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"Die Kinder der Wetterblüte" ist eine Geschichte zweier Helden, einem kleinen Mädchen und einem ebenso jungen Prinzen, die das gleiche Schicksal teilen. Aufgrund verschiedener Schicksalsschläge von ihren Eltern verlassen, machen sich die beiden auf die Suche nach Liebe und Geborgenheit ihrer Eltern und auf in den Kampf gegen das Böse in ihrem Königreich. Hierbei durchleben die beiden Helden und ihre fabelhaften Weggefährten eine Vielzahl an Abenteuern und müssen vor allem ihren Mut und ihren Willen immer wieder unter Beweis stellen.
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Seitenzahl: 475
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Die Kinder der Wetterblüte
Robin Krupp
Als Teah die Augen aufschlug, wusste sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Es war nicht bloß eine Ahnung oder ein Gefühl. Nein, sie wusste es an diesem Morgen einfach mit einer untrüglichen Bestimmtheit. Es gab keinen Zweifel. Sie konnte es fühlen, sie konnte es riechen, ja, sie hatte sogar so einen seltsamen Geschmack im Mund. So etwas geschieht häufig Menschen, wenn sie ein großes Abenteuer vor sich haben. Wenn also etwas auf sie zukommt, was sie ganz und gar verändern wird. Natürlich wissen die Menschen in diesem Moment nicht, dass sie ein großes Abenteuer vor sich haben. Sie sind sich nur ganz einfach sicher, dass etwas völlig falsch, völlig anders ist, als sie es gewohnt sind. Da sowas natürlich mächtig Angst machen kann, ist es eigentlich recht gut, dass diese Abenteurer noch nichts von dem wissen, was vor ihnen liegt. Nicht wenige würden sich sonst vielleicht gar nicht auf ihre Abenteuerreise begeben. Und die wenigen, die sich vielleicht doch auf den Weg machten, die hätten wahrscheinlich so viel Angst, dass sie ganz langsam gingen oder ständig nervös an den Nägeln kauten, was natürlich mehr als störend ist, wenn man ein Abenteuer zu bestehen hat.
Teah jedenfalls hatte so ein unglaubliches Abenteuer vor sich und dieses Abenteuer war eigentlich eine Nummer zu groß für sie. Man muss nämlich wissen, dass Teah erst neun Jahre alt war. Und bis zu diesem Morgen war Teah gar keine Abenteurerin und sie hätte wohl gelacht, wenn man sie gefragt hätte, ob sie eine wäre. Tatsächlich war Teah nämlich ein kleines, recht normales Mädchen mit blonden Haaren, immer roten Wangen und großen mandelförmigen Augen. Die hatte sie ihrer Mutter zu verdanken und ihren Eltern ging jedes Mal das Herz auf, wenn Teahs Augen über irgendetwas strahlten. Und bis zu dieser schicksalhaften Zeit strahlten ihre Augen sehr oft. Zwar hatte Teah keine Freunde, denn da, wo sie lebte, wohnten in einem weiten Umkreis keine anderen Menschen. Doch das hatte ihr nie viel ausgemacht, denn was man nicht kennt, vermisst man schließlich nicht. Sie lebte mit ihrer Mutter und ihrem Vater in einem kleinen, leicht wackligen Holzhaus mitten in einem wunderschönen Tal. Dieses wirklich ausnehmend schöne Stückchen Erde befand sich in einem uralten Königreich, an das sich nur die Wenigsten heute noch erinnern und dessen Name wohl gänzlich in Vergessenheit geraten ist.
Durch das Tal hindurch führte nur ein einziger Weg. Lief man darauf von Westen nach Osten, so erhob sich linkerhand eine majestätische Bergkette, auf deren Gipfeln das ganze Jahr über Schnee in der Sonne glitzerte. Es gab kleine Pfade, die sich da hinaufschlängelten, doch hatten Teahs Eltern sie immer davor gewarnt, da aufzusteigen. Berge waren schließlich nichts für kleine Mädchen.
Auf der rechten Seite hingegen erstreckte sich, etwas abseits des Weges, ein Wald, der sich über langgedehnte Hügel legte und sich weigerte, einen Blick auch nur auf einen Millimeter Waldboden freizugeben. Zwischen der Bergkette und diesem Waldrand aber wuchs herrliches grünes Gras, in dem wiederum Wildblumen unverfroren in den Himmel schossen, ohne sich dabei an Farbvorgaben oder zulässige Höhen zu halten. Und genau in diesen Auen stand das alte Haus von Teahs Familie. Nach so vielen Jahren war es immer noch ein gutes Haus, fand Teah, wenn es sich auch leicht zur Seite neigte. Das heißt, die Wände, auf denen das Dach lag, die waren schon gerade, aber eben jenes Dach war ganz verschoben und glich einer schief aufgesetzten Zipfelmütze. Genau unter diesem Dach, in der oberen Etage, lag Teahs Zimmer, zu dem man über eine schmale und sehr steile Holztreppe hinaufsteigen musste, die bei jedem Schritt entsetzlich knarrte. Wenn man aber geschickt genug war und sich vorsichtig auf der letzten Stufe hinhockte, so konnte man von hier noch passabel in die Wohnstube herunterschauen. Das war natürlich nichts für die Erwachsenen, aber Kinder wie Teah konnten hier herrlich spionieren.
