Die Kapelle im Moor - Tom Finnek - E-Book

Die Kapelle im Moor E-Book

Tom Finnek

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Beschreibung

Das Münsterland nach dem Dreißigjährigen Krieg: Im Sommer des Jahres 1668 kehrt der Schausteller und Taschendieb Daniel Wagenknecht anlässlich einer Kirchweih in das Moordorf Ahlbeck zurück, in dem er als Säugling von drei Bauern lebendig begraben wurde. Daniel will die Geheimnisse von damals lüften - und sich an den Schuldigen rächen. Begleitet wird er von seinem Ziehvater Roloff. An der Stelle im Moor, wo dieser ihn einst gefunden hat, steht nun eine geheimnisvolle Kapelle, in der ein geistig verwirrter Pater auf die Rückkehr des Satans wartet. Während alle sich auf die bevorstehende Kirmes vorbereiten, kommt Daniel dem Geheimnis des Dorfes und einem grauenvollen Verbrechen auf die Spur ...

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Tom Finnek

Die Kapelle im Moor

Historischer Roman

1668 kehrt der Schausteller Daniel Wagenknecht anlässlich einer Kirchweih in das Moordorf zurück, in dem er als Säugling lebendig begraben wurde.

Inhaltsverzeichnis

ERSTER TEIL – DER UNBERÜHRBARE

Erstes Kapitel – Bringt die Ankunft eines Fremden

Zweites Kapitel – Handelt von einer wundersamen Auferstehung

Drittes Kapitel – Stellt zwei eifrige Geistliche vor

Viertes Kapitel – Lässt Fernes nah erscheinen

Fünftes Kapitel – Präsentiert einen alten und einen kommenden König

Sechstes Kapitel – Handelt von einem heimlichen Treffen in der Heide

Siebentes Kapitel – In welchem von Hexerei die Rede ist

Achtes Kapitel – Handelt von missratenen Söhnen

Neuntes Kapitel – Berichtet von einem Stelldichein am Galgen

Zehntes Kapitel – Bringt Wunder über Wunder

Elftes Kapitel – Macht den Leser mit einer sterbenden Hebamme bekannt

Zwölftes Kapitel – Berichtet von einem Kind des Krieges

Dreizehntes Kapitel – Beginnt mit dem Tod und endet auf dem Friedhof

Vierzehntes Kapitel – Handelt von Frauen- und Männersachen

Fünfzehntes Kapitel – Berichtet von einer schlaflosen Nacht

Sechzehntes Kapitel – Befreit den Pastor aus einer prekären Lage

ZWEITER TEIL – DER BAUERNFÄNGER

Erstes Kapitel – Handelt von einer Löwengrube

Zweites Kapitel – Ist sehr kurz und endet wider Erwarten nicht tödlich

Drittes Kapitel – Erzählt von unglücklicher Liebe

Viertes Kapitel – Bringt eine zünftige Schlägerei

Fünftes Kapitel – Handelt von Geistern und Gespenstern

Sechstes Kapitel – Berichtet von einem Sohn des Teufels

Siebentes Kapitel – Führt uns zu einem Grab im Moor

Achtes Kapitel – Löscht ein Menschenleben aus

Neuntes Kapitel – Berichtet von einer Begegnung in der Unterwelt

Elftes Kapitel – Handelt von einem Meister ohne Bein

Zwölftes Kapitel – Handelt von der Mixtur des Theophrastos

Dreizehntes Kapitel – Berichtet von nächtlichen Unternehmungen

Vierzehntes Kapitel – Lässt die Neugier mit der Vernunft ringen

Fünfzehntes Kapitel – Berichtet von Eindringlingen und Ausbrechern

Sechzehntes Kapitel – Handelt von einem bösen Erwachen

Siebzehntes Kapitel – Entlarvt eine Lüge

Achtzehntes Kapitel – Bringt die Rückkehr eines verlorenen Sohnes

EPILOG

Anmerkungen und Übersetzungen

Impressum

ERSTER TEIL – DER UNBERÜHRBARE

Erstes Kapitel – Bringt die Ankunft eines Fremden

Wer in den Chroniken und Geschichtsbüchern nach bedeutenden Ereignissen des Jahres 1668 fahndet, wird kaum fündig werden. Wenig Bemerkenswertes ist in diesem Jahr geschehen. Deutschland dümpelte vor sich hin und erholte sich nur langsam von den Folgen des Dreißigjährigen Krieges. Leopold I.* war seit zehn Jahren ein Kaiser ohne Macht und ließ die Territorialherren, Fürsten und Bischöfe unbehelligt ihr eigenes Süppchen kochen. In Frankreich herrschte Ludwig XIV. als Sonnenkönig, legte sich mit Niederländern und Spaniern an und stolzierte wie ein Pfau über die Baustelle seines Versailler Schlosses. London genas derweil von Pest und Feuersbrunst. Und in Brandenburg mühte sich der Große Kurfürst redlich, seinem Namen gerecht zu werden, während die Linden, die er zwischen seinem Berliner Schloss und dem Tiergarten hatte pflanzen lassen, gemächlich gen Himmel wuchsen. Europa dämmerte mehr oder minder stumpfsinnig hinüber vom Zeitalter der Glaubensspaltung ins Zeitalter des Absolutismus.

Es war in diesem Jahr 1668, an einem späten Juliabend, als sich zwei Männer auf ihren Pferden von Westen her dem westfälischen Dorf Ahlbeck näherten. Obwohl es ein heißer Tag gewesen war und die Schwüle immer noch wie eine Glocke über dem Ort stand, trug einer der Männer einen schwarzen Umhang und einen ebenfalls schwarzen Hut mit breiter Krempe sowie lange Stulpenstiefel. Er ritt einen Rappen und lauschte andächtig seinem Begleiter, einem älteren und wohlbeleibten Mann, der auf einem Apfelschimmel saß und unter seinem grünen Rock lediglich Hemd und Hose aus grobem Leinen trug. Auf dem speckigen Glatzkopf des Mannes thronte ein hoher, abgegriffener und an den Ecken eingerissener Holländerhut. Am Ahlbach, jenem Flüsschen, das dem nahe gelegenen Dorf seinen Namen verliehen hatte, stiegen beide ab, befeuchteten ihre Gesichter und tränkten die Pferde.

»Was für eine öde Gegend«, sagte der Schwarzgekleidete und lachte bitter. »Nichts als Sumpf und feuchte Wiesen. Hier fühlen sich nur die Mücken und Bremsen wohl.« Er war ein junger Mann von kaum zwanzig Jahren, groß gewachsen und mit dichtem, leuchtend rotem Haar, das er im Nacken zu einem Zopf gebunden hatte. Sein Gesicht war blass, beinahe weiß und gesprenkelt mit großen Sommersprossen. Er setzte sich ins Gras, stopfte seine Pfeife und schaute sich um, als müsse er sich orientieren. Hinter ihnen im Westen lag das Moor, das sich bis zur niederländischen Grenze und weit darüber hinaus erstreckte. Sie hatten auf ihrem Weg durchs Venn eine alte Wassermühle zur Rechten und einen Galgenhügel zur Linken passiert und waren stets dem Lauf des Flusses gefolgt. Der unwegsame und morastige Bruchwald war allmählich in Weidelandschaft übergegangen, und in der näheren Umgebung waren nun einige Bauernkotten zu sehen. Hier und da brannte noch Licht, aber es war völlig ruhig und friedlich. Kein Hofhund bellte, das Vieh schlief auf der Weide, und weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Es war eine mondhelle Nacht, in der Ferne war das Dorf auszumachen, das ebenfalls nur aus wenigen Bauernhöfen zu bestehen schien und von einem Kirchturm mit Treppengiebel überragt wurde.

»Ich hätte es dir nicht sagen dürfen, Junge«, sagte der Glatzkopf in dem typischen Singsang, der den Rheinländer verriet. »Das war dumm von mir.« Er nahm seinen Hut ab und wischte sich mit einem Tuch über den Hinterkopf. »Deine Miene verrät nichts Gutes.«

»Du irrst dich, Roloff. Es macht mir nichts aus«, antwortete der junge Mann und winkte ab, doch seine Mimik widersprach seinen Worten. Obwohl er rauchend und mit übereinandergeschlagenen Beinen am Ufer lag, hatte seine Miene einen ernsten, ja finsteren Ausdruck angenommen. Seine bleiche Stirn lag in Furchen, die schmalen Lippen hatte er aufeinandergepresst, und seine wässrigblauen Augen funkelten unter den buschigen, hellroten Augenbrauen, als wolle er jemanden mit seinem Blick hypnotisieren. Als er seinen Hut abnahm und neben sich ins Gras legte, offenbarte sich eine fürchterliche Wunde an der rechten Seite seines Kopfes: Das Ohr war völlig verunstaltet, die obere Hälfte fehlte oder war mit dem Kopf verwachsen, und eine beinahe handbreite Narbe verlief vom Ohr bis zum Nacken, die nur halbwegs durch das Haar verdeckt wurde. Ein seltsames Lächeln legte sich plötzlich auf die Lippen des Mannes, und er murmelte: »Nein, es war richtig, dass du es mir gesagt hast! Dass ich nicht vom Himmel gefallen bin, war mir ja bewusst. Und die Geschichte mit den Schweden habe ich ohnehin nie geglaubt.« Wieder setzte er ein schiefes Lächeln auf, das alles andere als heiter wirkte, und setzte hinzu: »Wo genau ist die Stelle? Ich würde sie gern sehen. Kannst du mich hinführen?«

Der Mann namens Roloff schüttelte den Kopf. »Heute nicht«, sagte er und zuckte mit den Schultern, »ich bin nicht mal sicher, ob ich sie wiederfinde. Es war eine Lichtung im Wald. Bei diesem steinernen Kreuz, von dem ich dir erzählt habe. Vermutlich ist mittlerweile nichts mehr davon übrig. Ich habe dir doch gesagt, dass es damals schon ziemlich verwittert war.«

»Dann werden wir eben suchen«, antwortete der Rothaarige.

