Die Ketzer des Wüstenplaneten - Frank Herbert - E-Book

Die Ketzer des Wüstenplaneten E-Book

Frank Herbert

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Beschreibung

Hinter starken Barrieren verborgen wird das Herz zu Eis.

Unter Gottkaiser Leto II. wurde die Menschheit über die Galaxis verstreut. Nun kehrt sie aus der Diaspora zurück. Neue Kräfte haben sich entwicklet, neue Technologen wurden entwickelt, und der Orden der Bene Gesserit, der seit Jahrtausenden über das genetische Erbe der Atreides wacht, sieht sich mit Mächten konfrontiert, wie es sie bisher nicht gab. Von Arrakis ist keine Hilfe zu erwarten, dort lebt nur noch eine zerstrittene Priesterschaft, die Leto in Gestalt Shai-Huluds, des gigantischen Sandwurms, anbetet, und die einstmals stolzen Fremen, jetzt nur noch ein Schatten ihrer selbst. Doch dann kommt ein Mädchen aus der Wüste, das mit geheimnisvollen Kräften über den Shai-Hulud gebietet und ihm seinen Willen aufzwingt.

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FRANK HERBERT

 

 

 

DIE KETZER

DES

WÜSTENPLANETEN

 

DER WÜSTENPLANET

FÜNFTER ROMAN

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Titel der Originalausgabe HERETICS OF DUNE
Aus dem Amerikanischen von Ronald M. Hahn
Überarbeitete Neuausgabe Copyright © 1984 by Frank Herbert Copyright © 2013 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Covergestaltung: Das Illustrat Satz: Thomas Menne
ISBN 978-3-641-13960-5 V004
www.penguinrandomhouse.de

 

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Auch dieses Buch

ist für Bev

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Disziplin dient insgeheim meist der Unterdrückung; sie wurde nicht zur Befreiung, sondern aus Gründen der Begrenzung geschaffen. Frage nicht Warum? Sei achtsam mit Wieso? Warum? führt unausweichlich in ein Paradoxon. Wieso? sperrt dich in ein Universum aus Ursache und Wirkung. Beide stellen das Unermessliche in Abrede.

 

Die Apokryphen von Arrakis

 

 

»Taraza hat dir doch gesagt, dass wir elf dieser Duncan Idaho-Gholas durchhaben, nicht wahr? Dieser ist der zwölfte.«

Die alte Ehrwürdige Mutter Schwangyu sprach mit nachdenklicher Bitterkeit, als sie von der Brustwehr im dritten Stock auf das allein auf dem umzäunten Rasen spielende Kind hinuntersah. Das helle Mittagssonnenlicht des Planeten Gammu wurde von den weißen Hofmauern zurückgeworfen und füllte den unter ihnen liegenden Platz mit einer Leuchtkraft, als hätte jemand einen Scheinwerfer auf den jungen Ghola gerichtet.

Durchhaben!, dachte die Ehrwürdige Mutter Lucilla. Sie nickte heftig und dachte daran, wie kalt und unpersönlich Schwangyus Verhalten und Wortwahl doch war. Wir haben unseren Vorrat aufgebraucht; schickt uns mehr!

Das Kind auf dem Rasen schien etwa zwölf Standardjahre alt zu sein, aber die äußere Erscheinung eines Gholas, dessen Originalerinnerungen noch nicht erwacht waren, war meist trügerisch. Das Kind nutzte den Augenblick, um zu jenen hinaufzusehen, die es von oben musterten. Der Junge war von kräftiger Gestalt und hatte einen direkten Blick, der unter einer schwarzen Kappe aus wolligem Haar sein Ziel ins Auge fasste. Das gelbe Sonnenlicht des beginnenden Frühlings warf einen kleinen Schatten auf seine Füße. Seine Haut war tiefbraun, aber als er eine kaum merkliche Bewegung machte, verschob sich sein Einteiler und offenbarte auf der linken Schulter einen blassen Fleck.

»Diese Gholas kosten uns nicht nur sehr viel, sie sind außerdem äußerst gefährlich für uns«, sagte Schwangyu. Ihre Stimme klang nun gelassen und gefühllos, aber das machte sie nur noch gefährlicher. Es war die Stimme einer Ehrwürdigen Mutter, die zu einer Helferin sprach, und für Lucilla wurde dadurch klar, dass Schwangyu zu denen gehörte, die öffentlich gegen das Ghola-Projekt protestierten.

Taraza hatte sie gewarnt: »Sie wird versuchen, dich umzustimmen.«

»Elf Fehlschläge sind genug«, sagte Schwangyu.

Lucilla musterte Schwangyus faltige Gesichtszüge und dachte plötzlich: Irgendwann werde ich vielleicht auch alt und weise sein. Und möglicherweise habe ich bei den Bene Gesserit dann auch eine Machtposition.

Schwangyu war eine kleine Frau und hatte sich während ihrer Tätigkeit für die Schwesternschaft zahlreiche Altersmerkmale erworben. Lucilla wusste aus ihrem Zielstudium, dass Schwangyus schlichte schwarze Robe eine magere Gestalt verbarg, die außer ihren Ankleidehelferinnen und den männlichen Angehörigen ihrer Familie nur wenige gesehen hatten. Schwangyu hatte einen breiten Mund, und ihre Unterlippe wurde eingeengt von den Falten, die in ihr vorstehendes Kinn überliefen. Was ihr Verhalten anging, so neigte sie zu einer barschen Abruptheit, die Uneingeweihte oft für Verärgerung hielten. Die Befehlshaberin der Gammu-Festung hielt sich mehr von der Öffentlichkeit fern als die meisten Ehrwürdigen Mütter.

Lucilla wünschte sich erneut, den Gesamtrahmen des Ghola-Projekts zu kennen. Taraza hatte die Grenzlinie zwar exakt genug gezogen, aber: »Soweit es die Sicherheit des Gholas betrifft, kann man Schwangyu nicht trauen.«

»Wir nehmen an, dass die Tleilaxu den größten Teil der bisherigen elf selbst umgebracht haben«, sagte Schwangyu. »Und das sollte uns zu denken geben.«

Um es Schwangyus Verhalten gleichzutun, nahm Lucilla eine ruhige und beinahe gefühllose Warteposition ein. Ihr Benehmen sagte nichts anderes als: Ich mag zwar viel jünger sein als du, Schwangyu, aber auch ich bin eine vollwertige Ehrwürdige Mutter. Sie fühlte geradezu Schwangyus Blick auf sich.

Schwangyu hatte Holos von Lucilla gesehen, aber in Persona brachte diese Frau sie noch mehr außer Fassung. Eine Gedächtniskünstlerin mit bester Ausbildung, daran gab es keinen Zweifel. Die völlig blauen Augen, von keinerlei Linsen korrigiert, verliehen Lucilla einen durchdringenden Ausdruck, der zu ihrem langen, ovalen Gesicht passte. Jetzt, mit der zurückgeklappten Kapuze ihrer schwarzen Aba-Robe, zeigte sie braunes Haar, das zu einer dichten Barette zusammengezogen war und dann über ihren Rücken fiel. Nicht einmal die förmlichste Robe konnte Lucillas volle Brüste ganz verbergen. Sie entstammte einer genetischen Linie, die bekannt war für ihre mütterliche Natur, und hatte bereits drei Kinder für die Schwesternschaft geboren, zwei davon für den gleichen Herrn. Ja, sie war eine braunhaarige, bezaubernde Frau mit vollen Brüsten und einer mütterlichen Natur.

»Du sprichst sehr wenig«, sagte Schwangyu. »Daraus ersehe ich, dass Taraza dich vor mir gewarnt hat.«

»Hast du einen Grund zu der Annahme, dass Meuchelmörder versuchen werden, den zwölften Ghola zu töten?«, fragte Lucilla.

»Sie haben es schon versucht.«

Wie seltsam, dass einem das Wort ›Ketzerei‹ in den Sinn kam, wenn man an Schwangyu dachte, fiel Lucilla auf. Konnte es unter den Ehrwürdigen Müttern überhaupt Ketzerei geben? Die religiöse Bedeutung des Wortes schien im Zusammenhang mit den Bene Gesserit völlig fehl am Platze zu sein. Wie konnte es ketzerische Bewegungen innerhalb einer Gruppe von Menschen geben, die sich alle Mühe gaben, sämtliche religiösen Dinge nach bestem Wissen und Gewissen zu manipulieren?

Lucillas Aufmerksamkeit wechselte auf den Ghola über, der den Augenblick nutzte, um eine Reihe von Radschlägen auszuführen. Sie führten ihn in einem vollen Kreis an seine Ausgangsposition zurück. Dann stand er wieder da und musterte die beiden Beobachter auf der Brustwehr.

»Wie schön er das macht!«, sagte Schwangyu höhnisch. Ihre altersschwache Stimme konnte den wütenden Unterton nicht verbergen.

Lucilla sah Schwangyu an. Ketzerei. ›Dissidenz‹ war nicht das passende Wort. Auch ›Opposition‹ deckte nicht das ab, was in der alten Frau vor sich ging. Hier war etwas im Gange, das die Bene Gesserit spalten konnte. Ein Aufstand gegen Taraza, die Mutter Oberin? Unvorstellbar! Oberinnen waren so mächtig wie Monarchen. Nachdem Taraza die Vorschläge ihrer Beraterinnen akzeptiert und eine Entscheidung gefällt hatte, waren die Schwestern zu Gehorsam verpflichtet.

»Dies ist nicht der Zeitpunkt, neue Probleme zu schaffen!«, sagte Schwangyu. Ihr Standpunkt war fest. Die Verstreuten kehrten zurück, und die Entschlossenen unter diesen Verlorenen bedrohten die Schwesternschaft. Geehrte Matres! Es hörte sich fast so an wie ›Ehrwürdige Mütter‹.

Lucilla wagte einen erkundenden Ausfall. »Dann meinst du also, wir sollten uns auf das Problem dieser Geehrten Mütter der Verstreuten konzentrieren?«

»Konzentrieren? Hah! Sie haben nicht unsere Macht! Sie zeigen keine Vernunft. Und sie können die Melange nicht meistern! Das ist es, was sie von uns wollen, unser Wissen um das Gewürz.«

»Vielleicht«, stimmte Lucilla zu. Sie war nicht dazu bereit, auf diese dürftige Offensichtlichkeit hin einzulenken.