Teah hatte ihr Leben eigentlich recht gut gefallen, denn auch für damalige Verhältnisse war es nicht unbedingt üblich, dass man so weit draußen in der Natur wohnte. Doch Teahs Vater war Holzfäller, genauso, wie auch schon ihr Opa und ihr Ur-Opa und wer weiß, wie viele Opas davor noch. Nun hatten Holzfäller in diesem Königreich nicht unbedingt das große Los gezogen, denn Bäume zu fällen war ein schlecht bezahlter, gefährlicher Beruf, voller Anstrengungen und Entbehrungen, doch ihr Vater beklagte sich nie.
„Jeder hat seine Pflicht zu erfüllen“, sagte er immer. „So ist es überall und so ist es auch in unserem Land.“
Dieses Land wurde aus einer weit im Landesinneren liegenden Königsburg heraus regiert. Vermutlich von einem König, so dachte Teah, denn so war es doch wohl üblich bei Königsburgen. Natürlich hatte sie den König noch nie zu Gesicht bekommen, doch daran verschwendete sie keinen Gedanken. Von Schlössern oder Herrschern wusste Teah ohnehin nicht viel. Ihre Eltern sprachen mit ihr nie darüber und so spielte es in ihrem Leben keine Rolle. Sie liebte es vielmehr, im Tal herumzuspringen, die vielen verschiedenen Tiere zu beobachten oder einfach nur im Gras zu liegen und die Wolken über die Bergspitzen ziehen zu sehen. Es reichte ihr völlig, mit ihrer Mutter gemeinsam Pilze zu sammeln oder auf die große Tanne vor ihrem Haus zu klettern und auf ihren Vater zu warten, wenn der abends von der Arbeit heimkam. So kann man fast sagen, dass Teah viele Jahre lang ein rundum glückliches kleines Mädchen war. Ja, Teah war wohl so glücklich, wie lebhafte, neunjährige Mädchen sein sollten.
Das Unheil hingegen, das für Teahs Abenteuer verantwortlich war, kam auf ganz leisen Sohlen. Denn als sich der Sommer langsam aus dem Tal verabschiedete, legte sich nach und nach ein Schatten auf Teahs Seele, der sich heimtückisch ausbreitete wie flüssige Dunkelheit. Am Anfang merkte sie es fast gar nicht. Es fiel ihr nur auf, dass es immer weniger Blumen gab. Obwohl, das ist nicht ganz richtig. Es gab schon weiterhin Blumen, doch die schönen bunten Wiesenblumen verloren auf eine seltsame Art ihre Farbe und ihre Form. Manche bekamen ganz dicke, saftige Blätter, wurden erst grau und dann noch dunkler. Oder bildete sich Teah das nur ein? Und wenn sie durch das sonst so herrliche Gras lief, war es dann nicht so, dass es sich nicht mehr so frisch anfühlte? Es war irgendwie trocken, ja es piekste fast an den Füßen. Sie war sich nicht sicher, aber es schien ihr, dass das Gras auch nicht mehr diese satte grüne Farbe hatte. Das alleine hätte Teah vielleicht nicht beunruhigt, eines Tages jedoch bemerkte sie, dass es bei weitem nicht mehr so viele Tiere gab, die sie hätte beobachten können. Wahrscheinlich finden sie einfach nicht mehr genug Futter, dachte sie, doch das betrübte sie umso mehr.
Das Tal schien jetzt wie ausgestorben und ein seltsames Gefühl der Einsamkeit machte sich in ihr breit. Auch wenn sie nicht so recht wusste, wie sie das alles in Worte fassen sollte, nahm sie sich vor, mit ihren Eltern darüber zu sprechen. Sie wussten immer einen Rat und waren für sie da, wenn es ihr einmal schlecht ging. Zu Teahs Entsetzen aber veränderten sich auch ihre Eltern. Wenn sie früher bei jeder Gelegenheit schnatterten, beim Abendbrot noch schlimmer als beim Frühstück, so wurden sie jetzt mit jedem Tag stiller und stiller. Schatten lagen auf ihren immer häufiger in Falten gelegten Stirnen. Was war nur los mit ihnen? Was war nur los mit ihrem Tal? Was sollte das alles? Irgendwann hielt Teah es nicht mehr aus. So konnte es unmöglich bleiben.
„Mama? Papa? Wisst ihr, ich glaube, unser Tal verändert sich gerade.“ Sie versuchte, so beiläufig wie möglich zu klingen, doch es misslang ihr gehörig.