»Daniel, Daniel!«, rief Roloff und schüttelte missmutig den Kopf. »Du solltest es am besten gleich wieder vergessen. Du kannst es ohnehin nicht ungeschehen machen.« Er räusperte sich und wechselte abrupt das Thema: »Du weißt, was du im Dorf zu tun hast?«

»Was soll die Frage?« Der junge Mann bedachte ihn mit einem ironischen Blick und setzte hinzu: »Du weißt, dass ich meine Aufgabe kenne. Und glaub mir, diesmal wird es mir eine besondere Freude sein, den gadschos auf den Zahn zu fühlen.«

»Unterschätz die Bauern nicht!«

Daniel nickte und fragte: »Werden sie mich nicht erkennen?«

Roloff lachte und schüttelte den Kopf. »Du warst damals noch ein Hosenscheißer ohne Haare auf dem Kopf. Mach dir darüber keine Gedanken! Welche Rolle wirst du spielen?«

»Den Studiosus. Bei Katholiken ist es immer recht Erfolg versprechend, sich als Theologiestudent auszugeben.« Der junge Mann reichte dem Glatzköpfigen die Pfeife und setzte hinzu: »Kein Mensch misstraut einem Mann der Kirche. Und das Wohlwollen des Pfarrers wird mir ebenfalls sicher sein und damit vielleicht das eine oder andere Beichtgeheimnis. Unter Kollegen sozusagen.«

»Gut«, sagte Roloff, nahm ein tiefen Zug und gab dem anderen die Pfeife zurück. Dann beäugte er seinen jungen Kumpan mit skeptischem Blick und fügte warnend hinzu: »Aber sei vorsichtig und mach keine Dummheiten! Versprich mir das, mein Junge!«

»Du solltest mich eigentlich gut genug kennen.«

»Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte Roloff, schüttelte erneut den Kopf und setzte seinen Holländerhut auf. »Du weißt ja, wo du uns findest, falls etwas Unvorhergesehenes passiert. Ansonsten treffen wir uns wie geplant in zwei Tagen im Lager, aber komm erst nach Sonnenuntergang und pass auf, dass dich niemand sieht.«

»Für wie dumm hältst du mich eigentlich?«

»Du bist mir manchmal nicht dumm genug«, sagte der Mann im grünen Rock, stieg auf seinen Apfelschimmel, stieß dem Gaul den Fuß in die Flanke und ritt grußlos davon.

Daniel schaute ihm lächelnd hinterher und murmelte: »Kannst dich auf mich verlassen, du alter Gauner.« Doch das Lächeln verschwand augenblicklich aus seinem fahlen Gesicht, und abermals presste er die Lippen aufeinander, dass sie wie dünne Striche aussahen. Seine Augen gingen rastlos hin und her, in seinem Kopf herrschte ein unverkennbares Durcheinander, auch wenn er sich den Anschein der Gelassenheit geben wollte. Eine plötzliche Wut stieg in ihm hoch, aber sie war gegen niemand Speziellen gerichtet, sondern ganz unbestimmt und vage, und er ärgerte sich sogleich darüber.

»Der Teufel soll euch alle holen«, zischte er schließlich, schlug mit der Hand nach einer Mücke, die sich auf seinem Gesicht abgesetzt hatte, und spuckte in hohem Bogen in den Fluss.

Nach und nach wurden ringsum die Lichter auf den Bauernhöfen gelöscht, das Dorf legte sich schlafen, und als die Glocken der Kirchturmuhr zur vollen Stunde schlugen, war ganz Ahlbeck in Dunkelheit gehüllt. Erst jetzt sprang der junge Mann auf, klopfte die Pfeife aus, setzte sich den Hut schräg auf den Kopf, so dass seine Narbe verdeckt wurde, und klopfte seinem Pferd aufmunternd auf den Hals.

»Auf geht’s, Schwarzer!«, sagte er, stieg in den Sattel und gab dem Pferd die Sporen. »Wollen mal sehen, mit wem wir es zu tun haben.«

Er ritt eine weitere halbe Meile am Fluss entlang, bevor der Weg rechter Hand abbog und über eine Holzbrücke zu einer gepflasterten Straße führte. Diese war von kleineren Bauernhöfen flankiert und mündete schließlich in einen rechteckigen Dorfplatz. Außer der backsteinernen Kirche und dem sich westlich anschließenden Friedhof, der von einer mannshohen Mauer umgeben war, befand sich an diesem Platz noch das Pastorat, zu erkennen an dem großen, weißen Kreuz über der Eingangstür, sowie eine alte Schmiede und ein Wirtshaus mit dem Namen »Zur alten Linde«.

Als Daniel das Messingschild über der Tür zur Schenke sah, fuhr er zusammen, und ein nervöses Lächeln huschte ihm übers Gesicht.

»Die ›Linde‹«, murmelte er, stieg vom Pferd und schaute sich um, als suche er irgendetwas oder müsse sich zurechtfinden. Er betrachtete die kleine gotische Kirche, deren Turm bereits einige Jahrhunderte auf dem Buckel zu haben schien. Das rote Gemäuer des winzigen Hauptschiffes war an einigen Stellen rußgeschwärzt oder mit helleren Steinen ausgebessert worden, als sei es verbrannt und anschließend notdürftig wieder repariert worden. Vermutlich eine Folge des Krieges, der dreißig Jahre lang im ganzen Reich gewütet und überall seine hässlichen Narben hinterlassen hatte. Auch das Wirtshaus, auf das der junge Mann nun zuging, wirkte wie ein Flickwerk. Das Dach war neu gedeckt, aber die Mauern waren mit Rissen überzogen und zeigten die gleichen Spuren unbeholfener Ausbesserungsarbeiten. Neben der Schenke befand sich eine Art hölzener Unterstand oder Stall, an dem der Reiter seinen Rappen festband. Er schulterte seinen Rucksack, ging zur Vordertür des Wirtshauses und klopfte gegen das Holz. Da ihm niemand antwortete, nahm er einen Stock zur Hilfe und hämmerte erneut gegen die Tür.

»Wer ist dort?«, meldete sich eine Männerstimme im oberen Stockwerk. Ein Fenster wurde aufgerissen, und der Kopf eines bärtigen Mannes erschien. »Was soll der Lärm?«, fragte er. »Wer seid Ihr?«

»Ich habe einen langen Weg hinter mir und suche ein Zimmer für die Nacht«, antwortete Daniel. »Habt Ihr eine Kammer frei und eine Kleinigkeit zu essen? Mein Magen knurrt wie ein Hofhund.«

»Mitten in der Nacht?«, fauchte der Bärtige. »Das Wirtshaus ist geschlossen, kommt morgen früh wieder. Legt Euch ins Gras, es ist eine laue Nacht.«

»Ich werde Euch fürstlich belohnen, wenn Ihr mich einlasst«, erwiderte der junge Mann, zog einen Lederbeutel aus seiner Rocktasche und holte einen Rheinischen Goldgulden heraus, den er dem Wirt zuwarf.

»Nun sieh einer an«, sagte dieser, nachdem er die Münze in Augenschein genommen hatte, und kraulte seinen Bart. »Ihr habt tatsächlich fürstliche Argumente.« Er wandte sich ab und rief ins Innere des Hauses: »Henrike, steh auf, wir haben einen Gast! Hast du nicht gehört? Raus aus dem Bett! Einen Moment, werter Herr«, richtete er seine nächsten Worte an den Mann vor der Tür, »wir sind in Windeseile unten.« Damit schloss er das Fenster, und erneut konnte man ihn den Namen Henrike rufen hören.

Nur eine Minute später wurde im Erdgeschoss Licht gemacht, und der Wirt öffnete die Tür. »Kommt herein in unser bescheidenes Heim«, sagte er und machte einen Bückling. »Mein Name ist Franz Tenfelde, ganz zu Euren Diensten.« Er war ein kleiner, kugelrunder Kerl mit pockennarbigem Gesicht, das er hinter einem Rauschebart zu verstecken suchte. Unter der Schlafmütze, die er immer noch auf dem Kopf trug, lugte sein dunkelblondes Haupthaar hervor, das wie ausgedörrtes Gestrüpp vom Schädel abstand und an den Schläfen ergraut war. »Ich habe bereits veranlasst, dass Euch etwas Schmackhaftes zubereitet wird«, sagte er und grinste ergeben, »Setzt Euch nur und ruht Euch aus. Ihr hattet eine lange Reise, sagtet Ihr? Woher kommt Ihr denn zu so später Stunde, wenn man fragen darf?«

Daniel begutachtete die spartanisch eingerichtete, aber sauber wirkende Wirtsstube und setzte sich an einen Ecktisch. »Mein Pferd braucht Futter«, sagte er statt einer Antwort.

»Sicher, natürlich«, erwiderte der Wirt und nickte beflissen. »Ich kümmere mich gleich darum. Darf ich Euch zuvor etwas zu trinken bringen? Einen Seidel Bier vielleicht, Herr …?«

»Ihr könnt mich Magnus nennen, aber kümmert Euch zuerst um den Rappen. Wenn Ihr damit fertig seid, trinke ich gerne einen Becher.« Der junge Mann bedachte den Wirt mit einem unmissverständlichen Blick, so dass dieser erneut einen Bückling machte und sich zurückzog.

