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Eben noch hat Knud vom Paradies geträumt. Jetzt ist er Student und stellt fest: das Paradies ist die Hölle. Drogen und Alkohol führen zum Absturz. Es beginnt ein wilder Ritt durch die achtziger und neunziger Jahre: Häuserbesetzung, RAF, CIA und Kalter Krieg. Am Ende findet er Trost beim »bucklichten Männlein« und den von ihm so geliebten deutschen Romantikern.
Knud Romer brilliert als schonungsloser Chronist seines eigenen Lebens. Er springt zwischen Orten und Zeiten, jongliert mit Fakten und Gefühlen. Sein Buch ist emotional aufwühlend – und spannend bis zur letzten Seite.
Die aufwühlende Erinnerung an eine dänische Kindheit und Jugend, eine Liebeserklärung an die deutsche Literatur, eine Achterbahnfahrt durch die 80er und 90er Jahre des 20. Jahrhunderts.
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Seitenzahl: 712
Veröffentlichungsjahr: 2020
Inhalt
Cover
Titel
Widmung
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
Cover
Titel
Widmung
Motto
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
Knud Romer
Die Kartographie der Hölle
Roman
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg
Insel Verlag
Für Odessa und Vienna
Mein Schatz
Ich habe dein Lächeln im Kästchen verwahrt,
Milchzahn für Milchzahn, jeden einzelnen,
und das Blitzen in deinen Augen gefangen,
du mein Augenstern.
Noch immer kannst du dein
glückliches Lachen hören,
in meinem kleinen Schmuckkästchen
erklingt dein perlendes Gelächter.
Gestutzte Weidenbäume und flache Felder vor einem unendlichen Horizont – sieh dich um, so sieht es aus, wenn ich die Augen schließe. Es ist egal, wo ich mich befinde und wohin in aller Welt ich auch reisen mag. Und wenn ich auf dem Mond stünde. Ich brauche nur zu blinzeln, und der Straßengraben vibriert vor Grashüpfern. Und auf den Wiesen riecht es nach Tang. Der grüne Sund fließt vorbei.
Ich trage Falster in mir, weil ich gewissermaßen die Landschaft bin. Sie war das Erste, was ich gesehen habe, und sie schuf mich in ihrem Bild – es kam in mir zu Bewusstsein, es erwachte in mir. Wir entstanden gleichzeitig. Alles war neu, als sei man verliebt, und Gott spielte Yo-Yo mit der Lerche, die hoch oben an ihrer Schnur hing und Triller schlug.
In der Tierwelt nennt man es »Imprinting«. Tiere kopieren, was sie sehen, sie finden in einer dichten Landschaft aus Gerüchen, Lauten und Sinneseindrücken nach Hause: Ortssinn. Dies gilt auch für Menschen, als Kind bindet man sich an das, was einem begegnet. Wir besetzen es in einem euphorischen Moment mit unseren Gefühlen und unserer Aufmerksamkeit. Das Gesicht unserer Mutter, das Verhalten der Eltern und die Eigenschaften der Umgebung prägen sich in unser Gedächtnis ein und formen unser Bewusstsein.
Es kann ein Einfamilienhaus in einem Vorort sein, ein Hof auf dem Land, ein Gebäude in einem Hochhausviertel. Das Land der Kindheit liegt überall und ist immer genau hier. Geschaffen wird es durch dieses nahsinnliche Erlebnis, durch die Art und Weise, wie wir es erleben, ob es sich nun um einen Kücheneimer handelt oder den Hinterhof mit dem Komposthaufen, der nach Regenwürmern und Erde riecht. Es ist das Tier in uns, das die Ohren spitzt, wittert und den Ort in Natur verwandelt.
Mein Bewusstsein ist eine Landschaft, die sich mir und meinen Sinnen geöffnet und ihnen Ausdruck verliehen hat. Weiße Lämmerwölkchen grasten in den Schatten der Weiden, und ich stand mittendrin und kannte nichts anderes – es war alles, was ich wusste, es war der ganze Horizont meiner Welt: Falster.
Warum war es so flach? Es war vom Himmel gefallen.
Die Landkarte hing über dem Bett meines Kinderzimmers: »Lalandiae et Falstriae Accurata Descriptio«. Vater hatte sie mir bei einer Versteigerung erstanden. Sie war abgegriffen und so alt, dass der Text darauf in einer Sprache verfasst war, die nur Tote und Gespenster sprachen: Latein. Die Städtenamen waren in einer verschnörkelten Schrift geschrieben, und die Landstraßen schlängelten sich zwischen gestrichelten Umrissen von Hügeln, Wäldern und Kirchen.
Die Ostsee schlug an die Küste, und die Fregatten flohen unter vollen Segeln vor den aus der Tiefe auftauchenden Seeungeheuern. Wappenschilder und Vignetten mit Tieren, Jägern und Bauernmädchen rahmten die Karte ein, und genau dort – du kannst den Finger darauflegen – wohnte ich in einem Städtchen mit zwei Türmen, das Nyköbing heißt.
Die Stadt liegt am Sund, und wenn man genau hinsieht, kann man die schmalen gepflasterten Gassen erkennen, die vom Hafen hinaufkriechen. Die kleinen schiefen Häuschen haben rote Dächer und verputzte Fassaden – gelbe, hellblaue, grüne –, und sie lehnen aneinander, um nicht umzufallen. Auf dem Marktplatz stehen der Bärenbrunnen und eine Bank im Schatten eines Baums.
Auf diese Bank durfte man sich um Gottes willen nicht setzen. Denn dann hörte man auf, sich zu waschen und die Haare zu schneiden, man bekam einen Bart, trug zerlumpte Kleidung und fing an, laut Selbstgespräche zu führen. Und bevor man sich versah, ging man zwischen der Bank und dem Wirtshaus gegenüber – Fortuna – hin und her, genau wie Tröten-Børge. Er rief den Leuten »tröt« hinterher – sie zuckten vor Schreck zusammen –, und ich nahm mich in Acht, kniff die Augen zu und lief hastig an ihm vorbei.
Mit dem Fahrrad komme ich am weitesten weg. Einige Kilometer auf dem Grønsundsvej und durch Sønder Kirkeby, und schon ist man da. Es duftet nach Kamille und Klee, und ein paar weiße Steinsäulen schimmern am Ende der Welt in der Sonne.
Auf dem letzten Stück geht es durch Felder und um die Scheunen des Gutshofes, dann biegt man auf eine lange, schnurgerade Allee. Hier liegt es hinter Rasenflächen und schläft seinen Dornröschenschlaf: Schloss Corselitze, perlgrau und viereckig, mit hohen Fenstern und Schornsteinen auf dem Dach, und aus der Fassade ragt eine Flaggenstange.
Die Flagge wurde gehisst, wenn die Königin zu Besuch kam, aber sie kam nie. Ich glaube, sie hat es vergessen. Das Schloss stand leer, die Rosen und Hecken wurden für niemanden geschnitten. Vielleicht spielten einmal zwei Mädchen im Park, und ich stieg in Gedanken die Treppen hinauf, schritt durch die Säle und trat auf den Balkon mit einem fantastischen Ausblick.
Auf beiden Seiten von Bäumen gesäumt, zog sich die Allee über den Hügel und durch den Wald. Und wo mein Blick endete, zwinkerte mir das blaue Meer zu. Aus dem Gebüsch traten Jäger mit abgeknickten Büchsen über der Schulter, und Bauernmädchen banden Heugarben. So sah es für die Königin aus.
Über die Böschung zum Strand neigten sich die Buchen und konnten nicht weiter, und ich warf meine Angel aus, um Meerforellen zu angeln. Ich fing nur Tang. Die weißen Segel der Fregatten standen am Himmel, dann sprangen mit geifernden Mäulern die Seeungeheuer aus den Wellen, und ich wuchs mit der Landkarte und der sicheren Gewissheit auf, dass der Wind in den vier Ecken der Welt von Posaune blasenden Engeln erzeugt wird.
Eine Amsel weckte meine Ohren. Es war das Schönste, was ich je gehört hatte, rein und klar wie ein Fenster, in das der Sommer blickt. Ich wusch mein Gesicht, steckte das Hemd in die Hose und konnte nicht schnell genug in die Schule kommen. Unsere Klassenlehrerin hieß Frau Kronow. Sie hatte braune Haare und eine Pagenfrisur. Stellte sie sich im Vormittagslicht ans Fenster, konnte ich sie durch ihr Strickkleid sehen.
Die anderen hatten Dänisch, Rechnen und Erdkunde, während ich Frau Krolow studierte und immer klüger wurde. In der Pause rieb sie ihre Hände mit Nivea-Creme ein, es war auf den Fluren und Treppen und auch hinter dem Fahrradschuppen zu riechen.
Wir schrieben ein Diktat, und ich bekam mein Schreibheft wie einen Liebesbrief mit roten Strichen zurück. Um ein Uhr wischte sie die Tafel sauber. Auf dem Heimweg gurrten die Tauben – »Frau Kronow, Frau Kronow« –, und ich hatte den ganzen Nachmittag, um im Viertel umherzuschweifen.
Der letzte Mohikaner, das war ich. Ich leckte mir den Schweiß von den Armen – es schmeckte salzig – und ging Äpfel klauen. Über den Nachbargrundstücken breiteten die Bäume ihre Zweige aus. Es war mein Königreich, ich hatte meinen Namen in die Borke geschnitten. Ich stahl Haselnüsse, aß Kirschen und verschluckte den Kern, der mir wie das Rätsel meiner selbst vorkam.