»Die Mutter Oberin Taraza hat zugunsten dieses Ghola sämtliche geistige Beweglichkeit aufgegeben«, sagte Schwangyu.

Lucilla schwieg. Das Ghola-Projekt hatte in den Reihen der Schwestern zu unguten Gefühlen geführt. Die – wenn auch nur geringe – Wahrscheinlichkeit, dass sie möglicherweise einen neuen Kwisatz Haderach hervorbrachten, hatte in ihnen Schauer wütender Angst erzeugt. Sich abzugeben mit den wurmgebundenen Überresten des Tyrannen! Das war eine extreme Gefahr.

»Wir dürfen diesen Ghola niemals nach Rakis bringen«, murmelte Schwangyu. »Schlafende Würmer soll man nicht wecken.«

Erneut wandte Lucilla dem Ghola-Kind ihre Aufmerksamkeit zu. Der Junge hatte den beiden Ehrwürdigen Müttern hinter dem hohen Geländer nun den Rücken zugewandt, aber irgend etwas an seiner Haltung verriet, dass er wusste, sie sprachen über ihn. Und er erwartete ihre Reaktion.

»Zweifellos bist du dir darüber im Klaren, dass man dich hierhergerufen hat, obwohl er noch zu jung ist«, sagte Schwangyu.

»Ich habe noch nie davon gehört, dass man jemanden instruiert, der noch so jung ist«, gab Lucilla zu. Sie sagte das in einem Tonfall, der leicht nach Selbstironie klang, und sie wusste, dass Schwangyu ihn wahrnehmen und falsch interpretieren würde. Die Handhabung der Zeugung und sämtliche damit zusammenhängende Notwendigkeiten waren die allerhöchste Spezialität der Bene Gesserit. Nutze die Liebe aus, aber lass dich nicht mit ihr ein – das würde Schwangyu jetzt denken. Die Analytiker der Schwesternschaft kannten die Ursachen der Liebe. Sie waren ihnen zwar schon recht früh in ihrer Geschichte auf die Spur gekommen, aber sie hatten es nie gewagt, diesen Faktor aus jenen herauszuzüchten, die sie manipulierten. Toleriert die Liebe, aber wappnet euch gegen sie, das war die Parole. Wisse, dass sie tief im Genom des Menschen verankert ist – eine Sicherung, die festschreibt, dass die Spezies nicht ausstirbt. Man bediente sich ihrer, wo es notwendig war, instruierte ausgewählte Individuen (die manchmal füreinander bestimmt waren) über die Ziele der Schwesternschaft, weil man wusste, dass solche Individuen von starken Banden gehalten wurden, ohne dass sie ihnen je auffielen. Andere entdeckten vielleicht Verbindungen dieser Art und hintertrieben deren Konsequenzen, aber die so Verbundenen tanzten zu einer Musik, die für sie unhörbar war.

»Ich wollte damit nicht andeuten, dass es ein Fehler wäre, ihn zu instruieren«, sagte Lucilla tadelnd. Sollte Schwangyu doch denken, was sie wollte!

»Dann bist du also nicht dagegen, den Ghola nach Rakis zu bringen«, sagte Schwangyu. »Ich frage mich, ob du diesen Kadavergehorsam weiterhin an den Tag legen wirst, wenn du die ganze Geschichte kennst.«

Lucilla holte tief Luft. Würde sie jetzt den gesamten Plan, der hinter den Duncan Idaho-Gholas steckte, erfahren?

»Auf Rakis lebt ein Mädchen, das Sheeana Brugh heißt«, sagte Schwangyu. »Ihr gehorchen die Riesenwürmer.«

Lucilla verbarg ihre Aufregung. Riesenwürmer. Nicht Shai-Hulud. Nicht Shaitan. Riesenwürmer. Der Sandreiter, den der Tyrann prophezeit hatte, war endlich aufgetaucht!

»Das ist kein leeres Geschwätz«, sagte Schwangyu auf Lucillas fortwährendes Schweigen hin.

Bestimmt nicht, dachte Lucilla. Und du benennst ein Ding nach seinem Äußeren, nicht mit dem Namen seiner mystischen Bedeutung. Riesenwürmer. Und du denkst wirklich an den Tyrannen, an Leto II., dessen endloser Traum in jedem dieser Würmer wie eine Perle des Bewusstseins weiterlebt. So sollen wir jedenfalls glauben.

Schwangyu deutete mit dem Kopf auf das unter ihnen auf dem Rasen stehende Kind. »Glaubst du, ihr Ghola wird fähig sein, das Mädchen zu beeinflussen, das die Würmer reiten kann?«

Zumindest entblättern wir endlich etwas, dachte Lucilla. Sie sagte: »Ich sehe keinen Grund, auf diese Frage zu antworten.«

»Du bist eine besonders Vorsichtige, wie?«, sagte Schwangyu.

Lucilla krümmte den Rücken und reckte sich. Vorsichtig? Ich? Aber gewiss! Taraza hatte sie gewarnt: »Was Schwangyu angeht, so musst du zwar schnell, aber mit äußerster Vorsicht handeln. Wir haben nur eine sehr kleine Chance, wenn wir erfolgreich sein wollen.«

Erfolgreich worin?, fragte sich Lucilla. Sie musterte Schwangyu aus den Augenwinkeln. »Ich sehe nicht, wieso die Tleilaxu elfmal das Glück gehabt haben sollen, einen Ghola zu töten. Wie sind sie durch unsere Abwehr gekommen?«

»Wir haben den Bashar jetzt«, sagte Schwangyu. »Vielleicht kann er eine Katastrophe verhindern.« Ihr Tonfall strafte ihre Worte jedoch Lügen.

Die Mutter Oberin Taraza hatte gesagt: »Du bist die Instruktorin, Lucilla. Wenn du nach Gammu gehst, wirst du einen Teil der Verschwörung erkennen. Aber um dein Ziel zu erreichen, brauchst du keinen Gesamtüberblick.«

»Denk an die Kosten!«, sagte Schwangyu und schaute auf den Ghola hinunter, der nun auf den Fersen hockte und Grasbüschel rupfte.

Lucilla wusste, dass die Kosten keine Rolle spielten. Viel wichtiger war das offene Einräumen eines Fehlschlags. Die Schwesternschaft durfte ihre Fehlbarkeit nicht offenbaren. Aber die Tatsache, dass man so früh schon eine Instruktorin gerufen hatte, deutete auf die Unerlässlichkeit des Projekts hin. Taraza hatte gewusst, dass die Instruktorin dies und einen Teil der Verschwörung erkennen würde.

Schwangyu deutete mit ihrer knochigen Hand auf das Kind, das nun zu seinem einsamen Spiel zurückgekehrt war und sich auf dem Gras tummelte.

»Politik«, sagte sie.

Kein Zweifel, dass die Politik der Schwesternschaft den Kern von Schwangyus Ketzerei ausmachte, das war Lucilla klar. Die heikle Angelegenheit einer Auseinandersetzung in den eigenen Reihen konnte man von der Tatsache ableiten, dass man Schwangyu zur Befehlshaberin der Festung hier auf Gammu gemacht hatte. Wer zu Taraza in Opposition stand, weigerte sich auch, an ihrer Seite zu sitzen.

Schwangyu wandte sich um und schaute Lucilla offen an. Es war genug gesagt worden. Und man hatte auch genug gehört und aufgenommen. Beide Frauen verfügten über einen scharfen Verstand. Sie waren von den Bene Gesserit ausgebildet worden. Das Domstift hatte diese Lucilla mit größter Sorgfalt ausgewählt.

Lucilla spürte zwar, dass die Alte sie vorsichtig abschätzte, aber sie ließ nicht zu, dass ihr Blick jenen inneren Bereich berührte, in den sich eine Ehrwürdige Mutter in Zeiten großer Belastung zurückziehen konnte. Hier. Soll sie mich doch voll ansehen. Lucilla drehte sich um, zwang sich zu einem sanften Lächeln und ließ den Blick über das gegenüberliegende Dach schweifen.

Ein Uniformierter mit einer schweren Hochdruck-Lasgun war dort aufgetaucht. Er warf einen Blick auf die beiden Ehrwürdigen Mütter und konzentrierte sich dann auf das Kind unter ihnen.

»Wer ist das?«, fragte Lucilla.

»Patrin, die rechte Hand des Bashars. Der behauptet zwar, er sei lediglich sein Bursche, aber man muss schon ein Narr und blind dazu sein, um das zu glauben.«

Lucilla musterte den Mann auf der anderen Seite sehr aufmerksam. Das also war Patrin. Ein Bewohner Gammus, hatte Taraza gesagt. Der Bashar hatte ihn höchstpersönlich für diese Aufgabe ausgewählt. Er war blond und hager und mittlerweile viel zu alt für den Soldatenberuf, aber schließlich hatte man ja auch den Bashar von seinem Alterssitz zurückgerufen. Und er hatte darauf bestanden, Patrin an seiner Seite zu haben.

Schwangyu bemerkte, dass Lucillas Aufmerksamkeit in ernsthafter Weise von dem Ghola auf Patrin überging. Ja, wenn man den Bashar reaktiviert hatte, um diese Festung zu bewachen, war der Ghola wirklich in äußerster Gefahr.

Plötzlich überrascht sagte Lucilla: »Warum ...? Er ist ...«

»Miles Teg hat es befohlen«, sagte Schwangyu und sprach den Namen des Bashars aus. »Was der Ghola spielt ... alles gehört zu seiner Ausbildung. Man muss seine Muskeln für jenen Tag vorbereiten, an dem er sein ursprüngliches Ich zurückerhält.«

»Aber es ist keine einfache Übung, die er da unten macht«, sagte Lucilla. Sie spürte, dass ihre Muskeln sich freudig an ihre eigene Ausbildung erinnerten.

»Wir halten lediglich das geheime Wissen der Schwesternschaft vor diesem Ghola zurück«, sagte Schwangyu. »Fast alles andere aus unseren Wissensarchiven darf er erfahren.« Ihr Tonfall sagte aus, dass sie diesen Beschluss für außerordentlich fragwürdig hielt.

»Gewiss glaubt niemand, dass aus diesem Ghola ein neuer Kwisatz Haderach werden kann«, warf Lucilla ein.

Schwangyu zuckte lediglich die Achseln.