»Das Pferd«, sagte er, »natürlich, sofort. Ich verstehe.«

Als der Wirt den Schankraum verlassen hatte, versank Daniel wieder in seine Grübelei. Sein Blick verdüsterte sich, wanderte durch das Zimmer und begutachtete alles mit erhöhter Aufmerksamkeit, obwohl sich nichts darin befand, was dieses Interesse gerechtfertigt hätte. Die Stühle und Tische sowie die Theke waren aus schwerem Eichenholz gezimmert, der Boden bestand aus Lehm, und die Wände waren, sah man einmal von den roten Kattunvorhängen an den Fenstern und einigen Kritzeleien, die von den Gästen zu stammen schienen, gänzlich schmucklos. Der junge Mann nahm die Talgkerze vom Tisch und betrachtete die verblassten Kohlezeichnungen und die mit Messern eingeritzten Bildchen genauer. Eine dieser Kritzeleien zeigte einen Mann am Galgen sowie die Unterschrift »Inkubus«.

»Wo man auch hinkommt«, murmelte Daniel, »der Teufel ist schon da.«

»Ich habe Euch Kalbszunge und Schinken zubereitet.«

Der junge Mann fuhr erschrocken herum, griff automatisch mit der rechten Hand nach dem kleinen Dolch, den er an der Seite unter dem Umhang trug, und starrte mit aufgerissenen Augen auf die Frau, die ihm in diesem Moment sein Nachtmahl auf den Tisch stellte.

»Tut mir leid«, sagte sie und lächelte entschuldigend. »Ich wollte Euch nicht erschrecken.«

Daniel ließ den Dolch los, stellte die Kerze, die er immer noch in der linken Hand hielt, auf den Tisch, sagte jedoch kein Wort und betrachtete die Frau mit misstrauischem Blick. Sie war etwa in seinem Alter, vielleicht zwei, drei Jahre älter, ihre langen, dunklen Haare, die vom Schlaf noch ein wenig zerzaust waren und unter ihrer Nachthaube hervorragten, rahmten ein ovales und bleiches Gesicht. Die Nase war spitz und sommersprossig, ihre hellblauen Augen, die nicht zu ihrer Haarfarbe passen wollten, strahlten regelrecht, und auf ihren blassen Lippen lag ein Lächeln, das ein wenig schelmisch und doch nicht kokett wirkte. Es war vor allem dieser seltsam lächelnde Mund, der Daniel irritierte. Mit dem Anblick einer solch hübschen Frau an einem solchen Ort hatte er nicht gerechnet. Doch er ließ sich seine Gedanken nicht anmerken, verharrte regungslos und setzte eine undurchdringliche Maske auf. Er schaute die Frau nur an, nickte schließlich und blieb stumm.

»Wenn Ihr etwas Warmes wollt, müsst Ihr Euch gedulden«, fuhr die junge Frau fort, da der Fremde sie nach wie vor schweigend anstarrte. »Ich könnte Euch einen Brei bringen, aber der Herd ist kalt und ich müsste erst …«

»Nicht nötig, macht Euch keine Umstände«, unterbrach er sie und räusperte sich. »Bemüht Euch nicht. Es ist alles wunderbar so.« Ein ironisches Lächeln legte sich auf seine Lippen, als ihm bewusst wurde, dass er damit nicht nur das Essen gemeint hatte. »Euer Vater hätte Euch nicht wecken sollen«, setzte er hinzu und betrachtete das Essen auf dem Tisch. »Das war überhaupt nicht nötig.«

Die junge Frau betrachtete ihn mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen, der funkelnde Blick des Fremden schien ihr gar nicht zu gefallen, und das spöttische Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. »Franz ist nicht mein Vater«, antwortete sie schließlich und machte einen Schritt zurück, » das heißt, er war … also er ist …«

»Ich bin Henrikes Mann«, mischte sich in diesem Moment die Stimme des Wirtes aus dem Hintergrund ein. Er war aus dem Stall zurückgekehrt, lächelte stolz und ging hinter die Theke, um einen Krug mit Bier zu füllen. Er hatte mittlerweile die Nachtmütze vom Kopf genommen und sich eine blaue Joppe übergezogen, die über seinem Nachthemd reichlich deplaziert wirkte. »Wir haben vor einem halben Jahr geheiratet«, setzte er hinzu und reichte seiner Gattin den Krug, damit sie ihn dem Gast servieren konnte. »Henrike ist mein ganzer Stolz.«

»Dann gratuliere ich«, murmelte Daniel, betrachtete abwechselnd die junge Frau und ihren nicht mehr ganz so jungen Mann, und dann starrte er auf den Tisch. Ihm war heiß geworden, der Schweiß lief ihm in den Nacken, er legte den Umhang beiseite und nahm den Hut ab, den er die ganze Zeit auf dem Kopf getragen hatte.

Als die Frau des Wirtes den Krug auf den Tisch stellte, sah sie das verunstaltete Ohr, und ein Schreckenslaut entfuhr ihr. Sie wich zurück und bedachte den jungen Mann mit einem mitleidigen Blick.

Daniel sah den Blick und das Zurückweichen, und seine Miene verfinsterte sich im selben Augenblick. »Ich hoffe, mein Anblick verursacht Euch keine Alpträume«, sagte er und funkelte die Frau böse an. »Ich vergesse oft, wie abstoßend ich auf Leute wirke, die mich zum ersten Mal sehen.«

»Aber nein, überhaupt nicht!«, rief sie, aber es klang ein wenig gezwungen. »Ich war nur … Es tut mir leid.«

»Warum sollte es Euch wohl leid tun?« Daniel kramte seine Pfeife heraus und stopfte sie geflissentlich, um der Frau nicht in die Augen schauen zu müssen. »Die Narbe stammt gewissermaßen von einer Kriegsverletzung«, setzte er hinzu, und ein böses Lächeln legte sich auf seine Lippen.

»Welcher Krieg soll das gewesen sein?«, mischte sich der Wirt in die Unterhaltung ein. »Ihr seid doch noch ein junger Kerl, und im Jahre 1648 müsst Ihr noch ein Kind gewesen sein.«

»Als wäre das für die Schweden ein Hinderungsgrund gewesen.« Daniel zündete sich die Pfeife an der Kerze an. »Wrangels Leute haben meine Eltern gemeuchelt und mir dieses Andenken verpasst. Damals war ich kaum der Mutterbrust entwachsen.«

»Oh, wie schrecklich«, entfuhr es Henrike Tenfelde, und sie schlug die Hände vor den Mund. »Was für Barbaren!«

»Hier im Ort haben vor allem die Hessen getobt.« Der Wirt gesellte sich zu seiner Frau. »Die waren auch nicht viel besser als die Schweden.«

»Was soll man von diesem protestantischen Pack auch schon erwarten?«, erwiderte Daniel und füllte einen Becher mit Bier. Und mit beinahe pastoralem Ton setzte er hinzu: »Es ist eben eine harte Zeit für rechtschaffene Papisten.«

»Papisten?« Henrikes Blick verdüsterte sich. Sie schaute den jungen Mann skeptisch an und schüttelte leicht den Kopf. »Ist das nicht ein Schimpfwort?«

Daniel merkte, dass er sich verplappert hatte, und senkte abermals seinen Blick. Ihm wurde klar, dass er auf der Hut sein musste.

»Seid Ihr wegen der Kirmes in Ahlbeck?«, fragte Franz Tenfelde.

»Was denn für eine Kirmes?«, gab Daniel sich erstaunt.

»Am Sonntag findet in der Heide ein Schützenfest statt«, sagte Henrike, nun wieder mit ihrem Schelmengrinsen auf den Lippen. »Ein neuer Schützenkönig wird gekürt, und Schausteller und fahrendes Volk aus aller Herren Länder kommen nach Ahlbeck, um ihre Waren feilzuhalten und die Leute zu unterhalten. Da geht es immer hoch her. Es passiert ja sonst nicht viel im Dorf, da ist man froh über jede Abwechslung.«

Der Wirt strafte seine Frau mit einem vorwurfsvollen Blick und erklärte: »Seit dem Krieg gibt es in Ahlbeck eine Schützengilde, und alle vier Jahre zur Kirchweih wird in einem Wettschießen ein neuer König ermittelt.«

»Der Grund für meinen Aufenthalt im Dorf ist nicht ganz so profaner Natur«, erwiderte Daniel und hob missfällig die Augenbrauen. »Ich bin Scholar der theologischen Fakultät zu Paderborn und reise im Auftrag des Fürstbischofs durch das Münsterland, um die Sprengel und Kirchen zu inspizieren. Nach Volksbelustigungen und Jahrmärkten steht mir nicht unbedingt der Sinn.«

»Der Bischof von Galen?« Der Wirt wich einen Schritt zurück, machte einen Bückling und wisperte: »Hat er Euch geschickt?«

»Ihr kennt Bischof Bernhard?«

»Ihm gehört beinahe die Hälfte des Landes in Ahlbeck«, antwortete der Wirt, »und außerdem die Kolkmühle im Venn. Meine Familie ist ihm seit jeher sehr verbunden.« Er lächelte unsicher, räusperte sich und setzte hinzu: »Seid Ihr hergekommen, um bei uns nach dem Rechten zu schauen?«

»Mich interessieren weder die Mühlen noch die Ländereien«, antwortete Daniel, »sondern die Gotteshäuser.«

»Wie ist Euer Name?«, fragte Henrike und kam einen Schritt näher, um dem Fremden besser ins Gesicht schauen zu können.

»Daniel«, rutschte es ihm unbedacht heraus.

