie zerschmolz zu einer dampfenden Goldpfütze.

Eine weitere Statue erwachte zum Leben – ein vergoldeter hölzerner Pharao mit einem Jagdspeer. Seine Augen verfärbten sich blutrot. Sein geschnitzter Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Deine magischen Kräfte sind schwach, Sadie Kane. Genau wie die menschliche Zivilisation – alt und verdorben. Ich werde den Sonnengott verschlucken und eure Welt in Dunkelheit stürzen. Das Meer des Chaos wird euch alle verschlingen.«

Die Pharaonenstatue zerbarst, offenbar hatte sie der Energie nicht standgehalten. Ihr Sockel löste sich auf und eine weitere Linie bösartiger Vorschlaghammermagie schlängelte sich durch den Raum und zertrümmerte die Bodenfliesen. Sie steuerte auf ein Ausstellungsstück an der Ostwand zu – einen kleinen goldenen Schrank.

Rette ihn, sagte eine Stimme in mir – möglicherweise mein Unterbewusstsein, vielleicht auch Isis, meine Schutzgöttin. So oft, wie wir unsere Gedanken teilten, war das schwer zu sagen.

Mir fiel ein, was mir das Gesicht in der Wand gesagt hatte … Such nach dem goldenen Schrein. Er wird dir einen Hinweis geben.

»Der Schrein!«, schrie ich. »Haltet die Schlange auf!«

Meine Freunde starrten mich an. Irgendwo draußen ließ eine zweite Explosion das Gebäude erbeben. Putz fiel in Brocken von der Decke.

»Hast du nichts Besseres als diese Kinder, um mir entgegenzutreten?« Apophis sprach aus einem Elfenbein-Uschebti in der Vitrine neben uns – einem winzigen Seemann auf einem Spielzeugboot. »Walt Stone … du hast wirklich Glück. Selbst wenn du die heutige Nacht überlebst, wird dich deine Krankheit noch vor meinem großen Sieg umbringen. Du wirst nicht zusehen müssen, wie eure Welt zerstört wird.«

Walt taumelte. Plötzlich stützte ich ihn. Meine verbrannten Hände schmerzten so sehr, dass ich einen Schwindelanfall niederkämpfen musste.

Die Linie der Zerstörung rollte über den Boden, immer weiter auf den Schrank zu. Alyssa streckte ihren Zauberstab vor und brüllte einen Befehl.

Für einen Augenblick glättete sich der Boden zu einer festen grauen Steinfläche. Dann tauchten wieder Risse auf und die Kraft des Chaos brach erneut durch.

»Tapfere Alyssa«, sagte die Schlange, »die Welt, die du liebst, wird sich in Chaos auflösen. Es wird keinen Platz mehr für dich geben.«

Alyssas Zauberstab ging in Flammen auf. Sie schleuderte ihn mit einem Aufschrei beiseite.

»Aufhören!«, schrie Felix. Er schlug die Glasvitrine mit seinem Zauberstab ein und zertrümmerte den kleinen Seemann und noch ein Dutzend anderer Uschebti.

Apophis’ Stimme wanderte einfach zu einem Jadeamulett von Isis, das um eine Gliederpuppe hing. »Ach, kleiner Felix, du bist wirklich putzig. Vielleicht behalte ich dich als Schoßhündchen, so wie diese albernen Vögel, die du so liebst. Ich bin gespannt, wie lange es dauert, bis du den Verstand verlierst.«

Felix schleuderte sein Zaubermesser und warf die Gliederpuppe um.

Die Spur der Zerstörung, die das Chaos hinterließ, hatte nun den halben Weg zu dem Schränkchen zurückgelegt.

»Er hat es auf den Schrein abgesehen!«, brachte ich noch heraus. »Rettet den Schrein!«

Es war zugegebenermaßen ein nicht gerade inspirierender Kampfruf, aber Carter begriff trotzdem. Er sprang vor die Chaoslinie und rammte sein Schwert in den Boden. Seine Klinge glitt in die Marmorfliese, als wäre sie Vanilleeis. Eine magische blaue Linie breitete sich zu beiden Seiten aus – Carters Variante eines Kraftfeldes.

»Armer Carter Kane.« Die Stimme der Schlange war nun rings um uns – sprang von Artefakt zu Artefakt und jedes zerbrach durch die Kraft des Chaos. »Deine Anführerschaft ist zum Scheitern verurteilt. Alles, was du aufzubauen versucht hast, wird in sich zusammenfallen. Und du wirst diejenigen verlieren, die du am meisten liebst.«

Carters blaue Abwehrlinie begann zu flackern. Wenn ich ihm nicht schnell zu Hilfe eilte …

»Apophis!«, schrie ich. »Traust du dich nicht anzugreifen? Mach schon, du megafette Rattenschlange!«

Ein Zischen hallte durch den Raum. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass es zu meinen zahlreichen Begabungen gehört, Menschen gegen mich aufzubringen. Sie schien auch bei Schlangen zu funktionieren.

Der Boden erstarrte. Carter löste seinen Schutzzauber und kippte fast um. Cheops – gelobt sei sein Pavianverstand – sprang zu dem goldenen Schränkchen, packte es und rannte davon.