Lucilla zwang sich zur Ruhe und dachte nach. War es möglich, dass man den Ghola in eine männliche Version einer Ehrwürdigen Mutter verwandeln konnte? Konnte dieser Duncan Idaho lernen, wie man nach innen schaute – in Regionen, in die sich keine Ehrwürdige Mutter vorwagte?

Schwangyu setzte zum Sprechen an, aber ihre Stimme war eher ein grollendes Gemurmel. »Der Aufbau dieses Projekts ... sie haben einen gefährlichen Plan. Sie könnten den gleichen Fehler begehen ...« Sie brach ab.

Sie, dachte Lucilla. Als gehörte sie nicht mehr dazu.

»Ich würde etwas dafür geben, wenn ich genau wüsste, welche Position Ix und die Fischredner in dieser Sache einnehmen«, sagte Lucilla.

»Die Fischredner!« Schwangyu schüttelte den Kopf bei dem Gedanken an die Reste der weiblichen Armee, die einst nur dem Tyrannen gedient hatte. »Sie glauben an Wahrheit und Gerechtigkeit.«

Lucilla unterdrückte eine plötzliche Enge in ihrer Kehle. Schwangyu hatte alles getan; sie hatte nur keine Opposition eingenommen. Trotzdem führte sie hier das Kommando. Das politische Gesetz war einfach: Wer dem Projekt ablehnend gegenüberstand, musste es überwachen, damit es beim ersten Anzeichen eines Fehlschlags aufgegeben werden konnte. Aber dort unten auf der Wiese befand sich ein echter Duncan Idaho-Ghola. Zellvergleiche und Wahrsagerinnen hatten es bezeugt.

Taraza hatte gesagt: »Du bringst ihm die Liebe in all ihren Formen bei.«

»Er ist noch so jung«, sagte Lucilla mit einem Blick auf den Ghola.

»Ja, er ist jung«, sagte Schwangyu. »Ich glaube, im Moment kann ich davon ausgehen, dass du seine kindlichen Reaktionen auf mütterliche Zuneigung erwecken wirst ... Später dann ...« Sie zuckte die Achseln.

Lucilla verbarg keine emotionale Reaktion. Eine Bene Gesserit gehorchte. Ich bin die Instruktorin ... Also ... Tarazas Anweisungen und ihre spezielle Ausbildung setzten den Verlauf der Ereignisse fest.

»Es gibt jemanden, der so aussieht wie ich und mit meiner Stimme spricht«, sagte Lucilla. »Ich bin ein Klischee von ihr. Darf ich fragen, wer sie ist?«

»Nein.«

Lucilla blieb ruhig. Zwar hatte sie keine Offenbarung erwartet, aber man hatte wiederholt bemerkt, dass sie eine starke Ähnlichkeit mit der Senior-Sicherheitsmutter Darwi Odrade aufwies. »Eine junge Odrade.« Lucilla hatte dies bei mehreren Gelegenheiten gehört. Sowohl Lucilla als auch Odrade entstammten natürlich der Atreides-Linie, in die man eine starke Rückzüchtung der Siona-Abkömmlinge eingebracht hatte. Die Fischredner hatten jedenfalls kein Monopol auf diese Gene! Aber die Weitergehenden Erinnerungen einer Ehrwürdigen Mutter, so begrenzt sie auch durch ihr lineares Wahrnehmungsvermögen und ihre Weiblichkeit sein mochten, gaben ihr wichtige Hinweise über die ausgedehnten Ziele des Ghola-Projekts. Lucilla, die sich ganz auf die Erfahrungen des Jessica-Egos verließ, die man vor etwa fünftausend Jahren während der genetischen Manipulationen der Schwesternschaft vergraben hatte, spürte nun aus ebendieser Quelle eine heraufziehende Bedrohung. Sie erkannte ein Muster, das ihr bekannt vorkam, und es strahlte ein dermaßen intensives Gefühl des Untergangs aus, dass sie automatisch in die Litanei gegen die Angst verfiel, die man sie während des Einführungsritus der Schwesternschaft gelehrt hatte:

»Ich darf keine Angst haben. Die Angst tötet das Bewusstsein. Sie ist der Kleine Tod, der die Vernichtung bringt. Ich werde der Angst ins Angesicht sehen. Sie wird mich durchdringen und von mir gehen. Und wenn sie gegangen ist, werde ich ihren Weg mit dem inneren Auge verfolgen. Dort, wo die Angst gegangen ist, wird nichts zurückbleiben. Außer mir.«

Die Gelassenheit kehrte wieder zu ihr zurück.

Schwangyu, die irgend etwas mitbekommen hatte, ließ ihren prüfenden Blick etwas sinken. Lucilla war kein Dummkopf, sie war keine besondere Ehrwürdige Mutter, die einen nichtssagenden Titel und zu wenig Hintergrund hatte, um zu funktionieren, ohne die Schwesternschaft gegen sich aufzubringen. Lucilla war eine wichtige Frau, und manche Reaktionen konnte man nicht vor ihr verbergen – nicht einmal die Reaktionen einer Ehrwürdigen Mutter. Na schön, dann sollte sie eben in vollem Umfang von der Opposition gegen dieses närrische und gefährliche Projekt erfahren!

»Ich glaube nicht, dass ihr Ghola überleben wird, um Rakis zu sehen«, sagte Schwangyu.

Lucilla machte keinen Einwand. »Erzähl mir von seinen Freunden«, sagte sie.

»Er hat keine Freunde; nur Lehrer.«

»Wann werde ich sie kennenlernen?« Sie hielt den Blick auf die gegenüberliegende Brustwehr gerichtet, wo Patrin sich unbekümmert gegen eine niedrige Säule lehnte. Seine schwere Lasgun war schussbereit. Lucilla erkannte mit einem plötzlichen Schock, dass Patrin sie beobachtete. Patrin war eine Botschaft des Bashars! Schwangyu sah es offensichtlich auch, und sie verstand es. Wir bewachen ihn!

»Ich nehme an, es ist Miles Teg, den du gerne kennenlernen möchtest«, sagte Schwangyu.

»Unter anderem.«

»Möchtest du nicht zuerst mit dem Ghola Kontakt aufnehmen?«

»Das habe ich schon getan.« Lucilla deutete mit einem Kopfnicken in den Hof hinunter, wo der Junge jetzt wieder fast reglos stand und zu ihnen aufschaute. »Er ist ein nachdenklicher Knabe.«

»Ich habe zwar nur die Berichte, die die anderen Charaktere betreffen«, sagte Schwangyu, »aber ich nehme an, er ist der nachdenklichste der ganzen Serie.«

Lucilla unterdrückte ein unfreiwilliges Frösteln, als sie spürte, welch starker Widerspruchsgeist sich in Schwangyus Worten und ihrem Verhalten breitmachte. Es gab nicht den geringsten Hinweis darauf, dass das Kind dort unten Anteil an ihrem Menschsein hatte.

Während Lucilla dies dachte, bedeckten Wolken die Sonne. Das taten sie um diese Stunde oft. Ein kalter Wind blies über die Festungsmauern und wirbelte über den Burghof. Das Kind wandte sich ab und begann wieder mit seinen Übungen. Es holte sich Wärme aus zunehmender Aktivität.

»Wohin geht er, wenn er allein sein will?«, fragte Lucilla.

»Meist auf sein Zimmer. Er hat ein paar gefährliche Eskapaden versucht, aber das haben wir abgestellt.«

»Er muss uns sehr hassen.«

»Dessen bin ich mir sicher.«

»Ich werde mich sofort damit befassen.«

»Gewiss. Eine Instruktorin hat zweifellos Fähigkeiten, Hass zu überwinden.«

»Ich dachte an Geasa.« Lucilla maß Schwangyu mit einem wissenden Blick. »Ich finde es erstaunlich, dass du Geasa hast einen solchen Fehler machen lassen.«

»Ich mische mich nicht in den normalen Fortgang der Ghola-Unterweisungen ein. Wenn einer seiner Ausbilder echte Zuneigung zu ihm entwickelt, ist das nicht mein Problem.«

»Ein gutaussehendes Kind«, sagte Lucilla.

Sie blieben noch eine Weile stehen, um dem Duncan Idaho-Ghola bei seinem Trainingsspiel zuzusehen. Beide dachten kurz an Geasa, eine der ersten Lehrerinnen, die man wegen des Ghola-Projekts hierhergebracht hatte. Schwangyus Standpunkt war einfach: Geasa hatte sich als Fehlschlag entpuppt, weil die Vorsehung es so wollte. Lucilla dachte lediglich: Schwangyu und Geasa haben meine Aufgabe schwierig gemacht. Keine der beiden Frauen hatte auch nur einen Moment lang erkannt, wie diese Gedanken ihre Loyalität erneut bestätigten.

Während sie das Kind auf dem Hof beobachtete, kam Lucilla allmählich zu einer neuen Einschätzung dessen, was der Tyrann tatsächlich erreicht hatte. Leto II. hatte diese Ghola-Gestalt ungezählte Lebensalter lang um sich gehabt – etwa dreitausendfünfhundert Jahre lang, einen nach dem anderen. Und der Gott-Kaiser Leto II. war keine gewöhnliche Naturgewalt gewesen. Er war die größte, alles niederwalzende Kraft in der Geschichte der Menschheit gewesen und hatte alles überrollt: Gesellschaftssysteme, natürliche und unnatürliche Formen des Hasses, Regierungsformen, Rituale (sowohl tabuisierte als auch obligatorische), unbeständige und beständige Religionen. Das alleszermalmende Gewicht, das der Tyrann in die Waagschale geworfen hatte, hatte niemanden ungezeichnet zurückgelassen, nicht einmal die Bene Gesserit.

Leto II. hatte von einem ›Goldenen Pfad‹ gesprochen, und dieser Ghola des Duncan Idaho-Typus dort unten hatte während dieser schrecklichen Periode eine prominente Figur abgegeben. Lucilla hatte die Verzeichnisse der Bene Gesserit studiert; es waren wahrscheinlich die besten im Universum. Noch heute verschütteten die jungverheirateten Paare auf den meisten der alten kaiserlichen Planeten etwas Wasser nach Ost und West und sagten die örtliche Version von »Lass deinen Segen für dieses unser Opfer zu uns zurückfließen, o Gott der unendlichen Macht und unendlichen Gnade« auf.