»Sagtet Ihr nicht, Euer Name sei Magnus?«, fragte der Wirt.

»Magnus ist mein Ordensname«, erwiderte Daniel, schaute dabei aber die Frau des Wirtes an, »Daniel ist mein Geburtsname. Da ich meine Priesterweihe noch nicht erhalten habe, darf ich weiterhin meinen weltlichen Namen führen.«

»Und nun begebt Ihr Euch in die Ahlbecker Löwengrube?« Henrike zog die Stirn kraus und hielt dem starren und bohrenden Blick ihres Gegenübers stand.

»Was meint Ihr damit?«, erwiderte Daniel.

»Wie Euer Namenspatron aus der Bibel«, sagte Henrike, »der Prophet Daniel. Er wurde vom König in die Löwengrube geworfen.«

Daniel starrte sie an und brachte kein Wort über seine Lippen. Das Blut schoss ihm in die Schläfen, und seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Zum Henker mit dir, dachte er. Er hatte von Daniel, dem Drachentöter, gehört und von dem Menetekel an der Wand, aber die Geschichte mit den Löwen war ihm bislang noch nicht zu Ohren gekommen.

»Was soll denn dieses neunmalkluge Gerede?«, fuhr der Wirt seine Frau an. »Siehst du nicht, dass der werte Herr völlig ermattet ist? Er ist ganz bleich im Gesicht. Ihr habt ja noch gar nichts von dem Essen angerührt, Herr Magnus«, wandte er sich an den jungen Mann. »Schmeckt es Euch nicht? Soll Henrike etwas anderes bringen? Einen Brei vielleicht? Ihr müsst meine Frau entschuldigen, sie ist manchmal ein wenig naseweis, wie ein junges Füllen, aber das werde ich ihr schon noch austreiben. Sie ist genau wie ihre Mutter. Man muss sie hart an die Kandare nehmen, ich habe meine Erfahrungen mit den Frauenzimmern. Henrike ist meine dritte Gattin, müsst Ihr wissen, ich kenne mich mit den Weibsbildern aus.«

Henrike zuckte verächtlich mit den Schultern und fuhr fort, den jungen Mann zu mustern. Auch wenn sie ihren Mund hielt, so schien sie durch die Worte ihres Mannes nicht unbedingt eingeschüchtert, vor allem da Franz Tenfelde sie bei seinen tadelnden Worten wie ein verliebter Jüngling angeschaut und nicht den Eindruck gemacht hatte, er könne wirklich auf sie böse sein.

»Wärt Ihr wohl so freundlich, mir das Zimmer zu zeigen?«, sagte Daniel, klopfte seine Pfeife aus und stand auf, ohne die Wirtsleute anzuschauen. »Ich bin möchte morgen zeitig aufstehen, um dem Pfarrer einen Besuch abzustatten. Wie war doch gleich sein Name?«

»Pastor Hellmann«, erwiderte der Wirt und führte den jungen Mann in den hinteren Teil des Hauses. »Aber an dem Mann werdet Ihr nicht viel Freude haben, er ist …« Er nahm die Hand zum Mund und machte eine Kippbewegung. »Ihr versteht, was ich meine.«

»Franz!«, empörte sich seine Frau.

»Ist doch wahr«, erwiderte der Wirt.

Daniel nickte und folgte Tenfelde ins Obergeschoss.

Zweites Kapitel – Handelt von einer wundersamen Auferstehung

Als Daniel dem dicken Roloff am Abend gesagt hatte, die Wahrheit über seine Herkunft mache ihm nichts aus und die Geschichte mit den Schweden habe er ohnehin nie geglaubt, so war dies eine schlichte Lüge gewesen. Wieso hätte er dem alten Gauner misstrauen sollen? Die Geschichte von Wrangels Mannen, die seine armen Eltern in der Nähe von Leipzig ermordet und den Säugling niedergeschlagen und achtlos liegengelassen hatten, hatte in Daniels Ohren nie unglaubwürdig geklungen. Roloff hatte ihm dieses Märchen erzählt, als der Junge etwa sechs Jahre alt gewesen war und er angefangen hatte, sich Gedanken über sein Aussehen zu machen, das sich so auffällig von dem seiner Geschwister unterschied.

Roloffs Frau Tabitha war eine Rom-Zigeunerin, die er vor vielen Jahren gegen den Willen ihrer Sippe geheiratet hatte. Weil sie keinen der Ihren zum Mann genommen und sich dem Befehl des Vaters widersetzt hatte, war sie aus dem Stamm ausgestoßen worden, sie war eine pali tschidu, wie dies bei den Zigeunern hieß. Sie hatte den Quacksalber und Hochstapler Roloff Wagenknecht auf einem Volksfest kennengelernt und war, als ihr Vater eine Verbindung mit ihm untersagt hatte, Hals über Kopf mit ihm geflohen. Seitdem zogen sie als fahrende Leute mit ihrem Wagen durchs Land und verdingten sich als Schausteller. Tabitha sagte den Jahrmarktsbesuchern die Zukunft voraus und deutete ihre Träume, während Roloff den wundergläubigen Leuten seine Pillen und Tinkturen andrehte oder sie auf andere Weise über den Tisch zog. Sie zeugten eine ganze Handvoll Kinder, die allesamt die dunkelbraunen Augen und pechschwarzen Haare der Mutter erbten. Und mitten unter diesen dunkelhäutigen Halbzigeunern lebte ein hässliches Entlein mit fuchsroten Haaren, hellblauen Augen und schneeweißer Haut, die so empfindlich war, dass sie stets vor der Sonne geschützt werden musste.

Roloff hatte dem Jungen vom Großen Krieg erzählt, vom Rauben und Morden der Soldaten und Banditen und dass es vielen Leuten so ergangen sei wie Daniels Eltern. Er habe ihn als Säugling gefunden, an Sohnes Statt angenommen und ihm den Namen Daniel gegeben, weil das ein anständiger biblischer Name sei. Aber dennoch sei der Junge einer von ihnen, hatte Roloff hinzugefügt, er sei ein atsinganoi, ein Unberührbarer, und das müsse ihm reichen oder er solle sich zum Teufel scheren. Obwohl Roloff selbst als gebürtiger Rheinländer ein Katholik reinsten Wassers war und seine kleine Familie sich als Ausgestoßene keiner Rom-Sippe anschließen durfte, schien der alte Gauner sich dennoch für einen Zigeuner zu halten und nach deren Sitten und Regeln zu leben.

Daniel gefiel der Gedanke, ein Unberührbarer zu sein, und er machte sich die Sichtweise seines Adoptivvaters zu eigen. Er war kein Zigeuner, sprach aber fließend ihre Sprache, die romany tschib, und war stolz auf das Leben, das er führte, auch wenn sie in einigen Landstrichen als vogelfrei galten und mehr als einmal mit Knüppeln und Steinen aus den Dörfern und Städten gejagt worden waren. So lange er denken konnte, zog er nun schon mit Roloffs Familie von Kirmes zu Kirmes und Jahrmarkt zu Jahrmarkt, um den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen und ihre Eitelkeit, ihren Aberglauben und vor allem ihre Dummheit auszunutzen. Dabei blieben sie immer für sich, schlossen sich keiner Sippe oder Bande an, sondern achteten darauf, unabhängig zu sein. Daniel lernte von Tabitha das Jonglieren und Musizieren auf der lawota, einer Art Fidel. Er wurde von Roloff in diversen Gaunerhandwerken wie dem Falschmünzen und dem Quacksalben unterrichtet, verstand die Zinken- und Gebärdensprache und lernte, eine flinke Klinge zu führen.

Die Begegnung mit einem trinkfesten Bettelmönch wurde für Daniel im Alter von zwölf Jahren zu einem Wendepunkt in seinem Leben. Im Tausch gegen einen Krug Wein erhielt der Junge von dem Kleriker eine Fibel und brachte sich in den folgenden Monaten selbst das Lesen und Schreiben bei. Fortan wurde er vom geschriebenen Wort wie von einem Magneten angezogen. Bücher waren selten und teuer, und so las er Flugblätter, Pamphlete, sogar religiöse Predigten und Steckbriefe. Was immer ihm an Gedrucktem in die Hände kam, er verschlang es gierig wie ein Hungernder einen Laib Brot.

Als er vierzehn war, entwendete er einem fahrenden Scholaren, der schlafend am Wegesrand lag, ein abgegriffenes und in Leder gebundenes Quartbüchlein mit dem Titel »Das Narrenschiff«. Es handelte von allerlei Lastern, Verbrechen und Torheiten, die in satirischen Versen angeprangert und durch anschauliche Holzschnitte bebildert waren, und wurde für den Heranwachsenden zu einer Art Bibel, in der er beinahe täglich blätterte. Was vom Autor als moralische Anklage gedacht sein mochte und zu christlicher Läuterung führen sollte, wurde für Daniel zu einem Lehrbuch im Gaunerhandwerk, dem er beinahe ebensoviel verdankte wie der praktischen Ausbildung durch seine Adoptiveltern.