„Das Gras ist ganz grau, und es ist so still geworden. Es gibt kaum noch Tiere.“
Als Teah das gesagt hatte, hatte sie eigentlich fest mit einer guten Erklärung ihrer Mama oder einem lustigen Scherz von ihrem Papa gerechnet. Ein einfaches Zeichen von Normalität hätte ihr gereicht. Stattdessen aber sah ihr Vater ihre Mutter stumm an und schüttelte kaum merklich mit dem Kopf. Und als wäre das noch nicht schlimm genug gewesen, sagte ihre Mutter:
„Teah, Liebling, mach dir keine Sorgen. Iss dein Brot auf, es ist schon spät.“
Genauso gut hätte sie Teah einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf schütten können. So etwas hatte es noch nie gegeben. Zwar hatten sie ihre Tochter auch früher nie mit irgendetwas belastet, aber Teah hatte auch nicht das Gefühl, dass es da je etwas gegeben hätte. Jetzt aber hatten ihre Eltern ein Geheimnis, sie schienen etwas zu wissen, was Teah nicht wissen durfte und das war genauso ungewöhnlich wie angsteinflößend. Teah fühlte sich plötzlich ganz klein, ja irgendwie ganz einsam und ausgeschlossen und so wuchs das Häufchen Unbehagen zu einem mächtigen Berg Angst. Sie wurde ganz still, aß ihr Brot und ging schließlich in ihr Bett, auch wenn sie schon jetzt wusste, dass sie nicht würde einschlafen können. Stattdessen lag sie noch lange wach, wälzte sich hin und her und suchte nach Antworten. Ihre Eltern verheimlichten etwas. Das hatten sie doch noch nie gemacht. Oder etwa doch? Vielleicht wollten sie sie vor irgendetwas schützen? Aber wovor? Wurden sie von irgendetwas bedroht? Bis zur Erschöpfung drehte sich das Gedankenkarussell und fast wäre sie darüber doch in den Schlaf geglitten, als sie ihre Mutter in der Stube hörte.
„In der Gefahr wiegt die Wahrheit schwerer als die Lüge. Wir sollten Teah erklären, dass..“ Doch Teahs Vater unterbrach die Mutter.
„Je mehr wir ihr erzählen, desto mehr setzen wir sie doch der Gefahr aus. Sie ist alles, was wir haben, sie darf nicht…“
Dann schloss ihr Vater die Stubentür und Teah konnte nichts mehr verstehen.
Seit diesem Abend beobachtete Teah ihre Eltern ganz genau. Ihr fiel auf, dass ihre Stirnen nun gar nicht mehr ohne Falten auskamen und sie viel öfter seufzten als früher. Eines Morgens, als Teah früh aufgestanden war, fand sie ihre Mutter weinend am Küchentisch sitzen. Hastig wischte sie die Tränen aus dem Gesicht, als Teah auf der Türschwelle erschien und sagte: „Ha...Hallo Teah. Heute, haben wir...wir haben richtig trockene Luft heute. Mir tränen meine Augen. Na sowas. Hast du gut geschlafen?“
Ein anderes Mal passierte eine noch viel seltsamere Sache: Nach einem trostlosen grauen Herbsttag lag Teah in ihrem Bett. Froh, dass der Tag endlich vorbei war, schlief sie rasch ein, erwachte jedoch kurze Zeit später, als es heftig an der Haustür pochte. Angestrengt lauschte sie in die Dunkelheit. Kurz hintereinander hörte sie zuerst die Schritte ihres Vaters und dann das Knarren der schweren Holztür. Sätze wechselten ihren Besitzer, aber Teah konnte weder die Worte ihres Vaters verstehen, noch die, die als Antwort darauf folgten. Was für eine seltsame Stimme, die da sprach. Teah konnte von ihrem Bett aus nicht mal sagen, ob es die Stimme eines Mannes oder die einer Frau war. Dieser Jemand sprach ganz schnell und aufgeregt, hell und unangenehm schrill. Es tat beinahe weh zuzuhören und dennoch schien es sehr wichtig zu sein. Doch so sehr sie sich auch anstrengte, noch leiser zu sein, es war vergebens. Sie verstand nichts. Ihr blieb nur eine Wahl, sie musste näher heran. Schnell schlüpfte sie aus ihrem Bett, lief mit nackten Füßen zur Treppe und blickte hinunter. Sie wagte nicht mal zu atmen. Der Besucher drehte Teah den Rücken zu, so dass sie immer noch nichts erkennen konnte, zumal das sehr kleine Menschlein eine Kapuze auf dem Kopf trug. Diese Kapuze gehörte zu einem schweren braunen, sehr schmutzigen Mantel, der dem Besitzer um ein paar Nummern zu groß schien. Ein Kobold? Ein Zwerg? Aber die gab es doch gar nicht. Teah lauschte angestrengt.
