Die Kanzlerin - Fritz H. Dinkelmann - E-Book

Die Kanzlerin E-Book

Fritz H. Dinkelmann

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Beschreibung

"Sommerzeit. Doch der politische Alltag im Berliner Kanzleramt ist kalt und herzlos. Ein gelangweilter Redenschreiber surft im Internet und lernt dort Frau Male kennen. Die Affäre ist anonym und hemmungslos. Die Hitze treibt aber auch andere seltsame Blüten: Die Gruppe Cookie & Co vertreibt sich die Zeit mit virtuellen Spielen, die zunehmend konkreter und gefährlicher wirken. Auch Die Kanzlerin langweilt sich - obwohl Wahlen bevorstehen und es von den Geheimdiensten ernstzunehmende Hinweise auf mögliche terroristische Anschläge auf hochrangige deutsche Politiker gibt. Trotzdem planen einige Kabinettsmitglieder kurzfristig einen Ausflug in die Schweiz. Um etwas Luft zu holen, schließt sich Die Kanzlerin dieser Reisegruppe an, die mit der berühmten Seilbahn auf den Säntis fahren will, um dort bei einem freundschaftlichen Treffen mit Mitgliedern der Schweizer Regierung das angespannte Verhältnis zwischen den beiden Ländern etwas zu lockern. Doch die virtuellen Spiele im Internet realisieren sich: Spannung und Entladung - ein Geschehen, das die Welt erschreckt."

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Der Autor

Fritz H. Dinkelmann wurde 1950 in Zürich geboren und machte sein Diplom an der Schauspielakademie Zürich. Anschliessend gründete er ein Kleintheater in Solothurn, wo er auch als Regisseur arbeitete. Er war Bundesgerichtskorrespondent der Schweizerischen Depeschenagentur und ist seit 1998 Deutschlandkorrespondent mehrerer Schweizer Zeitungen und des Schweizer Radios. 2001 wurde er mit dem Medienpreis idée suisse der SRG ausgezeichnet. Dinkelmann ist Mitbegründer der Solothurner Literaturtage und lebt in Berlin und Solothurn.

Autor und Verlag danken dem Migros-Kulturprozent und dem Kantonalen Kuratorium für Kulturförderung des Kantons Solothurn für die Unterstützung bei der Entstehung dieses Buches.

E-Book-Ausgabe 2013

Copyright © 2009 by Lenos Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

Coverfoto: Keystone/Alessandro della Valle

www.lenos.ch

ISBN EPUB-E-Book 978 3 85787 521 2

Für Zora

Vorbemerkung

Die Geschichte dieses Romans ist frei erfunden, und auch die Romanfiguren sind Fiktion. Für ihr Denken und Handeln kann der Autor also nur eine literarische Verantwortung übernehmen. Ähnlichkeiten oder gar Übereinstimmungen mit der Realität sind rein zufällig oder waren nicht zu verhindern.

Auf diese Vorbemerkung kann aus juristischen Gründen nicht verzichtet werden, obwohl es in der Realität zumindest nicht die Regel ist, dass Politiker sagen, was sie wirklich meinen, oder tun, was sie versprochen haben. Das allein würde dem Persönlichkeitsschutz wohl schon Genüge tun. Die Unantastbarkeit der menschlichen Würde ist aber ein so hohes Gut, dass sie speziell betont werden soll.

Der Autor respektiert die Würde seiner Romanfiguren ebenso wie jene von real existierenden Personen. Er legt überdies Wert auf die Feststellung, dass ihn das menschliche Geschehen in der erlebten Wirklichkeit mehr beunruhigt als möglicherweise erschreckende Phantasien.

F. H. D.

»Spannung ist alles und Entladung. Und höchste Lebensweisheit, seine Spannung immer richtig zu entladen.«

»Es gibt für Unzählige nur ein Heilmittel – die Katastrophe.«

Christian Morgenstern

Die Versuchung ist gross, zu lügen und nicht zu sagen, wie es ist. Und wie gross ist der Aufwand der Verstellung. Nichts hat eine Gerade, nichts geht nach innen, nichts bleibt. Die Menschen haben Angst. Sie überleben, weil sie Angst haben. Und sie sterben, weil sie Angst haben.

De la Mare trieb sie zum Wahnsinn. Er hatte mit seiner neuen Linken das ganze Parteiengefüge in die Luft gesprengt und damit für unberechenbare Verhältnisse gesorgt. Er hatte sie vor einem Millionenpublikum attackiert und als Person beschrieben, die als Paradebeispiel dienen könne für eine gelungene Integration. Sie sei eine überzeugte Kommunistin gewesen, zuständig für DDR-Propaganda, eine Kaderfrau des kommunistischen Systems also, aber dann habe sie sich geläutert und sei nun Chefin der grössten gesamtdeutschen Volkspartei und Kanzlerin überdies, Chapeau.

Tage zuvor hatte die Kanzlerin bei einer Ansprache gesagt: »Als jemand mit ostdeutscher Prägung fällt es mir natürlich leichter, die Probleme der Menschen in den neuen Bundesländern von ihrem Ursprung her abzuleiten und also auch dann zu verstehen, wenn sich die Realität bekanntermassen täglich ändert.« Janz hatte ihr diesen unsäglichen Satz untergejubelt, der alte Trottel. Keine Rede für die Kanzlerin, die von ihm nicht abgesegnet werden musste.

Aber darum ging es jetzt nicht. Filip Loderer schaute auf die Uhr. 16 Uhr. Das Redemanuskript für die Familienministerin – erledigt. Er mochte sie nicht, und sie kannte ihn nicht. Vielleicht hatte sie einmal seinen Namen gehört, aber Redenschreiber gab es viele im Bundespresseamt. »Die Mutter« nannten sie intern alle, weil sie bemerkenswert viele Kinder hatte.

Einmal hatte er von der »Mutter« geträumt: Er lag im Krankenhaus, und sie war seine behandelnde Ärztin. Sie beugte sich über ihn und sagte: »Machen Sie sich keine Sorgen, das kriegen wir schon in den Griff.« Er sagte etwas und spürte, dass er zwar zu hören, aber nicht zu verstehen war. Und die »Mutter« sagte: »In vielen Fällen bleibt ein Gehirnschlag mittelfristig fast folgenlos.«

Es fröstelte ihn, er setzte sich wieder an den Computer. Er wollte eine ganz andere Rede schreiben. Eine Ansprache, genauer gesagt, eine kurzfristig angesagte Fernsehansprache des deutschen Innenministers an das deutsche Volk. Und danach wäre alles anders. Ein warmes Gefühl erfüllte ihn. Es gab nicht viele Reden, die etwas bewirkt hatten in der Geschichte. Weil nichts zu sagen ist, in aller Regel. Weil nichts passiert ist, meistens. Und weil eine gute Rede gut vorbereitet sein muss. Und vorbereitet war er. Und wenn Innenminister Eisele diese Rede halten würde, dann hätte er etwas zu sagen. Weil vorher etwas passiert wäre. Etwas Unvorstellbares. Und alles würde anders sein in Deutschland nach dieser Rede, nach seiner Rede: »Die Kanzlerin, unsere Kanzlerin, die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, ist seit einer Woche spurlos verschwunden. Wir wissen nicht, was passiert ist. Wir wissen nicht, wo sie ist, es gibt kein Lebenszeichen von ihr. Wir haben keinerlei Anhaltspunkte für das, was geschehen ist …«

Er würde noch viel arbeiten müssen an dieser Rede. Und weil seine Konzentration spürbar nachliess, loggte er sich ins Netz ein und surfte. Dabei kam es vor, dass er auf exotische Blogs stiess und sich dort anmeldete und dann mit Leuten stritt wie jetzt mit diesem Hartz4, der bei uni-protokolle.com gefragt hatte: »Hi, Leute, hat jemand von euch Ahnung, was ein Fetisch ist und wie ich so etwas vielleicht selber herstellen könnte?« Blogger Audio Slave hatte geantwortet: »Tut mir leid. Kenn nur den einen Begriff über Fetisch, und der hat nix mit Mobiliar zu tun.« Im Übrigen wandle er »auf den Schallwellen der wummernden Metallbässe«, und wer etwas wissen wolle, schlage nach bei Wikipedia. Seniorblogger Macabre gab sich patziger: »Sag mal, Hartz4, du hast nicht zufällig Secret of Mana gespielt und da den Fetischring gefunden?« Member Lisbeth wusste zwar gar nichts, wollte aber versöhnend einwirken: »Vielleicht hat Fetisch aber auch mehr Bedeutungen, es gibt ja auch mehrere Bedeutungen für Puff.« Unterschrieben hatte sie mit dem Gruss »Lisbeth lässt dich ruhig schlafen«.

Neugierig geworden, schlug Loderer nach. Fetischismus sei die Überzeugung oder die Erfahrung, dass von bestimmten unbelebten Objekten eine Kraft oder Macht ausgehe – mit Verweis auf religiösen und sexuellen Fetischismus, wobei es auch »die Verkehrung eines gesellschaftlichen Verhältnisses von Menschen in ein Verhältnis von Dingen« gebe.