Das Wichtigste an Hosen waren die Taschen. Ich stopfte sie voll mit allem, was ich finden konnte – Schrauben, Muttern, Schneckenhäusern –, und unten im Laden stand Kaufmann Olsen hinter dem Tresen. Er war groß und dick und hatte Tätowierungen auf den Armen, er war zur See gefahren. Drei Glaskugeln, einige Kronkorken und eine Feder reichten genau für ein Eis.
Regnete es im April, regnete es in mir, und in dem strömenden Regen wurde es still. Ein Gewitter zerriss den Himmel. Auf dem Boden glitzerte es in tausend Pfützen, es roch nach Kies und Grünem.
Das Frühjahr spross hervor – Hokuspokus, Winterling und Krokus –, und die Kohlmeisen hüpften in der Luft wie Steine auf dem Wasser. Überall um mich herum war Leben. Die süßen Gefühle blühten im Tausendschönchen. Meine schlimmsten Gedanken wucherten wild in den stechenden und brennenden Disteln und Brennnesseln. Vor Bärenklau hatte ich Angst.
Die Wolken trieben an meinem Gesicht vorbei, und ich veränderte mich mit dem Wind und dem Wetter. Ich bekam Sommersprossen und war im Sonnenschein hochvergnügt und überglücklich und tief deprimiert und traurig bei trübem Wetter. Wenn es stürmte, hüpfte ich im Garten herum. Bei Ostwind, der von weit her, aus der mongolischen Steppe, kam, liefen Pferde durch die Straßen. Im Winter wurde Nykøbing zu Schnee.
Ich fand in der Hecke ein Nest mit gefleckten Eiern und suchte unter den Steinen nach Käfern. Hinterher schlug ich sie in einem Buch mit Illustrationen nach, Insekten in Farbe. Wenn ich ihren Namen fand, hatte ich das Gefühl, sie auf eine Nadel zu spießen. Sie waren ausgesprochen nobel und stammten noch aus dem römischen Reich: »Forficula auricularia!«
Das Beste sparte ich mir jedoch bis zum Schluss auf, wenn ich die Tür zu meinem Zimmer schloss und Hausaufgaben machte. Ich hatte für den nächsten Tag dasselbe auf wie am Tag zuvor. Die gelbe Schreibtischlampe bog ihren Kopf über den Schreibtisch, wenn ich an dem Aufsatz weiterarbeitete, der nicht fertig werden wollte und auch nicht abgegeben werden konnte, ohne dass es mich umgebracht hätte: »Das weibliche dänische Geschlecht wird durch Frau Kronow auf das Feinste repräsentiert«, schrieb ich und strich es wieder durch.
Ich konnte es nicht sagen, ich fand nicht die richtigen Worte. Sie gehörten jemand anderem, ich benutzte Sätze, die ich gelesen hatte, ich verkleidete mich: »Die deutsche Automobilindustrie wird durch den Mercedes 220 auf das Feinste repräsentiert.« Es hatte keinen Sinn. Ich konnte meine Gefühle nicht verbergen. Sie ragten heraus wie eine Hand aus einem Kostüm: »Ich liebe sie sehr.«
Die Amseln zwitscherten auf den Hausdächern. Ich spielte draußen und bemerkte erst, wie dunkel es geworden war, wenn ich hereingerufen wurde: »Knüdchen, Essen!« Die Straße beschrieb an der Ecke eine Kurve und endete in meinem Bett.
Das Schiff auf der Landkarte über dem Kopfende wartete auf mich, es war spät. Es legte ab und segelte mit Frau Kronow als Gallionsfigur über die Meere. Es wiegte mich unter den Sternen in den Schlaf und fuhr durch die Nacht, und der nächste Tag war ein neues und unbekanntes Land.
*
Es ist lange her, seit ich auf der Hans Ditlevsensgade herumgehüpft bin und Himmel und Hölle gespielt habe. Die Gardinen sind vorgezogen, obwohl die Sonne scheint. Wenn ich klingele, passiert nichts. Niemand antwortet. Schließlich klettere ich über die Hecke und klopfe vom Garten aus ans Fenster. Er sitzt auf seinem Sessel im Zimmer und schläft – und ich rufe »Vater«, dann wacht er auf.
Es dauert eine Ewigkeit, ich höre seine schleppenden Schritte. Er fummelt mit den Schlüsseln, die Tür ist verschlossen, dann steckt er wie eine Schildkröte den Kopf heraus. »Ach, bist du gegangen?« »Nein, ich bin gerade gekommen«, antworte ich, und er sagt: »Ja, ja, ich meine ja auch Knud.« Ich bin Knud. Er schüttelt den Kopf und sagt, das wisse er doch.
Ich versuche, ihn in den Garten zu locken und ein paar Erdbeeren zu pflücken. Aber er will nicht, er sagt nein und will auch kein Stück Kuchen. Wir sitzen auf unseren festen Plätzen am Tisch. Der freie Stuhl neben ihm erschwert das Decken des Tischs. Die Standuhr tickt. Wir haben uns nichts zu sagen.
Es hat keinen Sinn, und nach ein paar Stunden breche ich auf. Er steht in der Tür und winkt mit dem Stock. Sein eigenes Leben weiterzuleben und ihn allein im Haus zurückzulassen ist so, als begehe man ein Verbrechen.
Aber ich störe nur. Sobald er hinter sich abschließt, war ich nicht da, hat es nie einen Besuch gegeben. Er setzt sich wieder in den Sessel, und alles ist so, wie es immer gewesen ist. Mutter ist blond und hübsch, ich bin ihr Sohn, und das Barometer steht auf unveränderlich.
Vater lebt weiter in einem geschlossenen Kreis von Erinnerungen, gegen die keine Wirklichkeit ankommt, zumal niemand mehr da ist. Er lässt sie direkt hinter sich und registriert sie nicht einmal – auch mich nicht. Wenn wir telefonieren, gibt es nichts Greifbares, und eines Tages sagt er: »Wir sitzen vor dem Fernseher.«
Es war merkwürdig, und ich hatte gehofft, er hätte es nur aus alter Gewohnheit gesagt. Aber so war es nicht. Als ich all meinen Mut zusammennehme und ihn danach frage, weicht er aus und ist verwirrt. Sie habe gerade das Zimmer verlassen, aber sie sei hier gewesen. Ich höre, wie er aufsteht und nach ihr ruft: »Hildchen, Hildchen!«
Die Schwelle zum Flur knarrt, ich kenne jedes Geräusch im Haus, es steckt in mir. Er schaut in die Küche und sieht im Schlafzimmer nach – und er öffnet die Kellertür. Ich habe furchtbare Angst, dass er in den Keller will und die Treppe hinunterfällt.
Zum Glück bleibt er jetzt stehen, und ich warte darauf, dass er zurückkommt und wieder zum Hörer greift. Vorsichtig legt er ihn ans Ohr: »Hallo?« Ich bekomme keine Luft. »Wo ist sie?«, frage ich. »Im Keller«, antwortet er. Sie hätte sich hingelegt.
Mutter ist seit zwei Jahren tot, und ihr Tod ist ein kleines Mädchen mit Zöpfen, auf das Vater aufpasst. Sie lernt zu gehen, er zieht sie an, sie sehen gemeinsam fern. Abends legt er sie in ihr Bett und gibt ihr einen Gutenachtkuss.
Ich hatte Angst vor meinen Besuchen und wenn ich am Tisch saß, wagte ich nicht, auf ihren angestammten Platz zu schauen, denn ich wollte nicht sehen, was ich befürchtete – aber es liegt nichts auf dem Teller. Sie hat aufgegessen. Ich kann für Vater nichts tun, ich nehme mich seiner an und tröste ihn. Er ist untröstlich.
Nach ihr kam nichts, und es gibt nicht genügend Wodka und Kokain, um das zu ändern. Alle fünfzehn Minuten verlasse ich das Zimmer und schnupfe eine Linie auf der Toilette. Sogar ihre Zahnbürste steht noch da. Ich habe keine Ahnung, wie wir das überstehen sollen, ohne mit ihr auf dem Østre Kirkegård zu verschwinden.
Am 18. November hat er ein Kreuz in den Kalender gezeichnet und mit dünner, zittriger Handschrift daneben geschrieben: »Mutter tot«. Es ist die letzte Notiz in dem Kalender, in dem Vater Rechenschaft über unsere gezählten Tage ablegte. Der Rest ist leer – weiße Seiten.
Wir blieben unter uns und spielten Kniffel im Schatten von Deutschland. Es wiederholte sich in den Tischmanieren, den Serviettenringen und dem Porzellan in der Anrichte, das nicht kaputtgehen durfte, dem Meißner Porzellan. Das Gemälde über dem Sofa zeigte eine Landschaft im Harz.
Es gab Kuchen: eine Sacher-Torte! Und Sahne, Schlagobers. Mutter goss sich aus einer Flasche ein wenig in ihren Kaffee und nannte ihn Fiaker. Marillenlikör, schwärmte sie, allerdings war der in Nykøbing nicht zu bekommen.
Nach dem Krieg war sie in die Stadt gekommen und hatte in der Zuckerfabrik Arbeit gefunden. Als die Saison vorbei war, blieb sie, servierte Vater Zwetschgenknödel und heiratete ihn.