Als Apophis jetzt sprach, war seine Stimme hart vor Wut. »Wie du willst, Sadie Kane. Es ist Zeit zu sterben.«

Die zwei widderköpfigen Sphingen erhoben sich, aus ihren Mäulern züngelten Flammen. Dann stürzten sie sich auf mich.

Zum Glück rutschte einer von ihnen in einer Pfütze Pinguinwasser aus und schlitterte nach links. Der andere hätte mir die Kehle durchgebissen, wäre er nicht in letzter Sekunde von einem Kamel angegriffen worden.

Jawohl, von einem richtigen, lebensgroßen Kamel. Falls ihr das verwirrend findet, überlegt euch, wie es dem Criosphinx erst gegangen sein muss.

Ihr wollt wissen, woher das Kamel kam? Ich habe ja vielleicht mal Walts Amulettsammlung erwähnt. Zwei dieser Anhänger zaubern abstoßende Kamele herbei. Ich hatte schon früher Bekanntschaft mit ihnen gemacht, deshalb war ich nicht besonders begeistert, als eine Tonne Kamel durch mein Blickfeld flog, auf den Sphinx klatschte und ihn unter sich begrub. Der Sphinx heulte vor Wut, während er sich zu befreien versuchte. Das Kamel grunzte und furzte.

»Hindenburg«, sagte ich. Nur ein Kamel kann so übel furzen. »Walt, warum in aller Welt –?«

»Sorry!«, rief er. »Falsches Amulett!«

Auf jeden Fall funktionierte die Methode. Das Kamel war kein großer Kämpfer, aber es war ziemlich schwer und tollpatschig. Der Criosphinx knurrte und krallte sich in den Boden, als er erfolglos versuchte, das Kamel abzuschütteln; doch Hindenburg stellte sich einfach breitbeinig hin, gab aufgeregte Hupgeräusche von sich und ließ seinen Blähungen freien Lauf.

Ich rutschte neben Walt und versuchte mich zu orientieren.

Der Raum war im wahrsten Sinne des Wortes ein Chaos. Zwischen den Ausstellungsstücken wanden sich rote Lichtranken. Der Boden zerbröckelte. Die Wände stürzten ein. Artefakte erwachten zum Leben und griffen meine Freunde an.

Carter wehrte den anderen Criosphinx ab, indem er mit seinem Chepesch auf ihn einstach, doch das Ungeheuer parierte seine Hiebe mit den Hörnern und spie Feuer.

Felix wurde von einem Tornado aus Kanopengefäßen umkreist, die ihn von allen Seiten bearbeiteten, während er mit seinem Zauberstab nach ihnen schlug. Alyssa, die verzweifelt einen Sprechgesang anstimmte und ihre Erdmagie anwandte, um den Raum zusammenzuhalten, war von einer Armee winziger Uschebti umzingelt. Die Anubisstatue jagte Cheops durch den Raum und zerschlug Gegenstände mit den Fäusten, während unser tapferer Pavian den goldenen Schrein umklammert hielt.

Die Kraft des Chaos wurde immer stärker. Ich fühlte es wie einen aufkommenden Sturm in meinen Ohren. Die Anwesenheit von Apophis ließ das Museum in den Grundfesten beben.

Wie konnte ich meinen Freunden beistehen, den Goldkasten schützen und verhindern, dass das Museum über uns einstürzte?

»Sadie«, fragte Walt. »Hast du einen Plan?«

Der erste Criosphinx stieß Hindenburg schließlich von seinem Rücken. Er drehte sich um und spie dem Kamel Feuer entgegen, was dieses mit einem letzten Furz quittierte, bevor es wieder zu einem harmlosen Goldamulett schrumpfte. Dann wandte sich der Criosphinx mir zu. Er sah nicht gerade gut gelaunt aus.

»Walt«, sagte ich. »Gib mir Deckung.«

»Klar.« Er musterte unsicher den Criosphinx. »Wobei?«

Gute Frage, dachte ich.

»Wir müssen diesen Schrein schützen«, sagte ich. »Er enthält irgendeinen Hinweis. Wir müssen Maat wiederherstellen, ansonsten stürzt dieses Gebäude ein und wir sind alle tot.«

»Und wie stellen wir Maat wieder her?«

Statt einer Antwort konzentrierte ich mich. Ich blickte in die Duat hinunter.

Es lässt sich schwer beschreiben, wie es ist, die Welt in mehreren Schichten gleichzeitig zu sehen – es ist ein bisschen, wie wenn man durch eine 3D-Brille blickt und verschwommene farbige Auren um Gegenstände wahrnimmt. Allerdings entsprechen die Auren nicht immer den Gegenständen und die Bilder bewegen sich pausenlos. Magier müssen sich in Acht nehmen, wenn sie in die Duat schauen. Im besten Falle wird einem etwas schwindlig. Im schlimmsten explodiert einem das Hirn.

In der Duat war der Museumssaal von den zuckenden Bewegungen einer riesigen roten Schlange erfüllt – Apophis’ Magie breitete sich langsam aus und umzingelte meine Freunde. Fast wäre es um meine Konzentration (und mein Abendessen) geschehen gewesen.

Isis, rief ich. Wenn du mal ein bisschen mithelfen würdest?

Die Kraft der Göttin durchflutete mich. Mit geschärften Sinnen sah ich meinen Bruder gegen den Criosphinx kämpfen. An Carters Stelle stand der Kriegsgott Horus, sein Schwert blitzte hell.