Einst war es die Aufgabe von Fischrednern und deren zahmer Priesterschaft gewesen, dergleichen Gläubigkeit zu forcieren. Aber die Sache hatte schließlich ein Eigenleben entwickelt und war zu einem beherrschenden Zwang geworden. Selbst die größten Zweifler am Glauben sagten: »Nun ja, schaden kann es wohl nicht.« Es war eine Erfüllung, die selbst die besten Religionsmanipulatoren aus den Reihen der Bene Gesseritschen Missionaria Protectiva vor frustrierter Ehrfurcht erschauern ließ. Der Tyrann hatte die Bene Gesserit bestens übertroffen. Und fünfzehnhundert Jahre nach seinem Tod war die Schwesternschaft noch immer machtlos, den Hauptknoten dieser furchteinflößenden Erfüllung zu entwirren.

»Wer hat sich um die religiöse Ausbildung des Jungen gekümmert?«, fragte Lucilla.

»Niemand«, sagte Schwangyu. »Warum auch? Wenn er wieder seine Originalerinnerungen hat, wird er auch seine eigenen Gedanken haben. Damit werden wir schon fertig, falls es je dazu kommt.«

Das Kind auf dem Hof beendete die ihm zugedachte Trainingszeit. Ohne den beiden Beobachtern auf der Brustwehr noch einen weiteren Blick zu schenken, verließ der Junge den von Mauern umgebenen Platz und verschwand in einem breiten Torweg zu seiner Linken. Patrin verließ seinen Posten ebenfalls. Auch er sah die beiden Ehrwürdigen Mütter nicht an.

»Lass dich von Tegs Leuten nicht narren!«, sagte Schwangyu. »Sie haben Augen im Hinterkopf. Tegs Geburtsmutter, musst du wissen, war eine von uns. Er bringt diesem Ghola Dinge bei, von denen besser niemand etwas wüsste!«

2

 

Explosionen sind ebenso Verdichtungen der Zeit. Sichtbare Veränderungen im natürlichen Universum sind bis zu einem gewissen Grad und von manchen Blickwinkeln her gesehen ausnahmslos explosiv, sonst würde man sie nicht wahrnehmen. Sanft fortschreitende Veränderungen werden, verlangsamt man sie wirkungsvoll, von Beobachtern, deren Zeit-/Aufmerksamkeitsspanne zu kurz ist, nicht gesehen. Wahrlich, ich sage euch, ich habe Veränderungen gesehen, die euch nicht einmal aufgefallen wären.

 

Leto II.

 

 

Die Frau, die im Morgenlicht der Domstiftwelt vor dem Tisch der Ehrwürdigen Mutter Oberin Alma Mavis Taraza stand, war von hochgewachsener, geschmeidiger Gestalt. Die lange Aba-Robe, die sie in leuchtendem Schwarz von den Schultern bis zum Boden umhüllte, konnte die Grazie, die ihr Leib mit jeder Bewegung ausdrückte, nicht gänzlich verbergen.

Taraza beugte sich in ihrem Stuhl vor und begutachtete den Aufzeichnungsfluss, der – nur für ihre Augen sichtbar – in Bene Gesserit-Kurzschrift auf die Tischplatte projiziert wurde.

»Darwi Odrade«, identifizierte das Schriftbild die stehende Frau, und dann in Stichworten ihre Biografie, die Taraza bereits in allen Einzelheiten kannte. Die Platte diente mehreren Zwecken: sie versorgte die Mutter Oberin mit sicheren Informationen und erlaubte ihr hin und wieder einen Aufschub zum Nachdenken, während sie vorgab, irgendwelche Unterlagen zu überprüfen. Außerdem war sie eine Art letzter Instanz, sollte sich aus diesem Gespräch etwas Negatives entwickeln.

Odrade hatte im Auftrag der Bene Gesserit neunzehn Kinder geboren, sah Taraza, als die Fakten vor ihren Augen dahinrollten. Jedes Kind hatte einen anderen Vater. Daran war zwar nicht viel Ungewöhnliches, aber selbst der forschendste Blick konnte erkennen, dass dieser für die Schwesternschaft lebensnotwendige Dienst ihrer Figur nicht geschadet hatte. Ihre Gesichtszüge vermittelten eine natürliche Nasen- und Wangenknochenhöhe. Sie hatte ein schmales Kinn, und ihre Lippen waren voll. Sie deuteten eine Leidenschaftlichkeit an, die sie sorgfältig zu zügeln wusste.

Auf die Gene der Atreides kann man sich ganz und gar verlassen, dachte Taraza.

Hinter Odrade flatterte ein Vorhang, und sie warf einen kurzen Blick darauf. Sie befanden sich in Tarazas Morgenraum, einem kleinen, elegant möblierten Zimmer, das in grünen Farben gehalten war. Nur das leuchtende Weiß von Tarazas Sitzgelegenheit hob sie vom Hintergrund ab. Die abgerundeten Fenster des Zimmers blickten nach Osten. Dahinter breitete sich ein Garten mit einem Rasen aus, und den Hintergrund bildeten die weit entfernten, schneebedeckten Gipfel der Berge der Domstiftwelt.

Ohne aufzuschauen sagte Taraza: »Ich habe mich gefreut, als ihr, Lucilla und du, zusagtet. Es erleichtert mir meine Aufgabe sehr.«

»Ich hätte diese Lucilla gerne kennengelernt«, sagte Odrade und sah auf Tarazas Kopf hinab. Ihre Stimme klang nach einem weichen Alt.

Taraza räusperte sich. »Dazu lag kein Grund vor. Lucilla gehört zu unseren besten Instruktorinnen. Ihr habt natürlich beide eine identische Liberalkonditionierung erhalten, damit ihr auf alles vorbereitet seid.«

Es war etwas beinahe Beleidigendes in Tarazas beiläufigem Tonfall, und es war nur der Gewohnheit der langen Verbindung zu verdanken, dass Odrades plötzlicher Verdruss verschwand. Es war vor allem das Wort ›liberal‹, wurde ihr klar. Nachkommen des Atreides rebellierten sofort, wenn sie es hörten. Als wären ihre gespeicherten weiblichen Erinnerungen gegenüber den unbewussten Annahmen und unerforschten Vorurteilen, die dieser Begriff verdeckte, ausfallend geworden.

»Nur liberale Menschen denken wirklich. Nur liberal denkende Menschen sind Geistesmenschen. Nur liberal denkende Menschen verstehen die Bedürfnisse ihrer Gefährten.«

Wie viel Gemeinheit lag in diesem Wort verborgen, dachte Odrade. Wie viel geheime Ichbezogenheit, die danach verlangte, sich über andere erhaben zu fühlen.

Odrade erinnerte sich daran, dass Taraza dieses Wort trotz ihres beiläufig beleidigenden Tonfalls lediglich im Sinne von ›aufgeschlossen‹ verwendet hatte. Lucillas Allgemeinerziehung war sorgfältig der Odrades angepasst worden.

Taraza lehnte sich zurück. Sie nahm eine bequemere Position ein, hielt jedoch den Blick auf die vor ihr liegende Platte gerichtet. Das Licht aus den östlichen Fenstern fiel direkt auf ihr Gesicht und ließ unter Nase und Kinn Schatten entstehen. Obwohl sie kleiner und nur wenig älter war als Odrade, hatte auch Taraza sich einen Großteil jener Schönheit bewahrt, die sie zu einer sehr begehrten Partnerin schwieriger Herren machte. Ihr Gesicht war ein langes Oval mit sanft geschwungenen Wangen. Sie trug das schwarze Haar glatt nach hinten gekämmt und hatte eine hohe Stirn. Tarazas Mund öffnete sich, wenn sie redete, nur minimal: Sie war eine Meisterin der kontrollierten Bewegung. Wer sie ansah, konzentrierte sich unweigerlich auf ihre Augen. Sie waren völlig blau und erzeugten den Effekt, als trüge sie eine glatte Gesichtsmaske, die ihre wahren Gefühle vollständig verbarg.

Odrade durchschaute die gegenwärtige Pose der Mutter Oberin. Gleich würde sie vor sich hinmurmeln. Und tatsächlich, wie auf ein Stichwort hin, fing Taraza damit an.

Während die Mutter Oberin mit äußerster Sorgfalt Odrades Biografie verfolgte, dachte sie nach. Viele Dinge beschäftigten ihre Aufmerksamkeit.

Für Odrade war dies ein beruhigender Gedanke. Taraza glaubte nicht, dass es so etwas wie eine wohlwollende Macht gab, die die Menschheit beschützte. Die Missionaria Protectiva und die Absichten der Schwesternschaft standen in Tarazas Universum für alles. Alles was diesen Absichten diente, sogar die Machenschaften des längst toten Tyrannen, konnte man gutheißen. Alles andere war böse. Fremde Einflüsse, die die Diaspora hervorgerufen hatte – besonders die nun zurückkehrenden Abkömmlinge, die sich ›Geehrte Matres‹ nannten –, machten sie misstrauisch. Tarazas Leute, selbst jene Ehrwürdigen Mütter, die im Rat gegen sie opponierten, stellten die letzten Ressourcen der Bene Gesserit dar. Sie waren die einzigen, denen man vertrauen konnte.

Ohne aufzuschauen sagte Taraza: »Weißt du, wenn man die Jahrtausende, die dem Tyrannen vorangingen, mit denen nach seinem Tod vergleicht, ist der Rückgang größerer Konflikte phänomenal. Seit den Zeiten des Tyrannen ist die Zahl derartiger Auseinandersetzungen auf weniger als zwei Prozent zurückgegangen.«

»Soweit wir wissen«, sagte Odrade.

Tarazas Blick fuhr hoch, dann senkte er sich wieder. »Was?«

»Wir haben keine Möglichkeit, herauszufinden, wie viele Kriege außerhalb unseres Gesichtskreises geführt worden sind. Gibt es eine Statistik, die die Leute in der Diaspora betrifft?«

»Natürlich nicht!«

»Du sagst damit, dass Leto uns gezähmt hat«, sagte Odrade.

»Wenn du es auf diese Weise ausdrücken willst?« Taraza versah eine auf der Platte vorbeilaufende Information mit einer Markierung.

»Haben wir das nicht teilweise unserem geliebten Bashar Miles Teg zu verdanken?«, fragte Odrade. »Oder seinen talentierten Vorgängern?«

»Wir wählen diese Leute aus«, sagte Taraza.