Er leckte sich den Mund, Himbeersoße und Puderzucker, und hinterher bekam er Apfelstrudel. Oder es gab Kaiserschmarren zum Nachtisch: schwere Pfannkuchen mit Rumrosinen und Pflaumenmarmelade. Selbstverständlich mit Puderzucker – zu allem. Im Winter briet sie Kartoffelpuffer, die mit Knoblauch bepinselt wurden. Es klang wie Schneeflocken, »Puffer«.
Mutter sang auf Deutsch: »Schlaf, Kindlein, schlaf.« Es war wie eine Zauberformel, von weit her beschwor sie ein Land mit Bergen und Burgen herauf. Wenn es schneite, schüttelte Frau Holle ihre Bettfedern vom Himmel herab, so erzählte sie. Die Wälder waren märchenhaft tief. Sie breiteten sich in der Dunkelheit aus, und ich bekam Albträume, verirrte mich und wurde von den Brüdern Grimm gefressen.
Sie nannte mich »Knüdchen« und Vater »Väterchen«; Großmutter war »das kleine Muttimäuschen«. Kosenamen kamen nur in der Verkleinerungsform vor – es hieß »Koseform« –, und sie ließ vor lauter Liebe alles klein werden, damit es in ein Buch passte. Sie las mir Till Eulenspiegel und Reincke Fuchs vor. Die Hasen gingen in die Schule, in Die Häschenschule, und lernten, Ostereier zu bemalen und sich vor dem Fuchs zu hüten.
Ich sah sie als Schatten auf der Tapete vor mir, Max und Moritz und den Räuber Hotzenplotz. Das Unheimlichste war Peter aus dem Struwwelpeter. Plötzlich stand er da, mit gespreizten Beinen, viel zu langen Fingernägeln und wirren Haaren: »Sieh einmal, hier steht er. Pfui! Der Struwwelpeter!«
Die unartigen Kinder wurden vom Niklas in ein Tintenfass gesteckt und der Schneider sprang von rechts mit einer riesigen Schere heran und schnitt dem Jungen die Daumen ab, an denen er lutschte. Das war grausam, ich steckte die Hände in die Hosentaschen.
Auf der Treppe zum Kindergarten bei Fräulein Freuchen in der Frisegade wiederholte sie immer denselben Vers: »Die Katze tritt die Treppe krumm, die Katze tritt die Treppe krumm.« Mir wurde schwindlig, wenn ich versuchte, mir vorzustellen, wie die Treppe krumm wurde, meine Zunge verknotete sich.
Im Restaurant bestellte ich, was ich am liebsten mochte: Schnitzel, Wiener Schnitzel! Das war gut, sogar im Horbelev Kro – dort stand ein Billardtisch im Hinterzimmer und es roch nach Bier –, und wenn wir Großmutter besuchten, wurde das Schnitzel, je weiter wir auf der Autobahn kamen, immer flacher und lag nach all den Raststätten golden und knusprig auf einem großen, runden Teller.
In Frankfurt blühten die Kirschbäume. Der Frühling kam früher als bei uns. Abends gingen wir aus und aßen im Wienerwald, der von bunten Lampen erleuchtet wurde. Die Kartoffeln zu meinem Schnitzel wären »Erdäpfel«, sagte der Keller. Die Bäume mussten kopfüber in die Erde hineinwachsen, aus der sie kamen.
Es gab Unmengen an Schokolade und Kekse von Bahlsen, die wie Buchstaben geformt waren: »Russisch Brot«. Man konnte das Alphabet essen! Ich schrieb: »Die Katze tritt die Treppe krumm«, kaute mich durch den Satz und dachte, es sei Russisch.
Großmutter hatte sogar einen Fernseher von der Größe eines Puppentheaters, der sich erst aufwärmen musste. In der Mitte des Schirms leuchtete ein Fleck auf und wuchs sich zu einem Bild aus. Gezeigt wurden Wiederholungen von UFA-Filmen mit Lilian Harvey und Willy Fritsch: Liebling, mein Herz läßt dich grüßen. Wir sangen in Schwarzweiß mit und Mutter trank Gespritzten – Apollinaris mit Weißwein. Am liebsten mochte sie Grünen Veltliner, mit dem sie beschwingt und glücklich wurde.
Der Weihnachtsmarkt war ein glitzerndes Karussell. Es gab heiße Maronen, gebrannte Mandeln und Bratwurst. Heiligabend hörten wir die Wiener Sängerknaben im Radio, »Kling, Glöckchen, klingelingeling«. Neujahr wurde vom ORF ein Konzert mit den Wiener Philharmonikern live aus dem Goldenen Saal des Musikvereins übertragen.
Wien war das süße Leben. Ich fand Geschmack daran, bevor ich überhaupt wusste, dass es die Stadt gab. Wir wiegten uns zu den Walzern – Johann Strauß der Jüngere: »An der schönen blauen Donau« – und klatschten im Takt beim Radetzky-Marsch von Johann Strauß dem Älteren. Silvester hoben wir um zwölf die Gläser und prosteten uns zu, Mutter, Vater, Großmutter und ich: »Prost Neujahr!«
Mutter tauchte meine Kindheit wie einen glasierten Apfel in alles, was sie liebte, es reichte für den Rest des Lebens. Ihr Wiegengeschenk war die deutsche Sprache. Alles, was ich bereits auf Dänisch bekommen hatte, wurde mir noch einmal geschenkt, die Straßen, die Wälder und der Schnee. Dann schloss sie das Buch und sagte, ich solle darauf aufpassen, es gehöre mir.
*
Das Lebkuchenherz hängt am Kronleuchter. Er hat es nicht abgenommen. Vater hatte es ihr auf dem Weihnachtsmarkt in Frankfurt gekauft, bevor sie heirateten. »Ich bleib Dir 3, 4 + 4«, steht in der Glasur: »Ich bleib Dir treu, für und für« – dein für immer. Fünfzig Jahre lang hat er es zu ihrem Geburtstag herausgeholt. Es ist hart wie Stein.
Es wird immer schwerer, ihn zu wecken – er schläft vor dem nicht eingeschalteten Fernseher –, und jedes Mal muss ich von vorn beginnen und ihn daran erinnern, wer ich bin und wo er ist. Und jedes Mal muss ich ihm erklären, was passiert ist.
»Kannst du dich an Dansk Bygnings Assurance erinnern, die dänische Gebäudeversicherung? Du hast so viele Blumen zu deinem Jubiläum bekommen, und eine Flasche Wein nach der anderen.« Er trank nicht, aber wir haben ihn mit all den Flaschen in seinem Büro fotografiert. »Du warst vollkommen in Zellophan eingepackt.«
Vater schaut in die Luft und erinnert sich an nichts, obwohl er noch immer die goldene Uhr trägt, die ihm vom Vorstand überreicht wurde. Sie schlackert um sein Handgelenk. Ich sehe, wie dünn er geworden ist.
»Du hast Mutter an dem Sommerabend zu Louis Armstrong ins Tivoli eingeladen, kannst du dich nicht daran erinnern? ›What a Wonderful World‹!« Sie sang es, wenn sie glücklich war, sich ein Zigarillo ansteckte und mit Wodka im Glas in der Küche feierte. Ich erinnere ihn an die Melodie, aber er reagiert nicht. »Wo ist die Zuckerdose?«
Wir tun so, als sei nichts geschehen, wiederholen die Worte von gestern, dem letzten Jahr und all den anderen Jahren, in denen wir versucht haben, die Wahrheit aus dem Leben zu verbannen: Dass sie älter wurden und Mutter krank war. Sie holte uns dennoch ein. Eines Tages war es vorbei mit dem Duft von Zwetschgenknödeln.
Ich ertrage den Gedanken an das verkochte Gemüse nicht, und Vater kaute sich durch graues, totes Fleisch. Mutter verzog das Gesicht zu einer Grimasse und sah aus, als ob sie sich gleich übergeben müsse: »Es tut mir so leid.«
Es war das Essen der Gemeinde. Es kam in vakuumverpackten Plastikschalen, die in der Mikrowelle aufgewärmt wurden. Der Gestank wird mich verfolgen, solange ich atme. »Pling!« Ich versank im Erdboden vor Scham.
Ob ich ihnen nicht etwas kochen sollte? Mutter seufzte: »Ach, Knüdchen.« Mehr musste sie nicht sagen. Sie hatten für alles gesorgt, und ich konnte kaum auf mich selbst achtgeben.
Vater nahm sich ihrer an, kochte morgens Kaffee und servierte ihn am Bett. Sie trank ihn schwarz, sie war müde. Er deckte den Tisch mit den geblümten Tellern, der Zuckerdose von Villeroy & Boch und stellte den Korb mit Weißbrot, Butter und der Orangenmarmelade dazu. Wenn das Brot aus dem Toaster hüpfte, kam Mutter im Morgenrock und setzte sich zu uns.
Wie sie geschlafen hatte? Schlecht, sie hätte sich hin und her gewälzt vor Schmerzen. »Mein liebes Väterchen«, sagte sie, streichelte seine Wange und rührte das Frühstück nicht an.
Ich hatte es immer befürchtet, wollte es nicht wahrhaben und sah hilflos zu, wie Mutter einschrumpfte und aufhörte zu essen. Statt der Kaffeetasse stand jetzt ein Pillenglas auf dem Tablett. Sie legte sich ins Bett und stand nicht mehr auf, und das Toastbrot sprang hinauf in den Himmel.