Das reichte ihm, und er schrieb in den Blog: »Lieber Hartz4, du bist ein Vollidiot. Weil du nicht Französisch kannst. Weil du sonst wüsstest, dass sich der Begriff Fetisch von fétiche ableitet und damit das Künstliche und Unechte gemeint ist, das Nachgemachte. Steht auch in Wikipedia. Ich aber frage dich: Was willst du denn nachmachen? Und stört es dich überhaupt nicht, dass du dafür Vormacher brauchst? Die Politiker, lieber Hartz4, reden von der Realität wie von einem Fetisch. Wie von einer fixen Grösse, nach der sich alles bemessen lässt. Aber die Realität, auch deine beschissene Arbeitslosenrealität, ist immer nur eine momentane Grösse. Allerdings, so verschwindend klein die Realität auch sein mag, in der wir sind, und so vergänglich sie auch ist – diese Realität ist trotzdem unser grösster Moment. Diesen Moment aber festnageln zu wollen ist lebensgefährlich. Die Realität als Fetisch ist gemeingefährlich. Doch ebendas braucht die Politik. Weil sie Angst machen will. Andererseits erweckt die Politik den Eindruck, dass diese Realität zu fassen ist, dass sie korrigierbar und veränderbar ist. Das Einzige aber, was in der Realität von Bedeutung ist, das ist der Faktor Zeit. Die Realität hat also nur eine unsichtbare Qualität. Alles andere, all das, woran wir die Realität festmachen möchten – um uns so orten zu können –, ist aber darum völlig bedeutungslos, weil es den Augenblick nicht überlebt. Lieber Vollidiot Hartz4, streich doch mal aus deiner Realität Aldi und Kaiser’s, streich Lagerfeld in deinen dummen Träumen, streich die Billigairlines, mit denen Studenten, die zu faul sind, für ihr Studium zu jobben, gern verreisen, streich dein Monatsabo, streich die Tauben, die deinen Balkon vollscheissen, kurz gesagt: Hartz4, streich dich. Du bist ein Plastikmensch. Ich möchte dir nie begegnen. Weil auch das Unechte einen Geruch hat. Und Plastikmenschen stinken.«

Es ist Juli, und der Eisklotz schwitzt, klotzig, hart und kalt tropft er ab, bald gibt es mich nicht mehr, dachte Loderer und fühlte nichts dabei. Er spürte sich schon lange nicht mehr. Aber seine Gedanken waren glasklar. Die Hitze trieb die Leute ins Freie. Männer, Frauen, Kinder. Vor einem Jahr noch hätte er nur Frauen gesehen. Titten, Ärsche, Haut und Haar. Vor ihm ging eine selbstbewusste Schöne mit sehr beweglichen Hüften. Routiniert, raffiniert und billig. Für ihn kein Problem mehr. Er war ein Eisklotz und tropfte seine letzte Zeit ab. Obwohl er gelegentlich noch aktiv war. Wenn er etwas brauchte, dann nahm er sich das. Aber meistens nahm er sich etwas, obwohl er gar nichts brauchte. »Ich wünsche dir, dass du immer einen Wunsch hast«, hatte ihm seine Ex einmal gesagt. Loderer wechselte auf die Busspur. Er fuhr langsam. Er liess sich nicht weghupen. Vor ein paar Wochen erst war ihm bewusst geworden, dass er keine Angst mehr hatte. Plötzlich hatte er keine Angst mehr und fühlte sich frei. Doch ungefährlich war das nicht.

Die Autohäuser stellten ihre Glaspaläste mitten in die City. Mercedes, Ferrari, Maybach. Es war ihm egal, vor welcher Schaufensterscheibe er stehen bleiben würde. Er suchte einen Spiegel. Er wollte sich ins Gesicht schauen. Reglos blickte er sich an und drückte sich auf der linken Wangenseite mit zwei Fingern die Falten weg. Er schaute in glasklare blaue Augen und empfand gar nichts dabei. Kein Wiedererkennungswert, dachte er und wandte sich ab. Er war fertig mit sich, aber ein paar Dinge waren noch zu erledigen.

»Guten Morgen, Herr Loderer, ich habe neue Feuerzeuge bekommen.« Der ansonsten notorisch übelgelaunte kurdische Kioskbesitzer strahlte ihn an.

»Prima«, sagte Loderer und steckte das Billigfeuerzeug in seinen dunkelgrauen Kittel. »Man kann damit allerdings höchstens fünf, sechs Zigaretten anzünden.«

»Die sind nicht gut?«, fragte die kurdische Sonne.

»Nein. Die taugen nichts«, sagte er, »aber danke.«

Loderer schnürte sich den Nierengürtel um, zog den Reissverschluss seines Harley-Sweatshirts hoch, setzte sich die fast luftdichte Sonnenbrille auf, dann den Helm und drückte auf den Starterknopf. Seine Stirn war eiskalt vor Hitze, als er sich mit seiner giftgrünen Vespa auf den Weg machte, wie jeden Tag. Wenn er auf dem Roller sass, fühlte er sich mittendrin, dann war er in der Stadt, dann war er in Berlin, dann fühlte er sich frei und konzentrierte sich nur auf die Strasse, auf diese miserablen Berliner Strassen mit ihren Loch-Ness-grossen Schlaglöchern, unvermutet auftauchenden Höckern, herausragenden Pflastersteinen, falsch eingesetzten Gullydeckeln und Spuren, bei denen so dick aufgetragen worden war, dass manche Fahrbahnen wie Sandverwehungen zu befahren waren. Unterwegs auf dem Fleckenteppich einer Stadt, die mit ihrer Armut kokettierte und doch nur armselig war. Zusammengeschweisste Dörfer, eine riesige Provinz, das war Berlin, und wohl darum zog es so viele Schweizer in diese Grossstadt, die allerlei Illusionen nährte, und die grösste davon war, unsichtbar zu sein. Loderer beobachtete ihr Verhalten mit Verachtung, diese zittrigen ersten Schritte aus dem Gesichtsfeld ihrer alten Umgebung, das falsche Lächeln, als ob sie schon entkommen wären, als ob sie sich nun gehenlassen könnten, bloss weil es hier keine winkenden Verwandten gab.

Eine Fiatfahrerin verpasste die Grünphase, weil sie telefonierte, aber er schimpfte nicht, sondern wartete, bis sie endlich losfuhr. Dann wechselte er auf die zweite Fahrspur, und als er auf gleicher Höhe war, fixierte er die Tante. Vermutlich hiess sie Silke.

»Du blöde Kuh, du«, schrie er. »Du Currywurst. Verform dich! Verzieh dich! Verfahr dich! Bieg ab!«

Ein bisschen überrascht war Loderer dann doch, als die Fiatkutscherin tatsächlich den rechten Blinker stellte und kurz darauf rechts anhielt. Es war ein verdammt befriedigendes Gefühl, und Loderer wusste: Das wird ein guter Tag.

Es wurde aber kein guter Tag. Schon bevor Loderer in seinem Büro war, kam es beim Kaffeeautomaten zu einem gehässigen Dialog mit Kollege Bossdorf.

»Milch? Zucker?«

»Alles«, sagte Loderer.

»Alles gibt es nicht, Herr Loderer. Aber gäbe es alles, wäre das doch ziemlich langweilig, nicht?«

»Ich will nur Milch und Zucker im Kaffee.«

»Aber gern, sehr gern, Herr Loderer, den brauchen Sie auch, Sie sehen miserabel aus. Schlecht geschlafen? Oder kommen Sie mit dem Alleinsein nicht klar?«

»Wie meinen Sie das, Herr Bossdorf?«

»Ist nicht Ihre Frau verstorben, vor etwa einem Jahr? Oder haben Sie das schon abgehakt und leben wieder ganz fidel und sind nur so bleich, weil die letzte Nacht so wunderbar schwarz war?«

Loderer schwieg, sagte dann aber: »Vor zwei Jahren.«

»Ich wollte Sie nicht verletzen, Kollege. Wir können über etwas anderes sprechen, wenn Sie mögen. Sie sind doch berühmt dafür, immer etwas Kluges zu sagen, etwas, worüber man nachdenken kann. Zum Beispiel würde es mich interessieren, ob Sie sich gelegentlich schämen.«

»Ich schäme mich jeden Tag«, sagte Loderer.

»Mit Grund – oder ist das so eine Art Angewohnheit von Ihnen?«

»An die Scham kann sich niemand gewöhnen, das zeichnet sie aus.«

»Ich schäme mich nie«, meinte Bossdorf. »Ich sage immer: Das schlechte Gewissen macht sich jeder selbst. Also habe ich beschlossen, mir ein gutes Gewissen zu machen.«

»Das hat aber nichts mit Scham zu tun.« Loderer trank einen Schluck aus dem Papierbecher, und merkwürdigerweise schmeckte ihm der Kaffee darin besser als aus jeder Tasse.

»Sondern?«

»Sondern was?«

»Sie sind nicht bei der Sache, Herr Loderer. Sie wollten mir doch was zu denken geben, bevor ich mein Tagwerk angehe. Was ist denn das Charakteristische am Schamgefühl – und kann man denn ohne Schamgefühl ein schlechtes Gewissen haben?«

»Die Scham hat keinen Spiegel mehr in dieser Gesellschaft«, sagte Loderer. »Und wenn die Leute nicht mehr in den Spiegel schauen können, dann haben sie auch keine Scham mehr. Niemand will mehr wissen, was er falsch macht. Niemand lässt sich etwas sagen.«

»Versteh zwar kein Wort, Kollege, aber gut gesagt – muss ich sagen.«

»Und das Schamlose zeichnet sich dadurch aus, dass es konkurrenzlos ist und unbegrenzt.«

»Noch einen Kaffee, Kollege?«

»Und manche Menschen haben ein schlechtes Gewissen, weil sie etwas Schlechtes gemacht haben.«

»Ja«, sagte Bossdorf, »die Welt ist schlecht, und wir reden sie uns gut, aber: Die Menschen können tun und lassen, was sie wollen, Kollege, und das gilt auch für Sie und mich. Was machen Sie denn abends, wenn Sie nach Hause kommen, und niemand ist da?«

»Sie fehlt mir«, sagte Loderer, »ich warte.«

»Aber sie kommt nicht mehr, Kollege. Worauf warten Sie denn? Leben Sie! Das Leben ist jetzt. Auch wenn es nicht alles gibt in diesem Leben, aber Milch und Zucker gibt es genug, Loderer. Also prost und tschüss. Die Arbeit wartet, viel zu tun heute. Sie auch?«