»Der Junge ist eine wahre Goldgrube«, sagte Roloff oftmals. »Wir werden noch viel Freunde an ihm haben, wenn wir ihn richtig zu nehmen wissen und ihn an der langen Leine lassen. Weiß der Henker, was in seinem Kopf vorgeht, aber ich möchte diesen bleichen Knaben nicht zum Feind haben.«

Was der alte Gauner vor allem an seinem Ziehkind schätzte, war dessen Geschicklichkeit als poschotjari, als Taschendieb. Bereits als junger Bursche schaffte Daniel es, die Leute durch wilde Räuberpistolen derart in seinen Bann zu ziehen, dass es ihm ein leichtes war, ihnen nebenbei die Taschen zu leeren. Er trieb sich in Schenken herum, mischte sich in die Gespräche der Männer ein, erzählte abenteuerliche Geschichten, die er nicht selten aus seinem Buch entliehen hatte, und war im nächsten Moment mit ihrem Geld verschwunden. Vermutlich war es für ihn von Vorteil, nicht wie ein dahergelaufener Zigeuner auszusehen und sich wie ein gebildeter Mann ausdrücken zu können. Er achtete auf seine Kleidung, vertrieb die Läuse mit Schwefeläther und legte Wert auf Sauberkeit. Mit seiner Wunde am Kopf erregte er bei vielen Menschen entweder Mitleid oder Abscheu, was er beides postwendend in bare Münze umsetzte. Er schüchterte die Leute ein, das wusste er aus Erfahrung, er war ihnen unheimlich und machte ihnen Angst. Daniel konnte das nur recht sein.

Doch wenn er auch anders aussah als seine Geschwister und sich oft eigenbrötlerisch und verstockt verhielt, so war er doch einer von ihnen. Er war ein Außenseiter unter Ausgestoßenen, aber gerade diese Rolle schien ihm zu gefallen. Er war ein Teil der Familie und doch etwas Besonderes. Weder seine drei Brüder Kill, Gero und Juro noch die Schwestern Celestina und Angela sprachen ihn auf seine körperliche Entstellung an, denn was bedeutete aus Zigeunersicht schon ein verstümmeltes Ohr im Vergleich zu den roten Haaren und der weißen Haut? Und wenn seine Geschwister ihn wegen seines bleichen Aussehens hänselten, so machte ihn dies nur umso stolzer und eigensinniger. Er war ein Unberührbarer, das ließ er sich von niemandem nehmen.

Tabitha behandelte den Jungen nicht anders als ihre eigenen Kinder. Sie küsste ihn, wenn sie stolz auf ihn war und er mit gefüllten Taschen nach Hause kam, und sie schlug ihn mit der Rute, wenn er sich wieder einmal allzu störrisch ihren Befehlen widersetzt oder sich tagelang von der Gruppe abgesondert hatte. Das geschah immer wieder; ohne erkennbaren Anlass oder Ankündigung setzte er sich ab, strich allein durch die Wälder und kehrte schließlich zur Familie zurück. Wenn man ihn fragte, wo er gewesen sei, so antwortete er: »Nirgends.«

»Der Junge wird noch ein Sonderling«, beklagte sich Tabitha bei ihrem Mann. »Er ist irgendwie seltsam. Ich habe ihn noch nicht ein einziges Mal herzhaft lachen sehen. Das ist nicht normal.«

»Daniel tickt eben anders als wir«, antwortete Roloff, »aber deswegen tickt er nicht unbedingt falsch. Lass ihn nur machen!«

Roloff ließ dem Jungen alle erdenklichen Freiheiten, weil er glaubte, dass sich dies im Endeffekt besser bezahlt machte und es für sie alle von Vorteil wäre. Und er sollte recht behalten. Als Daniel schließlich vorschlug, man könne die Leute um ein Vielfaches leichter übers Ohr hauen, wenn er, Daniel, sich quasi als Vorhut unter das Volk mische und sich als Baldower betätige, da war Roloff sofort Feuer und Flamme.

»Wenn du meinst, mein Junge«, sagte er.

»Kannst dich drauf verlassen«, antwortete Daniel und lächelte finster. Es schien ihm ein regelrechtes Bedürfnis zu sein, in fremde Rollen zu schlüpfen und falsche Identitäten anzunehmen. Es reichte ihm nicht, die Leute einfach nur zu betrügen oder auszurauben, er wollte sie vor allem an der Nase herumführen, mit ihnen Katz und Maus spielen und sie der Lächerlichkeit preisgeben. Denn danach lechzten sie geradezu, sie wollten ihrer eigenen Dummheit überführt werden. »Die Welt will betrogen sein«, hieß es in seinem Lieblingsbuch, und dieses Motto machte er sich zu eigen.

Während Roloff, als rheinische Frohnatur, am liebsten mit den Leuten lachte, amüsierte sich Daniel vor allem über sie und ging ihnen ansonsten sorgsam aus dem Weg. Es war nicht etwa so, dass er an das Gute im Menschen nicht glaubte, er hatte jedoch bislang meist nur das Banale, das Grausame oder das Idiotische kennengelernt, und er verhielt sich entsprechend. Wenn es einen Gott im Himmel gab, was Daniel oft genug bezweifelte, dann hatte er am sechsten Tag der Schöpfung nicht eben sein Meisterstück vollbracht.

Außer seiner gleichaltrigen Schwester Celestina, mit der er gemeinsam gestillt worden war und die ihn wie einen Zwillingsbruder behandelte, war Roloff die einzige Person, der er vertraute. Der alte und der junge Gauner verstanden einander blind, und deshalb war es für den jungen Mann so verstörend, als er erfuhr, dass die Erzählung vom Grafen von Wrangel und den schwedischen Mördern eine gut gemeinte Lüge gewesen war. Ein blutiges Ammenmärchen, das Roloff dem Heranwachsenden aufgetischt hatte, um ihm die noch schmerzlichere Wahrheit zu ersparen. Zwar hatte Roloff das kleine, rothaarige und schwer verletzte Kind tatsächlich unterwegs aufgelesen, aber dies hatte sich nicht in Sachsen, sondern in Westfalen zugetragen, und zu diesem Zeitpunkt war der Krieg bereits beendet gewesen. Und die Unmenschen, die dem Kleinen den Schädel eingeschlagen hatten, waren keine schwedischen Söldner gewesen.

Daniel hatte dies erst am Abend seiner Ankunft in Ahlbeck und eher zufällig erfahren. Als die beiden Gauner den doppelten und mehr als mannshohen Grenzwall durch eine Pforte passiert hatten und an der Wassermühle vorbeigeritten waren, von der Daniel mittlerweile wusste, dass sie Kolkmühle hieß und zum fürstbischöflichen Besitz gehörte, da war dem dicken Roloff eine seltsame Bemerkung herausgerutscht.

»Ganz in der Nähe muss es gewesen sein«, hatte er gemurmelt und die Stirn kraus gezogen. »Ich erinnere mich noch an die Mühle und den Grenzwall.«

»Was war ganz in der Nähe?«, fragte Daniel.

»Hier haben wir dich gefunden«, erwiderte Roloff und merkte erst in diesem Moment, was ihm über die Lippen gekommen war.

»Was redest du denn da?«, wunderte sich Daniel. »Ich dachte …«

»Grundgütiger!«, unterbrach ihn sein Begleiter und deutete auf die andere Seite des Weges, wo auf einem Hügel ein Galgengerüst zu sehen war, an dem der Leichnam eines Hingerichteten baumelte. Eine Krähe saß auf seiner Schulter und hackte an seinem Kopf herum. »Der arme Kerl«, entfuhr es Roloff. »Hoffentlich ist das kein schlechtes Omen.«

Doch Daniel kümmerte sich nicht um den Mann am Galgen, er starrte Roloff mit seinem durchdringenden Blick an und sagte: »Jetzt rück schon damit heraus und lenk nicht vom Thema ab! Was wolltest du vorhin sagen?«

»Ach, was soll’s?!«, zischte Roloff. »Warum sollst du es nicht wissen? Du bist schließlich alt genug, um die Wahrheit zu erfahren.«

»Wovon redest du?«

»Von deiner Auferstehung«, erwiderte der alte Gauner und erzählte, was sich vor nunmehr achtzehn Jahren zugetragen hatte.

Es war eine kalte und stürmische Nacht im Januar, das neue Jahr 1650 war erst wenige Tage alt, und Roloff und Tabitha waren mit ihren zwei kleinen Kindern auf dem Weg zum Dreikönigsfest im niederländischen Deventer. Sie hatten vor kurzem das Bauerndorf Ahlbeck passiert und schlugen ihr Lager etwa eine Meile westlich des Ortes in einem Bruchwald auf, wo sie vor dem eisigen Wind und dem Regen geschützt waren. In der Ferne konnte man das Klappern einer Wassermühle und das Gekläffe eines Hofhundes hören. Sie rückten in ihrem Wagen dicht zusammen, um sich zu wärmen, und schliefen bald ein.

Das Knacken eines Astes ließ Roloff plötzlich aus dem Schlaf auffahren. Er griff nach seinem Degen, schaute aus dem Wagen und horchte in die Nacht hinaus. Er glaubte, leise Stimmen zu hören, und befahl seiner Frau, sich nicht zu rühren und still zu bleiben. Dann zog er einen Rock über und schlich sich mit dem Degen in der Hand hinaus. Wieder horchte er, und erneut hörte er die Stimmen von Männern sowie ein kratzendes oder schabendes Geräusch, das er nicht einordnen konnte.

Der Mond schaute zwischen Wolken hervor, und so war es Roloff möglich, sich trotz der Dunkelheit im Wald zurechtzufinden. Vorsichtig und ohne dabei das leiseste Geräusch zu verursachen, kroch er durch das vor Nässe dampfende Unterholz und näherte sich dem Ort, von dem die Stimmen kamen. Auf einer kleinen Lichtung, die von einem verrosteten Eisenzaun umgeben war, stand eine Art Gedenkstein mit aufgesetztem Kreuz, und dahinter sah Roloff die Schattenrisse dreier Männer, die gebückt standen und sich unterhielten. Das kratzende Geräusch, das er gehört hatte, stammte von einem Spaten, mit dem einer der Männer ein Loch grub. Roloff kroch durch eine Lücke des Zauns und bis hinter das Kreuz, wo er sich duckte und lauschte.