Jetzt bin ich mit Vater allein und weiß mir keinen Rat. Was soll aus uns werden? Wir haben niemanden außer uns. Ich fahre auf der Autobahn zwischen Kopenhagen und Nykøbing hin und her, klammere mich an ihn und halte die letzten Reste fest.
Ihm fällt das Hören und Sehen schwer, er verschwindet vor meinen Augen. Ich bin umgeben von Löchern, die er normalerweise ausfüllte. Inzwischen fehlt die Hälfte des Hauses. Er versteckt Dinge, und wenn er sie nicht wiederfindet, kommt er sich selbst abhanden. »Wo bin ich?«, fragt er, und ich muss nach ihm suchen.
Zwischen uns liegt ein Fotoalbum, wir zeigen auf Mutter im Ozelot und Vater mit einem weichen Hut; sie stehen auf dem Aussichtsturm am Himmelbjerget. Der Winter bei Onkel Helmut und Tante Eva in Oberfranken, Großmutter im Palmengarten. »Und wie kommst du auf das Foto?«, fragt er. »Ich bin dein Sohn«, antworte ich. Er murmelt »nee, nein« und »ach ja, das bist du wohl« und sieht mich an, als sei ich eine Wand.
Er hat den Faden verloren, und ich kann ihn nicht finden. Am schlimmsten ist Mutters Schmuckkästchen. Er war vollkommen verzweifelt und weinte, und wir erwähnen es mit keinem Wort mehr. Ich fürchte, er hat es weggeworfen.
Ich muss mich jetzt um ihn kümmern, so wie er sich um mich gekümmert hat, aber ich kann weder bleiben noch ihn verlassen. Ich habe das Gefühl, nie älter geworden zu sein, wenn ich ins Kinderzimmer gehe und in den Garten schaue. Es ist ein Fenster mit Trauerrand.
Es war bedeckt, Mutter kroch auf den Knien draußen im Garten herum. Ich sah sie deutlich vor mir, mit ihrer Schürze und dem Wodka-Glas, das sie immer wieder umstellte, während sie Unkraut jätete. Sie kannte niemanden und ging nur in die Stadt, um einzukaufen – bei Schlachter Bengtsen, im Supermarkt Favør – und im Kiosk am Enighedsvej Zigarillos zu holen.
Der Kiosk hieß überdies Knuds Kiosk. Sie zeigte auf eine Flasche hinter der Theke und bat dann um zwanzig Zigarillos der Marke Madame. Ich ging oft mit, um mir die Illustrierten anzusehen, die mit ihren geschönten Fotos aus den Regalen quollen: Autos, Filmstars – und Mädchen auf den Titelblättern. Sie waren ein Wunsch, der nicht in Erfüllung gehen durfte und verboten war.
Sie ging nicht mehr oft aus dem Haus, und mit den Jahren hatte sie sich immer mehr zurückgezogen und verbrachte die meiste Zeit mit Gartenarbeiten, Jäten und Pflanzen. In Gedanken war sie jedoch an einem anderen Ort.
Dort gab es Feste und Musik, dort ging sie auf die Universität und spielte Tennis – und ritt auf dem Gutshof von Klein Wanzleben über die Felder. Alles pflanzte sie in den Garten ein, ihre Jugend und den furchtbaren Krieg, Forsythien und Berberitze – und im Sommer schlugen ihre Erinnerungen in ein Blumenmeer aus.
Das hellblaue Vergissmeinnicht war Großmutter. Sie vermisste Großmutter und schrieb ihr einmal in der Woche. Das Schleierkraut mit den kleinen weißen Blüten war Vater. Es gab ihren Jagdhund Bello und die Mädchen aus dem Internat, und ganz hinten standen die Maiglöckchen, die sie aus dem Wald geholt hatte: Horst Heilmann.
Er war ihre erste Liebe gewesen, »Horstchen«. Sie hatten zusammen studiert und sich verlobt. Die Nazis hängten ihn wegen Hochverrats, weil er Mitglied der Roten Kapelle war, der Widerstandsgruppe in Berlin. Die Nazis hatten ihr das Herz herausgerissen, und sie floh und hatte nichts Entlegeneres finden können als Nykøbing.
Mutter sprach mit niemandem darüber. Sie lächelte auf Dänisch, weinte auf Deutsch und pflegte ihre Beete. Wenn der Wodka zur Neige ging, war sie an diesem Tag fertig und setzte sich auf die Veranda.
Es war nur eine kleine viereckige Parzelle hinter dem Backsteinhaus. Aber in ihren Augen wurde der Garten zu einem Park mit Hochbeeten, Stauden und Rhododendronbüschen, so wie es früher einmal gewesen war. Die Sonne legte sich auf den Rasen und die Schatten der uralten Bäumen.
Maikäfer, flieg!
Der Vater ist im Krieg,
die Mutter ist im Pommerland,
Pommerland ist abgebrannt.
Maikäfer flieg!
Sie summte, ohne die Lippen zu bewegen, und zog den Schal enger um die Schultern. Es war kühl geworden. Ein Tropfen fiel ins Glas, Ringe breiteten sich aus. Dann regnete es.
Bei Großmutter zerschlug die Bronzeuhr die Zeit und zermahlte sie zu Staub. Bei den Abendessen trug ich einen Anzug mit Fliege, das Haar akkurat gescheitelt, und ich saß ganz still, als würden wir fotografiert. In ihrer Wohnung am Kettenhofweg hatte man kaum Platz, die Teppiche lagen übereinander, die Möbel umschlossen uns.
Als würde man durch ein Vergrößerungsglas sehen, ich sah es von außen und konnte nicht hinein. Ich folgte der Landschaft vom Rücksitz des Autos aus, wenn Vater uns in den Taunus fuhr. Regentropfen kullerten die Scheibe hinunter. Auf den sonntäglichen Ausflügen in den Wald zog die Langeweile ihre Schneckenspur hinter mir her.
Meine Kindheit verging damit, ungeduldig auf und ab zu hüpfen und überall hinzulaufen. Alles wollte ich sofort haben, ich konnte nicht warten. Aber es zog sich hin, und je weniger passierte, desto länger dauerte es.
Endlose klassische Konzerte, bei denen ich auf dem unbequemen Stuhl gähnte und einnickte. Der Gottesdienst dauerte, es wurde niemals Weihnachten. Über dem Webmuster des Teppichs hing ich meinen Gedanken nach, und die Uhr hörte auf zu ticken, denn zwischen jeder Sekunde war es zu lang. Und was passierte dann?
Ganz leise versank die Umgebung, die mein Interesse nicht zu fesseln vermochte – das Auto, das Wohnzimmer, der Konzertsaal, die Kirche –, und ich fing an, für mich ganz allein zu träumen. Als würde etwas in mir erwachen und mich übernehmen, je mehr ich dahindöste. Der Vorhang ging auf, und nun spielten sich meine eigenen Vorstellungen auf der Bühne ab.
Langeweile ist der Königsweg zum Dornröschenschloss. Man findet ihn direkt hinter unserem Blick. Wenn man die Augen fast nicht mehr aufhalten kann und die Wirklichkeit kurz vorm Erlöschen ist, fangen die Dinge an, dir zuzublinzeln, zu kichern, zu reden und ihr eigenes Leben zu entwickeln. Und wenn man die Zeit hinauszieht, bleibt sie früher oder später stehen, und die Ewigkeit setzt ein und das Märchen beginnt.
»Es war einmal …« ist Vergangenheit – es ist Erinnerung, die verinnerlichte Zeit. Sie dauert so lange wie die Geschichte, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
Wir fuhren an den Rhein, besuchten die Familie in Rüdesheim und besichtigten unterwegs Burgruinen. Burg Katz. Ich bekam ein Eis am Touristenkiosk. Mutter zeigte auf einen hohen Felsabsatz.
Dort oben saß die Loreley, sagte sie. Sie kämmte ihr Haar und sang, dass es in den Ohren schmerzte: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin.« Von den Wirbeln im Wasser wurde man herabgezogen – und irgendwo in der Tiefe lag das Rheingold begraben.
Papa Schneider war von Kunst, Hunden und Büchern umgeben, die Bücherschränke türmten sich vor den Wänden auf. Sie hatten im Herrenzimmer gestanden, nur lag das jetzt in Ostdeutschland – vielleicht war es inzwischen ein Parteibüro –, und Großmutter benutzte den Schreibtisch, um den Fernseher darauf zu stellen.
»Wenn wir doch noch den Baum hätten.« Mutter stieß den Rauch ihres Zigarillos aus und dachte an das Gemälde von Max Pechstein. Es war im Museum gelandet, fort und für immer verloren, man hatte es ihnen mit allen anderen Dingen genommen.
Obwohl er seit vielen Jahren tot war, hatten sie Angst vor Papa Schneider, niemand wagte sich an die Schränke heran. Sie durften nicht berührt werden, aber vielleicht durfte es auch nur ich nicht, »Narrenhände beschmieren Tisch und Wände!« Ich hörte auf, um Erlaubnis zu fragen.
Die dicken, schweren Bände standen hinter Glas und verbargen ein fürchterliches Geheimnis, das nicht entweichen durfte. Es waren Zauberbücher mit Goldschnitt, es fehlten bloß die Schlüssel. Sie mussten irgendwo sein.