»Dr. House hat gesagt: ›Die einzige Legitimation für Handeln ist, dass man davon überzeugt ist, das Richtige zu tun.‹«

Bossdorf war schon ein paar Schritte gegangen, drehte sich noch einmal um und fragte: »Wer ist Dr. House?«

»Ein Arzt«, sagte Loderer. »Der Beste. Er spielt in einer Fernsehserie.«

»Und warum ist er der beste Arzt?«

»Weil er den Menschen sagt, dass sie sterben.«

»Das wissen wir auch ohne ihn, Kollege.«

»Aber Dr. House sagt den Menschen, warum sie sterben. Warum zum Beispiel Sie sterben. Ich habe viel von ihm gelernt, Herr Bossdorf.«

»Loderer, man weiss bei Ihnen nie so recht, ob man lachen oder sich vor Ihnen fürchten soll. Aber ehrlich gesagt: Manchmal machen Sie mir Angst. Sie brauchen eine Auszeit, Kollege. Sie sehen furchtbar aus, obwohl Sie doch jetzt Kaffee getrunken haben, und sogar mit Milch und Zucker drin. Oder besser noch: Suchen Sie sich doch einfach wieder eine Frau.«

Der Briefkasten war vollgesteckt mit Flyern, die Loderer sofort entsorgte, mit Ausnahme der Lidl-Prospekte. Er blätterte sie durch, jede Woche. Am Dienstag gab es günstige Shorts, Badetücher und Sandalen, am Donnerstag ein feuerrotes Navigationssystem und Sticks, die angeblich unverwüstlich waren. Seine Frau war jeden Tag unterwegs gewesen, auf Schnäppchenjagd, und wenn er nach Hause kam, zeigte sie ihm ihre Beute. Jeans für zwei Euro, zweihundert Papierteller für 99 Cent, Nahrung. Sie hatten drei Kühlschränke, und weil das nicht reichte, hatte sie auch die Terrasse in ein Vorratslager umfunktioniert, und wenn er abends draussen eine Zigarette rauchen und ein bisschen hin und her gehen wollte, musste er sich durch aufgestapelte Sixpacks drängeln und Pflanzen, die überall herumstanden.

Nach ihrem Tod hatte er die Wohnung sofort verkauft und sich im gleichen Häuserblock ein Zweizimmerapartment gemietet. Die Terrasse war kleiner, aber unverstellt, genügend Platz also, wenn er eine Zigarette rauchen und dabei hin und her gehen wollte.

Er hatte nie viel geredet zu Hause, und wie oft hatte sie deshalb mit ihm geschimpft. Aber dass er ihre Worte brauchte, das hatte sie gespürt, und manchmal sprach sie mit ihm so lange, bis seine steinharte Muskulatur sich löste und sein Kopf von allen Gedanken befreit wurde – und er hatte fast nur schwere Gedanken.

»Du denkst zu viel, Filip. Du bist nicht da. Wo bist du, Mann?«

»Auch der Kopf ist ein Ort, wo man sein kann«, sagte er, »obwohl, es ist nicht sehr bequem dort.«

Es waren furchtbare Bilder, die ihn quälten und bedrohten. Ihre Diagnose war hoffnungslos. Vorsichtig legte sie sich zu ihm hin und streichelte seinen Kopf. Seine Haare schmerzten. Sie sagte seinen Namen. Wenn sie »Filip« sagte, dann spürte er, dass er gemeint war. Das spürte er nur bei ihr. Aber manchmal war seine Haut so angespannt, dass er ihren Fingern zuschaute, als ob sie einen fremden Körper berührten. Dann presste er die Augen zu.

»Du siehst alles zu schwarz. Filip. Wir leben jetzt. Du und ich. Wir leben!«

»Ja.« Wenn sie mit ihm sprach, dann hörte er nur zu, minutenlang, und manchmal sagte er »ja«. Aber je näher der Zeitpunkt kam, desto quälender wurden seine Gedanken.

»Das Leben ist doch etwas Wunderbares«, sagte sie. »Du bist mein Mann. Du bist alles für mich. Du bist mein Leben. Und solange ich lebe, bist du da, mein Mann.«

»Ich bin alt«, sagte er.

»Deine Haut ist ganz jung.«

Seine Haut log. Sie war straff. Aber dahinter bröckelten die Knochen. Die Haut umspannte nur seinen Zerfall. »Nichts geht mehr bei mir«, sagte er. »Ohne dich geht es nicht.«

»Entspann dich.«

»Ich bin so müde.«

»Wir sind beide müde, Mann.«

»Ja, Frau«, sagte er, und trotzdem stand er manchmal wieder auf. Weil er zu müde war, um zu schlafen. Und weil er warten wollte, bis sie eingeschlafen war. Dann legte er sich zu ihr und schaute in ihr Gesicht, in dieses wunderschöne Gesicht. Sie war sein Mensch. Und er war ihr Mensch. Und wer war er jetzt?

Zeit, in Kneipen zu gehen, hatte Loderer nicht. Und Lust, in Discos zu gehen, hatte er schon Mitte zwanzig nie gehabt. In Bars fühlte er sich lächerlich, und wenn es schön war, wenn es heiss war, wenn sich die Leute draussen hinsetzten, in Parks, in Strassencafés, dann fühlte er sich völlig fehl am Platz. Ich passe nicht zu gutem Wetter, dachte er und setzte sich an den Computer, wie fast jede Nacht. leute.com: Er war zufällig auf diese Communityseite gestossen und nach ein paar Klicks hängengeblieben, obwohl es da offensichtlich nicht das gab, was er brauchte und suchte: Sex. Nie mehr wollte er sich binden, nie mehr Gefühle haben für eine Frau, nie mehr leiden, nie mehr verletzt und verlassen werden. Also suchte er Sex und annoncierte auf einschlägigen Sites. leute.com aber war eine Plattform für Männer und Frauen, die sich über ihre Haustiere unterhalten wollten, im Gästebuch Urlaubsgrüsse von wildfremden Menschen sammelten und von einer Administration beaufsichtigt wurden, die keinerlei Unanständigkeiten duldete. Entsprechend lange hatte er sich überlegt, welches Profil er sich geben sollte, um nicht sofort gelöscht zu werden. Letztlich entschied er sich für den Nickname Controller, und zu seiner Person notierte er: »Ich bin neugierig und gierig, geistreich und reich, und ich interessiere mich für Politik, Fussball und Sex.« Damit war er wohl an die äusserste Grenze dessen gegangen, was die Communitymanager noch dulden mochten, und tatsächlich meldete sich schon kurze Zeit nach Freischaltung seines Profils eine Frau, die ihm auf Anfrage auch sofort ein Foto schickte: halbgeöffnete, volle Lippen und ein Augenkontakt, der unmissverständlich war. Er schrieb ihr: »Bei dir könnte ich sofort auf einschlägige Gedanken kommen.«

Ihre Antwort: »Na ja, Schlagseiten haben wir alle.«

Er reagierte wie auf Knopfdruck: »Frauen versohle ich am liebsten den Hintern. Schickst du mir ein Foto von deinem Arsch?«

»Bist du einer, der sich durchs Leben schlagen muss, oder hast du noch eine Hand frei?«, fragte sie ihn einen Tag später und fügte hinzu: »Wenn du noch eine Hand freihaben solltest, dann kannst du mir adieu winken. Denn einen Schläger brauch ich nicht.«

Es gab auch hilflose Reaktionen auf seine – zugegebenermassen – nicht sehr niveauvolle Anzeige. Mehrere Damen diversen Alters wollten von ihm wissen, was er unter »grosszügig« verstehe und ob er »notgeil« sei. Falls ja, gebe es dafür entsprechende Orte, und leute.com sei kein solcher Ort. Und natürlich teilten ihm auch etliche Frauen mit, dass sie nicht käuflich seien und sein Profil zwar kein Beweis dafür sei, dass er reich sei, ganz sicher aber, dass er nicht geistreich sei. Andere Frauen, denen er kurze erste Botschaften zukommen liess, antworteten mit der Formel: »Ohne Foto keine Antwort.« Obwohl die Mehrheit der weiblichen leute.com selbst kein Bild ins Netz stellen mochte. Stattdessen sah er bei den Usern die immer gleichen Schattenbilder. Männliche Silhouetten, weibliche Silhouetten mit Nicknames und Profilen, die ihn fast ausnahmslos abschreckten. Es gab viele Reisefreudige, Naturverbundene, Abenteuerlustige und immer wieder Frauen, die festgestellt haben wollten, dass sie schon vergeben waren, dass sie gar nichts suchten oder jedenfalls nicht das, was er suchte. »Carpe diem« war ein sehr beliebtes Motto, er hatte sein Profil anders überschrieben: »Sex ist im Kopf – und darum suche ich einen intelligenten Kopf.« Aussichtslos schien es ihm nicht, gab es doch viele Frauen, die behaupteten: »Ich suche nicht, ich werde gefunden.«

Und dann, nach einer langen Nacht, starrte er plötzlich wie hypnotisiert auf eine weibliche Silhouette. Ihr Name: Frau Male. »Lebenslustige Wassermannfrau sucht männliche oder weibliche Begleitung für die Kulturtage in Düsseldorf.«

Er schrieb: »Liebe Wassermannfrau. Kultur interessiert mich überhaupt nicht. Aber Psychologen sagen, dass immer etwas fehlt. Was fehlt dir sonst noch, ausser Kultur?«

Frau Male war online und antwortete sofort: »Hallo, was fehlt mir? Geduld und nette Menschen, die morgen Abend Lust haben, mit mir in Düsseldorf die Lange Nacht der Museen zu verbringen. Und was fehlt dir? Liebe Grüsse, Frau Male.«