Die Kanopengefäße, die um Felix herumschwirrten, waren die Herzen böser Geister – schemenhafte Gestalten, die nach unserem jungen Freund fassten und schnappten, obwohl Felix eine überraschend machtvolle Aura hatte. Sein strahlend violettes Leuchten schien die Geister in Schach zu halten.

Alyssa war von einem Sandsturm in Männergestalt eingehüllt. Bei ihrem Sprechgesang hob Geb, der Erdgott, die Arme und stützte die Decke. Die Uschebti-Armee um sie leuchtete wie ein Flächenbrand.

Cheops sah in der Duat unverändert aus, doch als er auf der Flucht vor der Anubisstatue durch den Raum sprang, klappte der goldene Schrein auf, den er trug. Im Inneren war reine Dunkelheit – als wäre das Kästchen voller Tintenfischtinte.

Ich war nicht sicher, was das zu bedeuten hatte, doch als ich zu Walt in der Duat blickte, blieb mir die Luft weg.

Er war in flackerndes graues Leinen gehüllt – Mumienbinden. Sein Fleisch war durchsichtig. Seine Knochen phosphoreszierten, er sah wie ein lebendes Röntgenbild aus.

Der Fluch, dachte ich. Er ist vom Tode gezeichnet.

Was noch schlimmer war: Der Criosphinx, der ihm gegenüberstand, war das Zentrum des Chaossturms. Rote Lichtranken bogen sich aus dem Körper. Sein Widdergesicht verwandelte sich in Apophis’ Kopf, mit gelben Schlangenaugen und tropfenden Giftzähnen.

Der Sphinx stürzte sich auf Walt, doch bevor er zuschlagen konnte, schleuderte dieser ein Amulett. Goldketten explodierten im Gesicht des Ungeheuers und wickelten sich um dessen Schnauze. Der Criosphinx stolperte und wehrte sich wie ein Hund gegen einen Maulkorb.

»Sadie, ich habe alles im Griff.« Walts Stimme klang in der Duat tiefer und zuversichtlicher, als wäre er älter. »Sprich deinen Zauberspruch. Beeil dich.«

Der Criosphinx bewegte den Kiefer. Die Goldketten klirrten. Der andere Criosphinx drückte Carter gegen eine Wand. Felix lag auf den Knien, seine violette Aura kam nicht gegen einen Wirbel dunkler Geister an. Alyssa verlor nun endgültig ihren Kampf gegen den einstürzenden Raum, rings um sie fiel die Decke in Brocken herunter. Die Anubisstatue hielt Cheops kopfüber am Schwanz, der Pavian schrie, während er die Arme um den goldenen Schrein schlang.

Jetzt oder nie: Ich musste die Ordnung wiederherstellen.

Ich kanalisierte die Macht von Isis, schöpfte so tief aus meinen geheimen Magiereserven, dass ich meine Seele brennen spürte. Ich zwang mich zur Konzentration und sprach das mächtigste aller Göttlichen Worte: »Maat.«

Die Hieroglyphe brannte vor mir – klein und hell wie eine Miniatursonne:

»Gut!«, rief Walt. »Weiter so!« Irgendwie hatte er es geschafft, die Ketten festzuziehen und das Maul des Sphinx zu packen. Während das Geschöpf sich mit aller Kraft auf ihn stürzte, legte sich Walts seltsame graue Aura wie eine ansteckende Krankheit über den Körper des Ungeheuers.

Der Criosphinx zischte und zuckte. Ich nahm Verwesungsgestank wahr, er ähnelte dem Geruch einer Gruft – und war so stark, dass ich mich kaum noch konzentrieren konnte.

»Sadie«, drängte Walt. »Der Zauberspruch! Weiter!«

Ich konzentrierte mich auf die Hieroglyphe. Ich leitete all meine Energie in dieses Symbol der Ordnung und Schöpfung. Das Wort leuchtete heller. Die Schlangenbewegungen lösten sich wie Nebel im Sonnenschein auf. Die zwei Criosphingen zerfielen zu Staub. Die Kanopengefäße krachten zu Boden und zerbrachen. Die Anubisstatue ließ Cheops los und er fiel kopfüber herunter. Die Uschebti-Armee erstarrte und Alyssas Erdmagie breitete sich im Raum aus, flickte Risse und stützte Wände.

Ich spürte, wie Apophis sich vor Wut zischend tiefer in die Duat zurückzog.

Und prompt kippte ich um.

»Ich hab dir doch gesagt, dass sie es kann«, sagte eine freundliche Stimme.

Die Stimme meiner Mutter … Das konnte natürlich nicht sein. Sie war tot, deshalb sprach ich nur selten mit ihr und wenn, dann in der Unterwelt.

Ich konnte wieder sehen, verschwommen und schwach. Zwei Frauen beugten sich über mich. Eine von ihnen war meine Mutter – ihr blondes Haar war zurückgesteckt, ihre dunkelblauen Augen funkelten vor Stolz. Sie war durchsichtig, wie Götter es sind; doch ihre Stimme war warm und sehr lebendig. »Das Ende ist noch nicht gekommen, Sadie. Du musst weiterkämpfen.«

Neben ihr stand Isis in ihrem weißen Seidenkleid, ihre Flügel aus Regenbogenlicht schimmerten. In ihr glänzendes schwarzes Haar waren Diamantfäden geflochten. Ihr Gesicht war ebenso schön wie das von Mom, allerdings majestätischer und nicht so liebevoll.