Großmutter lud hin und wieder zum Kaffeeklatsch ein. Witwen aus der Vergangenheit tauchten auf: Tante Ilse, Frau Rabetje und Frau Johannismann, die mit dem Direktor der Spielbank in Bad Homburg verheiratet gewesen war. Sie hatte gute Laune, war wohlhabend und mollig; hinter vorgehaltener Hand hieß es, sie sei in ihrer Jugend recht leichtlebig gewesen. Sie führten die Kaffeetassen an einen gespitzten, runzligen Mund – der Lippenstift franste aus – und tauschten Bosheiten über Nichtanwesende aus. Hinterher spielten sie Bridge.
Es war das komplizierteste und intriganteste Kartenspiel für das bessere Bürgertum. Vor mir spielte sich das gesellschaftliche Leben in einem Minenfeld von Mitteilungen und Allianzen ab. Sie husteten und blinzelten und gaben sich Zeichen, aber Großmutter konnte nicht lügen.
Sie bekam rote Ohren. Man konnte die Karten in ihrer Hand problemlos lesen – das Resultat war vorhersehbar –, und diese Gespenster gaben sich Wangenküsse und verhallten mit den metallischen Schlägen der Uhr auf der Anrichte.
Sobald Großmutter sich hinlegte, um ihr »Mittagsschläfchen« zu halten, kam meine Stunde. Die Wohnung schlief mit ihr ein, und ich schlich in der Stille umher, die sich vom Sofa her ausbreitete. Schubläden und Schachteln, ich wühlte in Taschen und drehte Vasen um oder schüttelte sie.
Irgendwo mussten die Schlüssel sein, aber sie waren unauffindbar. Ich gab es auf und zog irritiert am Handgriff. Der Trick war selbstverständlich, dass die Tür gar nicht abgeschlossen war. Der Bücherschrank öffnete sich mir, und ich tauchte ein in eine andere Welt und kam nie wieder zurück.
Ich nahm einen Band heraus. Die Seiten waren gelb, als wären sie verwelkt. Getrocknete Blätter fielen heraus. Des Knaben Wunderhorn stand auf dem Titelblatt, ein Wanderer zog pfeifend durch ein Tal, sein Bündel über die Schulter geworfen. Die Mühlräder schnurrten am Bach, Soldaten zogen in den Krieg. Dann hörte ich, wie Großmutter sich bewegte, und stellte das Buch hastig zurück an seinen Platz.
Ich warf die Tür des Bücherschranks hinter mir zu und stand im Wohnzimmer. Es war dunkel geworden. Sie rief mich: »Knüdchen, wo bist du?« »Hier«, antwortete ich. »Huch!«, stieß sie aus und schlug erschrocken die Hände vor den Mund –, und keiner von uns bemerkte den Schatten, der aus dem Schrank geschlüpft war: »Das bucklicht Männlein«, der bucklige Zwerg.
Man hatte den Zwerg eingesperrt, weil er Unglück brachte. Darum durfte man die Schränke nicht öffnen. Doch nun war es passiert, und er sollte mir alles zerstören und mich bis zum Schluss verfolgen.
Von nun an würde nichts mehr gelingen. Was auch immer ich tat oder mir ausgedacht und erträumt hatte. Das kleinste Vorhaben war vergebens. Wollte ich einen Drachen steigen lassen, gab es keinen Wind. Ich bekam auch keinen Kuss, mein böser Geist sorgte dafür. Und ich hatte ihn sogar selbst freigelassen.
Doch davon hatte ich keine Ahnung, ich stöberte einfach weiter und fand den Märchen-Almanach von Wilhelm Hauff. Der kleine Muck und Kalif Storch erwachten im Orient zum Leben – alle Teppiche fingen an zu fliegen –, die Karawane befand sich auf dem Weg nach Bagdad, um sie herum flimmerte die Wüste.
Die Augen fielen mir aus dem Kopf, als ich E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann las. Ich erschrak mich zu Tode bei Adelbert von Chamisso und seiner Erzählung von Peter Schlemihl. Er verkaufte dem Teufel seine Seele. Die Illustrationen waren Schattenspiele aus Tusche, die ihre langen Finger nach mir ausstreckten. Sie tasteten nach meinem Lebensfaden, und ich fuhr schreiend im Bett auf.
Wie gestochen standen ihre Namen auf den Büchern, Brentano, Eichendorff, Tieck, und ich lernte Sütterlin, um sie zu lesen, ich setzte mich an den Schreibtisch und übte die Schrift auf Briefpapier. Eines Tages wollte ich nach Heidelberg und Tübingen fahren. Hölderlin hatte dort in seinem Turm gesessen und war wahnsinnig geworden. Romantischer ging es nicht!
In der Schublade lagen kleine rote Stücke Siegellack. Sie schmolzen über einer Kerze wie ein gebrochenes Herz und waren für Liebesbriefe und geheime Mitteilungen gedacht. Ganz hinten im Schrank fand ich Novalis' Heinrich von Ofterdingen in einem schwarzen Einband. Er starb aus unglücklicher Liebe. Das wollte ich auch.
Ich ging in die Buchhandlungen und Antiquariate, es gab sie in jeder Straße, man konnte in der ganzen Stadt umhergehen und war nur von Büchern umgeben. Wurde ich hungrig, gab es die Freßgass. Ich bestellte eine »lange Rote« mit Brot und Senf und versorgte mich am Kiosk mit Nüssen und Rosinen – Studentenfutter.
Gleich um die Ecke, nicht weit vom Kettenhofweg, lag die Frankfurter Bücherstube. Der Keller war eine Schatzkiste, Aladins Höhle, hier traf man auf Hunderte, Tausende von Geschichten. Vielleicht war meine eigene darunter, aber wie sollte ich sie jemals finden? Ich musste mich darauf verlassen, dass sie mich fand.
Ich wusste genau, was ich sein wollte, und drückte mir die Nase an der Tür des Verlags in der Lindenstraße platt, in dem Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke erschienen waren. Es war der Verlag der Götter, der Insel Verlag.
Das Einzige und Beste, das ich mir vorstellen konnte, war, Schriftsteller zu werden, oder nein, nicht Schriftsteller und auch nicht Dichter. Ich wollte Poet werden – ein deutscher Poet! Und im Insel Verlag verlegt werden. Ich schwor bei den Gebrüdern Grimm und allem, was mir hoch und heilig war – und wollte mein Leben dafür geben. Nur das und nichts anderes.
Es war mein höchster und innigster Wunsch. Und es wurde mein Fluch. Denn ich ahnte nicht, dass es unmöglich war. Es konnte niemals in Erfüllung gehen.
Der bucklige Zwerg grinste hinter dem Sofa. Er freute sich, als er sah, wie ich vor die Hunde ging und in bodenlosem Unglück und Ruin endete. Wer weiß, was aus mir geworden wäre, hätte es bei Großmutter keine Bücherschränke gegeben? Sie hatte mir zu einem Traum verholfen, aus dem ich nicht erwachen konnte; ich sollte hundert Jahre schlafen. Ich lag da und las, den Kopf in die Hände gestützt. Das Licht kam aus dem Märchenland, und die Dornenhecke wuchs um den ewigen Nachmittag herum in die Höhe.
Ich bin sicher, dass der Zwerg mir nach Falster folgte und sich freute, wenn ich über die gepflügten Felder ging und laut Hymnen an die Nacht rezitierte. Krähen flogen durch die Luft, krächzten und schrien.
Glücklicherweise erfuhr niemand, was ich mir vorgenommen hatte. Und es tauchte auch nicht auf der Liste »Was will ich werden?« auf, die wir in der Schule abliefern mussten, damit man den richtigen Praktikumsplatz für uns fand. Es gab viele Möglichkeiten. Polizeibeamter, Sanitäter, sogar Diplomingenieur. Aber weder das eine noch das andere sagte mir zu, und ich stellte mich hinter eine Hobelbank und hobelte im Werkunterricht Holz.
»Was soll das denn werden?« Der Lehrer wurde immer wütender, je länger ich arbeitete. Er hatte riesige Hände. »Nichts«, antwortete ich und versuchte das Wenige, das übrig geblieben war, mit irgendetwas zu vergleichen. Dann hob ich einen Splitter vor ihm in die Höhe: »Ein Zahnstocher?«
Es gelang mir, dem Werkunterricht zu entkommen, und ich wurde auch vom Deutschunterricht befreit, weil ich ständig die Aussprache und die fehlerhafte Grammatik meiner Klassenkameraden korrigierte: »Das heißt nicht das Mann, das heißt der Mann!« Sie mussten sich mit Regeln, Ausnahmen und Merkversen herumschlagen: »durch, für, gegen, ohne, wieder, um!« Es war süße Musik in meinen Ohren, ich hatte frei und hörte sie von der Treppe aus im Klassenzimmer die Merksätze herunterleiern.
Meine größte Angst war, jemand anderes zu werden und mich am Ende vielleicht nicht mehr wiederzuerkennen. Allein die Vorstellung, Kurt Fisker zu sein, ohne es zu wissen! Er war Fischer, während Brot-Poul für Jappes Mühle Brot ausfuhr, und Dussel-Johanne verrückt war. Der Rechtsanwalt Victor Larsen war am Landgericht zugelassen und rauchte Zigarre, und so ging es weiter.
Die Hohe Brücke war hoch, und die Zuckerfabrik produzierte Zucker. Die Hafenstraße führte hinunter zum Hafen, die Westerwaldstraße am Westerwald vorbei, und der Marktplatz lag auf dem Marktplatz. Es fehlte nur noch, dass an den Häusern »Haus« stand und an den Türen »Tür«, und wenn man den Namen seiner Liebsten falsch buchstabierte, bekam sie eine Hasenscharte.