»Ich vermag die Relevanz dieser martialischen Diskussion nicht zu erkennen«, sagte Odrade. »Was hat das mit unserem gegenwärtigen Problem zu tun?«

»Es gibt Leute, die glauben, es könnte ganz plötzlich knallen und wir würden uns in Zeiten wiederfinden, wie sie vor dem Tyrannen geherrscht haben.«

»Oh?« Odrade schürzte die Lippen.

»Verschiedene Gruppen unserer zurückkehrenden Verlorenen verkaufen Waffen an jeden, der welche kaufen will oder kann.«

»Zum Beispiel?«, fragte Odrade.

»Gammu wird mit schweren Waffen vollgestopft. Wir haben so gut wie keinen Zweifel daran, dass die Tleilaxu die allerschlimmsten in ihren Arsenalen bunkern.«

Taraza lehnte sich zurück und rieb sich die Schläfen. Sie sprach mit leiser, beinahe schläfriger Stimme. »Wir sind der Meinung, dass wir Entscheidungen von größter Wichtigkeit und nach den allerhöchsten Prinzipien treffen.«

Auch dies hatte Odrade schon gesehen. Sie sagte: »Bezweifelt die Mutter Oberin die Korrektheit der Bene Gesserit?«

»Zweifeln? O nein. Aber ich spüre Frustration. Wir arbeiten das ganze Leben lang für diese äußerst hehren Ziele, und am Ende, was stellen wir da fest? Wir finden heraus, dass viele der Dinge, denen wir unser Leben gewidmet haben, auf banalen Entscheidungen beruhen. Verfolgt man sie zurück, entspringen sie dem Bedürfnis nach Komfort oder persönlicher Bequemlichkeit und haben mit unseren hohen Idealen überhaupt nichts zu tun. In Wirklichkeit ging es um irgendein weltliches Arbeitsübereinkommen, das die Bedürfnisse jener befriedigte, die Entscheidungen treffen konnten.«

»Ich habe gehört, du nennst dies politische Notwendigkeiten«, sagte Odrade.

Während Taraza ihre Aufmerksamkeit wieder der vor ihr liegenden Platte widmete, hielt sie ihre Stimme unter kühler Kontrolle. »Wenn wir unsere Urteile institutionalisieren, ist das der beste Weg, die Bene Gesserit auszuschalten.«

»Du wirst in meiner Biografie keine banalen Entscheidungen finden«, sagte Odrade.

»Ich suche nach den Gründen der Schwäche, nach Mängeln.«

»Auch die wirst du nicht finden.«

Taraza unterdrückte ein Lächeln. Sie erkannte in dieser egozentrischen Bemerkung eine Absicht: Es war Odrades Art, die Mutter Oberin festzunageln. Odrade verstand es äußerst geschickt, die Ungeduldige zu spielen, während sie in Wirklichkeit gelassen in einem zeitlosen Strom der Geduld trieb.

Da Taraza ihren Köder nicht schluckte, nahm Odrade erneut ihre lässige Warteposition ein. Sie atmete ruhig und bereitete sich geistig auf alles vor. Geduld durchströmte sie, ohne dass sie daran denken musste. Die Schwesternschaft hatte sie vor langer Zeit gelehrt, wie man Vergangenheit und Gegenwart in simultane Ströme teilt. Während sie ihre unmittelbare Umgebung musterte, konnte sie Einzelheiten ihrer Vergangenheit aufgreifen und sie durchleben, als spielten sie sich auf einem Bildschirm der Gegenwart ab.

Gedächtnisarbeit, dachte Odrade. Notwendige Dinge hervorheben und in Ruhe beiseite legen. Entfernen der Barrieren. Wenn alles andere seinen Reiz verlor, hatte sie immer noch ihre verwirrende Kindheit.

Es hatte einst eine Zeit gegeben, in der Odrade gelebt hatte wie die meisten Kinder. In einem Haus, zusammen mit einem Mann und einer Frau, die – falls sie nicht ihre leiblichen Eltern gewesen waren – als Eltern fungiert hatten. Alle Kinder, die sie damals gekannt hatte, hatten in ähnlichen Situationen gelebt. Sie hatten Papas und Mamas gehabt. Papa arbeitete nur manchmal außer Haus. Manchmal ging nur Mama fort, um eine Tätigkeit auszuüben. In Odrades Fall blieb die Frau zu Hause, und es gab kein Kindermädchen, das während der Arbeitszeit das Kind hütete. Viel später hatte Odrade erfahren, dass ihre Geburtsmutter eine beträchtliche Geldsumme ausgegeben hatte, um das kleine Mädchen aus dem Blickfeld der Welt zu entfernen.

»Sie hat dich bei uns versteckt, weil sie dich liebt«, erklärte die Frau, als Odrade alt genug war, um zu verstehen. »Deswegen darfst du auch nie verraten, dass wir nicht deine richtigen Eltern sind.«

Die Liebe hatte nichts damit zu tun, hatte Odrade später erfahren. Ehrwürdige Mütter handelten nicht aus solch weltlichen Motiven. Und Odrades Mutter war eine Schwester der Bene Gesserit gewesen.

All dies hatte man Odrade aufgrund des ursprünglichen Plans offenbart. Ihr Name: Odrade. Darwi hatte man sie stets genannt, wenn man sich nicht über sie ärgerte oder zärtlich zu ihr sein wollte. Ihre Spielgefährten hatten sie natürlich Dar genannt.

Nicht alles schien jedoch nach dem ursprünglichen Plan zu verlaufen. Odrade erinnerte sich an ein schmales Bett in einem Zimmer, dessen pastellblaue Wände mit Tiergemälden und Märchenlandschaften geschmückt waren. Weiße Vorhänge flatterten während sanfter Frühlings- und Sommerbrisen an den Fenstern. Odrade erinnerte sich, dass sie auf dem schmalen Bett herumgesprungen war. Ein herrliches, wunderbares Spiel: auf und nieder, auf und nieder. Sie hatte viel gelacht. Dann hatten sie mitten im Sprung ein paar Arme aufgefangen und an sich gezogen. Die Arme eines Mannes mit rundem Gesicht und einem kleinen Schnauzbart, der sie dermaßen kitzelte, dass sie lachen musste. Das Bett rumste gegen die Wand, wenn sie sprang, und die Wand trug Anzeichen dieser Behandlung.

Odrade gab sich augenblicklich ganz dieser Erinnerung hin. Sie zögerte, sie in den Born der Vernunft mit einzubeziehen. Spuren an der Wand. Anzeichen von Gelächter und Freude. Wie klein sie doch waren, und doch zeigten sie so viel.

Komisch, aber sie hatte in letzter Zeit öfter an Papa gedacht. Nicht alle ihre Erinnerungen waren glücklich. Es hatte Zeiten gegeben, in denen er traurig-wütend gewesen war; Zeiten, in denen er zu Mama gesagt hatte, sie solle sich nicht ›zu sehr engagieren‹. Er hatte ein Gesicht, das viele Frustrationen widerspiegelte. Seine Stimme klang wie ein Bellen, wenn er in dieser wütenden Stimmung war. Mama bewegte sich dann vorsichtig, und ihre Augen waren voller Sorge. Odrade spürte die Sorge und die Angst, und dann mochte sie den Mann nicht mehr. Die Frau wusste am besten, wie man mit ihm umging. Sie küsste ihn in den Nacken, streichelte seine Wange und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

Diese uralten ›natürlichen‹ Gefühle hatten lange Zeit eine Analytiker-Prokuratorin der Bene Gesserit beschäftigt, die mit Odrade gearbeitet hatte, bevor sie sie ausprobierten. Und selbst jetzt noch konnte sie sie aufgreifen und beiseite legen. Sogar jetzt wusste Odrade, dass sie noch nicht völlig verschwunden waren.

Als sie sah, mit welcher Aufmerksamkeit Taraza ihre biografische Akte studierte, fragte sich Odrade, ob dies der Mangel war, den die Mutter Oberin sah.

Sicher wissen sie schon jetzt, dass ich mit den Emotionen der alten Zeiten umgehen kann.

Es war alles so lange her. Dennoch musste sie sich eingestehen, dass sie die Erinnerung an diesen Mann und seine Frau noch immer in sich trug. Die Verbundenheit war dermaßen stark, dass sie möglicherweise niemals gänzlich verblich. Besonders die Erinnerung an Mama.

Die Ehrwürdige Mutter in extremis, die Odrade geboren hatte, hatte sie auf Gammu an einem Ort versteckt gehalten – aus Gründen, die sie nun ziemlich gut verstand. Odrade nahm es ihr nicht übel. Es war für ihr beiderseitiges Überleben notwendig gewesen. Die Probleme waren erst aus der Tatsache erwachsen, dass ihre Ziehmutter Odrade etwas gegeben hatte, das die meisten Mütter ihren Kindern geben – das, was der Schwesternschaft missfiel: Liebe.

Als die Ehrwürdigen Mütter gekommen waren, hatte die Ziehmutter sich nicht gegen die Wegnahme ihres Kindes gewehrt. Es waren zwei Ehrwürdige Mütter gewesen – und mit ihnen war ein Kontingent männlicher und weiblicher Prokuratoren erschienen. Hinterher hatte es lange Zeit gedauert, bis Odrade die Bedeutung dieses beklemmenden Augenblicks verstand. Die Frau hatte in ihrem tiefsten Herzen stets gewusst, dass irgendwann der Tag des Abschieds kommen würde. Es war nur eine Frage der Zeit. Aber dennoch: als aus den Tagen Jahre geworden waren – beinahe sechs Standardjahre –, hatte die Frau zu hoffen gewagt.

Und dann waren die Ehrwürdigen Mütter mit ihren stämmigen Helfern erschienen. Sie hatten lediglich gewartet, bis alles sicher war, bis sie Gewissheit hatten, dass kein Jäger wusste, wer dieses Kind war: Ein von den Bene Gesserit geplanter Atreides-Sprössling. Odrade hatte gesehen, wie man ihrer Ziehmutter einen großen Geldbetrag übergab. Die Frau warf das Geld auf den Boden. Dennoch erhob sich keine Stimme, die Einhalt gebot. Die anwesenden Erwachsenen wussten, wer die Macht hatte.