„Eine Katastrophe“, kreischte das Menschlein. „Eine Katastrophe, nicht wahr? Ihr müsstet längst viel weiter sein! Ihr müsstet längst fertig sein! Denkt doch an Golo. Um Himmels willen, wenn Golo…“
„Und was ist mit euch? Habt ihr sie etwa gesehen?“, fragte Teahs Vater mit unterdrücktem Zorn.
Teah wunderte sich. Das sah ihrem Vater nicht ähnlich. Worum ging es da? Was für eine Katastrophe? Wer oder was war Golo? Was sollte dieses Menschlein gesehen haben? Und wieso sprachen ihre Eltern mit ihm mitten in der Nacht?
„In den Bergen musste ich suchen, hehehe. In den Bergen!“ Teah fiel auf, dass das Menschlein ständig nervös kicherte. „Das habe ich euch doch gesagt! Ich habe wochenlang gesucht, habe ich, nicht wahr? Auf Knien bin ich über die Felsen gekrochen, hinein in die Höhlen, hinab in die Täler, ja selbst an Steilhängen suchte ich, nicht wahr? Aber nichts. Nichts. Es war fast so, als gäbe es sie nicht mehr. Aber es musste sie geben, hehehe. Und dann, endlich…“, schrie der seltsame Besucher.
„Psst“, flehte Teahs Mutter. „Teah schläft. Sie darf davon auf keinen Fall etwas mitbekommen.“
„Ich komme nicht heran, nicht wahr? Ihr müsst weitermachen. Ihr müsst. Unser aller Leben hängt davon ab. Unser Leben. Nicht auszudenken wenn ihr scheitert.“
Aus ihrem Versteck heraus konnte Teah ihren Vater sehen, doch wünschte sie, sie hätte nie gelauscht. All seine Verzweiflung zeichnete sich in seinem Gesicht ab. Es war ganz blass und verzerrt und voller Angst.
„Ich werde noch härter arbeiten“, hörte sie ihn sagen. „Ich werde es schaffen. Ich muss es schaffen.“
Dann war der Gast gegangen und Teah konnte sich einfach keinen Reim darauf machen. Sie war hin- und hergerissen. Doch immer, wenn sie daran dachte, mit ihren Eltern darüber zu sprechen, kam ihr das Gesicht ihres Vaters in den Sinn und sie behielt ihre Fragen für sich.
Es ist wahrhaftig nicht gut, wenn sich so ein Schatten auf eine kleine Familie legt, bis keiner mehr zu sprechen wagt. Natürlich hatte Teah noch des öfteren Fragen auf den Lippen. Was denn los sei, wohin die schöne Zeit verschwunden war und warum ihr keiner die Wahrheit sagte. Aber sie fürchtete sich vor den Beschwichtigungen noch mehr als vor der Wahrheit. Innerhalb kurzer Zeit war aus dem fröhlichen Mädchen ein verunsichertes Kind geworden, das die Welt nicht mehr verstand. Eines jedoch hatte sie verstanden. Ihre Eltern wollten ihre Sorgen nicht mit ihr teilen. Sie hielten sie für zu klein, für zu unbedeutend. Sie war keine große Hilfe und sollte sich einfach fügen. Mutter und Vater alles überlassen. Ruhig bleiben. Und so verstummte Teah. Sie wollte keine Sätze mehr hören, wie „Teah, Schatz, mach dir keine Sorgen. Es ist alles so wie immer. Warum gehst du nicht draußen ein bisschen spielen?“ Teah hatte nämlich gar keine Lust mehr zu spielen. Es gab keine Tiere mehr zu beobachten, im trockenen Gras mochte sie nicht mehr liegen und seit langem zogen nur noch graue Wolken über den Himmel. Stattdessen blieb sie jetzt immer öfter in ihrem Bett.
Eines Tages aber kam Teahs Vater nicht mehr von der Arbeit nach Hause. Das war ansich nichts Ungewöhnliches für Teah, denn manchmal schliefen die Holzfäller im Wald, direkt unter den ausladenden Ästen der großen Bäume. Diese Mal aber war es etwas anderes. Ihre Mutter hatte versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Und Teah wollte auch nicht fragen, denn ihre Mutter schien ihr an diesem Abend besonders still und in sich gekehrt zu sein. Am nächsten Tag kam Teahs Vater auch nicht nach Hause. Und am übernächsten Tag auch nicht. Da hielt sie es nicht mehr aus.
Sie stellte sich vor ihre Mutter und sah sie fest an: „Mama, wo ist Papa?“ Teahs Mutter zuckte zusammen.
„Teah, Schatz, mach dir keine So...“
„Mama, sag mir wo Papa ist.“
Teah war fest entschlossen, sich nicht mehr abspeisen zu lassen. Dazu hatte sich die Sorge viel zu fest in ihrer Brust verbissen.
Die Mutter sah sie unsicher an.
„Papa muss unglaublich viel Holz schlagen.“ Sie versuchte ein Lächeln, doch sie scheiterte gründlich.