Versteht mich nicht falsch. Nachdem ich meine Gedanken mit Isis geteilt hatte, wusste ich, dass sie sich auf ihre Art um mich sorgte, doch Götter sind eben keine Menschen. Sie haben Schwierigkeiten, in uns etwas anderes als nützliche Werkzeuge oder amüsante Spielzeuge zu sehen. Für einen Gott scheint ein Menschenleben nicht viel länger zu dauern als das einer durchschnittlichen Wüstenrennmaus.

»Das hätte ich nicht gedacht«, sagte Isis. »Die letzte Magierin, die Maat herbeigerufen hat, war Hatschepsut persönlich und selbst sie konnte es nur, solange sie einen falschen Bart trug.«

Ich hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte, und beschloss, dass ich es auch gar nicht wissen wollte.

Ich versuchte mich zu bewegen, schaffte es jedoch nicht. Es war, als würde ich auf dem Boden einer Badewanne treiben, im warmen Wasser schweben, während die Gesichter der beiden Frauen sich auf der Wasseroberfläche über mir kräuselten.

»Sadie, hör gut zu«, sagte meine Mutter. »Gib dir nicht die Schuld an den Todesfällen. Dein Vater wird Einspruch gegen deinen Plan erheben. Du musst ihn überzeugen. Erklär ihm, dass es der einzige Weg ist, die Seelen der Toten zu retten. Erklär ihm …« Ihr Gesichtsausdruck wurde düster. »Sag ihm, es ist der einzige Weg für ihn, mich je wiederzusehen. Es muss dir gelingen, meine Süße.«

Ich hätte sie gern gefragt, was sie damit meinte, doch offenbar konnte ich nicht sprechen.

Isis berührte meine Stirn. Ihre Finger waren eiskalt. »Wir dürfen sie nicht weiter belasten. Wir verabschieden uns jetzt von dir, Sadie. Doch die Zeit, dass wir uns wieder vereinen müssen, wird schon bald kommen. Du bist stark. Sogar stärker als deine Mutter. Gemeinsam werden wir die Welt regieren.«

»Gemeinsam werden wir Apophis schlagen, wolltest du sagen«, verbesserte sie meine Mutter.

»Natürlich«, sagte Isis. »Ich habe mich nur versprochen.«

Ihre Gesichter verschwammen miteinander. Sie sprachen mit einer Stimme: »Ich hab dich lieb.«

Ein Schneesturm fegte über meine Augen. Meine Umgebung veränderte sich und plötzlich stand ich mit Anubis auf einem Friedhof. Nicht mit dem modrigen alten schakalköpfigen Gott, als der er in ägyptischer Grabkunst auftaucht, sondern mit dem Anubis, als den ich ihn normalerweise sah – einem Jugendlichen mit warmen braunen Augen, verwuschelten schwarzen Haaren und einem Gesicht, das unglaublich und nervend schön war. Also ehrlich – als Gott war er einfach im Vorteil. Das war so unfair. Warum musste er immer in dieser Gestalt auftauchen, bei der sich meine Innereien zu Brezeln verdrehten?

»Toll«, brachte ich heraus. »Wenn du hier bist, muss ich wohl tot sein.«

Anubis lächelte. »Nicht tot, obwohl es dieses Mal ganz schön knapp war. Das war echt eine riskante Entscheidung.«

Ich spürte ein Brennen auf meinem Gesicht, das bis zum Hals hinunterlief. Ich konnte nicht einordnen, ob es Verlegenheit, Wut oder Wiedersehensfreude war.

»Wo hast du gesteckt?«, wollte ich wissen. »Ein halbes Jahr und kein einziges Wort von dir.«

Sein Lächeln verschwand. »Sie haben mir nicht erlaubt, dich zu sehen.«

»Wer hat das nicht erlaubt?«

»Es gibt Gesetze«, sagte er. »Selbst jetzt beobachten sie uns; aber da du dem Tod nah genug bist, geht es ein paar Minuten. Was ich dir sagen muss: Du bist auf dem richtigen Weg. Schau auf das, was nicht da ist. Nur so kannst du vielleicht überleben.«

»Aha«, brummte ich. »Danke, dass du nicht in Rätseln sprichst.«

Die Wärme erreichte mein Herz. Es begann zu schlagen und plötzlich wurde mir klar, dass mein Herzschlag ausgesetzt hatte, als ich bewusstlos geworden war. Das war vermutlich nicht gut.

»Sadie, da gibt es noch etwas.« Anubis’ Stimme wurde dünn. Sein Bild begann zu verblassen. »Ich muss dir sagen –«

»Sag es mir persönlich«, erwiderte ich. »Lass diesen ›Todesvision‹-Blödsinn.«

»Ich kann nicht. Sie erlauben es nicht.«

»Du klingst immer noch wie ein kleiner Junge. Du bist doch ein Gott, oder? Du kannst verdammt noch mal tun und lassen, was dir beliebt.«

Wut glomm in seinen Augen. Zu meiner Überraschung lachte er. »Ich habe vergessen, wie nervig du bist. Ich werde versuchen vorbeizukommen … kurz. Wir müssen etwas besprechen.« Er streckte die Hand aus und streichelte mir über die Wange. »Du wachst jetzt auf. Tschüs, Sadie.«

»Geh nicht.« Ich packte seine Hand und presste sie gegen meine Wange.