Als Odrade diese komprimierten Gefühle in sich aufsteigen ließ, sah sie die Frau immer noch: Sie schleppte sich zu einem Lehnstuhl am Fenster zur Straße, kauerte sich zusammen und schaukelte vor und zurück, vor und zurück. Sie gab nicht einen Ton von sich.

Die Ehrwürdigen Mütter setzten die Kraft der Stimme, ihre beachtlichen Manipulationstalente, den Rauch betäubender Kräuter und ihre übermächtige Erscheinung ein, um Odrade in das wartende Bodenfahrzeug zu locken.

»Es ist ja nur für eine Weile. Deine richtige Mutter hat uns geschickt.«

Odrade durchschaute zwar ihre Lügen, aber schließlich siegte ihre Neugier. Meine richtige Mutter!

Ihr letzter Blick auf die Frau, die der einzige ihr bekannte weibliche Elternteil gewesen war, hatte eine Gestalt getroffen, die am Fenster gesessen hatte und vor- und zurückschaukelte. Ihr Gesicht hatte elend gewirkt, und sie hatte die Arme um die Schultern geschlungen.

Später, als Odrade davon gesprochen hatte, zu ihr zurückzukehren, gehörte diese Erinnerungsvision bereits zu einer Grundsatzlektion der Bene Gesserit.

»Liebe führt ins Elend. Liebe ist eine uralte Kraft, die zwar früher zweckdienlich war, heute jedoch für das Überleben der Spezies keine Bedeutung mehr hat. Erinnere dich an den Fehler dieser Frau, ihren Schmerz.«

Bis ins Alter einer Halbwüchsigen hinein bemühte Odrade sich, mit Tagträumen darüber hinwegzukommen. Sie würde wirklich zurückkehren, wenn sie erst einmal eine vollwertige Ehrwürdige Mutter war. Sie würde zurückkehren und diese liebenswerte Frau finden. Sie würde sie finden, obwohl sie außer ›Mama‹ und ›Sibia‹ keinen Namen hatte. Odrade erinnerte sich an das Lachen erwachsener Freunde, die die Frau ›Sibia‹ genannt hatten.

Mama Sibia.

Die Schwestern hatten jedoch von ihren Tagträumereien erfahren und nach deren Quellen gesucht. Auch dies hatte man in eine Lektion aufgenommen.

»Tagträumereien sind das erste Erwachen dessen, was wir ›Simulfluss‹ nennen. Es ist ein grundsätzliches Werkzeug rationalen Denkens. Damit kann man den Geist zum besseren Denken bewegen.«

Simulfluss.

Odrade konzentrierte sich auf Taraza, die hinter dem Tisch ihres Morgenraums saß. Kindheitstraumata mussten sorgfältig in eine rekonstruierte Erinnerung eingepflanzt werden. All dies hatte sich fern von hier abgespielt; auf Gammu, dem Planeten, den das Volk von Dan nach den Zeiten des Hungers und der Diaspora wieder aufgebaut hatte. Das Volk von Dan – Caladan hatte der Planet einst geheißen. Odrade konzentrierte sich auf die Vernunft und nahm die Pose der Weitergehenden Erinnerungen ein, die während der Gewürzagonie, als sie wirklich eine vollwertige Ehrwürdige Mutter geworden war, durch ihren Geist geflossen waren.

Simulfluss ... der Bewusstseinsfilter ... Weitergehende Erinnerungen.

Welch mächtige Werkzeuge die Schwesternschaft ihr gegeben hatte. Welch gefährliche Werkzeuge. Sämtliche anderen Existenzen befanden sich nur knapp hinter dem Vorhang der Wahrnehmung. Werkzeuge zum Überleben, nicht dafür, um beiläufige Neugier zu befriedigen.

Während sie aus den Informationen übersetzte, die vor ihren Augen vorbeizogen, sagte Taraza: »Du gräbst zu oft in deinen Weitergehenden Erinnerungen. Damit legst du Energien brach, die du besser bereithalten solltest.«

Die völlig blauen Augen der Mutter Oberin sahen Odrade von unten her durchdringend an. »Manchmal bewegst du dich an den Grenzen der fleischlichen Toleranz. Dies könnte zu deinem vorzeitigen Ableben führen.«

»Ich bin vorsichtig mit dem Gewürz, Mutter.«

»Das solltest du auch sein! Ein Leib kann nur eine bestimmte Menge an Melange vertragen, und auch nur eine bestimmte Menge des Herumstreifens in der Vergangenheit!«

»Hast du meinen Mangel gefunden?«, fragte Odrade.

»Gammu!« Ein Wort, aber es enthielt einen kompletten Vortrag.

Odrade wusste es. Das unvermeidliche Trauma der verlorenen Jahre auf Gammu. Sie waren eine Konfusion, die ausradiert und rational akzeptabel gemacht werden musste.

»Aber man hat mich nach Rakis entsandt«, sagte Odrade.

»Sieh zu, dass du die Aphorismen der Mäßigung nicht vergisst! Und vergiss nicht, wer du bist!«

Taraza beugte sich erneut über die Platte.

Ich bin Odrade, dachte Odrade.

In den Schulen der Bene Gesserit, wo Vornamen dazu neigten, in Vergessenheit zu geraten, wurde man beim Nachnamen aufgerufen. Freunde und Bekannte griffen die Gewohnheit auf. Man lernte früh, dass die Verwendung von privaten Geheim- oder Kosenamen ein uraltes Hilfsmittel war, jemanden mit Zuneigung zu betören.

Taraza, die drei Klassen über Odrade stand, war angewiesen worden, ›das jüngere Mädchen zu erziehen‹, eine bewusste Verbindung wachsamer Lehrer.

›Zu erziehen‹ bedeutete ein bestimmtes Maß an Herrschaft über die Jüngere, umfasste jedoch auch Grundsätze, die besser jemand lehrte, der ihr gleichgestellt war. Taraza, die Zugang zu den Akten ihres Lehrlings hatte, nannte sie ›Dar‹. Odrade reagierte darauf, indem sie Taraza ›Tar‹ nannte. Die beiden Namen klebten irgendwie aneinander – Dar und Tar. Selbst jene Ehrwürdigen Mütter, die sie gehört und behalten hatten, verwechselten sie dann und wann – und sei es nur zum Spaß.

Odrade, die jetzt zu Taraza hinuntersah, sagte: »Dar und Tar.«

Ein Lächeln zuckte in Tarazas Mundwinkeln.

»Was steht in meiner Akte, das du nicht schon mehrmals gelesen hast?«, fragte Odrade.

Taraza setzte sich aufrecht hin und wartete darauf, dass ihr Sitz sich der neuen Position anpasste. Dann legte sie die Hände auf die Tischplatte und sah zu ihr auf.

Soviel jünger ist sie ja nun nicht, dachte sie.

Dennoch hatte Taraza seit ihrer Schulzeit in Odrade stets eine Angehörige einer anderen Generation gesehen, die eine Kluft aufwarf, die keine Zahl von Jahren würde schließen können.

»Fang bitte am Anfang an, Dar!«, sagte Taraza.

»Dieses Projekt hat seinen Anfang längst hinter sich«, sagte Odrade.

»Aber dein Anteil daran beginnt erst jetzt. Und wir steigen nun in einen Anfang ein, den niemand zuvor auch nur versucht hat.«

»Werde ich nun den Gesamtplan bezüglich dieses Ghola erfahren?«

»Nein.«

Das war es. Die ganze Offensichtlichkeit einer Auseinandersetzung auf höchster Ebene und das ›Bedürfnis, etwas zu wissen‹, wurden mit einem einzigen Wort vom Tisch gefegt. Aber Odrade verstand. Es gab eine organisationsinterne Regel, die seit Jahrtausenden bestand und nur minimale Veränderungen erfahren hatte. Das ursprüngliche Domstift der Bene Gesserit hatte sie festgelegt. Die einzelnen Abteilungen der Schwesternschaft waren von vertikalen und horizontalen Barrieren hart voneinander abgeschnitten und in isolierte Gruppen aufgeteilt, deren Fäden ausschließlich hier, auf allerhöchster Ebene zusammenliefen. Man ging seiner Pflicht (was nur ein anderes Wort für ›vorgeschriebene Rolle‹ war) lediglich innerhalb abgeteilter Zellen nach. Aktive Teilnehmer innerhalb einer Zelle kannten ihre Altersgenossen, die anderen Zellen angehörten, nicht.

Aber ich weiß, dass die Ehrwürdige Mutter Lucilla einer Parallelzelle angehört, dachte Odrade. Es ist die logische Antwort.

Sie erkannte die Notwendigkeit. Es handelte sich um eine uralte Struktur, die man revolutionären Geheimgesellschaften abgeschaut hatte. Die Bene Gesserit hatten sich stets für permanente Revolutionäre gehalten. Ihre revolutionären Bestrebungen waren lediglich während der Herrschaft des Tyrannen Leto II. etwas eingedämmt worden.

Eingedämmt, aber nicht abgelenkt oder unterdrückt, machte Odrade sich klar.

»Sag mir«, warf Taraza ein, »ob du in dem, was du zu tun hast, irgendeine direkte Bedrohung der Schwesternschaft erkennen kannst.«

Dies war eine Frage, die für Taraza charakteristisch war, und Odrade hatte gelernt, Fragen dieser Art ohne zu überlegen und aus reinem Instinkt heraus zu beantworten, den sie dann in Worte fasste. Rasch sagte sie: »Sollten wir handlungsunfähig sein, käme es schlimm.«

»Wir wissen, dass uns Gefahr drohen könnte«, sagte Taraza. Sie sprach mit trockener, leiser Stimme. Sie erweckte dieses besondere Talent Odrades nicht sonderlich gern. Die jüngere Frau hatte einen wahrsagerischen Instinkt, um Bedrohungen der Schwesternschaft aufzuspüren. Natürlich war dafür der wilde Einfluss ihrer genetischen Linie verantwortlich – die Atreides mit ihren gefährlichen Talenten. Auf Odrades Zuchtunterlagen befand sich eine spezielle Markierung: ›Sorgfältige Untersuchung aller Nachkommen.‹ Zwei ihrer Nachkommen hatte man stillschweigend vom Leben zum Tode befördert.

Ich hätte ihr Talent jetzt nicht hervorrufen sollen, nicht einmal für kurze Zeit, dachte Taraza. Aber manchmal war die Versuchung eben groß.