„Aber so lange war Papa doch noch nie fort. Wann kommt er denn wieder, Mama?“
„Morgen, Teah. Morgen bestimmt.“
Teah wusste, dass ihre Mutter selbst nicht daran glaubte. Nicht eine Sekunde.
Sie wollte gerade etwas erwidern, als ihre Mutter sagte: „Jetzt ist es aber wirklich Zeit, ins Bett zu gehen. Sieh mal, der Mond steht ja schon hoch am Himmel.“
Das war natürlich nur ein Vorwand, schließlich war ja längst Herbst und im Herbst steht der Mond immer recht früh hoch am Himmel. Aber Teah sah ihrer Mutter an, dass das Gespräch für sie beendet war und so ging sie auch an diesem Abend mit einer furchtbaren Mischung aus Fragen, Sorgen und Traurigkeit ins Bett. Am nächsten Morgen war Teah unglaublich erleichtert, als sie die Stimme ihres Vaters hörte. Sie sprang aus dem Bett und rannte die Treppe hinunter. Doch statt sich ihm um den Hals zu werfen, wie sie es eigentlich geplant hatte, stoppte sie auf der letzten Stufe. Ihr Vater saß am Tisch und starrte erschöpft und niedergeschlagen vor sich hin. Es war zum Verzweifeln. Den ganzen Tag bekam sie kein Wort aus ihm heraus.
Das einzige was Teah ein wenig half, war, dass sich zu ihren Ängsten nun auch Wut gesellte. Was dachten ihre Eltern nur, wie sie mit ihr umspringen konnten? War sie etwa kein vollwertiger Teil dieser Familie? Ja, es stimmte, sie war erst neun Jahre alt, aber sie war doch kein rohes Ei. Was sollte dieser armselige Versuch überhaupt bringen, alle schlechten Nachrichten von ihr fernhalten zu wollen und sich gleichzeitig so unglücklich und niedergeschlagen durch den Tag zu schleppen? Offensichtlich war sie es nicht wert. Sie war noch ein Kind und Kinder mussten nicht alles wissen. Kinder hatten gefälligst Kind zu sein und sich ansonsten nirgendwo einzumischen. Weil es aber niemanden gab, bei dem sie sich darüber hätte beschweren können, niemand, der ihr zugehört hätte, ging sie zurück in ihr Zimmer, schloss die Tür und ließ sich den ganzen Tag nicht mehr blicken.
In dieser Nacht hatte sie einen besonders unruhigen Schlaf. Sie träumte irgendetwas von Blitzen, Feuer und Sturm. Immer wieder tauchten ihre Eltern auf und redeten pausenlos auf sie ein. Mach dir keine Sorgen Teah! Alles ist gut, Teah! Beruhige dich, Teah. Dann plötzlich erschien das Menschlein mit der schrillen Stimme. Dann wieder Blitze. Dann Saugen, ein Plop! Dann Dunkelheit. Stille.
Später fragte sie sich oft, ob sie von der Gewissheit, dass etwas passiert war, geweckt wurde oder ob sie erst wach wurde und dann die Gewissheit kam. Fest stand nur, dass sie die Augen öffnete, sich ruckartig aufsetzte und es wusste.
Das wirklich Besondere an Teahs Abenteuer ist, dass ihre Reise wahrscheinlich ganz anders verlaufen wäre, ja, oder vielleicht gar nicht stattgefunden hätte, wenn sie nur fünf Minuten früher aufgewacht wäre. Fünf Minuten sind ja eigentlich nicht viel, aber in Teahs Fall machten sie einen gewaltigen Unterschied. Hätte es diese fünf Minuten nämlich nicht gegeben, dann... ja dann hätte sie vielleicht ihre Mutter noch an ihrem Fenster vorbeirennen sehen. Und so schnell die Mutter rannte und so ernst, wie sie dabei aussah, wäre Teah ihr sicherlich nachgerannt. Und vielleicht hätte es dieses seltsame Geräusch, dieses Plop! gar nicht gegeben. Aber in Abenteuern geht ja meistens etwas schief. Zumindest am Anfang. Und so hatte der Traum Teah noch etwas länger festgehalten, und die Dinge passierten, wie sie nun einmal passierten.
An diesem Morgen gab es kein Klappern aus der Küche, es gab keine Sonnenstrahlen, es gab keine Stimmen und es gab auch keinen Kaffeeduft. Genau genommen gab es nur ein diffuses, milchiges Licht, gerade hell genug, damit Teah die Umrisse ihres winzigen Zimmers erkennen konnte.