»Das ist tief genug«, hörte er einen der Männer mit hoher Fistelstimme sagen. »Bei dem Gewimmel von Viechern wird ohnehin bald nichts mehr von ihm übrig sein.«

»Bist du sicher, dass das ein guter Ort ist?«, fragte ein zweiter, der etwas kleiner und dicker war als die anderen.

»Natürlich. Kein Mensch kommt je hierher, und der verdammte Bastard kann in Frieden ruhen.«

»Warum binden wir ihn nicht einfach an einen Stein und werfen ihn in den Kolk?«, fragte der Dicke.

»Damit er dann nach einiger Zeit wieder auftaucht und wir alle verflucht sind?«, gab der erste zur Antwort. »Kommt gar nicht in Frage. Rein mit ihm und dann nichts wie weg.«

»Ist es nicht gotteslästerlich, ihn ausgerechnet an dieser Stelle zu begraben?« fragte eine dritte, sehr tiefe Stimme. Sie war rau und dunkel wie die eines Bären. »Immerhin ist das hier so was Ähnliches wie ein Friedhof.«

»Darum geht es doch, du Schwachkopf«, erwiderte der Mann mit der Fistelstimme, der das Sagen zu haben schien. »So liegt das Wechselbalg wenigstens in gesegneter Erde. Glaubst du, ich habe Lust, dass der Satansbraten uns als Geist heimsucht?«

»Ich finde das nicht recht«, antwortete der mit der tiefen Stimme, und er klang trotzig wie ein kleines Kind. Eine kleine Pause entstand, und dann fragte er: »Was ist eigentlich ein Wechselbalg?«

»Das hat dich nicht zu kümmern, Blödmann!«, fuhr ihn der Anführer an. »Du sollst graben und nicht fragen!« Und zu dem Dicken gewandt, setzte er hinzu: »Ich habe dir doch gesagt, wir hätten ihn zu seinem Bruder in die ›Linde‹ schicken sollen.«

»Jetzt lass ihn endlich in Ruhe«, gab der andere zur Antwort. »Wer ist denn überhaupt auf diese blöde Idee gekommen?«

»Das musst du gerade sagen«, schnauzte der Anführer zurück.

Eine Weile konnte Roloff keine Stimmen mehr hören, statt dessen wurde geschaufelt und das Erdreich festgeklopft, und schließlich sagte der Mann mit der tiefen Stimme: »Fertig!«

»Dann lass uns schleunigst verschwinden!«, erwiderte der Dicke.

»Einen Moment«, antwortete der andere und murmelte ein lateinisches Gebet, das von dem Mann mit der Fistelstimme mit höhnischem Gelächter quittiert wurde.

»Amen«, beendete der Mann mit der Bärenstimme sein Gebet.

»Amen«, echote der Dicke.

»Pah!«, fauchte der Anführer.

Roloff hörte, wie die drei ihre Sachen zusammenpackten und gen Westen, Richtung Ahlbeck, verschwanden. Er wartete noch einige Minuten, um sicherzugehen, dass sie nicht zurückkehrten, und trat dann auf die Lichtung. Bei dem Stein, hinter dem er sich versteckt hatte, handelte es sich um ein Grabmal, das bereits verwittert und vom Gestrüpp überwuchert war. Die Inschrift war nur teilweise noch zu entziffern:

»Anno Dom. 1605 … die flechtende Pestilenz …

unseren Sohn Daniel … requiescat in pace.«

Rings um das steinerne Grabmal ragten weitere hölzerne und schmucklose Kreuze aus dem Boden, die aber völlig morsch und von Dornengestrüpp überwuchert waren.

Roloff bekreuzigte sich, ging zu der Stelle, an der die drei Männer gestanden hatten, und schaufelte mit den Händen die aufgeworfene Erde beiseite. In etwa zwei Ellen Tiefe stieß er auf einen weichen Gegenstand aus Stoff. Er grub weiter und legte einen groben Leinensack frei, in dem er die leblose Gestalt eines kleinen, nur wenige Monate alten Säuglings fand. Es war ein Junge, und die rechte Seite seines Kopfes war eingeschlagen, das Ohr und der Hinterkopf waren eine einzige blutige Masse. Roloff schüttelte angewidert den Kopf. Als er das Gespräch der Männer belauscht hatte, war ihm bereits klar gewesen, dass es sich bei dem Gegenstand, den sie vergruben, nicht um einen Schatz, sondern um ein Lebewesen handeln musste, doch als er jetzt das winzige, noch kahlköpfige Kind erblickte, dieses bleiche Gesicht, das im Mondlicht regelrecht weiß erschien, da überkam ihn eine ohnmächtige Wut. Wer schlug in drei Teufels Namen ein kleines Kind tot und verscharrte es irgendwo im Wald? Und aus welchem Grund? Was hatte der Säugling verbrochen, dass man ihn einen verdammten Bastard und Satansbraten nannte und ihn wie einen räudigen Köter beiseite schaffte?

Roloff starrte den Jungen lange an, dann riss er sich zusammen und zuckte mit den Schultern. Was kümmerten ihn die Leichen anderer Leute? Und was sollte er schon unternehmen? Eher würde er tot umfallen, als sich mit Amtmännern und Polizeibütteln herumzuschlagen. Den kleinen Jungen würde es ohnehin nicht wieder lebendig machen. Er fasste ihn an den Füßen und bugsierte ihn zurück in den Sack, um ihn wieder ins Loch zu legen. Doch in dem Moment, da er die erste Handvoll Erde auf den Leichnam warf, hörte er ein leises Stöhnen. Es war ein kaum zu vernehmendes Geräusch, das auch vom Wind in den Bäumen hätte herrühren können, doch Roloff fuhr zusammen und holte den Jungen ein zweites Mal aus seinem Grab. Er horchte an der Brust des Kindes und tatsächlich, das Herz schlug flach, aber vernehmbar, und als er seinen Degen unter die Nase des Jungen hielt, sah er, dass der vermeintlich Tote noch atmete. Nun bekam Roloff es mit der Angst zu tun, und einen Moment lang war er völlig verwirrt. Er wollte Reißaus nehmen und konnte sich doch nicht von der Stelle rühren. Und wie immer, wenn er nicht weiterwusste, beschloss er, seine Frau um Rat zu fragen.

»Tabitha wird entscheiden, was zu machen ist«, murmelte er, wickelte das halbtote Kind in seinen Rock und füllte das Loch mit Erde, so dass niemand Verdacht schöpfen konnte. Er nahm den Kleinen auf den Arm und wollte zu seinem Wagen zurückkehren, als sein Blick auf das Grabmal des an der Pest gestorbenen Jungen fiel.

»Solltest du diese Nacht überleben«, flüsterte er dem Kind ins verstümmelte Ohr, »dann will ich dich Daniel nennen, denn der heilige Daniel scheint dir ein guter Schutzpatron gewesen zu sein.« Wieder bekreuzigte er sich und schlich zurück zu seiner Familie.

»Du hast diese Nacht überlebt, auch wenn ich bis heute nicht weiß, welcher Schutzengel dir beigestanden hat«, sagte Roloff, als sie das Moor hinter sich gelassen hatten und in der Ferne den Treppengiebel der Ahlbecker Kirche sahen. »Tabithas Kräuter und Zaubersprüche scheinen dich gerettet zu haben. Manchmal fange ich selbst an, ihren Hokuspokus für bare Münze zu nehmen.« Er lachte und setzte hinzu: »Sei froh, dass sie mich nicht mit meinen Tinkturen an dich rangelassen hat, dann wärst du jetzt längst wieder unter der Erde.«

»Warum habt ihr mich behalten?«, fragte der junge Mann, der den Bericht seines väterlichen Freundes mit stoischer Miene verfolgt hatte und nicht auf dessen scherzhaften Ton einging.

»Um ehrlich zu sein«, antwortete Roloff und räusperte sich verlegen, »ich wollte dich in irgendeinem Kloster oder Armenhaus abgeben, weil ich dachte, dass du uns nur Scherereien bringst. Aber Tabitha hat getobt und mich einen Unmenschen genannt. Celestina war damals gerade geboren. Tabitha meinte, es sei genug Milch für euch beide da, schließlich habe sie nicht umsonst zwei Brüste. Wir seien jetzt für dich verantwortlich, hat sie geschimpft, der große Gott habe es so gewollt und damit basta! Immer wieder ist sie mir mit ihrem baro dewel gekommen und dass wir uns versündigen würden. Und da habe ich schließlich klein beigegeben.«

»Warum habt ihr mir nicht gleich die Wahrheit gesagt?«, wunderte sich Daniel. »Warum hast du mir diesen Bären aufgebunden?«

»Wir brauchten eine Version, die wir allen Leuten auf die Nase binden konnten«, antwortete der alte Gauner. »Schließlich hat jeder auf Anhieb gesehen, dass du nicht unser Kind warst. Die Wahrheit klang viel zu abstrus und abenteuerlich, und damit sie uns nicht wegen Kindesraub an den Galgen bringen, haben wir uns die Geschichte mit dem Grafen Wrangel ausgedacht. Die klang glaubwürdig, und auf diese Weise kamen wir nicht mit den verschiedenen Versionen durcheinander. Ich habe am Ende beinahe selbst geglaubt, dass wir dich den Schweden abgeluchst haben. Seit jener Nacht im Winter war ich nicht mehr in diesem Landstrich, und eben erst, als wir an der Mühle vorbeikamen, ist mir alles wieder eingefallen.«

»Wenigstens mir hättet ihr die Wahrheit sagen können.«

»Was hätte es dir gebracht?«, erwiderte Roloff und schüttelte den Kopf. »Es hätte dich nur verwirrt und dir irgendwelche Flausen in den Kopf gesetzt. Mit deinen toten Eltern hast du sehr gut leben können, besser jedenfalls als …«

»Besser als mit der Wahrheit?«

»Nun ja«, druckste der Alte herum. Er hob die Augenbrauen und bedachte seinen jungen Begleiter mit einem herausfordernden und zugleich mitleidigen Blick. »Das dachten wir zumindest.«

»Hast du die Gesichter der Männer gesehen?«

Roloff schüttelte den Kopf.