»Liebe Frau Male, ich bin kein netter Mensch. Und morgen bin ich nicht in Düsseldorf und übermorgen vermutlich auch nicht. Und lange Nächte verbringe ich nicht in Museen. Und vermutlich fehlt es mir an allem, was froh macht. Denn meistens verbringe ich meine langen Nächte auf einem Berliner Sofa, erschöpft und ideenlos. Was aber immerhin passt: Ungeduldig bin ich auch. Kennst du das Warten auf den nächsten Augenblick? Aber immer ist es so, dass du im nächsten Augenblick spürst, dass du den letzten verpasst hast. Im Übrigen fehlt mir jede Lockerheit im Augenblick. Und wohl auch im nächsten. Grüsse vom Controller.«

Ihre Antwort überzeugte ihn überhaupt nicht. Schnell und oberflächlich hatte sie geschrieben: »Was erschöpft dich denn so, dass du nicht mehr lachst und auf der Couch rumliegen musst? Wo ist deine Lockerheit denn klebengeblieben? Oder bist du von Natur aus Pessimist? Deine Antwort würde mich interessieren. Ich glaube schon, dass ich das Warten kenne, und da ich sehr ungeduldig bin, versuche ich die Zeit des Wartens durch etwas anderes auszufüllen. Vielleicht bis bald, Frau Male.«

Wartezeiten mit »etwas anderem« ausfüllen, wie originell. Und eine Lockerheit, die »klebengeblieben« ist. Und hatte er gesagt, dass er nicht mehr lache? Und gingen die guten Menschen ins Museum, und die schlechten lagen auf Sofas rum? Und schliesslich die Floskel »von Natur aus Pessimist«. Nein, er würde nicht mehr schreiben. Und schrieb Minuten später dann doch: »Frau Male, das Leben ist kurz und wird immer kürzer. Ich funktioniere, aber ich lebe nicht mehr. Ich rede nur noch. Ich bin wie eine Schallwelle. Du hörst von mir, obwohl es mich schon nicht mehr gibt. Aber vielleicht kannst du das gut, leben und lebendig sein? Grüsse vom Controller.«

»Herr Controller, lebendig zu sein gelingt mir meistens ganz gut, wobei es auch eine Kehrseite gibt. Zum Beispiel jetzt könnte ich jemanden zum Anlehnen gebrauchen. Hast du so eine Person, oder machst du das alles mit dir allein aus?«

Er war todmüde und schrieb: »Die Vorstellung, mich jetzt an dich zu lehnen – nicht schlecht, Frau Male. Ich schreib dir morgen wieder.«

»Monsieur Kranich?«

»Oui, Madame Kanzlerin.«

»Ich habe wenig geschlafen. Und ich habe schlechte Träume gehabt. Ich mag diese Kurzflüge nicht. Und vor allem, Kranich, ich mag keine kurzen Männer. Chirac war ein grosser Mann. Vielleicht kein ganz so grosser Politiker, aber er war ein grosser Mann, und ich glaube, dass ich einen ganz guten Draht zu ihm hatte. Wenn Sie sich die grosse Politik anschauen, Herr Kranich, und wenn Sie darüber hinaus noch ein gewisses kulturelles Interesse haben sollten, dann können Sie die internationale Politik durchaus mit einem Konzert vergleichen. Wobei ich zugeben muss, dass nur sehr selten ein Sir Rattle am Dirigentenpult steht, sondern vielmehr viele kleine Konzertmeister mehr oder weniger gelungene Orchesterproben abhalten und man also leider in aller Regel von Katzenmusik reden muss. Wissen Sie überhaupt, woher der Ausdruck Katzenmusik kommt?«

»Nein, Madame.«

»Ihre Ironie ist völlig unangebracht. Und das nicht zuletzt deshalb, weil Ironie bekanntlich nicht zu Ihren herausragenden Qualitäten gehört. Aber so ist das ja bei vielen Schweizern, was mich wieder einmal fragen lässt, warum ich ausgerechnet einen Schweizer als persönlichen Berater engagiert habe. Wissen Sie, warum?«

»Sie schätzen neutrale Positionen.«

»Unsinn, Kranich. Weder sind die Schweizer neutral, noch schätze ich neutrale Positionen. Ich schätze es, wenn jemand Position bezieht, also eben nicht neutral ist. Dies allerdings nur, wenn es auch begründet ist. Und im Gegensatz zu meinem Ruf laviere ich auch nicht, sondern ich wäge ab. In der Politik werden Gewichte gestemmt, Herr Kranich, und glauben Sie mir: Meistens sind die zu stemmenden Gewichte erheblich grösser als das Gewicht derjenigen, die sie stemmen sollten. Wo war ich stehengeblieben, Schweizer Kranich?«

»Bei der Katzenmusik.«

»Ach ja, aber sagen Sie mir doch bitte vorher, bin ich denn stehengeblieben als Kanzlerin, oder habe ich Fortschritte gemacht in diesen Jahren?«

»Menschlich oder politisch?«

»Herr Kranich, über das Menschsein wollen wir vielleicht ein andermal reden.«

»Politisch sagen alle Umfragen, dass Sie …«

»Und was sagen Sie?«

»Die Situation ist labil. Sie dominieren, Frau Kanzlerin, aber die Frage stellt sich: wen?«

»Manchmal, Herr Kranich, können Sie sogar richtig intelligente Sätze sagen und mich darum sicher noch einmal daran erinnern, was ich Ihnen eigentlich erzählen wollte.«

»Sie waren in Paris, Sie haben Nicolas Sarkozy getroffen, und das hat Sie an Katzenmusik erinnert.«

»So ist es, Kranich, und dass es zwischen schlechten Träumen und einem Parisbesuch bei Monsieur Sarkozy einen Kausalzusammenhang gibt, das dürfte Ihnen nicht verschlossen geblieben sein. Es war ein wunderschöner Frühsommerabend, Monsieur Kranich. Aber leider musste ich mich dabei überwiegend mit einem dieser zu kurz geratenen Männer unterhalten, die ich, wie gesagt, nicht leiden mag. Nicolas ist an sich ja ein schöner Name, aber eigentlich ist er ein Nikolaus. Er möchte gern ein Sankt Nikolaus sein, einer, der mit Säcken voller Geschenke in erwartungsfrohe Kinderaugen blickt. Aber ich sehe immer nur seine Rute. Er möchte gern überraschen, aber er ist nur unberechenbar. Kranich, ich spüre, dass Sie sich unwohl fühlen. Und exakt das ist das Gefühl, das ich bei diesem Monsieur immer habe. Kein anderer Politiker ist so ungemütlich wie dieser Sankt Nikolaus.«

»Frau Kanzlerin, Sie wollten im Zusammenhang mit internationaler Politik etwas über Katzenmusik sagen.«

»18. Jahrhundert, Kranich. Der Ausdruck stammt aus dieser Zeit. Da haben Studenten mit übelklingender Musik bei jenen Leuten ein Ständchen gegeben, die sie verhöhnen wollten. Ich habe zwar nicht in Moskau studiert, wie dieser de la Mare behauptet hat, aber so viel Russisch kann ich, um sagen zu können: Die Russen lieben solche Katzenkonzerte. Putin hat dieses verächtliche Gesicht, und sein Nachfolger hat es auch, und, Kranich, dann spricht man mit Leuten, die im Grunde nur signalisieren wollen, dass sie uns nicht ernst nehmen. Die Russen haben dafür mittlerweile auch wieder eine plausible Erklärung: Sie sind wieder stark. Sie dürfen wieder arrogant auftreten und müssen das vielleicht sogar auch. Wobei Arroganz prinzipiell eine etwas lächerliche Haltung ist. Putins Arroganz hat mich nie gestört. Weil er ein ernsthafter Mann ist. Schröder hat ihn geküsst. Das mache ich nicht. Aber er hat meinen Respekt. Auch wenn man immer auf der Hut sein muss vor ihm. Der Mann hat Stil. Bei Monsieur Nikolaus aber, Monsieur Kranich, bei diesem Herrn ist diese Arroganz nur peinlich.«

»Frau Kanzlerin, was macht Sarko denn falsch?«

»Er rechnet und rechnet, Kranich, und er kennt sogar die dafür notwendigen Formeln. Er rechnet mit den Amerikanern, er rechnet mit den Russen, er rechnet mit Ghadhafi, er rechnet mit Europa, und er rechnet sogar mit uns Deutschen. Aber vor allem, Kranich, vor allem rechnet er mit sich selbst. Und das ist seine grösste Unbekannte. Der Mann kennt sich nicht. Er ist sich selbst ein Rätsel, und wüsste er das, könnte er es vielleicht sogar lösen, denn dumm ist er nicht. Nur leider im Augenblick einer der grössten Katzenmusikdirigenten, die wir in Europa haben, und dazu kommt, dass ich sein Parfum nicht mag.«

»Wie riecht er denn?«, wollte Kranich wissen, weil er jetzt wirklich neugierig war.