Alles war so merkwürdig still um sie herum. Es kam ihr so vor, als hätte kein Geräusch, egal wie sehr es sich bemüht hätte, eine Chance gehabt, gegen diese Stille anzukommen. Es war genauso eine Stille, die herrscht, wenn man im Wasser untertaucht. Wenn man zum Beispiel in den See springt. Über dem Wasser kreischen Kinder vor Vergnügen, Vögel zwitschern und die Blätter der Bäume rascheln im Wind. Nach dem Eintauchen aber dringt das Wasser in die Ohren und all diese Geräusche sind innerhalb eines Wimpernschlags verschwunden. Man versinkt in einem Meer aus Stille. Da fiel es Teah wieder ein. Genau davon hatte sie geträumt. Erst dieses Geräusch, als sauge ein Frosch eine Fliege ein, dann das Plop! fast so, als spucke der Frosch die Fliege wieder aus. Und dann Stille. Unendlich tiefe Stille. Beunruhigend nur, dass diese Stille noch da war, obwohl Teah doch längst wach in ihrem Bett saß. Die Erleichterung darüber, dass sie alles nur geträumt hatte, wollte sich einfach nicht einstellen. Sollte das etwa bedeuten, dass sie noch schlief?
„Teah, aufwachen!“, rief sie sich in ihrem Kopf zu, doch der Traum, hartnäckig wie ein kleiner Hund, der sich in einem Hosenbein verbissen hatte, wollte nicht weichen. Oder hatte sie das am Ende gar nicht geträumt? Vermischten sich hier, in diesem milchigen Licht, gerade Traum und Wirklichkeit? Ja, das musste es sein. Das Plop! war tatsächlich passiert und Teahs Kopf hatte es, kurz vor dem Erwachen, noch rasch in ihren Traum eingebaut.
Und mit dieser Erkenntnis war er also da, der Moment, in dem Teah wusste, dass etwas nicht stimmte. Sie wusste es so sicher, so unumstößlich, dass es sie selbst erschreckte. Etwas stimmte so schlimm nicht, dass es nie wieder stimmen würde, es sei denn, jemand strengte sich so unheimlich an, wie sich noch nie jemand angestrengt hatte. Es sei denn, jemand machte das Etwas, das nicht stimmte, wieder stimmend. Wer aber sollte das sein? Wer hatte so viel Kraft? Zu diesem Zeitpunkt hatte Teah noch nicht die leiseste Ahnung, dass sie dieser Jemand sein musste.
„Mama?“
Es war mehr ein Krächzen, das über ihre Lippen kam, denn ein richtiges Wort.
Nichts. Obwohl Teah schon wusste, dass sie keine Antwort bekommen würde, versuchte sie es gleich noch einmal.
„Mama? Papa?“
Es kam nichts, nicht aus der Küche und nicht aus der kleinen Kammer, in der das Bett ihrer Eltern stand. Niemand antwortete. Zitternd kletterte sie aus ihrem Bett und schob ihre kleinen Füße langsam in Richtung Tür. Sie drückte die Türklinke herunter und ohne Vorwarnung drang dichter, schwerer, weißer Nebel in ihr Zimmer. Sie war zu überrascht, um die Tür schnell wieder zu schließen. Stattdessen wich sie zurück und ermöglichte es so dem bleichen Dunst, jede Ecke und jeden Winkel ihres Zimmers zu besetzen.
Sie hustete. Zumindest dachte sie, sie würde husten, aber es drang gar kein Hustgeräusch an ihr Ohr. Stattdessen waren da andere Geräusche. Seltsame Geräusche. Waren das Stimmen? Stimmen, die flüsterten? Tatsächlich war es so schwach, dass man es eher ein Wispeln nennen musste. Sie lauschte angestrengt, doch so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte kein Wort verstehen. Wenn Teah gehofft hatte, dass der Nebel nur in ihr Zimmer gekrochen war, so wurde sie enttäuscht. Auch hinter der Tür war alles so nass-dunstig, dass sie noch immer kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Was war das bloß? Wo kam das her? Gewiss, es war nicht der erste Nebel, den Teah jemals in ihrem Leben gesehen hatte. Aber seit wann kroch der Nebel denn sogar in Häuser und Zimmer?
Teah schlich Zentimeter um Zentimeter nach vorn, dahin, wo sie die Treppe vermutete. Sollte sie noch einmal nach ihren Eltern rufen?
Machte das überhaupt Sinn, wo der Nebel doch alles verschluckte. Und außerdem: Wer wusste schließlich, zu wem die Stimmen gehörten? Wer konnte schon sagen, was hier in dem Nebel lauerte? Sie erreichte die erste Treppenstufe. Ihre Zehen krallten sich um die Holzdiele und sie musste allen Mut zusammennehmen um hinabzusteigen. Jeder Schritt war für sich bereits ein Abenteuer, denn die Treppe war schon bei natürlichem Sonnenlicht nicht einfach zu beschreiten. Im Nebel dagegen war es nahezu unmöglich, so steil und baufällig wie sie war. Nach einer Weile schätzte Teah, dass sie die Hälfte ihres Abstiegs bewältigt hatte, als mehrere Dinge auf einmal passierten. Das Säuseln im Nebel schwoll unvermittelt und ohne Warnung zu lautem, jammervollem Wehklagen an und gleichzeitig verlor Teah den Halt, rutschte von einer Treppenstufe ab und fiel mindestens fünf Stufen in die Tiefe.