»Wie alt waren sie?«

»Junge Leute«, antwortete Roloff, »kaum älter als du jetzt.«

»Was glaubst du, was dahinter steckt?«, fragte Daniel. »Waren es Räuber, die meine Familie überfallen und mich entführt haben?«

»Warum sollten sich Räuber die Mühe machen, ein Kind im Wald zu vergraben?«, entgegnete Roloff kopfschüttelnd. »Sie würden es einfach am Wegesrand liegen lassen. Nein, die Männer haben von dir gesprochen, als hätten sie dich gekannt. Außerdem klangen sie nicht wie Banditen, sondern wie gadschos aus der Umgebung.«

»Bauern«, wiederholte Daniel und nickte nachdenklich. Ein Dummkopf mit Bärenstimme, ein kleiner Dicker und ein Anführer mit Fistelstimme. Ein verächtliches Grinsen legte sich auf Daniels Lippen, doch plötzlich verfinsterte sich seine Miene, denn ein neuer Gedanke schoss durch seinen Kopf. War es nicht denkbar, ja sogar wahrscheinlich, dass einer dieser drei Männer sein Vater war? Gadschos aus der Umgebung.

»Der Teufel soll euch holen!«, zischte er trotzig.

Drittes Kapitel – Stellt zwei eifrige Geistliche vor

Das Pastorat, das sich auf der gegenüberliegenden Seite des Kirchplatzes, gleich neben dem Friedhof befand, war ein zweistöckiges Gebäude aus rotem Backstein, in dessen Gemäuer über der Tür und in den Giebeln weiße Kreuze eingelassen waren. Aus seinem Dachfirst ragte ein kleines Türmchen mit schießschartenähnlichen Öffnungen heraus, auf dem ebenfalls ein eisernes Kreuz angebracht war. Das Haus stand auf einer kleinen Anhöhe und war, wie der Friedhof nebenan, von einer mannshohen Mauer eingefasst. Nur zwei Durchgänge gab es in dieser Mauer, der eine führte auf den Dorfplatz, der andere zum Friedhof und damit zur Kirche. Es war noch recht früh am Morgen, aber die Hitze war bereits unerträglich. Im Ort war es völlig ruhig, nur aus der Schmiede klang ein metallisches Hämmern zu Daniel herüber, der die Stufen zum Haus des Pfarrers hinaufstieg. Von Henrike Tenfelde hatte er erfahren, dass die Morgenmesse bereits gelesen sei und er den Pfarrer sicherlich zu Hause antreffen würde. Pastor Hellmann sei ein etwas eigenwilliger Mann und verlasse das Pastorat nur äußerst selten. Dabei hatte sie ein wenig die Augen verdreht und einen roten Kopf bekommen.

»Wer verkehrt sonst noch dort?«, erkundigte sich Daniel.

»Nur der junge Kaplan Wissing«, antwortete die Wirtsfrau, »und Frau Ibing, die Frau des Schmieds. Sie ist so was wie die gute Seele der Gemeinde und kümmert sich um den Haushalt der Geistlichen.«

Daniel stand nun vor der Tür und hielt bereits seinen Stock in der Hand, um damit ans Holz zu klopfen, als er plötzlich seltsame Geräusche vernahm, die aus dem Garten neben dem Haus zu kommen schienen. Es klang wie ein Keuchen oder schweres Atmen, und er hörte unterdrücktes Lachen. Daniel schaute sich um, doch weit und breit war niemand zu sehen. Er ließ die Hand sinken und ging ums Haus, um herauszufinden, woher dieses Geräusch kommen und was es bedeuten mochte. Er lugte um die Ecke, aber auch hier war niemand zu sehen, ein gepflasterter Weg führte zur Kirche, aber sowohl der Gemüsegarten als auch der Friedhof waren verwaist. Allerdings stand auf dieser Seite des Hauses ein Fenster offen, und Daniel erkannte, dass die Geräusche aus dem Inneren des Pastorats kamen.

»Du bist ein Ferkel, Röttger«, hörte er eine Frau sagen, und im nächsten Moment lachte sie schrill auf. »Nicht doch, das kitzelt!«, rief sie und kreischte vor Vergnügen. »Dein Bart piekst.«

Daniel schlich sich zum Fenster, schaute vorsichtig hinein und erblickte eine Art Arbeitszimmer. Bücherregale standen an den Wänden, und ein großer Schreibtisch mit einem Kruzifix darauf beherrschte den vorderen Teil des Zimmers. Hinter dem Tisch stand ein gepolsterter Ohrensessel, auf dem eine junge, wohlbeleibte Frau mit dichtem blonden Haar saß. Sie trug nur ihr Unterkleid, aus dem die üppigen Brüste herausragten, und hatte ihre pummeligen Beine in die Luft gestreckt. Vor dem Sessel und damit unter dem Schreibtisch kauerte ein dunkelhaariger Mann auf dem Boden und hatte seinen Kopf zwischen den Schenkeln der Frau vergraben.

»O Gott!«, rief diese und strampelte mit den Beinen.

»Der hat damit nichts zu tun«, sagte der Mann kichernd und kroch unter dem Tisch hervor. Er trug eine schwarze Soutane, an deren Vorderseite er nun herumnestelte, und setzte sich schließlich mit dem Rücken zum Fenster auf den Schreibtisch.

»Hallelujah! Was sehe ich denn da?« Die Blonde grinste schelmisch und vergrub nun ihrerseits den Kopf in seiner Lendengegend.

Der junge Mann winselte vor Erregung, während er sich mit der einen Hand genießerisch über den Schnurrbart strich und mit der anderen das Kruzifix ergriff.

»Gibt es in meinem Arbeitszimmer irgendetwas Interessantes zu sehen?«, hörte Daniel plötzlich eine Stimme hinter sich. »Oder betrachtet Ihr nur die Stiefmütterchen vor dem Fenster?«

Daniel sprang auf, drehte sich um und sah einen etwa fünfzig Jahre alten Mann vor sich stehen. Er trug ebenfalls einen schwarzen Priesterrock mit hohem weißen Kragen und einen altmodischen spanischen Hut mit schmaler Krempe, wie man ihn zu Zeiten des Krieges getragen hatte. Sein Gesicht war von einer ungesunden, gelblichen Farbe, und die Zähne in seinem Mund, die er bei einem abfälligen Grinsen präsentierte, waren faulig und braun. In den Händen hielt der Mann eine Bibel sowie eine mit Bastgeflecht umwickelte Weinflasche. Dem Kreuz auf dem Etikett nach zu urteilen, handelte es sich um Messwein.

»Ich bin auf der Suche nach dem Pastor«, sagte Daniel und lüpfte seinen Schlapphut. »Mein Name ist Magnus, Student der theologischen Fakultät. Ich komme im Auftrag des Bischofs und würde gern einen Blick in die Kirchenbücher werfen.«

Der Priester starrte auf die Wunde an Daniels Kopf und fragte: »Und warum schleicht Ihr dann wie ein Dieb ums Haus herum?«

»Ich habe an der Tür geklopft, aber mir wurde nicht geöffnet«, erwiderte Daniel und senkte den Kopf. »Euer Kaplan scheint zu beschäftigt zu sein, um morgendliche Besucher einzulassen.«

»Das mag wohl sein«, sagte der Pastor und gegen seinen Willen huschte ihm ein Lächeln über die Lippen. Dann wurde er wieder ernst, und mit lauter Stimme, so dass man ihn auch im Inneren des Hauses hören konnte, setzte er hinzu: »Kaplan Wissing ist ein eifriger Mann und stets bemüht, das Wort Gottes unter das Volk zu bringen. Und das Volk scheint ihn dafür zu lieben.«

Die beiden Männer schauten sich eine Weile lauernd an und sprachen kein Wort, dann lachte der Pastor und klopfte Daniel auf die Schulter. »Ich bin Pastor Hellmann, willkommen in Ahlbeck. Lasst uns hineingehen, dort spricht es sich besser.« Er hakte sich bei dem jungen Mann unter und setzte hinzu: »Ich hoffe, Ihr lasst Euch von mir auf ein Glas Wein einladen.« Er deutete auf die Flasche in seiner Hand. »Ihr trinkt doch ein Tröpfchen? Es ist guter Pfälzer Wein.«

»Eigentlich ist es noch ein wenig früh …«

»Unsinn! Dafür ist es nie zu früh«, unterbrach ihn der Priester. »Wusstet Ihr, dass es noch vor gar nicht so langer Zeit nur dem Klerus erlaubt war, Wein zu trinken? Immerhin handelt es sich um das Blut Christi. Wir sollten also acht geben, dass nicht zuviel davon in den Rachen des Pöbels gelangt.«

Als Pastor Hellmann sich dem jungen Mann zuwandte und ihm ein Lachen entgegenschmetterte, konnte Daniel riechen, dass der Priester schon eine geraume Menge vom Blut des Herrn zu sich genommen hatte. Aus seinem Mund schlug ihm ein widerlicher Gestank nach Fäulnis und Alkohol entgegen.