Ja, nachts ist es kälter als draußen. Es gab keinen Riss in der buchstäblichen Welt. Man konnte darin graben, man konnte auf sie einschlagen, und die Leute versuchten, sich diese Welt gegenseitig zu verkaufen. Die Optimistischsten hängten ein Schild heraus, auf dem »Antik« stand, die meisten beließen es jedoch bei »Flohmarkt« – und einer bot in seinem Geschäft sogar »Antikes und Bestattungen« an.
Wir waren Dinge unter Dingen. In den Tragetaschen der Milchjungen klapperten die Flaschen. Der Bürgersteig war mit Schotter bestreut, die Straßen mit grauschwarzem, löchrigem Asphalt geteert. Die Telefonmasten hatten Porzellanknöpfe, der Wind pfiff in den Leitungen.
Die Klosterkirche ragte zwischen den Bäumen hervor, der Wetterhahn drehte sich unablässig auf der Turmspitze. Um Mitternacht flog er krähend davon. Die Straßenlaternen wurden angezündet, und eine dünne Gestalt sprang hervor – die Schultasche in der Hand –, gefolgt von seinem Schatten.
Ich hatte beschlossen, das Kleine Latinum nachzuholen, und meldete mich in einer Abendschule an. »Lalandiae et Falstriae Accurata Descriptio« – wer würde nicht gern mit den Toten sprechen? Und mit Geistern!
Es war ein merkwürdiges Gefühl, am Abend den Schulhof zu betreten. Er war dunkel, leer und fremd und erinnerte an die schwarze Schule, fand ich – war da nicht eine Katze, die buckelte? An den Kleiderhaken hingen keine Jacken, die Korridore waren still und verlassen, und schließlich verirrte ich mich in einen Klassenraum in einem abgelegenen Teil des Gebäudes, das sonst nicht genutzt wurde.
Ich hatte nicht damit gerechnet, dass dort jemand war, und stürmte hinein. Hinter dem Pult stand eine strenge Dame, die sich mitten im Satz unterbrach und den Kopf hob. Die Schüler drehten sich um und starrten mich an.
Sie hatten runzlige Gesichter und kreideweißes Haar, ich sah meine Klassenkameraden vor mir. Es waren allesamt Greise. In Nykøbing war die Abendschule das Totenreich, und der Knochenmann unterrichtete in Latein: »Kommen Sie herein!«
Ich drehte auf der Stelle um und lief um mein Leben, und vor mir tanzte der Schatten im Licht der Straßenlaternen und jubelte und lachte auf dem ganzen Heimweg. Es gab keine größere Erleichterung als aufzugeben: »Italia terra est. Sardinia insula est. Scriba sum. Poeta es. Nauta non sum.« Das war der Präsens Indikativ von sum und las sich wie die Inschrift auf einem Grabstein. Nie wieder Mikkelsens blaues Lateinbuch.
Ich wollte lieber meine Ruhe haben und rührte ohnehin keinen Finger. Vater kümmerte sich um alles. Zu Hause galt Vaters Ordnung. Alles musste an seinem angestammten Platz liegen, konnte schartig werden oder verloren gehen, wenn es am falschen Platz lag. Am besten, man überließ es ihm. Mutter strich mir übers Haar, lächelte und sagte: »Du sollst es guthaben.« Dagegen konnte man nichts machen.
Morgens erwartete mich eine heiße Tasse Nesquik und ein geschmiertes Hörnchen. Am Sonntag gab es einen Zuckerkranz vom Bäcker. Ich ließ mir mit dem Aufwachen unendlich lange Zeit, drehte mich auf die Seite und aß einen Bissen. Dann zog ich mir wieder die Decke über den Kopf.
Man konnte zumindest pünktlich sein, aber ich kam zu spät. Ich verpasste die Punischen Kriege, die Flüsse Europas und die Ausführungen über das Verhältnis zwischen Durchmesser und Radius in einem beliebigen Kreis. Nach der Schule bekam ich Pfannkuchen oder Waffeln zum Mittagessen – mit Puderzucker. Am Dienstag lag ein Micky-Maus-Heft neben meinem Teller.
Es wurde mir nie richtig bewusst, dass man arbeiten musste, um Geld zu verdienen. Ich hatte keine Ahnung, wo es herkam, und ich zerbrach mir auch nicht den Kopf darüber. Eines Nachts träumte ich, dass Goldmünzen auf der Straße lägen. Man musste sich nur bücken und sie aufsammeln – es war wie in: Die Sterntaler –, und ich musste mir um nichts mehr Sorgen machen. Alles würde sich finden.
Ich glaubte an das Gedicht von der Wünschelrute: »Schläft ein Lied in allen Dingen« – was du dir wünschst, sollst du bekommen. Man musste es sich nur intensiv genug wünschen und den richtigen Ton anschlagen, dann würden die Dinge erwachen und das Goldene Zeitalter anbrechen.
Es tschilpte und zwitscherte, wenn ich über die Brücke fuhr und auf der Landstraße nach Fuglsang radelte. Ich folgte den Tönen. Sie kamen von dort.
Seerosen schwammen im Wallgraben. Libellen schwirrten umher und schneiderten eine Landschaft voller Sonnenlicht, der Park kam in Sicht. Jetzt galt es, leise zu sein, um die Gäste nicht zu stören. Sie waren nervös. Der Herrenhof war ein Refugium, und ich besuchte Tante Annelise, die Ruhe brauchte.
Ihr ging es am besten zwischen Goldrahmen und Kristallkronleuchtern. Aber schließlich war sie ja auch von königlichem Geblüt, und es war durchaus anstrengend, eine Prinzessin zu sein!
Irgendwann einmal hatte die königliche Yacht in Nykøbing angelegt. Der König war in die Stadt gegangen, und sie war überzeugt, eine uneheliche Tochter von Christian X. zu sein.
Annelise konnte jederzeit zerspringen. Im Musiksaal ließ sie die Spiegel erzittern. Carl Nielsen, Gerard von Brucken Fock, Engelbert Röntgen und sein Sohn Julius hatten sich zu einem Streichquartett zusammengefunden, doch das war lange her. Annelise hatte Schauspielerin werden wollen, trat inzwischen aber lediglich in ihren eigenen Vorstellungen auf.
Ich spazierte an den Steineinfriedungen entlang und folgte der Spur eines Treckers bis Skejten. Der Sund glitt vorbei. Die Eichen standen dort, als hätten sie es bereits seit tausend Jahren getan. Auf der Wiese lagen Feldsteine. Das Brackwasser dampfte vor Mücken.
Sie tanzten in Wolken über Grasbüscheln und Kuhfladen –man konnte sie tatsächlich hören –, ein flüchtiger, vergänglicher Augenblick: Ein kleiner Stich, und mein Blut verwandelte sich in Musik und flog davon. Ein süßer Juckreiz blieb zurück.
Ich kratzte und kratzte und spürte es am eigenen Leib. Wie in der deutschen Romantik waren wir eins mit der Natur! Und damit nicht genug, mein Blut vereinte sich mit ihnen! Ich lief mit Zeckenbissen und Mückenstichen übersät herum, und Tiere, Pflanzen und Menschen waren Metamorphosen derselben Kraft, die von der Sonne kam.
Das Ganze hatte sich vom ersten großen Knall an fortgepflanzt. Man konnte es nennen, wie man wollte – Energie oder Gott –, und nicht einmal die Physiker wussten, was es war oder wie es entstanden war.
Die Quelle des Lebens war das mystische X und gluckerte im Bach, der Tingsted Å. Es zog sich durch die duftenden Blumen und den Gesang der Vögel, selbst durch das kleinste Insekt – und ich war ein Teil davon und breitete auf dem Feld die Arme aus: »Oh, und die Nacht, die Nacht!«
Ich stand auf Zehen im Universum und bestaunte den Mond. Er wurde über dem Horizont immer größer und schwerer, bis der Sund mit seinen Barschen und Booten nach oben floss und auf der Milchstraße glitzerte.
*
Wir hatten nie etwas mit den öffentlichen Institutionen und Einrichtungen zu tun, abgesehen von der Nutzung der Straßen, der Schule und einmal dem Krankenhaus, wo sie mich wegen Blinddarmentzündung operieren wollten, weil ich einen Kirschkern verschluckt hatte. Das Krankenhaus ist der lebensgefährlichste Ort von Nykøbing. Man riskiert, aus der Narkose nicht mehr zu erwachen.
Ich hatte Angst vor der Gemeinde, aber was sollte ich machen? Ich benötigte Hilfe. Vater verwelkte und zerfiel. Es war staubig, ich versuchte, zu putzen und aufzuräumen, ohne dass er es merkte und mich daran hindern konnte. Die Küche klebte, das Verfallsdatum der Gewürze auf dem Regal war seit zehn Jahren abgelaufen. Der Kühlschrank war leer, abgesehen von den Stapeln mit Plastikschüsseln – es gab sonst nichts darin –, und Vater saß allein in der Wohnung und ertrug es notgedrungen.
Ich will ihn mit nach Kopenhagen nehmen, kann es mir aber nicht leisten – der Bankangestellte begleitete mich bis zur Tür. – In meiner Wohnung ist nicht genug Platz, und ich kann ihn nicht pflegen. Er muss ins Bad und gewaschen werden. Er braucht saubere Wäsche. Ich weiß kaum, wie man die Waschmaschine im Keller anstellt. Die Ölheizung geht aus, und ich kann nicht einmal eine Glühbirne auswechseln. So kann es nicht weitergehen.