Mali hatte sich das frühe Aufstehen mittlerweile angewöhnt. So konnte er immerhin der dicken Mathilda und deren schrillen „Guten Morgen, mein Prinz“-Wünschen, verbunden mit einem feuchten Kuss auf die Stirn, besser entgehen. Er mochte einfach nicht schon am frühen Morgen in dieses kugelrunde, nach Kohl stinkende Warzen-Gesicht seiner Amme blicken.
Da war es besser, mit den ersten Sonnenstrahlen aufzustehen, zu seiner Waschnische mit der goldenen Waschschüssel zu laufen und sein Gesicht in das kalte Wasser zu tauchen. Wenn dann die Amme ins Zimmer kam, war er meist schon angezogen, saß vor seinem schmalen Burgfenster und blickte hinaus. Dort drüben, hinter den Burgmauern, konnte er Zikos Haus erahnen. Er sah das rote Ziegeldach, den darauf thronenden Wetterhahn und den rauchenden Schornstein. Das Haus, in dem sein einziger Freund mit seinen Eltern wohnte, war weit und breit das einzige, bei dem schon so früh der Schornstein rauchte. Wir Bäckersleute haben es nicht leicht, meinte Ziko bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Strenggenommen war nämlich nur Zikos Vater Bäcker, aber Ziko war sich sicher, dass er eines Tages in die Fußstapfen seines Vaters treten würde. Deshalb ließ er es sich auch nicht nehmen, morgens mit dem Hahnkrähen aufzustehen und den Ofen anzufeuern. So ein Glückspilz dachte Mali.
Er kannte Ziko seit dem letzten Sommer, seit jenem Tag nämlich, an dem Malis erste Reitstunde so gehörig schief gelaufen war. „Prinzen müssen reiten können“, hatte die Amme geträllert, dabei war sich Mali nicht einmal sicher, ob sie selbst schon jemals ein Pferd gesehen, geschweige denn darauf gesessen hatte. Umso besser für die Pferderücken. Im Gegensatz zu allen anderen Dingen aber, die so ein Prinz können musste, hatte sich Mali auf die Reitstunden gefreut, erst recht, als der Rittmeister ein stolzes schwarzes Pferd am Zügel in den Hof geführt hatte.
„Prinz, Ihr müsst sehr auf der Hut sein. Dieses Pferd ist ein junger Heißsporn. Der Herr hat es extra für Euch ausgesucht, denn es ist von edlem Geblüt. Wenn Ihr mich fragt, so gäbe ich Euch ein anderes Pferd, eins mit mehr Manieren und mehr Ruhe. Aber der Herr hat es verboten. Also gebt gut acht, macht keine ruppigen Bewegungen auf seinem Rücken und haltet Euch um Himmels Willen gut fest.“
Diese Warnung war nicht unbedingt das, was man in seiner ersten Reitstunde hören wollte. Aber Mali hatte sich zu sehr darauf gefreut, endlich auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen, als dass er sich seine aufkommende Beklommenheit hätte anmerken lassen. Mit leichtem Schwung hatte ihn der Rittmeister auf das Pferd gehoben. Mali, unsicher was er jetzt machen sollte, hatte den Rittmeister mit großen Augen angestarrt. Das Tier hatte auf das plötzliche Gewicht auf seinem Rücken mit einem verächtlichen Schnauben reagiert und war dann im Begriff, sich aufzubäumen. Der Rittmeister aber hatte blitzschnell die Zügel gefasst und das Pferd mit einem lauten „Hohhhh“ zurückgehalten. Als er das Pferd wieder einigermaßen im Griff gehabt hatte, sagte er:
„Versetzt das Pferd in einen leichten Trab, indem Ihr leicht an den Zügeln schlagt.“
Mali war sich sicher gewesen, einen unsicheren Unterton herausgehört zu haben, tat aber, wie ihm geheißen und zu seinem großen Erstaunen hatte sich das Pferd tatsächlich in Bewegung gesetzt. Wahnsinn. Es funktionierte! Mali hatte alle Kraft aufwenden müssen, um sich festzuhalten, aber je länger das Pferd unter ihm trabte, desto sicherer hatte er sich gefühlt. In Malis Brust hatte sich gerade eine Woge der Begeisterung breitmachen wollen, als aus dem Zimmer des Herrn oben im Burgturm ein lauter Knall und hässliches Gelächter ertönte. Er hatte sich festgekrallt, doch er hatte geahnt, was jetzt passieren würde. Das Pferd hatte sich zuerst mit den Vorderhufen aufgebäumt und diese in der Luft geschlagen, als stünde es einem unsichtbaren Gegner im Pferdeboxen gegenüber. Dabei hatte es ein schrilles Wiehern ausgestoßen und die Nüstern gebläht, so als wollte es, dass auch wirklich jeder hinsah. Panik hatte in seinen Augen gelegen und so war der Gesichtsausdruck des Pferdes dem von Mali gar nicht so unähnlich gewesen.