»Ein Glas wird mir sicherlich nicht schaden«, sagte Daniel und wandte den Kopf ab.

»So ist es recht«, entgegnete Hellmann und klopfte dem anderen erfreut auf die Schulter. »Es tut so gut, endlich mal einen gelehrten Herrn im Ort zu haben, mit dem man sich auf gesittete Weise unterhalten kann. Ihr seid also Student? Was lehrt man denn heutzutage an den Universitäten?«

In dem Moment, als die beiden Männer an der Vordertür anlangten, wurde diese von innen aufgerissen, und die blonde Frau stand im Türrahmen. Ihre Haare hatte sie notdürftig unter einer Haube verstaut, ihr Gesicht wirkte erhitzt, und über dem Unterkleid trug sie nun eine einfache Tracht aus Leinen, dessen Brusttuch verrutscht war. Ihr üppiger Busen kam auf diese Weise erst recht zur Geltung.

»Guten Morgen, Gisela«, sagte Hellmann, »wie ich höre, hast du mein Arbeitszimmer in Ordnung gebracht und ein wenig gelüftet. Braves Mädchen.«

»Wie?«, sagte sie und lächelte dümmlich. »Ach so, ja.« Damit zwängte sie sich an den beiden vorbei und stieß Daniel beinahe um.

»Ich habe Gisela Eure Büchersammlung gezeigt«, ließ sich in diesem Augenblick eine männliche Stimme aus dem Hintergrund vernehmen. »Sie war so wissbegierig, und da habe ich ihr den Gefallen getan.« Der junge Mann in der Soutane erschien im Flur, verbeugte sich vor dem Gast und nickte dem Pfarrer zu. Er war ein auffallend hübscher Kerl mit rosigem Gesicht und fast weiblichen Zügen. Er knöpfte sich gerade die letzten Knöpfe seines Rockes zu und setzte hinzu: »Ich hoffe, das war Euch recht, Herr Pastor.«

»Es wäre mir sehr viel lieber, wenn du deine Lesestunden bei geschlossenem Fenster abhalten würdest. Es nicht nötig, dass das ganze Dorf erfährt, welche Fortschritte Gisela in der Bibelkunde macht.« Hellmann schüttelte ärgerlich den Kopf und fragte dann: »Röttger, wärst du wohl so freundlich, die Kirchenregister aus der Sakristei zu holen? Der Herr Scholar besucht uns im Auftrag des Bischofs.«

Der Kaplan nickte und verschwand eiligst.

»Die Jugend«, sagte der Pfarrer, lächelte nachsichtig und wies seinem Besucher den Weg in sein Arbeitszimmer. »Setzt Euch in den Sessel«, sagte er, als er die Tür hinter sich geschlossen und hinter dem Schreibtisch Platz genommen hatte. »Er ist frisch gepolstert.«

»Danke vielmals«, antwortete Daniel, beäugte missfällig den Ohrensessel und lächelte verlegen. »Aber ich bevorzuge es, härter zu sitzen.« Er nahm einen Holzstuhl, der in der Ecke des Raumes stand, und stellte ihn vor den Tisch. Sein Blick glitt durch das Arbeitszimmer, dessen Wände mit Regalen zugestellt waren. Hunderte von Büchern, Folianten und Manuskripten stapelten sich darin. Daniel betrachtete diese Schätze mit offensichtlicher Verwunderung und ebensolcher Anerkennung.

»Was Ihr hier seht«, sagte der Pfarrer, lächelte stolz und öffnete die Weinflasche, »ist das Resultat jahrzehntelangen Sammelns.«

Daniel war an eines der Regale herangetreten und beäugte andächtig den Inhalt. Er zog eines der Bücher heraus, las den Titel und fragte verwundert: »Ihr lest Renatus Cartesius?«

»Kennt Ihr ihn?«, antwortete Hellmann, dessen Miene sich schlagartig erhellte.

»Cogito ergo sum«, antwortete Daniel und nickte. »Ich habe allerdings bisher nur Auszüge seiner Werke zu Gesicht bekommen.«

Das entsprach natürlich nicht ganz der Wahrheit, sein gesamtes Wissen über den französischen Philosophen bestand in dem einen lateinischen Satz. Auf seinen Reisen hatte Daniel einige sehr gebildete, aber ebenso heruntergekommene Vaganten kennengelernt, mit denen er sich über Religion, Philosophie und die anderen Wissenschaften unterhalten hatte. Er hatte sich zu jedem Denker einen Kernsatz oder einen Buchtitel gemerkt, konnte auch die Bibel zitieren und war so in der Lage, ein Wissen vorzutäuschen, für das er ein Leben lang hätte studieren müssen.

»An der theologischen Fakultät gehört Cartesius nicht gerade zur Pflichtlektüre«, fuhr Daniel fort und blätterte in den Seiten.

»Zu unrecht«, ereiferte sich der Pastor. »Nur weil sich jemand für das logische Denken ausspricht, muss er noch lange kein Ketzer sein. Gott hat uns schließlich die Vernunft gegeben, um seine Herrlichkeit schätzen zu lernen.«

»Das sieht der Bischof bestimmt ganz anders«, gab Daniel zur Antwort, stellte das Buch zurück und setzte sich auf den Stuhl.

»Auch das ist ein wahres Wort«, sagte Hellmann, holte zwei Kristallgläser aus einem Fach seines Schreibtisches hervor, füllte sie mit Wein und reichte Daniel eines davon. »Auf Kanonen-Bernd!«, sagte er, hob sein Glas und leerte es in zwei Zügen.

»Kanonen-Bernd?«, wunderte sich Daniel.

»So nennen ihn die Leute im Münsterland.« Der Pastor füllte sein Glas ein zweites Mal, musterte seinen Gast skeptisch, weil dessen Glas noch beinahe voll war, und erklärte: »Seit Bischof Bernhard die Stadt Münster erobert hat und gegen die Türken und Holländer gezogen ist, glauben die Leute, dass er besser einen Waffenrock statt einer Soutane tragen sollte. Und statt des Kreuzes ein Gewehr.«

»›Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert‹, sagt der Herr«, erwiderte Daniel und bekreuzigte sich. »Gerade im Moment hält der Bischof die Burg Bentheim im Würgegriff.« Daniel hatte diese Neuigkeit aus der benachbarten Grafschaft von einem Juden erfahren, der vor den anstürmenden Truppen des Fürstbischofs nach Holland geflüchtet war. »Bischof von Galen ist ein gleichermaßen gläubiger wie wehrhafter Mann«, setzte er hinzu. »Man sollte sich ihm nicht in den Weg stellen.«

»Nieder mit den Protestanten!«, rief Hellmann und prostete seinem Gegenüber zu. Ein spöttisches Grinsen lag auf seinen Lippen.

»Nieder!«, echote Daniel und grinste ebenfalls.

Im gleichen Moment erschien der Kaplan mit den Kirchenbüchern, und Daniel nutzte die Gelegenheit, um den Inhalt seines Weinglases in einen auf dem Boden stehenden Blumentopf zu leeren.

»So ganz habe ich den Zweck Eures Besuches noch nicht verstanden«, sagte der Pastor, nachdem der Kaplan sich zurückgezogen und Hellmann die Folianten auf seinem Schreibtisch aufgeschlagen hatte. »Der Bischof war erst vor zwei Jahren zur Visitation im Dorf, und eigentlich ist es unüblich, dass er einen Studenten schickt.«

»Bei meinem Besuch handelt es sich nicht im eigentlichen Sinne um eine bischöfliche Visitation«, erklärte Daniel und hielt dem Pastor sein Weinglas hin, damit dieser es erneut füllen konnte. »Ich arbeite an einem Traktat über die religiöse Entwicklung im Münsterland nach dem Großen Krieg. Es ist für mein Baccalaureus.«

Der Pastor nickte wissend.

»Mir geht es weniger um nackte Zahlen und Daten von Geburten, Taufen und Eheschließungen«, fuhr Daniel fort, »sondern um die Menschen und ihren Glauben.«

Hellmann schüttelte spöttisch den Kopf. »Und da verschlägt es Euch ausgerechnet nach Ahlbeck?« Er füllte die Gläser und hob seines prostend in die Luft. »Einen gottloseren Ort hättet Ihr Euch nicht aussuchen können. Die Leute vegetieren dumpf vor sich hin, und wenn sie am Sonntag ins Hochamt rennen, dann nicht aus Liebe zu Gott, sondern aus Angst vor der Hölle oder um anschließend in der ›Linde‹ ein Bier zur Brust zu nehmen.«

Daniel überraschte der Ekel, der in den Worten des Priesters mitschwang. Ein Ekel, den Hellmann mit Alkohol zu betäuben suchte und der ihn mit den Jahren zu einem verbitterten Mann gemacht hatte. Der Pastor versuchte gar nicht zu verbergen, dass ihm die Menschen, denen er ein geistiger Hirte sein sollte, zuwider waren.

Ein sarkastisches Lächeln lag auf Daniels Lippen, als er sagte: »›Selig, die arm sind in ihrem Geist, denn ihrer ist das Himmelreich.‹«

»Sancta simplicitas«, antwortete der Priester kopfschüttelnd. »Hätte der Menschensohn gewusst, welchen Schaden er mit diesem Ausspruch anrichtet, so hätte er ihn sicherlich niemals über die Lippen gebracht.« Er zeigte seine fauligen Zahnstümpfe und setzte hinzu: »Ich hoffe, meine Worte schockieren Euch nicht.«

Daniel machte eine verkniffene Miene und bekreuzigte sich.