Taraza versiegelte den Projektor in ihrer Tischplatte und blickte auf die glatte Oberfläche, während sie weitersprach. »Selbst wenn du einen perfekten Herrn findest, darfst du, während du von uns fort bist, kein Zuchtprogramm durchführen.«

»Der Fehler meiner natürlichen Mutter«, sagte Odrade.

»Es war der Fehler deiner natürlichen Mutter, dass sie erkannt wurde, während sie ein Zuchtprogramm durchführte.«

Odrade hatte davon schon gehört. Es war etwas an der Atreides-Linie, das die sorgfältigste Überwachung der Zuchtfrauen erforderlich machte. Natürlich, das unkontrollierbare Talent. Sie wusste davon; es war eine genetische Kraft, die den Kwisatz Haderach und den Tyrannen hervorgebracht hatte. Was jedoch suchten die Zuchtfrauen jetzt? War ihre Methode größtenteils negativ? Keine gefährlichen Geburten mehr! Sie hatte ihre Babies, nachdem sie zur Welt gekommen waren, nie mehr gesehen, und das war für die Schwesternschaft nichts Besonderes. Ebenso hatte sie nie die Aufzeichnungen ihrer persönlichen genetischen Akte zu Gesicht bekommen. Auch hier operierte die Schwesternschaft mit vorsichtiger Gewaltenteilung.

Und früher die Verbote, mich mit meinen Weitergehenden Erinnerungen zu befassen!

Sie hatte die leeren Stellen in ihren Erinnerungen gefunden und geöffnet. Es war möglich, dass lediglich Taraza und vielleicht zwei weitere Ratsmitglieder (sehr wahrscheinlich Bellonda und eine andere ältere Ehrwürdige Mutter) weitreichenden Zugang zu Zuchtunterlagen dieser Art hatten.

Hatten Taraza und die anderen wirklich geschworen, sie würden eher sterben, als diese Informationen einem Außenstehenden zugänglich machen? Immerhin gab es ein ausgeklügeltes Nachfolgesystem für den Fall, dass eine Ehrwürdige Mutter, die eine Schlüsselstellung einnahm, starb, während sie von ihren Schwestern getrennt und nicht in der Lage war, die Leben, die sie einschloss, weiterzugeben. Man hatte dieses Ritual während der Tyrannenherrschaft sehr oft aufgeführt. Eine schreckliche Periode! Man hatte gewusst, dass die revolutionären Zellen der Schwesternschaft für ihn durchsichtig gewesen waren. Ungeheuer! Sie wusste, dass ihre Schwestern sich nie darüber hatten hinwegtäuschen lassen, dass Leto II. die Bene Gesserit nur deswegen nicht vernichtete, weil er seiner Großmutter, Lady Jessica, eine tiefsitzende Loyalität entgegenbrachte.

Bist du da, Jessica?

Odrade spürte, wie sich tief in ihr etwas rührte. Das Versagen einer Ehrwürdigen Mutter. »Sie hat es zugelassen, dass sie sich verliebte!« Eine solche Geringfügigkeit! – aber wie groß waren die Konsequenzen gewesen. Dreitausendfünfhundertjährige Tyrannei!

Der Goldene Pfad. Unendlich? Was war mit den verlorenen Megatrillionen, die die Diaspora gefordert hatte? Welche Bedrohung repräsentierten jene Verlorenen, die nun zurückkamen?

Als hätte sie Odrades Gedanken gelesen, was sie manchmal zu tun schien, sagte Taraza: »Die Verstreuten sind dort draußen ... und sie warten nur darauf, dass sie zuschlagen können.«

Odrade hatte die Meinungen gehört: einerseits sprach man von einer drohenden Gefahr, andererseits von etwas äußerst Attraktivem. Und es gab so viele Unbekannte, die einen blendeten. Und die Schwesternschaft mit ihren Fähigkeiten, hervorgerufen seit Jahrtausenden von der Melange – welche Möglichkeiten standen ihnen nicht offen bei einem solch verfügbaren Strom an Menschen? Man brauchte nur an die unzähligen Gene dort draußen zu denken! An die potentiellen Talente, die frei in Universen dahintrieben und möglicherweise für immer verlorengingen!

»Es ist das Nichtwissen, das die größten aller Schrecken heraufbeschwört«, sagte Odrade.

»Und die größten Ambitionen«, sagte Taraza.

»Dann gehe ich also nach Rakis?«

»Sehr bald. Ich glaube, du wirst deiner Aufgabe gerecht werden.«

»Sonst hättest du sie mir nicht anvertraut.«

Es war der alte Wortwechsel zwischen ihnen, und er hatte schon in ihrer Schulzeit angefangen. Taraza machte sich jedoch klar, dass sie nicht bewusst in ihn eingetreten war. Zu viele Erinnerungen ketteten sie und Odrade aneinander: Dar und Tar. Sie musste aufpassen!

»Vergiss nicht, wem deine Loyalität gehört!«, sagte Taraza.

3

 

Die Existenz von Nicht-Schiffen wirft die Möglichkeit auf, ganze Planeten zu vernichten, ohne dass es zu Vergeltungsmaßnahmen kommt. Ein großer Körper – ein Asteroid oder etwas Ähnliches – kann gegen einen Planeten gelenkt werden. Man kann auch das Volk mit sexueller Subversion gegeneinander aufbringen und es dann bewaffnen, damit es sich selbst vernichtet. Die Geehrten Matres scheinen der letzteren Verfahrensweise den Vorzug zu geben.

 

Analyse der Bene Gesserit

 

 

Von seiner Position im Hofgarten aus – und selbst wenn er nicht diesen Eindruck erweckte – hielt Duncan Idaho seine Aufmerksamkeit auf die beiden Beobachterinnen über sich gerichtet. Da war natürlich noch Patrin, aber Patrin zählte nicht. Es waren die Ehrwürdigen Mütter, denen seine Wachsamkeit galt. Als er Lucilla sah, dachte er: Das ist die neue. Der Gedanke erfüllte ihn mit plötzlicher Erregung, die er in einer erneuten Übung abbaute. Er brachte die ersten drei Übungen des Trainingsspiels hinter sich, die Miles Teg ihm befohlen hatte, ohne groß darüber nachzudenken, dass Patrin darüber Bericht erstatten würde, wie gut er sie konnte. Duncan mochte Teg und den alten Patrin, und er spürte, dass sie ihm die gleichen Gefühle entgegenbrachten. Die neue Ehrwürdige Mutter jedoch – ihre Anwesenheit deutete auf interessante Veränderungen hin. Zum Beispiel war sie jünger als die anderen. Außerdem machte sie keinerlei Anstalten, die Augen zu verdecken, die den ersten Hinweis darauf gaben, dass sie zu den Bene Gesserit gehörte. Als er Schwangyu zum ersten Mal begegnet war, hatte er sich mit Augen konfrontiert gesehen, die hinter Kontaktlinsen verborgen waren und den Eindruck der Pupillen eines Nichtsüchtigen erweckten. Es war das Weiße in ihnen sichtbar gewesen. Er hatte gehört, wie eine Festungshelferin gesagt hatte, Schwangyus Linsen korrigierten ebenso »eine astigmatische Schwäche, die man in ihrer genetischen Linie akzeptiert hat, weil sie andere sie qualifizierende Fähigkeiten aufweist, die sie ihrer Nachkommenschaft weitervererbt«.

Damals war der größte Teil dieser Bemerkung für Duncan unverständlich gewesen, aber er hatte sich in der Festungsbibliothek umgesehen, wo es enzyklopädische Speicher gab, die zwar sowohl in ihrem Umfang als auch inhaltlich limitiert waren, aber wenigstens einige Informationen lieferten. Schwangyu hatte höchstpersönlich all seine Fragen zu diesem Thema abgeschmettert, aber das anschließende Verhalten seiner Lehrer hatte ihm gesagt, dass sie deswegen wütend gewesen war. Typischerweise hatte sie ihre Wut wieder einmal an anderen ausgelassen. Was ihr wirklich missfiel, vermutete er, war sein Verlangen, zu erfahren, ob sie seine Mutter war.

Duncan wusste mittlerweile seit längerem, dass er etwas Besonderes war. Es gab Bereiche in diesem weitläufigen Verbund der Bene Gesserit-Festung, die er nicht betreten durfte. Er hatte seine eigenen Möglichkeiten entwickelt, derartigen Verboten auszuweichen, und er hatte des Öfteren durch schmutzige Scheiben und offene Fenster geschaut und die Wachen und freien Plätze gesehen, die von strategisch postierten MG-Nestern aus mit Flankenfeuer bedeckt werden konnten. Miles Teg hatte ihn höchstpersönlich in die Wichtigkeit einer strategischen Position eingewiesen.

Der Planet hieß jetzt Gammu. Früher hatte man ihn unter dem Namen Giedi Primus gekannt, aber jemand namens Gurney Halleck hatte dies geändert. Es war alles alte Geschichte. Langweiliger Kram. Es war noch immer ein schwacher Geruch bitteren Öls in der planetaren Krume – aus den Prä-Danischen Zeiten. Jahrtausende spezieller Bepflanzung hatten dies geändert, erklärten seine Lehrer. Einen Teil davon konnte er von der Festung aus sehen. Koniferenwälder und einzelne andere Bäume umgaben sie hier.

Die beiden Ehrwürdigen Mütter ständig im Auge behaltend, vollführte Duncan eine Serie von Radschlägen. Er zog bewusst seine außerordentlichen Muskeln zusammen, während er sich bewegte. So, wie Teg es ihm beigebracht hatte.

Teg unterrichtete auch in planetarischer Verteidigung. Gammu wurde von kreisenden Beobachtungssatelliten umringt, deren Mannschaften nicht mit ihren Familien zusammensein konnten. Die Familien blieben derweil hier auf Gammu, als Geiseln, damit die Beobachter wachsam blieben. Irgendwo zwischen den Schiffen, die sich im Weltraum aufhielten, befanden sich unaufspürbare Nicht-Schiffe, deren Mannschaften gänzlich aus den Leuten des Bashars und Bene Gesserit-Schwestern bestanden.

»Ich hätte diesen Auftrag niemals angenommen, hätte man mir nicht die gesamte Kontrolle über alle Verteidigungssysteme gegeben«, hatte Teg erklärt.