»Er will männlich riechen, Kranich, und das ist das Schlimmste. Es hätte mich nicht gestört, wenn er schweissüberströmt in den Speisesaal gekommen wäre, weil er vorher noch joggen musste. Aber nachdem er gerannt war – und er rennt immer, wobei meist unklar bleibt, hinter was er eigentlich her ist –, hat er sich wohl in seinem Hundert-Quadratmeter-Badezimmer gepudert, geschminkt und anschliessend mit einem Parfum besprüht, das schwer zu beschreiben ist. Würde Lidl so ein Parfum verkaufen, würde ›männlich herb‹ draufstehen. Aber vermutlich hat es Gaultier gemixt, und es heisst agressif. Wissen Sie, Kranich, manchmal denke ich, dass Nicolas gar kein Nikolaus ist und also auch nicht verkleidet. Er ist eine Kopie.«

»Und wen kopiert er, Frau Kanzlerin?«

»Louis de Funès, Kranich. Ist Ihnen das noch nie aufgefallen? Diese kleine Wichtigkeit, die er hat, wenn er sich aufspielt, immer in Bewegung, immer Agilität mimend, immer alles im Blick, alles unter Kontrolle, immer dynamisch: Kranich, der beisst sogar dynamisch in eine Banane und merkt nicht, dass er dabei alle Umstehenden besudelt. Die Psychologen würden sagen: aktionistisch, aber das geht jetzt vielleicht etwas weit.«

»Ich kenne diesen de Funès nicht.«

»Dazu sind Sie zu jung, Kranich, mit achtunddreissig können Sie diesen Komiker – ich meine de Funès – nicht kennen. Wichtig für Sie ist nur, zu wissen, dass Monsieur Sarko immer auf den Zehenspitzen wippt und sich, wie gesagt, wie ein Mann benimmt, der, rein biologisch gesehen, etwas zu kurz gekommen ist.«

Ein Telefonanruf störte ihre Unterhaltung. Die Kanzlerin giftete in den Hörer: »Jetzt quietschen Sie mal nicht so rum, und das auch noch derart unqualifiziert, also ich möchte schon bitten …«, dann legte sie den Hörer wortlos auf, stellte sich vor einen USM-Haller-Möbelschrank, überlegte, öffnete eine Schublade und schloss sie wieder. Kranich wusste, dass sie sich jetzt gern einen kleinen Schluck gegönnt hätte, sich aber zu beherrschen wusste und er sie abzulenken hatte: »Und es gibt gar nichts, was Sie mit Herrn Sarko verbindet, nichts, was Sie an ihm mögen?«

»Es gibt die deutsch-französische Freundschaft, Kranich, es gibt die hervorragenden transatlantischen Beziehungen, Kranich, es gibt die strategische Partnerschaft mit Russland, Kranich, es gibt die gutnachbarschaftlichen Beziehungen zu Österreich und selbst der Schweiz, Kranich, wobei wir jetzt das Thema Steuerhinterziehung nicht weiter vertiefen wollen, es gibt die wachsende Bedeutung guter Beziehungen zu China oder Pakistan – kurz gesagt: Es gibt vieles, was Nationen und Völker verbindet, weil dahinter ein Interesse steckt. Aber Monsieur Sarko interessiert mich persönlich überhaupt nicht. Wenn, dann verbindet uns am ehesten noch der politische Ehrgeiz, wobei ich mich da wohl mit ihm nicht messen kann: Ich war schon froh, dass er während unserer Unterhaltung beim Dinner nicht platzte vor Ehrgeiz, weil dann Frankreich keine Ehre mehr gehabt hätte und nur der Geiz eines Mannes geblieben wäre, der im Prinzip nicht teilen will – mit niemandem. Was eine schlechte Voraussetzung ist, wenn man Politik machen möchte. Dazu kommt, wie erwähnt, sein Parfum, das eine Dynamik versprüht, die Europa wirklich nicht gebrauchen kann. Wobei, Kranich, wir gehen durchaus optimistisch an diese Sache. Wir sind als Politiker zwar nicht verpflichtet, die Menschen glücklich zu machen, aber Europa sieht das anders. Es gibt eine Berliner Erklärung – mit deren Abfassung ich im Übrigen nichts zu tun habe –, in der ausdrücklich steht, dass Europa die Menschen glücklich machen will. Und Sarko tut das Seine dafür, ich das Meine.«

»Sie mögen ihn wirklich nicht«, stellte Kranich nüchtern fest.

»Herr Kranich, ich kann doch nicht mit jedem, mit dem ich mal essen war, rein beruflich bedingt, intim werden, nur damit seine Verdauung besser funktioniert.«

Kranich kannte ihre vulgäre Seite gut und spürte, dass sie ihn in diesem Augenblick ganz genau beobachtete. Er versuchte, ein leeres Gesicht zu zeigen. Eine Projektionsfläche. Dafür hatte sie ihn wohl engagiert. Sie brauchte keinen persönlichen Berater, sondern einen Puffer, an dem sie sich widerspruchslos austoben konnte. Doch dass er allen Provokationen bislang widerstehen konnte, imponierte ihr und reizte sie.

»Kranich, was meinen Sie? Möchten Sie intim sein mit einem, der auf Bananen beisst, als wären es Betonbonbons?«

»Nein«, sagte Kranich.

»Mit Ihnen wäre das allerdings etwas anderes«, sagte die Kanzlerin, und Kranich wunderte sich. »Weil Sie diesen Anspruch nicht haben, Kranich, weil Sie sozusagen das Gegenteil dessen sind, was man sich – auch als Frau – in intimen Momenten erwartet. Und das gilt noch viel mehr für jene Augenblicke, die mögliche persönliche Annäherungen ja bekanntlich einleiten, also kurz gesagt: Sie haben mir noch nie den Appetit verdorben, Kranich. Wobei sich andererseits aber auch kaum behaupten lässt, dass Sie ein Appetizer sind. Und wenn Sie das jetzt unhöflich finden, dann sagen Sie es bitte.«

Kranich sagte: »Ich finde, dass Sie das Recht haben, Abstand zu wahren.«

»Abstand ist Anstand, sage ich immer«, sagte die Kanzlerin und wollte den Raum verlassen. Aber dann sah er in ihren Augen eine kleine Unsicherheit.

»Mein Gefühl sagt mir, dass Sie mir eigentlich noch etwas sagen möchten, Frau Kanzlerin.«

»Ihre Gefühle in allen Ehren, Herr Kranich, aber wenn ich etwas sagen will, dann tue ich das auch ohne spezielle Nachfrage. Vielmehr wollte ich Sie schon lange fragen, ob Sie das denn überhaupt nicht stört, mich jeden Tag als Frau Kanzlerin anzureden. Sie sind Schweizer, und Schweizer haben doch keine solchen Anreden für ihre Obrigkeiten, falls Schweizer überhaupt Obrigkeiten haben.«

»Bei uns ist das Volk der Souverän«, sagte Kranich, »aber höflich zu sein fällt uns nicht schwer, und das gilt auch für mich. Und wenn ich ›Frau Kanzlerin‹ sage, dann ist das korrekt, und korrekt heisst nicht unterwürfig, und darum stört es mich auch nicht, wenn ich Ihnen ›Frau Kanzlerin‹ sage. ›Meine Kanzlerin‹ allerdings, das würde ich nie sagen.«

»Bleiben Sie bei ›Frau Kanzlerin‹, Kranich, bleiben Sie korrekt. Die Staats- und Regierungschefs duzen sich ja mittlerweile fast alle, was ich einigermassen unangemessen finde, was aber immer noch nicht die Stufe der Peinlichkeit erreicht, die mir im letzten Wahlkampf ein paar Berater – Sie waren da leider noch nicht an meiner Seite – eingebrockt haben. Riesige Säle mit riesigen Lautsprechern und einer riesigen Leinwand, auf der man eine riesige Kanzlerin sah, die wie ein Rockstar empfangen wurde. Kranich, die Stones kannte man selbst in der DDR. Und trotzdem habe ich mich in meinem Leben selten so unangenehm berührt gefühlt wie bei diesen aufgepeppten Auftritten. Wie auf dem Laufsteg. Ein Sternchen, eine Flocke, frivol ausgeleuchtet von einer Lasershow, die mich als Regentin blamierte und quasi auf eine Stufe stellte mit Paris Hilton. Ich war steif wie ein Brett, dachte an Marschmusik und marschierte. So viel Trotz muss manchmal sein, Kranich.«

Einen Moment lang überlegte sich Kranich, ob er etwas offensiv werden und die Kanzlerin beispielsweise fragen sollte, ob sein Eindruck stimme, dass sie in jüngster Zeit mit manchen Politikern flirtete oder zumindest gelegentlich diesen Eindruck erweckte. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hatte in einem Kommentar (Damenwahl) geschrieben, der Instinkt der Kanzlerin habe sie in den Anfängen ihrer Amtszeit daran gehindert, die Frauenkarte zu ziehen, um sich so abzugrenzen von ihrem zigarrenrauchenden Vorgänger Schröder. Doch die Kanzlerin arbeite an ihrem Bild, sei sozusagen auf dem Weg dazu, eine Frau zu werden. Tatsächlich war auch Kranich verblüfft, als er bei einer Morgenbesprechung auf der Titelseite von Bild direkt in ein tief ausgeschnittenes Dekolleté geblickt hatte – es gehörte der Kanzlerin. Vorgezeigt bei der Eröffnung der Osloer Oper. Kranich schaute die Kanzlerin an und erweckte sofort ihr Misstrauen.

»Nehmen Sie Drogen, Kranich?«

»Nein, warum?«

»Sie haben schon wieder glasige Augen.«

»Ich habe ebenfalls schlecht geschlafen, Frau Kanzlerin, und auch wenn ich mich an meine Träume nicht mehr erinnern kann – es waren ebenfalls keine guten.«

»Was ich Ihnen jetzt sage, Kranich, bleibt unter uns – was insofern eine müssige Einleitung ist, weil wir immer unter uns sind, wenn wir unter uns sind, Kranich, aber darauf kann ich mich ja verlassen. Es gibt bei dieser erwähnten Katzenmusik noch einen ganz besonders falschen Ton, der mir zu denken gibt.«

Die Kanzlerin wirkte plötzlich nervös und ein bisschen fahrig. »Der Nicolas«, fuhr sie fort, »hat mich beim Nachtisch, der übrigens sehr lecker war, über einen Umstand informiert, der möglicherweise besorgniserregend ist. Und darum bitte ich Sie jetzt, den Raum zu verlassen, weil ich mich ganz gern vergewissern und darum ein Gespräch mit dem geschätzten Herrn Brack führen möchte. Und möglicherweise noch ein weiteres Gespräch mit Herrn Puller.«

Jens Brack war der Chef des Bundeskriminalamtes BKA, Martin Puller der Chef des Bundesnachrichtendienstes BND.