Die Wärme flutete durch meinen ganzen Körper. Anubis verblasste.

Ich schlug die Augen auf. »Geh nicht!«

Meine verbrannten Hände waren mit Verbänden umwickelt und ich hielt eine haarige Pavianpfote umklammert. Cheops sah zu mir herunter und schien eher verwirrt. »Agh?«

Ganz toll. Ich flirtete mit einem Affen.

Ich setzte mich zerschlagen auf. Carter und unsere Freunde scharten sich um mich. Der Saal war nicht eingestürzt, doch die König-Tut-Ausstellung lag in Trümmern. Irgendetwas sagte mir, dass wir nicht so schnell wieder zu den Freunden des Dallas Museum eingeladen werden würden.

»W-was ist passiert?«, stammelte ich. »Wie lange –?«

»Du warst zwei Minuten lang tot«, sagte Carter mit zittriger Stimme. »Das heißt kein Herzschlag, Sadie. Ich dachte … Ich hatte solche Angst …«

Er verstummte. Armer Junge. Ohne mich wäre er echt verloren gewesen.

[Aua, Carter! Hör auf, mich zu kneifen.]

»Du hast Maat herbeigerufen«, sagte Alyssa verwundert. »Das ist … eigentlich unmöglich.«

Offenbar war es ziemlich beeindruckend. Göttliche Worte zu benutzen, um etwas wie ein Tier oder einen Stuhl oder ein Schwert zu erschaffen – das ist schon schwer genug. Ein Element wie Feuer oder Wasser herbeizurufen ist noch wesentlich kniffliger. Aber ein Prinzip wie Ordnung herbeizurufen – das geht einfach nicht. In jenem Moment waren meine Schmerzen zu groß, um meine eigene Erstaunlichkeit zu bewundern. Mir kam es vor, als hätte ich einen Amboss herbeigerufen und ihn anschließend auf meinen Kopf fallen lassen.

»Glück gehabt«, sagte ich. »Was ist mit dem goldenen Schrein?«

»Agh!« Cheops deutete stolz auf das vergoldete Schränkchen, das wohlbehalten neben mir stand.

»Braver Pavian«, sagte ich. »Heute Abend kriegst du eine Extraportion Cheerios.«

Walt runzelte die Stirn. »Das Buch zur Niederwerfung des Apophis wurde zerstört. Wie soll uns der Schrein helfen? Du hast gesagt, er würde uns irgendeinen Hinweis geben …?«

Es fiel mir schwer, Walt anzuschauen, ohne mich schuldig zu fühlen. Ich fühlte mich schon seit Monaten zwischen ihm und Anubis hin- und hergerissen und es war nicht fair von Anubis, dass er einfach so in meinen Träumen aufkreuzte, heiß und unsterblich aussah, während der arme Walt sein Leben riskierte, um mich zu beschützen, und dadurch jeden Tag schwächer wurde. Mir fiel ein, wie er in der Duat ausgesehen hatte, in seinen geisterhaften grauen Mumienbinden …

Nein, daran durfte ich nicht denken. Ich zwang mich, mich auf den goldenen Schrein zu konzentrieren.

Schau auf das, was nicht da ist, hatte Anubis gesagt. Scheißgötter und ihre Scheißrätsel.

Das Gesicht in der Wand – Onkel Vinnie – hatte mir gesagt, dass uns der Kasten einen Hinweis geben würde, wie wir Apophis schlagen konnten, vorausgesetzt, ich war schlau genug, ihn zu verstehen.

»Ich weiß noch nicht, was damit gemeint ist«, räumte ich ein. »Wenn die Texaner uns erlauben, den Kasten mit ins Brooklyn House zu nehmen …«

Mit Erschrecken wurde mir bewusst, dass draußen keine Explosionen mehr zu hören waren. Nur unheimliche Stille.

»Die Texaner!«, schrie ich. »Was ist mit ihnen geschehen?«

Felix und Alyssa stürzten auf den Ausgang zu. Carter und Walt halfen mir aufzustehen, dann rannten wir hinterher.

Die Wachen standen nicht mehr auf ihrem Posten. Als wir ins Museumsfoyer kamen, sah ich draußen im Skulpturengarten weiße Rauchsäulen aufsteigen.

»Nein«, murmelte ich. »Nein, nein.«

Wir rasten über die Straße. Der gepflegte Rasen war nun ein Krater von der Größe eines olympischen Schwimmbeckens. Am Grund lagen geschmolzene Metallskulpturen und Steinbrocken. Tunnel, die früher einmal in die Zentrale des Einundfünfzigsten Nomos geführt hatten, waren eingebrochen, als hätte irgendein Rowdy einen riesigen Ameisenhaufen niedergetrampelt. Am Rande des Kraters lagen qualmende Fetzen Abendgarderobe, zertrümmerte Platten mit Tacos, zerbrochene Champagnerflöten und die zerschmetterten Zauberstäbe der Magier.

Gib dir nicht die Schuld an den Todesfällen, hatte meine Mutter gesagt.