Vater steht morgens um halb sieben auf. Er zieht seinen Anzug und ein weißes Hemd an, bindet sich eine Krawatte um und geht ins Büro, sagt er. Es ist der Sekretär im Wohnzimmer. Man kann die Schreibfläche hinunterklappen, dort liegen haufenweise Briefumschläge und alte Steuerunterlagen, Quittungen. Was macht er? Er schreibt einen Scheck aus.
Mir dreht sich der Magen um. Ich schäme mich und will nicht, und nehme ihn dann doch entgegen: »Danke.« So wie Vaters Schwester. Man hörte von Annelise nur, wenn sie Geldschwierigkeiten hatte, dann reagierte er sofort: »Ich schicke einen Umschlag.«
Er hat alles bezahlt, bezahlt und bezahlt – und er bezahlt noch immer für seinen untauglichen, nichtsnutzigen Sohn. Während meines Studiums arbeitete ich irgendwann mal in der Spielwarenabteilung eines Warenhauses und bediente die Eltern eines Klassenkameraden aus Falster: »Ja, ist das nicht der große Dichter?«
Ich bekam alles geschenkt und warf es weg. Ich hatte jeden Tag Geburtstag. Jeder Tag war voller Überraschungen, ein Fingerzeig genügte, und ich wurde überhäuft mit Süßigkeiten und Geschenken. Ich schwänzte und trieb mich herum, und genau wie Pinocchio wurde ich zum Esel.
Ich sammelte Matchbox-Autos. Den Wagen von The Omen. Der von James Bond hatte Katapultsitze, und das Batmobil konnte mit Streichhölzern schießen. Bei Chitty Chitty Bang Bang ließen sich die Flügel ausklappen, und ich flog einer hellen Zukunft entgegen, die in einem bordeauxfarbenen Toyota Carina endete. Selbst der gehörte Vater.
Das Auto ist schmutzig und verbeult und rostet unter mir.
Vaters Fahrerhandschuhe liegen mit Kraks Straßenkarte im Handschuhfach, ich kann Mutters Zigarillos riechen. An einem der Vorderräder fehlt die Felge. Ein zahnloser Penner, der sichtbare Beweis, dass ich zu nichts fähig bin, ich kann mir nicht einmal ein Auto leisten.
Vater hatte mir damals sogar das Geld dafür gegeben. Ich wollte einen Cadillac Coupe de Ville haben, Baujahr 1972, in Goldmetallik und mit einem weißen Dach. Glücklicherweise beließ ich es bei dem Gedanken. Er wäre rasch auf dem Schrottplatz gelandet.
Stattdessen verprasste ich das Geld und setzte mich auf den Rücksitz seines schwarzen Mercedes, wenn B. vorbeikam – so hieß er, B. Das stand zusammen mit seiner Telefonnummer auf der Visitenkarte. B. verkaufte Kokain und drückte auf einen Knopf, mit dem sich der Rücksitz flachlegen ließ. Ich könnte ihn für hunderttausend Kronen haben, sagte er – einen Mercedes 500 –, und nach einer Linie war ich nicht mehr bei Sinnen und wollte schon einschlagen.
Es lässt sich nicht länger hinausschieben, ich muss irgendetwas unternehmen und greife zum Telefon: »Sie sind mit der Gemeinde Guldborgsund verbunden.« Man kann zwischen den Optionen 1, 2, 3, 4 und 5 wählen – 3 steht für die Ambulante Pflege –, aber ich rufe außerhalb der Bürozeiten an.
Man kam einfach nicht in Kontakt mit ihnen. Sie verloren sich im Jenseitigen, und ich erschrak, als es endlich gelang. Die Behörde ging ans Telefon – und man verband mich weiter: »Sie sind jetzt die Nummer 9 in der Warteschleife.« Es konnte nicht ewig dauern, doch dann ging es in die falsche Richtung: »Sie sind jetzt die Nummer 10 in der Warteschleife.« Ich legte auf und versuchte es erneut, bis ich wieder außerhalb der Bürozeiten anrief.
Oft hatten sich die Probleme gelöst – und sei es, dass man in der Zwischenzeit gestorben war –, bis man sich durch Hinweise, Weitervermittlung und Warteschleife gearbeitet hatte. Etwas Großes schien mich zu erwarten. »Ambulante Pflege, Distrikt Süd«, meldete sich eine Stimme. Sie klang fern und abwesend und fragte mich nach der Nummer meines Personalausweises.
Von diesem Moment an hörte ich auf, eine Person zu sein. Ich wurde zu einer Nummer, zu irgendjemandem, und einer anonymen, absoluten Macht unterworfen: dem Gesetz. Was auch immer es an menschlichen und moralischen Rücksichten gab, von den Paragraphen wurden sie außer Acht gelassen. Es gab niemanden, der sich zuständig fühlte. Ich sprach mit anonymen Stimmen.
Vielleicht haben wir uns vom Zwang der Natur befreit, aber der gesellschaftliche Zwang ist noch kälter, härter und unbarmherziger als ein Tier. Man kann nicht um Gnade bitten oder mit der instrumentellen Vernunft der Verwaltung verhandeln. Kierkegaard starb vergebens, Kafka lebt.
Ich unterbrach die Verbindung zum Schloss und erholte mich ein wenig. Es hieß, sie könnten die Verantwortung nicht übernehmen, Vater könne nicht in seinem Haus bleiben, wenn er schwächer werde. Ich hatte ihnen versichert, das sei keineswegs der Fall, überhaupt nicht – im Gegenteil!
»Mit wem hast du telefoniert?«, erkundigte sich Vater. »Mit niemandem«, erwiderte ich und setzte ihn im Badezimmer auf einen Stuhl. Als kleiner Junge hatte ich in der Badewanne gelegen und mit Schiffen und Schaumblasen gespielt, alles war hellblau gewesen. Jetzt waren die Rollen vertauscht.
Ich lege ihm ein Handtuch um die Schultern und spüle das Haar im Nacken: »Sag mal, was ist denn hier los?« Das Haar ist zu lang, außerdem hat er Bartstoppeln und braucht eine Rasur. Ich verteile den Schaum auf seinem Gesicht, setze das Rasiermesser an und winke ihm zu. Sein glattes Gesicht taucht jetzt im Spiegel auf, es ist erstaunlich, wie sehr wir uns ähnlich sehen: »Wir bekommen Besuch!«
Es klingelt, und eine kleine, kompakte Frau stellt sich vor. Karina, die ambulante Pflegerin. Wir hatten nur selten Fremde in der Wohnung, ich kann mich nicht entsinnen, wann es das letzte Mal vorgekommen ist, vor fünfundzwanzig Jahren? Es ist merkwürdig, dass eine Fremde im Wohnzimmer steht.
Sie stellt ihre Tasche auf den Esstisch und geht sofort auf Vater zu: »Na, Jørgensen. Schön wohnen Sie hier, Jørgensen. Ich werde mich jetzt ein bisschen um Sie kümmern.« Ich sehe, wie er versucht, sie einzuordnen, wie er danach sucht, wer sie wohl sein könnte. Ich sehe seinem Gesicht an, wie er Verwandte und alte Bekannte Revue passieren lässt, aber sie ist nicht darunter.
Vater hat sich immer darüber beschwert, dass es zog, wenn man die die Tür nicht hinter sich schloss, aber noch bevor ich es ihr erklären kann, hat sie die Gardinen zur Seite gezogen und die Balkontür geöffnet. »Wir brauchen doch frische Luft! So ist es ja doch gleich besser, Jørgensen! Gibt es noch Kaffee?«
Ich gehe in die Küche und habe keine Ahnung, wo sich die Kaffeefilter verstecken, ich stehe da und starre die Kaffeemaschine an. »Na, stellen wir sie erst einmal an«, erklärt sie. »Gehen Sie nur zu Ihrem Vater, Knud.«
Er mischt sich sofort ein, als ich die gewohnten Kaffeetassen auf den Tisch stellen will – »pass doch auf, nicht dorthin« –, Karina kommt mit der Kaffeekanne. Zu meinem großen Entsetzen öffnet sie die Anrichte und nimmt das Meißner Porzellan heraus.
Sie setzt sich auf Mutters Platz, und ich schaffe es nicht, sie davon abzuhalten – nicht dahin, nicht dahin! Eigentlich müsste er wütend werden, stattdessen zeigt sich auf seinem Gesicht beinahe ein Lächeln. Offensichtlich hat er sie nun doch erkannt und für sich entschieden, wer sie ist.
Sie erläutert rasch, was ansteht und wie sie vorgehen wird. Vater stimmt ihr zu und sagt ja. Er hat keine Probleme mit dem Hören, obwohl er mir eigentlich auf alles mit einem »was ist?« antwortet – selbst wenn ich behaupten würde, ich sei schwanger.
Dann ist es gut für heute, auf Wiedersehen und vielen Dank. »Na, Jørgensen, dann komme ich morgen wieder.«
Ich gebe ihr einen Schlüssel für die Haustür und breche auf mit dem bedrückenden Gefühl, Vater noch einmal zu verlieren. Als ich das nächste Mal vorbeischaue, sitzen sie zusammen im Esszimmer.