»Machen Sie sich keinen Kopf, Kranich«, rief die Kanzlerin noch, bevor er den Raum verliess. »Die Terroristen können froh sein, dass es so viele Terrorbekämpfer gibt – man hätte sie sonst schon längst vergessen. Also kein Grund zur Beunruhigung, schlafen Sie sich aus, damit Sie mir nicht mehr so glasig kommen. Herr Kranich, so schöne blaue Augen hat nicht jeder.« Sagte sie, und es zwitscherte. Seit ein paar Wochen hatte sie einen neuen SMS-Signalton und freute sich kindisch darüber, wenn die Amsel pfiff oder die Lerche oder die Meise – Kranich kannte sich da nicht aus. Ein Kuckuck jedenfalls war es nicht. Kranich bemerkte, dass die Kanzlerin verblüfft war.

»Sagen Sie mal, Herr Kranich: Passt die Farbe Grün zu mir?«

»Grün passt zu allen Frauen, die Macht haben.«

»Herr Kranich, diese Antwort befriedigt mich darum nicht, weil ich mir ja nicht zufällig mehrere grüne Kostüme habe fertigen lassen. Das können Sie mir schon attestieren, dass ich mir gelegentlich was denke, aber vielleicht bekomme ich von Ihnen eine Antwort, wenn ich die Frage persönlich stelle und Sie, wenn Sie erlauben, also frage: Johannes, passt Grün zu mir?«

»Frau Kanzlerin, Grün ist grundsätzlich eine giftige Farbe.«

»Danke, Johannes.«

»Aber man sagt auch, es grünt. Die Natur ist grün, manchmal. Und grün soll die Hoffnung sein.«

»Kranich, ja oder nein?«

»Frau Kanzlerin, nein. Grün macht Sie bleich.«

»Und trotzdem werde ich mich heute nicht mehr umziehen, mein Lieber, auch wenn Sie offenbar nicht der Einzige sind, der sich modische Gedanken macht.« Sie blieb mitten im Raum stehen, fasste sich an die Nase, dann schaute sie ihm direkt in die Augen. »Herr Kranich, haben Sie manchmal Angst?«

Kranich überlegte nur kurz. »Nein«, sagte er.

»Ich schon, Kranich«, erwiderte sie.

»Herr Brack, mir ist da was zu Ohren gekommen.«

»Frau Kanzlerin, worum geht es?«

»Dem Bundeskriminalamt liegen – zufälligerweise – keine Erkenntnisse vor, aus denen man schliessen könnte oder sogar müsste, dass ein Attentat auf ein hochrangiges Mitglied dieser Regierung unmittelbar bevorsteht?«

»Über solche Erkenntnisse verfügt das BKA derzeit nicht, Frau Kanzlerin, aber ich wäre sehr froh, wenn Sie mir Ihre Quelle anvertrauen würden.«

»Es waren, zugegebenermassen, nicht sehr präzise Äusserungen des französischen Präsidenten, mit dem ich gestern sprach, die mich ein bisschen beunruhigt haben.«

»Was hat er konkret gesagt?«

»Herr Brack, ich schlage vor, dass wir das kurzfristig in kleinem Kreis besprechen. Passt es Ihnen morgen früh? Und wären Sie bitte so freundlich, Herrn Puller zu diesem Treffen einzuladen und natürlich auch den verehrten Herrn Kanzleramtsminister Haxer?«

Jens Brack reagierte sofort, trommelte seine Abteilungsleiter zusammen, informierte Auslandsgeheimdienstchef Martin Puller und setzte sich an sein Pult, das allen BKA-Normen entsprach und also vermutlich sogar schusssicher war. Seit acht Jahren leitete er jetzt das Bundeskriminalamt und konnte sich nicht erinnern, dass es so einen Vorfall je gegeben hatte. Die deutsche Kanzlerin ruft den BKA-Chef an, um ihm mitzuteilen, dass sie angeblich Kenntnis hat von Dingen, die, wenn schon, dieser BKA-Chef zu wissen hätte. Und, verdammt noch mal, was war das für eine Art und Weise? Da hocken zwei Staatschefs zusammen, fressen und saufen, und so nebenbei wird ein bisschen über Terrorismus geplaudert, und der französische Gockel gackert etwas, was ihm irgendein abenteuerlustiger Vertrauter gesteckt hatte – es war zum Kotzen.

Die Terrorbekämpfung hatte unterdessen ein Ausmass angenommen, das zumindest die Dimensionen des Pultes sprengte, an dem ein BKA-Chef sass, der weiss Gott andere Probleme zu bewältigen hätte. Brack liess sich von seiner Sekretärin, Frau Keller, mit seiner Frau verbinden. »Die nächste Woche gibt es mich nicht«, sagte er ihr, »und so Gott oder die Regierung es will, bleibt meine Abwesenheit in diesem Rahmen.«

Dann beauftragte er Frau Keller, umgehend Kontakt zu den einschlägigen französischen Sicherheitsbehörden herzustellen.

»Verdammt noch mal«, brüllte Brack, »was zum Teufel weiss ein französischer Präsident, was seine Dienste nicht wissen oder wissen und nicht kommunizieren? Und warum zum Teufel liegen diese Infos nicht längst auf meinem grauenhaften Schreibtisch? Bitte entsorgen Sie ihn endlich. Und, Frau Keller, ich brauche eine Übersetzerin, sofort. Und was ist mit Haxer, haben Sie ihn erreicht?«

»Der Herr Kanzleramtsminister hat heute Termine.«

»Frau Keller, Sie sind eine hervorragende Arbeitskraft. Sie sind meine Stütze, meine Lebensversicherung, mein Schutzengel, also organisieren Sie diesen Haxer, auch wenn er sich geheimnisvoller gibt als die Dienste, für die er angeblich verantwortlich ist. Aber, Frau Keller, verdammt noch mal, weil Sie wirklich die Beste sind, bringen Sie mir jetzt bitte einen Kaffee. Und dass diese Bitte absolut ungehörig ist, das weiss ich selbst, aber erstens brauche ich jetzt einen Kaffee, und zweitens leben wir alle in einer ungehörigen Welt. Danke.«

»Genosse Grimm, Tag, Genosse Engel, Tag, Genosse Pils, Tag, dann will ich mal gar nicht um den Brei herumreden und gleich auf den Punkt kommen, wenn ihr damit einverstanden seid.«

Finanzminister Kirk Ritz hatte sich für diese kurze Besprechung vorgenommen, keine Zeit zu haben und den entsprechenden Eindruck zu erwecken. Und er hatte die doppelte Dosis jenes Medikaments geschluckt, das angeblich helfen sollte, seinen Blutdruck zu senken. Wobei ihn die Laborwerte überhaupt nicht interessierten, von Belang schien ihm nur, dass ihm zu oft das Blut in den Kopf schoss und er sich dann rot wie eine Tomate fühlte. Und ein solcher Anblick sollte den Herren nicht vergönnt sein. Pils, der Parteichef, war politisch tot, Engel, der Umweltminister, mästete sich für das letzte Amtsjahr, um danach wohl in einen längeren Winterschlaf zu versacken, und Grimm, der Fraktionschef, hatte sich nach mehreren Herzinfarkten und Motorradunfällen angewöhnt, gelassen zu wirken. Kein übler Kerl, dachte Ritz, wirklich nicht. Aber mit Gelassenheit allein lässt sich nicht alles regeln.

»Edgar, Lothar, Karl-Heinz, oder wie es in gewissen Gegenden heisst: Liebe Leut, lasst uns ab sofort nur Wein trinken, den wir uns in aller Reinheit eingeschenkt haben. Klar ist, dass ich einen generellen Sparauftrag habe. Klar ist, dass dieser Sparkurs sowohl vom Kabinett als auch vom Bundestag in mehreren Beschlüssen konkretisiert worden ist. Und klar ist, dass die Kanzlerin keinen Zweifel daran lässt, dass sie am Ziel der Haushaltssanierung festhalten wird. Und zwar unter allen Umständen. Aber du, Karl-Heinz, vor allem du gehörst mittlerweile zu jenen Umständen, denen ich mich müssigerweise ausgesetzt sehe. Wir sitzen hier ungestört, jeder kann sagen, was er will, aber jeder muss auch wissen: Ich habe absolut keine Lust mehr, fast täglich in irgendeiner Journaille von Geld zu lesen, das ihr ausgeben wollt, das ich aber leider nicht habe.«

»Niemand hier im Raum, soweit ich sehe« – Pils blickte sich vorsichtig um –, »hat im Ernst die Absicht, dein Sparziel anzuzweifeln, lieber Kiki Ritz, oder gar zu sabotieren …«

»Stopp, Karl-Heinz, oder wenn wir uns schon bei den vertrauten Spitznamen ansprechen wollen: Stopp, KaHa, sag ich, und entschuldige mich für diese nicht unfreundlich gemeinte Unterbrechung, aber: Es ist nicht mein Sparziel, es geht um eine generelle politische Grundlinie dieser Koalition, und soweit ich informiert bin, gehört dazu auch die Sozialdemokratische Partei.«

»Also, Kiki Ritz, nun wollen wir mal etwas sorgfältiger umgehen mit diesen Pointierungen, die dir eigen sind und die auch mir – zugegebenermassen – nicht selten Freude bereiten. Trotzdem ist es eine Tatsache, dass sich auf Grundlage von Zahlen eines Finanzministers keine Wahlen gewinnen lassen. Und Tatsache ist auch, dass unsere politischen Gegner, diese Christentruppe, vor allem aber auch die Linke de la Mares, gewaltig Druck machen und …« Der Fraktionschef hustete, befeuchtete sich dann die Lippen, und Ritz dachte: Ich mag seinen Atem. Ich mag die Art und Weise, wie er atmet. Der Mann ist alt, hat vielleicht auch nicht mehr so viel Luft, aber er lässt den andern ihren Raum.