Ich lief wie in Trance zu den Überresten der Bühne. Die halbe Betonplatte war abgebrochen und in den Krater gerutscht. Neben einem glänzenden Stück Silber lag eine verkohlte Fiedel im Dreck.

Carter stellte sich neben mich. »Wir – wir sollten suchen«, sagte er. »Vielleicht gibt es Überlebende.«

Ich unterdrückte ein Schluchzen. Ich konnte nicht sagen, warum, aber ich spürte die Wahrheit mit absoluter Gewissheit. »Es gibt keine.«

Die texanischen Magier hatten uns freundlich aufgenommen und unterstützt. JD Grissom hatte mir die Hand geschüttelt und mir Glück gewünscht, bevor er zu seiner Frau gerannt war. Doch wir hatten schon in anderen Nomoi gesehen, was Apophis anrichtete. Carter hatte JD gewarnt: Die Schergen der Schlange verschonen niemanden.

Ich kniete mich hin und hob das glänzende Silberstück auf – es war eine halb geschmolzene Gürtelschnalle mit dem Lone Star.

»Sie sind tot«, sagte ich. »Alle.«

Carter

3.

Wir gewinnen einen Kasten ohne Inhalt

Für diese nette Geschichte reicht mir Sadie das Mikrofon. [Vielen Dank auch, Schwesterherz.]

Ich würde euch gern erzählen, dass Sadie sich im Hinblick auf den Einundfünfzigsten Nomos getäuscht hat. Ich würde euch liebend gern erzählen, dass die texanischen Magier alle wohlauf waren. Doch das stimmt nicht. Wir fanden nichts außer den Überresten des Kampfes: verkokelte Zaubermesser aus Elfenbein, ein paar zertrümmerte Uschebti, glimmende Leinen- und Papyrusfetzen. Genau wie bei den Angriffen in Toronto, Chicago und Mexiko-Stadt waren die Magier einfach unauffindbar. Sie hatten sich in Dampf aufgelöst, waren verschlungen oder auf andere grausame Arten umgebracht worden.

Am Rande des Kraters brannte eine Hieroglyphe im Gras: Isfet, das Symbol des Chaos. Ich hatte das Gefühl, dass Apophis sie dort als Visitenkarte hinterlassen hatte.

Wir befanden uns alle im Schockzustand, aber es war keine Zeit, unsere Kameraden zu betrauern. Die weltliche Obrigkeit würde in Kürze eintreffen und am Tatort ermitteln. Wir mussten den Schaden, so gut es ging, eindämmen und alle Spuren von Magie beseitigen.

Im Hinblick auf den Krater konnten wir nicht viel tun. Man würde wohl wieder eine Gasexplosion vermuten. (Das passierte uns häufig.)

Wir versuchten, das Museum und die König-Tut-Ausstellung wieder in Ordnung zu bringen, aber das war nicht so einfach, als würden wir mal eben den Museumsshop aufräumen. Magie hat ihre Grenzen. Wenn ihr also eines Tages in eine König-Tut-Ausstellung geht und Risse oder Brandspuren auf den Artefakten entdeckt oder vielleicht eine Statue, deren Kopf verkehrt herum angeklebt ist – tja, sorry. Das war vermutlich unsere Schuld.

Als die Polizei die Straßen abriegelte und den Explosionsherd absperrte, versammelte sich unser Team auf dem Museumsdach. Zu besseren Zeiten hätten wir vielleicht mit einem Artefakt ein Portal nach Hause geöffnet; doch während der letzten Monate war Apophis immer stärker geworden und mittlerweile waren Portale zu riskant.

Stattdessen pfiff ich nach unserer Mitfahrgelegenheit. Freak der Greif schwebte vom Dach des nahe gelegenen Fairmont Hotels herunter.

Es ist nicht leicht, ein gutes Versteck für einen Greif zu finden, schon gar nicht, wenn er auch noch ein Boot hinter sich herzieht. So etwas kann man nicht einfach am Straßenrand abstellen und ein paar Münzen in die Parksäule werfen. Da Freak außerdem bei Fremden nervös wird und sie dann auffrisst, hatte ich ihn mit einer Kiste Tiefkühltruthähne, die ihn hoffentlich eine Weile beschäftigen würden, auf dem Dach des Fairmont abgesetzt. Sie müssen gefroren sein. Ansonsten schlingt er sie zu schnell herunter und bekommt Schluckauf.

(Sadie will, dass ich die Geschichte schneller erzähle. Sie meint, euch seien die Ernährungsgewohnheiten von Greifen egal. Also gut, tut mir leid.)

Jedenfalls landete Freak auf dem Museumsdach. Er war ein bildschönes Ungeheuer, zumindest, wenn man auf psychotische falkenköpfige Löwen steht. Sein Fell hatte die Farbe von Rost, und wenn er flog, klangen seine Kolibriflügel wie eine Symphonie mit Kettensägen und Kazoos.

»FRIEEEK!«, krächzte Freak.

»Hast Recht, Kumpel«, pflichtete ich ihm bei. »Lass uns von hier abhauen.«

Das Boot, das hinter ihm herschwebte, war ein altägyptisches Modell – es hatte die Form eines großen Kanus und war aus Papyrusbündeln gebaut und mit einem Zauber Walts belegt, damit es, egal, wie viel Gewicht es trug, in der Luft blieb.