»So, Jørgensen, gut gemacht.« Er hat vom Essen nichts übrig gelassen und trinkt sogar ein Glas Bier. »Wolltest du nicht erst morgen kommen?«, fragt er.
Wenn ich etwas sage, beachtet er mich nicht oder er schüttelt den Kopf. Sie lächeln sich nachsichtig an. Er lacht und sie lacht und ich gehöre nicht dazu, ziehe mich zurück und gehe ins Badezimmer.
Es ist der einzige Ort im Haus, der abgeschlossen werden kann. Ich stopfe für gewöhnlich Watte ins Schlüsselloch und genieße es, in Ruhe gelassen zu werden. Das Badezimmer ist umfunktioniert zu einer Klinik, mit Tuben und Flaschen, Küchenrollen und Latexhandschuhen. Unter dem Waschbecken steht ein Plastikeimer. Die Badewanne hat einen Handgriff bekommen, an dem man sich hochziehen kann, außerdem gibt es jetzt einen Schemel und eine rutschfeste Matte. Plötzlich wird mir klar, dass sie ihn wäscht.
Ich habe meine Eltern nie nackt gesehen. Und nun habe ich meinen Vater einer letzten Entblößung ausgeliefert, meinen eigenen Vater, den diskreten, respektierten Versicherungsmann. Ihm ist nichts mehr von sich geblieben. Eines Tages in nicht allzu langer Zeit werde ich an der Reihe sein.
Ich kann mir bereits vorstellen, wie ich Mittagsschlaf halte und zusammenzucke, weil das Telefon klingelt. »Au, au!« Was ist los? »Mein Rücken!«, rufe ich und fluche über den Stuhl, der angeblich ergonomisch ist. Ich beschwere mich bei der Verbraucherzentrale, verfluche den Chiropraktiker: »Er ist nichts als ein sadistischer Pfadfinder mit Metallbrille und kurzer Hose!« und beklage mich beim Gesundheitsamt: »Das sind alles Quacksalber!«
Ruf die Polizei, sage ich. Wenn es sie überhaupt noch gibt, ich habe mir jedenfalls einen Notalarm angeschafft, damit ich mich sicher fühlen kann, wenn ich beim Einkaufen auf Drogensüchtige und osteuropäische Banden treffe.
Ich verlaufe mich im Supermarkt und suche vergeblich in den Regalen nach Waren, die gar nicht mehr produziert werden; ich beginne lange Gespräche mit den Kassiererinnen, bis sich in der Schlange hinter mir jemand beschwert. Hinterher kontrolliere ich den Kassenbon und finde einen Fehler bei den Angebotspreisen, dessen Korrektur Stunden dauert: »Kasse 2 wird jetzt geöffnet.«
Ich rede mit Leuten unter dreißig, als wären es Kinder. So sehen sie in meinen Augen jedenfalls aus, ich bin kurz davor, ihren Kopf zu tätscheln und zu fragen, ob sie nicht ins Bett müssen? Sie sagen »Herr« und »Sie« zu mir und öffnen mir die Tür in der Hoffnung, dass ich gehe. Ich bin emotional labil, weine beim geringsten Anlass und bekomme Wutanfälle, als hätte ich noch Alkoholreste vom Vorabend in mir.
Jeden Morgen wache ich um fünf Uhr mit einer vollen Blase auf und werde beim Pinkeln nie fertig. Ich unterbreche es einfach und setze es später fort. Mein Haar ist dünn, mein Bart grau, die Zähne fallen mir aus, und mein Vater sieht mich aus dem Spiegel an, nickt und gibt mir recht.
Einst trug ich Rüschenhemden, babyblaue Anzüge und nadelspitze Schuhe. Ich schnüffelte Koks und trank rund um die Uhr Wodka. Jetzt bin ich mehr oder weniger Abstinenzler. Die Kleidung soll kein unnötiges Aufsehen erregen und am besten grau oder braun sein. Am liebsten trage ich immer dasselbe. Mein Jackett ist so gut wie neu, obwohl es aus dem letzten Jahrtausend stammt, und wenn meine Frau es wegwirft, hole ich es aus dem Mülleimer.
Ich mag keine Veränderungen, bekomme schnell Angst und bin desorientiert. Bordsteine gibt es nur, um darüber zu stolpern, und ich stoße mit Dingen zusammen, die vorher nicht dort gewesen sind, wo kommen sie mit einem Mal her? Ich bekomme einen mittleren Nervenzusammenbruch, wenn sich plötzlich irgendwo etwas regt oder lärmt. Grüßt mich jemand auf der Straße, grüße ich nicht zurück – ich bin kurzsichtig und sehe nicht, wer mir da entgegenkommt.
Verkehrsregeln sind für die anderen verbindlich, ich fahre mit dem Rad gegen die Einbahnstraße und bei Rot über die Ampel. Meine Frau setzt mir eine Billigbrille auf, wenn wir mit dem Auto unterwegs sind, aber das hilft nicht viel. Ich klammere mich an den Lenker und fahre mit achtzig Stundenkilometern auf der Überholspur, egal, wie laut das Gehupe hinter mir ist.
Wenn ich meine Frau küssen will, sagt sie, sie würde mir gern eine Ohrfeige geben. Wir reden über Krankheiten und Krebs. Niemand lädt uns mehr zum Abendessen ein, weil wir uns ans Ende des Tisches zurückziehen und dort streiten und uns beschimpfen.
Wenn es dann endlich einmal ein Fest gibt, zu dem man uns einlädt, und wir tatsächlich auch hingehen, setze ich mich in den Hof. Rauchen darf man auch nicht mehr, und das Schlimmste ist, mit anderen Menschen reden zu müssen; die Musik ist viel zu laut, dreh leiser!
Die Zukunft ist verbraucht. Es ist aussichtslos, das Leben besteht aus Leerlauf und Wiederholungen, bei denen das Ergebnis von vornherein bekannt ist: Alles, was ich sage, habe ich früher schon einmal gesagt, und alles, was ich sehe, ist eine Wiederholung von etwas, das schon beim ersten Blick nicht interessant war. Sogar mit Porno kann ich nichts mehr anfangen. Das Licht in der Wohnung zu löschen ist das Wichtigste, was ich im Laufe des Tages unternehme.
Ich will keine weiteren Filme, keine weiteren Bücher mehr, ich will nur noch die Musik meiner Jugend hören – Sparks, 10cc, Supertramp, Queen – und die Überbleibsel der Gefühle aufsaugen, die ich damals hatte. Nirgendwo werden mehr Gerichte serviert, wie sie mir früher geschmeckt haben. Wenn man vom ein oder anderen Relikt in der Provinz absieht, wo es noch rotweiß karierte Tischdecken gibt – und eine unverschämte Bedienung.
Reisen ist die Mühe nicht wert. Die Pyramiden waren ein von der Werbung hochgejazzter Haufen Steine im Sand, und meine einzige und letzte Freude ist es, mich am Arsch zu kratzen und an meinem Finger zu riechen.
Bin ich höflich, tue ich so, als würden wir uns kennen, aber tatsächlich habe ich keine Ahnung, wer du bist. Mein Kurzzeitgedächtnis ist abgesoffen, ich erinnere mich an nichts und niemanden, nicht einmal an das vierte Mitglied der Beatles: Paul, John, Ringo … und wer? Ich bin blank.
Kaum habe ich etwas erlebt, ist es bereits wieder vergessen; und die Welt hat auch mich vergessen und sich die ganze Zeit über verändert, sodass ich im Dunklen taste und den Weg nicht finden kann.
»Ich bin fertig!«, brülle ich und erwarte eine Entschuldigung für die Störung meines wohlverdienten Schlafs. Tut, tut, tut tönt es aus dem Telefon, der Hörer wurde längst aufgelegt.
Ich gehe ins Wohnzimmer zu Vater und will ihn beiseiteziehen, um mit ihm über Karina zu reden. Wir flüstern, obwohl sie bereits gegangen ist, er seufzt. Es wäre besser, wenn ich gar nicht da wäre.
Er macht, was ihm gesagt wird – »Jetzt wollen wir uns mal die Füße ansehen, Jørgensen« –, und ich bin nur lästig und störe.
Bevor ich aufbreche, öffne ich die Schubladen, zähle das Silber im Schrank nach und suche die Visa-Karte in seiner Brieftasche. Sie ist fort.
»Vater, hast du ihr deine Visa-Karte gegeben?« Ich rufe die Bank an, frage nach und möchte einen Kontoauszug. Eine Vollmacht ist nötig, mit Unterschrift. »Was willst du damit?«, will er wissen. Eine Danksagung, lüge ich. Seine Hand zittert, ich fühle mich wie ein Betrüger.
Zwanzig Kronen beim Bäcker, der Einkauf im Supermarkt und Medikamente aus der Apotheke – als würde man seinem täglichen Leben in kleinen Beträgen folgen. Der einzige abweichende Posten in den letzten Jahren beläuft sich auf hunderttausend Kronen. Alles in mir verkrampft sich: mein Auto.
An seinem Geburtstag wäre ich fast zu spät gekommen. Ich hatte mich für alles mit dem größten Geschenkkorb aus dem Kaufhaus Magasin bedanken wollen. Wein, Würste, Oliven im Glas und eine Sachertorte von Reinh van Hauen, meine unendliche Schuld. Selbstverständlich ist Karina mit dabei, es ist ein Festtag, und ich lasse mir nichts anmerken, decke den Tisch und überreiche ihm das Geschenk.