»Wie auch immer«, fuhr Grimm fort, »Vorwürfe sind hier völlig fehl am Platz, und für Panik gibt es keinen Grund. Der bayerische Löwe brüllt. Und auch die Opposition will, dass der Staat zurückgibt, was er genommen hat …«

Der Finanzminister fühlte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss, und feuerte zwei kurze Sätze ab: »Erstens, Genosse Grimm, hat der Staat kein Geld, das die Bürger zu Recht zurückfordern dürfen. Und zweitens: Wenn der Staat seinen Bürgern alles geben möchte, was er ihnen einmal genommen hat, dann gibt es diesen Staat nicht mehr.«

»Um sachlich zu werden«, sagte Engel, wie immer etwas zu munter und forsch, »nehmen wir den Klimaschutz. Nehmen wir das, was die Regierung an Geldern dafür fest zugesagt hat. Wir können den Leuten nicht sagen: Klimaschutz hat oberste Priorität, aber leider können wir uns diese Wichtigkeit nicht leisten. Und wir können den Leuten auch nicht sagen: Ihr habt immer weniger Netto in der Tasche, und der Staat muss dieses Netto noch kleiner machen, weil es zum Beispiel den Klimaschutz gibt. Wir haben es also mit Widersprüchen zu tun.«

Ritz stockte der Atem. »Widersprüchen widerspreche ich grundsätzlich nicht, lieber Lothar, und Zeit für Geplauder habe ich nicht. Es wäre also angebracht, auf einen Punkt zu kommen. Entweder machen wir vor der Wahl Steuergeschenke, oder wir machen solide Politik in der Hoffnung, dass der Wähler das honoriert. Es gibt ein Entweder, und es gibt ein Oder, und etwas anderes gibt es nicht, und ich will wissen, wie die Fraktion sich dazu verhält.«

Grimm vermisste seine Pfeife. Abgesehen davon, dass der Arzt ihm die Raucherei strikt verboten hatte, gab es in Deutschland seit Jahren eh nur noch einen einzigen bekennenden Pfeifenraucher: den Literaturnobelpreisträger, das schlechte Gewissen der Republik, mit sich selbst aber stets im Reinen und leider nicht davon abzuhalten, sich nach wie vor laut zur Sozialdemokratie zu bekennen, was Grimm ärgerte. »Wir werden nach dieser Wahl so oder so nicht mehr an der Regierung sein. Entscheidend ist also nur, welchen Eindruck unsere Partei hinterlässt, bei allen Widersprüchen, die es nun mal gibt, da hat Genosse Engel sicher recht. Persönlich bin ich für Steuersenkungen, Kiki – lange kannst du sowieso nicht mehr sparen.«

Es gibt nur wenige Menschen, die sich räuspern, um auf sich aufmerksam zu machen. Pils war so einer. »Auch wenn es nicht eigentlicher Inhalt dieses Gesprächs ist, möchte ich doch davor warnen, die kommende Wahl allzu salopp als verloren darzustellen, auch wenn das nur im engsten Kreis geschehen sollte. Wir alle sind keine Hellseher. Ich kenne meine Umfragewerte und die der Partei auch. Ich weiss, dass wir in einer beschissenen Situation sind, aber das sind andere auch. Der Unterschied ist nur, dass uns jetzt schon in die Nase sticht, was andere ein bisschen später auch riechen werden.«

»Ich glaube, das reicht für den Moment«, sagte der Finanzminister. »Das Treffen hier hat sich ja eher zufällig ergeben, konkrete Ergebnisse waren nicht zu erwarten. Trotzdem möchte ich mit aller Deutlichkeit festgestellt haben, dass Geld und Geist gelegentlich eine gewisse Symbiose eingehen – was äusserst fruchtbar sein kann – und dass ich darum überhaupt keinen Grund habe, geldverschwenderische Gedanken zu hegen. Meine Position ist allen bekannt, und alle wissen, dass im nächsten Jahr keine Politik mehr gemacht wird, die diesen Namen auch verdient. Ihr könnt gerne Wahlkampf machen, meinetwegen auch auf meinem Buckel, aber mein Job ist es, den Laden hier zusammenzuhalten.«

Wurde nicht immer gesagt, er, Ritz, neige dazu, gewisse in der Politik übliche Dinge einfach zu persönlich zu nehmen? »Genossen«, sagte Ritz, »Persönlichkeiten in der Politik sind rar, das müsstet ihr eigentlich am besten wissen. Aber ich will jetzt nicht auf psychologische Abwege geraten und abschliessend nur sagen: In meiner Funktion bin ich austauschbar. Es könnte schon bald einen neuen Finanzminister geben. Meine Person hat jedoch die Eigenart, dass sie in ihrer Funktion nicht völlig aufgeht. Es gibt mich auch unabhängig davon, und damit müsst ihr leben. Bei dieser Gelegenheit, Edgar, was ist an diesen Gerüchten dran, von denen ich höre?«

»Es gibt viele Gerüchte, verdammt viele Gerüchte«, sagte der Fraktionsschef, hütete sich aber, Ritz als Dummkopf erscheinen zu lassen. Also fügte er hinzu: »Niemand in der SPD denkt derzeit ernsthaft daran, die Koalition vorzeitig platzen zu lassen.«

»Frau Nahelinks auch nicht?«, fragte Ritz. »Sie wäre ja immerhin eine Politikerin, die gelegentlich Dinge treibt, die kurze Zeit später auch unseren Vorsitzenden umtreiben.«

Pils verwahrte sich ebenso erwartungsgemäss wie überflüssigerweise gegen Unterstellungen aller Art und sagte dann abrupt: »Die Kanzlerin wartet nur auf den richtigen Moment. Wenn sie die SPD jetzt aus der Koalition entlässt und sich Mehrheiten bei Liberalen und Grünen beschafft, dann könnte sie diese Konstellation schon erproben und in gewisser Weise installieren, bevor der Wähler überhaupt gesprochen hat.«

»Viel Zeit habe ich, wie gesagt, wirklich nicht«, sagte Ritz, »und jetzt ist der Moment gekommen, wo ich gar keine Zeit mehr habe. Also danke, KaHa, danke, Edgar, danke, Lothar, und ich hoffe doch, dass es in unserer Partei keine Genossen gibt, die in Luxemburg ein Konto haben. Dummerweise gibt es auch solche Gerüchte.«

»Davon weiss ich nichts«, sagte Pils, und als Ritz sich umschaute, sah er lauter ahnungslose Gesichter. »Die SPD, liebe Leut, hat eben diesen gewissen Charme, den nur Ahnungslose verströmen können. Gutes Tagwerk noch.«

Es gab Tage, die sass Filip Loderer im Bundespresseamt einfach ab, reglos und mit kaltem Blick auf das Treiben der Wespen und Ameisen. Viele arbeiteten jetzt in Grossraumbüros, was äusserst anstrengend war. Weil man die meiste Energie darauf verwenden musste, bei den Kolleginnen und Kollegen einen fleissigen Eindruck zu hinterlassen. Also ging niemand durch diesen Raum, sondern alle eilten. Und alle telefonierten und recherchierten Sachverhalte, die offensichtlich nicht privater Natur waren und trotzdem keinerlei Relevanz hatten. Informationen wurden eingeholt, die nie jemand auswerten würde, die in Computerdateien auf ewig abgelegt wurden unter Rubriken, die das Amt so vorgegeben hatte, und besonders beliebt bei allen Mitarbeitern waren dabei alle Informationen, die der Qualitätssicherung dienten. Kontrolltätigkeiten also, schliesslich wollte jeder gewappnet sein für den Fall, dass jemand Fragen stellen sollte.

Er kam aus Bonn, war fünfundfünfzig, und das Privileg, ein eigenes Büro zu haben, teilte er mit einigen Redenschreibern, die ebenfalls aus Bonn gekommen waren – und in Berlin ebenfalls nicht gebraucht wurden.

Vielleicht war eine Mail da von Frau Male. Wenn er ehrlich war, dann machte ihn dieser Name an. Er phantasierte gern und oft und war erregt, als er leute.com anklickte und diese Nachricht las: »Lieber Controller, was mich interessieren würde, wäre dein Name. Wie bist du darauf gekommen? Arbeitest du bei einem Unternehmen im Finanzbereich? Oder wen oder was kontrollierst du? LG, F. M.«

Auch wenn er manchmal tagelang gar nichts machte: faul war er nicht. Kaum eine Minute, in der er nichts dachte. Entweder man arbeitet oder man denkt. Und im Augenblick dachte er, dass diese Frau Male vermutlich eine sehr junge Frau war und es sich in ihrem Leben bequem eingerichtet hatte. LG, als Formel für Liebe Grüsse, das war begründbar, das war praktisch, das war im Prinzip nichts anderes als s.v.p. für s’il vous plaît – und trotzdem war es k.sch., kaltschnäuzig. Bei diesem Gedanken merkte Loderer, dass die Klimaanlage nicht zu hören und seine Stirn schweissnass war. Er war heiss auf diese Frau Male. Erstmals seit Monaten spürte er Leben in sich und eine Erregung, die er nicht einfach mechanisch befriedigen wollte.