Das erste Mal, als wir mit Air Freak flogen, hatten wir das Boot unter Freaks Bauch festgebunden, was sich aber als ziemlich wackelige Angelegenheit erwiesen hatte. Man konnte auch nicht einfach auf seinem Rücken reisen, weil einen diese Hochgeschwindigkeitsflügel kurzerhand geschreddert hätten. Die neue Lösung hieß also Schlittenboot. Außer wenn Felix den Menschen »Ho, ho, ho, fröhliche Weihnachten!« zubrüllte, funktionierte es tadellos.

Da aber die meisten Sterblichen Magie nicht klar erkennen können, bin ich nicht sicher, was genau sie in diesen Fällen zu sehen oder zu hören glaubten. Viele von ihnen haben bestimmt die Dosierung ihrer Medikamente in Frage gestellt.

Wir stiegen in den Nachthimmel auf – wir sechs und ein kleiner Schrank. Ich verstand immer noch nicht, warum Sadie sich so für den goldenen Kasten interessierte, doch ich vertraute ihr genug, um zu glauben, dass er wichtig war.

Ich blickte auf das Trümmerfeld des Skulpturengartens hinunter. Der qualmende Krater sah wie ein verzerrter schreiender Mund aus. Löschfahrzeuge und Polizeiautos bildeten eine Einfassung aus roten und weißen Lichtern. Wie viele Magier waren wohl bei der Explosion gestorben?

Freak flog schneller. Meine Augen brannten, aber das lag nicht am Wind. Ich drehte mich weg, damit mich niemand sehen konnte.

Deine Anführerschaft ist zum Scheitern verurteilt.

Apophis behauptete alles Mögliche, um uns zu verwirren und Zweifel zu säen. Trotzdem hatten mich seine Worte hart getroffen.

Ich war nicht gerne ein Anführer. Den anderen zuliebe musste ich immer zuversichtlich wirken, selbst wenn ich es nicht war.

Mir fehlte mein Vater, auf den ich mich verlassen konnte. Ich vermisste Onkel Amos, der nach Kairo gegangen war, um dort das Lebenshaus zu führen. Was Sadie, meine rechthaberische Schwester, anbelangt, unterstützt sie mich zwar immer, aber sie hat klargestellt, dass sie keine Lust hat, eine Autoritätsperson zu sein. Offiziell oblag mir die Leitung des Brooklyn House. Offiziell sagte ich, wo es langging. Für mich bedeutete das, dass Fehler wie die Auslöschung eines kompletten Nomos meine Schuld waren.

Okay, Sadie würde mir nie die Schuld für so etwas geben, aber es war nun mal mein Gefühl.

Alles, was du aufzubauen versucht hast, wird in sich zusammenfallen.

Es war schwer vorstellbar, dass noch nicht mal ein Jahr vergangen war, seit Sadie und ich in vollkommenem Unwissen über unser Erbe und unsere Fähigkeiten ins Brooklyn House gekommen waren. Und nun schmissen wir den Laden – trainierten eine Armee junger Magier, damit sie im Kampf gegen Apophis den Weg der Götter einschlugen, eine Form der Magie, die seit Tausenden von Jahren nicht mehr eingesetzt worden war. Wir hatten so große Fortschritte gemacht – doch wenn man betrachtete, wie unsere Schlacht gegen Apophis an diesem Abend gelaufen war, reichten unsere Anstrengungen nicht.

Du wirst diejenigen verlieren, die du am meisten liebst …

Ich hatte schon so viele Menschen verloren. Meine Mutter war gestorben, als ich sieben war. Mein Vater hatte sich letztes Jahr geopfert, um Osiris’ Gastkörper zu werden. Im Laufe des Sommers waren viele unserer Verbündeten im Kampf gegen Apophis umgekommen, in einen Hinterhalt geraten oder dank der rebellierenden Magier, die meinen Onkel Amos nicht als Obersten Vorlesepriester akzeptieren wollten, »verschwunden«.

Wen konnte ich sonst noch verlieren … Sadie?

Nein, ich meine das nicht sarkastisch. Obwohl wir die längste Zeit unseres Lebens voneinander getrennt aufgewachsen waren – ich war mit Dad herumgereist, Sadie hatte mit Gran und Gramps in London gelebt –, ist sie ja immer noch meine Schwester. Wir waren uns im letzten Jahr nahegekommen. So nervig sie auch war, ich brauchte sie.

Wow, das ist echt deprimierend.

(Und da kommt auch schon der Schlag gegen den Arm, auf den ich gewartet habe. Autsch.)

Vielleicht meinte Apophis auch jemand anderen, zum Beispiel Zia Rashid …

Unser Boot flog über die glitzernden Vororte von Dallas. Mit einem trotzigen Krächzen zog Freak das Boot hinunter in die Duat, wo uns der Nebel verschluckte. Es wurde eisig. Ich spürte ein vertrautes Kribbeln im Magen, es fühlte sich an, als würden wir mit einer Achterbahn in die Tiefe stürzen. Im Nebel flüsterten geisterhafte Stimmen.

Genau in dem Moment, als ich dachte, wir hätten uns verirrt, verflog mein Schwindelgefühl. Der Nebel lichtete sich. Wir waren wieder an der Ostküste und segelten über den Hafen von New York auf die nächtlichen Lichter des Hafengebietes von Brooklyn und unser Zuhause zu.