Es war Duncan klar, dass er Tegs ›Auftrag‹ war. Die Festung diente zu seinem Schutz. Und Tegs kreisende Beobachtungseinheiten – einschließlich der Nicht-Schiffe – beschützten die Festung.

All dies war Bestandteil einer militärischen Ausbildung, deren einzelne Elemente Duncan irgendwie bekannt vorkamen. Wenn er lernte, wie man einen scheinbar schutzlosen Planeten gegen einen Angriff aus dem Weltraum wappnete, erkannte er sofort, ob die Verteidigungssysteme korrekt platziert waren. Als Ganzes war es außerordentlich kompliziert, aber die Einzelheiten identifizierbar und für ihn verständlich. Zum Beispiel wurde die Atmosphäre Gammus ständig überwacht, und ebenso die Blutflüssigkeit der Bewohner dieser Welt. Suk-Ärzte, die in den Diensten der Bene Gesserit standen, befanden sich überall.

»Krankheiten sind Waffen«, erklärte Teg. »Unsere Krankheitsabwehr muss bestens abgestimmt sein.«

Teg äußerte sich regelmäßig über Passivabwehr. Er bezeichnete sie als »das Produkt einer Belagerungsmentalität, von der man seit langem weiß, dass sie tödliche Schwächen erzeugt«.

Wenn Teg ihm militärische Unterweisungen gab, hörte Duncan sorgfältig zu. Patrin und die Bibliotheksunterlagen bestätigten, dass der Mentat-Bashar Miles Teg ein prominenter Feldherr der Bene Gesserit gewesen war. Patrin äußerte sich oft über ihren gemeinsamen Militärdienst – und Teg stand dann stets als Held da.

»Mobilität ist der Schlüssel des militärischen Erfolgs«, sagte Teg. »Wenn man an Forts gebunden ist, auch wenn sie ganze Planeten umspannen, ist man tödlich verwundbar.«

Teg hatte nicht viel für Gammu übrig.

»Ich sehe, du weißt schon, dass dieser Planet einst Giedi Primus geheißen hat. Die Harkonnens, die hier herrschten, haben uns ein paar Dinge gelehrt. Dank ihnen wissen wir jetzt besser, wie entsetzlich brutal Menschen sein können.«

Während er sich an diesen Ausspruch erinnerte, beobachtete Duncan, dass die beiden ihn musternden Ehrwürdigen Mütter auf der Brustwehr offenbar über ihn sprachen.

Bin ich der Auftrag der Neuen?

Duncan mochte es nicht, wenn man ihn beobachtete, und er hoffte, die Neue würde ihm etwas Zeit für sich selbst zugestehen. Sie sah nicht sonderlich hart aus. So wie Schwangyu war sie nicht.

Duncan setzte seine Übungen fort, und in einem bestimmten Rhythmus, der zu seinen Bewegungen passte, dachte er: Verdammte Schwangyu! Verdammte Schwangyu!

Er hatte Schwangyu von seinem neunten Lebensjahr an gehasst. Das war jetzt vier Jahre her. Sie wusste nichts von seinem Hass, glaubte er. Sie hatte möglicherweise vergessen, wann und bei welcher Gelegenheit der Hass in ihm aufgestiegen war.

Er war knapp neun gewesen, als es ihm gelungen war, durch den Inneren Wachkordon in einen Tunnel zu schleichen, der zu einem MG-Nest führte. Im Innern des Tunnels hatte es nach Pilzen gerochen. Matte Lichter. Feuchtigkeit. Er hatte gerade einen Blick durch die Schießscharten werfen können. Dann hatte man ihn erwischt und in den Innenteil der Festung zurückgeschleppt.

Sein Ausflug hatte ihm eine strenge Moralpredigt von Schwangyu eingetragen. Sie war für ihn damals eine geheimnisvolle und bedrohliche Gestalt gewesen, der man gehorchen musste. Und dies war sie immer noch für ihn, obwohl er inzwischen erfahren hatte, dass die Bene Gesserit eine Fähigkeit auszeichnete, die ihresgleichen suchte: Kraft einer stimmlichen Besonderheit konnten sie den Willen eines unausgebildeten Zuhörers beeinflussen.

Man musste ihr gehorchen.

»Du bist schuld, dass jetzt eine ganze Wachmannschaft diszipliniert wird«, hatte Schwangyu gesagt. »Man wird sie hart bestrafen.«

Das war der schrecklichste Teil ihrer Predigt gewesen. Duncan mochte eine ganze Reihe der Wächter, und manchmal gelang es ihm, sie mit irgendwelchen Faxen zu brüllendem Gelächter zu verführen. Und jetzt hatte seine Neugier dazu geführt, dass einige seiner Freunde leiden mussten.

Duncan wusste, wie es war, wenn man bestraft wurde.

Verdammte Schwangyu! Verdammte Schwangyu!

Nach Schwangyus Moralpredigt war Duncan zu seiner damaligen Hauptlehrerin gelaufen, der Ehrwürdigen Mutter Tamalane, die auch zu den weisen Alten gehörte. Sie war gelassen und kühl gewesen, mit weißem Haar über einem schmalen Gesicht, und lederner Haut. Von ihr hatte er erfahren wollen, auf welche Weise man die Wachen bestrafen würde. Tamalane war in eine überraschend nachdenkliche Stimmung verfallen, und ihre Stimme klang wie Sand, der sich an Holz rieb.

»Sie werden bestraft? Nun, ja.«

Sie hatten sich in einem kleinen Lernzimmer befunden, das abseits lag von dem Übungsraum, in den Tamalane sich jeden Abend begab, um die Lektionen des nächsten Tages vorzubereiten. Ein Raum, der Lesegeräte und andere komplizierte Gerätschaften enthielt, die zum Speichern und Abrufen von Informationen dienten. Duncan war dieser Raum zwar weitaus lieber als die Bibliothek, aber es war ihm nicht gestattet, ohne Begleitung das Lernzimmer zu betreten. Es war ein lichter Raum, der von zahlreichen suspensorisch gehaltenen Leuchtgloben erhellt wurde. Als er hereinkam, wandte sich Tamalane gerade von seinen vor ihr ausliegenden Arbeiten ab.

»Wenn es zu härteren Bestrafungen kommt«, sagte sie, »haftet ihnen stets etwas von einem Opferbankett an. Und Wachen bekommen natürlich die Höchststrafe.«

»Bankett?« Duncan war verwirrt.

Tamalane machte eine halbe Drehung mit ihrem Sitz und sah ihm geradewegs in die Augen. Ihre stählernen Zähne funkelten im hellen Licht. »Die Geschichte ist nur selten gut mit jenen verfahren, die bestraft werden mussten«, sagte sie.

Duncan dachte über das Wort ›Geschichte‹ nach. Wenn Tamalane es aussprach, war es ein Zeichen. Sie würde ihm eine Geschichtslektion erteilen. Schon wieder eine langweilige Lektion.

»Eine Strafe der Bene Gesserit wird niemand vergessen.«

Duncans Blick heftete sich auf Tamalanes alten Mund. Er erfasste sofort, dass sie aus einer schmerzhaften persönlichen Erfahrung heraus sprach. Er würde etwas besonders Spannendes erfahren!

»Unsere Bestrafungen enthalten eine Lektion, der man sich nicht entziehen kann«, sagte Tamalane. »Sie ist viel stärker als der Schmerz.«

Duncan saß zu ihren Füßen auf dem Boden. Aus seinem Blickwinkel wirkte Tamalane wie eine schwarze, verschrumpelte, ominöse Figur.

»Wir strafen nicht mit der äußersten Agonie«, sagte sie. »Die ist den Ehrwürdigen Müttern vorbehalten, wenn sie mit dem Gewürz in Berührung kommen.«

Duncan nickte. Die Bibliotheksaufzeichnungen bezeichneten die ›Gewürzagonie‹ als eine rätselhafte Prüfung, aus der man als Ehrwürdige Mutter hervorging.

»Dennoch, Höchststrafen sind schmerzhaft«, sagte sie. »Und zwar auch emotional schmerzhaft. Emotionen, die durch Bestrafung freigesetzt werden, sind stets jene Emotionen, die wir als die größte Schwäche des Delinquenten ansehen; also stärken wir den Delinquenten.«

Ihre Worte erfüllten Duncan mit einem diffusen Gefühl der Bedrohung. Was würde man mit den Wachen anstellen? Er konnte nichts sagen, aber dazu gab es auch keinen Grund. Tamalane war noch nicht fertig.

»Die Bestrafung endet stets mit einem Dessert«, sagte sie und klatschte beide Hände auf ihre Knie.

Duncan runzelte die Stirn. Mit einem Dessert? Das war der Bestandteil eines Banketts. Aber wie konnte ein Bankett eine Bestrafung sein?

»Nun, es handelt sich nicht um ein Bankett im klassischen Sinn«, sagte Tamalane. Eine klauenartige Hand malte einen Kreis in die Luft. »Das Dessert kommt als etwas völlig Unerwartetes. Und der Delinquent denkt: Ahhh, man hat mir schließlich doch verziehen! Verstehst du?«

Duncan schüttelte heftig den Kopf. Nein, er verstand nicht.

»Es ist die Süße dieses Augenblicks«, sagte sie. »Man hat jede Sekunde eines schmerzhaften Banketts durchlebt, und am Ende steht man vor etwas, das man riechen kann. Aber! Sobald man es riecht, kommt der schmerzlichste Moment von allen, die Erkenntnis; man versteht, dass es kein gutes Ende nehmen kann. Wirklich nicht. Dies ist der äußerste Schmerz der Bestrafung. Und er schließt die Lektion der Bene Gesserit in sich ein.«

»Aber was wird sie mit den Wachen tun?« Duncan brachte diese Worte nur mühsam hervor.

»Ich kann dir nicht sagen, welches die besonderen Elemente ihrer Bestrafung sein werden. Ich will es auch gar nicht wissen. Ich kann dir nur sagen, dass es für jeden andere Auswirkungen haben wird.«

Mehr wollte Tamalane nicht sagen. Sie fuhr damit fort, ihre Unterlagen für den nächsten Tag vor sich auszubreiten. »Morgen werden wir weitermachen«, sagte sie. »Du erfährst dann, wie man die unterschiedlichen Akzente gesprochenen Galachs voneinander unterscheidet.«