»Liebe Frau Male, in erster Linie kontrolliere ich mich selbst. Was zum einen bedeutet, dass ich mich selbst immer wieder disziplinieren muss, um nicht vom richtigen Weg abzukommen, andererseits aber auch heisst, dass ich kein Schnüffler bin. Jeder hat das zu verantworten, was er tut, und eigentlich sollten sich die Leute nur dieses Controlling gefallen lassen. Aber weil die Leute faul sind, schieben sie Verantwortung ab, delegieren und liefern sich so letztlich Leuten aus, die ebenfalls faul sind und ihre Verantwortung abschieben.«

Loderer ging in die Kantine, holte sich ein Eis und schrieb weiter: »Übrigens finde ich den Namen ›Frau Male‹ äusserst interessant. Bist du eine schlechte Frau? Oder nur schlecht zu Männern? Oder bist du nur für gewisse Männer gut? Und bist du online jetzt? Liebe Grüsse, der Controller.«

Es war kurz nach 13 Uhr, und sie antwortete sofort: »Gewisse Männer finden mich ganz gut, lieber Controller. Ob auch du zu ihnen gehörst, das kann ich dir leider nicht sagen. Es sei denn, du sagst mir noch ein bisschen mehr über dich. Wie alt bist du, zum Beispiel?«

13.08: Loderer schrieb: »In meinem Profil steht vierundvierzig. Ich bin aber fünfundfünfzig. Bei dir steht achtundzwanzig. Wie alt bist du? Und könnte das jetzt schon das Ende unseres Dialogs sein, weil ich doppelt so alt bin wie du und du keinen Bock hast auf einen so alten Sack?«

13.10: »Du hast Glück. Ich bin dreissig, also nicht einmal doppelt so jung wie du. Aber alte Säcke mag ich tatsächlich nicht. Bist du einer?«

Loderer verwickelte sich plötzlich in Gedanken, die ihn hemmten. Was wollte er von dieser Frau? Vielleicht würde sie ihm das sagen können. Er könnte sie fragen: »Was willst du von mir?« Er schrieb etwas anderes: »Frau Male, ich möchte dir diesen Vorschlag machen: Wir bleiben beide absolut anonym. Damit wir uns absolut ehrlich schreiben können. Damit wir uns alles sagen können. Hast du dieses Bedürfnis auch? Gleiche Zeit morgen? Der Controller fragt.«

»Controller, was ich dir alles sagen werde, weiss ich noch nicht. Aber die Vorstellung, dass wir absolut ehrlich schreiben und anonym bleiben, die hat ihren Reiz. Bis morgen also. LG, Frau Male.«

Mittagspause. Loderer wollte nach Hause. Um 13 Uhr kam die Putzfrau. Paulina, eine Polin. Sie hatte einen Schlüssel, sie war vertrauenswürdig, und so gesehen gab es überhaupt keinen Grund, dass er anwesend war, wenn sie seine kleine Wohnung saubermachte. Zwei Zimmer, Flur, Küche, Terrasse, sechzig Quadratmeter. Loderer war nicht oft zu Hause, kochte nicht, aber seine Wäsche machte er selbst. Viel hatte Paulina also nicht zu tun. Aber deswegen hatte er sie auch nicht engagiert.

Er klingelte an seiner eigenen Wohnungstür, weil sie vielleicht schon da war und er sie nicht erschrecken wollte. Einmal, als er das vergessen hatte, die Tür öffnete und vom Flur direkt ins Wohnzimmer ging, lag Paulina auf dem Fussboden. Sie zuckte zusammen, beendete ein Telefongespräch und ging sofort ins Bad.

Sie war noch nicht da. Er legte sich aufs Sofa. Er war erregt und spielte an sich herum. Das gab Flecken, und zweimal in der Woche machte Paulina sie weg. Er wollte neue Flecken machen, schnell, weil sie fast immer pünktlich war. Dass sie im nächsten Augenblick schon da sein könnte, die Tür öffnen würde, dieser Gedanke steigerte seine Erregung so, dass er zitterte. Sein Gesicht war immer ernst, wenn er mit sich spielte. Zu existieren ist nicht lustig. Wer existiert, ist unter Druck. Und wer Druck abbauen muss, der lacht nicht. Es gibt keinen fröhlichen Sex, dachte er und spürte den Spannungsabfall. Der Gedanke hatte Erinnerungen ausgelöst, die seine Lust bremsten. Also dachte er: Es ist egal. Paulina kommt, und ich mache einfach weiter. Sie wird grüssen, sich kommentarlos eine Zigarette anzünden und die Arbeitskleider anziehen. Jetzt war er wieder hart. Es ist gar nicht so einfach, erregende Gedanken zu haben und sich dabei nicht zu versteifen. Weil auch der geilste Gedanke kalt wird, wenn er zu einem Gedanken wird, der etwas fordert und den Druck noch verstärkt, von dem man sich befreien will.

Loderer liess los und dachte an Paulina, wie sie rauchte, mit ernstem Gesicht, wie sie es zuliess, dass er sie manchmal kurz berührte, aber auch diesen Gedanken wollte er schnell gehenlassen, weil Gedanken und Putzfrauen kommen und gehen, wann sie wollen, und wenn man sie nicht ziehen lässt, dann kommen sie nie wieder. Paulina putzte auch bei anderen Leuten, und manchmal fragte er sie danach. Sie erzählte wenig darüber, aber darum ging es nicht. Sie vermied es, über sich zu reden, sie stellte lieber Fragen, und meistens ging es dabei um Sex. Paulina war überzeugt davon, dass es höchste Zeit war für ihn, sich wieder eine Frau zu suchen, und dass er auch eine gute Frau finden würde, dass er Besseres verdient hätte als diese Nutten, von denen er ihr regelmässig erzählte. »Sie haben Ihre Frau sehr geliebt, Filip. Aber jetzt ist sie schon seit über zwei Jahren tot. Und die Zeit läuft. Sie brauchen eine neue Frau«, hatte sie vor ein paar Wochen gesagt, und er hatte geantwortet: »Ich will Sex. Ich brauche nur Sex.« – »Aber warum dafür bezahlen?«, hatte sie ihn gefragt. »Das haben Sie doch nicht nötig, Filip. Sie sind jung, erst fünfundfünfzig, und das ist nichts für einen Mann. Sie sehen gut aus, haben Erfolg, ein gutes Einkommen – es gibt viele junge Frauen, die sich so einen Mann wünschen.« – »Solange ich bezahle«, hatte Loderer gesagt, »gibt es keine Gefühle. Solange ich bezahle, kann ich nicht verletzt und nicht verlassen werden. Huren können mich nicht verlassen.«

Als er hörte, wie der Schlüssel umgedreht wurde, sprang er vom Sofa, knöpfte sich die Jeans zu, ging zum Kühlschrank, nahm eine Cola und ein Wasser und stellte zwei Gläser auf den Küchentisch. Paulina schaute ihn nur kurz an, stellte ihre Tasche auf das Sofa, setzte sich an den Küchentisch und zündete sich eine Zigarette an. »Wie geht es Ihnen, Filip?«

Er war noch zu erregt, um viel zu sagen. »Frau Male hat wieder geschrieben«, sagte er nur.

»Wollen Sie sich mit dieser Frau einmal verabreden, Filip, oder genügt es Ihnen, ihr zu schreiben?«

Er schenkte ihr ein Glas Wasser ein und winkte ab. »Keine Zeit. Es ist nur eine Ablenkung. Alles ist nur eine Ablenkung.«

»Sie brauchen viel Ablenkung, glaube ich«, sagte Paulina. »Aber Frau Male – ich weiss nicht, das ist ein komischer Name.« Sie sprach ausgezeichnet Deutsch, studierte in Berlin und hatte einen Freund, den er nicht kannte und von dem sie nur wenig erzählte. Ein junger Türke, der sie heiraten wollte, wozu sich Paulina aber nicht äusserte. Sie hatte ein schönes, undurchsichtiges Gesicht und eine leise, fast monotone Stimme. Und es gefiel ihm, dass sie auch nur sehr selten lachte. Am liebsten hörte sie ihm zu, wenn er ihr von seinen Nuttenbesuchen erzählte, und bekam nicht genug von Details, die er manchmal erfinden musste, weil ihre Neugier mit der Realität allein nicht zu befriedigen war. Paulina wusste, dass sie ihn erregte, und er wusste, dass es sie erregte, wenn er sich das nicht anmerken liess.

Einmal reizte sie ihn mit einem extrem kurzen Kleid, in dem sie zwei Stunden lang putzte, ohne ein Wort zu sagen. Sie hantierte mit Eimern und Wischern und bewegte sich in seiner Wohnung so, als ob er gar nicht anwesend wäre. Als er sie einige Zeit später darauf ansprach und fragte, ob sie sich nicht gelegentlich wieder mal so anziehen könnte, sagte sie: »Warum nicht? Ich werde es mir überlegen.« Sie kam dann in der Folge aber provokativ nur noch in Jeans und Hosenanzügen und genoss seine enttäuschte Erwartung.

»Welchen Beruf hat Frau Male?«, wollte Paulina wissen. »Und wie sieht sie aus? Haben Sie ein Foto von ihr?«

»Habe ich nicht«, sagte Loderer. »Ich kenne sie nicht. Sie ist eine Projektionsfläche, mehr nicht. Es gibt sie nur, solange ich das will. Und es gibt sie nur so, wie ich das will. Ich kann mit ihr also machen, was ich will. Und niemand wird dabei verletzt.«

»Das ist aber praktisch.« Sie zog die schwarzen Stiefel aus, schlüpfte in Turnschuhe, streifte sich ihre pinkfarbigen Gummihandschuhe über, inhalierte noch einen Zug, drückte die Zigarette aus und sagte: »Ich fange jetzt an.«