Die Zentrale des Einundzwanzigsten Nomos stand in der Nähe der Williamsburg Bridge am Ufer. Normalsterbliche sahen hier bloß ein großes heruntergekommenes Lagerhaus auf einem Gewerbehof, für Magier jedoch war das Brooklyn House so weithin sichtbar wie ein Leuchtturm – auf dem Dach des Lagerhauses erhob sich eine fünfstöckige Villa aus Kalksteinblöcken und stahlgerahmtem Glas, gelbe und grüne Lichter leuchteten heimelig.

Freak landete auf dem Dach, wo die Katzengöttin Bastet schon auf uns wartete.

»Meine Kätzchen sind am Leben!« Sie fasste mich an den Armen und suchte mich nach Verletzungen ab, dasselbe tat sie anschließend bei Sadie. Sadies verbundene Hände entlockten ihr ein missbilligendes Tststs.

Bastets phosphoreszierende Katzenaugen konnten einen verunsichern. Ihr langes schwarzes Haar war zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden und ihr Gymnastikanzug wechselte bei jeder Bewegung das Muster – abwechselnd Tigerstreifen, Leopardenflecken oder bunt getupftes Katzenfell. Sosehr ich sie mochte und ihr vertraute, mit ihren »Mamakatzen«-Untersuchungen machte sie mich ein bisschen nervös. Sie verwahrte Messer in ihren Ärmeln – tödliche Eisenklingen, die bei der kleinsten Bewegung der Gelenke in ihre Hände glitten – und ich hatte immer Angst, sie könnte mich am Ende versehentlich köpfen, wenn sie mir die Wange tätschelte. Wenigstens versuchte sie nicht, uns am Nacken hochzunehmen oder uns sauber zu lecken.

»Was ist passiert?«, fragte sie. »Alle in Sicherheit?«

Sadie holte angestrengt Luft. »Nun ja …«

Wir erzählten Bastet von der Zerstörung des texanischen Nomos.

Sie gab ein tiefes Knurren von sich. Ihr Haar stellte sich auf, der Pferdeschwanz zog es zwar nach unten, doch ihre Kopfhaut sah wie eine heiße Pfanne voller Popcorn aus. »Ich hätte mitkommen sollen«, sagte sie. »Ich hätte helfen können.«

»Hättest du nicht«, sagte ich. »Das Museum war zu gut gesichert.«

Göttern gelingt es fast nie, in körperlicher Gestalt in das Territorium von Magiern einzudringen. Magier haben Tausende von Jahren damit verbracht, verzauberte Bereiche zu entwickeln, die die Götter abhalten. Es war viel Arbeit gewesen, diese Bereiche im Brooklyn House so zu verändern, dass Bastet Zugang hatte, wir aber nicht angreifbar für weniger freundlich gesinnte Götter waren.

Bastet mit ins Dallas Museum zu nehmen wäre ungefähr dasselbe gewesen, wie eine Panzerfaust durch die Sicherheitskontrolle am Flughafen zu schmuggeln – wenn nicht völlig unmöglich, dann zumindest aufwendig und schwierig. Außerdem war Bastet unsere letzte Verteidigungslinie im Brooklyn House. Sie musste unseren Stützpunkt und unsere Initianden schützen. Schon zweimal hatten unsere Feinde die Villa um Haaresbreite zerstört. Wir brauchten kein drittes Mal.

Bastets Gymnastikanzug färbte sich schwarz, wie immer, wenn sie düsterer Stimmung war. »Trotzdem, ich hätte es mir nie verziehen, wenn euch …« Sie warf einen Blick auf unsere erschöpfte, verängstigte Mannschaft. »Nun ja, wenigstens seid ihr heil zurückgekehrt. Was steht als Nächstes an?«

Walt taumelte. Alyssa und Felix fingen ihn auf.

»Mir geht’s gut«, beharrte er, obwohl das Gegenteil offensichtlich war. »Carter, wenn du möchtest, kann ich alle zusammentrommeln. Lagebesprechung auf der Terrasse?«

Er sah aus, als würde er jeden Moment in Ohnmacht fallen. Walt hätte es niemals zugegeben, doch unsere beste Heilerin, Jaz, hatte mir verraten, dass seine Schmerzen schier unerträglich waren. Er konnte sich nur auf den Füßen halten, weil sie ihm ständig schmerzlindernde Hieroglyphen auf die Brust tätowierte und ihm Zaubertränke einflößte. Trotzdem hatte ich ihn gebeten, mit uns nach Texas zu kommen – eine weitere Entscheidung, die mir auf der Seele lastete.

Der Rest der Truppe brauchte ebenfalls Schlaf. Felix’ Augen waren vom Weinen verquollen. Alyssa wirkte, als würde sie gleich ganz in Schockstarre verfallen.

Ich hatte keine Ahnung, was ich bei so einer Lagebesprechung sagen sollte. Ich hatte keinen Plan. Ich konnte mich nicht vor den ganzen Nomos stellen, ohne zusammenzubrechen. Nicht, nachdem ich so viele Todesopfer in Dallas zu verantworten hatte.

Ich blickte zu Sadie. Wir trafen eine stille Übereinkunft.