Mali erinnerte sich noch sehr gut daran, wie das Pferd dann losgeschossen und in unglaublicher Schnelligkeit durch den Hof galoppiert war. Auf die Zugbrücke zu und durch die Stadt. Er hatte sich mit aller Kraft um den Hals des Pferdes geklammert, die Häuser der Arbeiter und Handwerker waren an ihm vorbeigeflogen, ebenso der Marktplatz und schließlich das Stadttor. Mehrfach drohte Mali herabzufallen und hatte sich nur mit seiner ganzen Willenskraft auf dem Pferd halten können. Das Pferd war auf den Wald zugesprintet. Mehrere Männer waren zur Seite gesprungen anstatt zu helfen, schließlich hatten alle plötzlich etwas Besseres zu tun, als sich einem rasenden Pferd in den Weg zu stellen.
Das Pferd war mit Mali in den Wald eingetaucht und einen schmalen Pfad entlanggerast. Gerade als Mali gespürt hatte, dass er sich nicht mehr länger würde halten können und es an der Zeit war, sich von dieser Welt zu verabschieden, hatten sie einen Fluss erreicht. Das Pferd hatte sich davon nur kurz irritieren lassen, bevor es einfach nach links abgebogen und weiter am Ufer des Flusses entlanggaloppiert war. Äste der Flussweiden hatten Mali Striemen ins Gesicht gepeitscht und mehr als einmal hatte er sich unter dicken Ästen weggetaucht. Unverhofft hatte er in einiger Entfernung plötzlich einen Jungen am Flussufer stehen sehen. Der Junge hatte in aller Seelenruhe seine Angel zur Seite gelegt und war zu Malis grenzenloser Überraschung mit erhobenen Händen in den Weg des rasenden Tieres getreten. „Hooh!“ hatte er den Jungen rufen hören. Mali war trotz seiner großen Furcht, oder vielleicht gerade wegen seiner großen Furcht, überrascht, wie ruhig der Junge gewirkt hatte. Noch einmal hatte der „Hooh!“ gerufen.
Mittlerweile waren sie ihm gefährlich nahegekommen und Mali war sich schon fast sicher gewesen, dass das Pferd einfach über den Jungen hinwegfegen würde. Umso größer war seine Verwunderung, als das Pferd seine Schritte plötzlich immer mehr verlangsamte. All das war in der Zeit nur weniger Wimpernschläge passiert, aber Mali hatte trotzdem bemerkt, dass der Junge seinem Pferd fest in die Augen gesehen hatte. Mit einem ruhigen Blick, der nicht einen Funken Furcht vermuten ließ. In dem Moment aber hatte das Pferd zu schnell für Mali gestoppt. Um ein Haar wäre er vorn über den Hals des Tieres auf den Jungen gestürzt, der nun direkt vor ihnen stand. Mit letzter Kraft jedoch hatte er sich mit seinem ganzen Körper gegen den Hals des Tieres gedrückt und war dann seitlich und kopfüber vom Pferd heruntergerutscht.
„Ruhig“, hatte Mali den Jungen sagen gehört, und er hatte nicht gewusst, ob jetzt das Pferd oder er selbst gemeint war.
Es hatte eine Ewigkeit gedauert, bis er sich aufrappeln konnte. Als er schließlich wacklig auf seinen Beinen stand, hatte er dem Jungen nicht sofort in sein Gesicht sehen können, denn der Junge hatte seinen schwarzen Schopf an den Hals des Pferdes gelegt und ihm etwas ins Ohr geflüstert.
„Was hast du ihm gesagt?“, hatte Mali völlig außer Atem gefragt und dabei unwirscher geklungen als beabsichtigt.
„Oh, ich habe ihm nur gesagt, dass er sich nun ausruhen kann und dass er als erster durchs Ziel gerannt ist.“
„Durchs Ziel? Glaubst du etwa, wir haben hier ein Rennen veranstaltet?“
„Ein Rennen? Aber sicher, was denn sonst?“, hatte der Junge fröhlich geantwortet. „Ich habe schließlich den lauten Knall aus der Burg gehört und wenig später diesen nicht enden wollenden Schrei. Und dann kamt Ihr auch schon auf mich zugeschossen. Glückwunsch, Ihr seid sicherlich mächtig stolz.“
„Ein Schrei? Was denn für einen Schrei? Ich habe überhaupt keinen Schrei gehört.“
„Na, das wundert mich nicht! Wer so laut schreit wie Ihr, versteht sicher sein eigenes Wort nicht mehr.“
Mali hatte sich ganz nah dem Jungen gegenübergestellt und ihn finster angesehen.
„Willst du etwa sagen, dass ich so laut geschrien habe? Weißt du überhaupt, wer ich bin?“
Was bildete der Kerl sich denn ein? Seit wann können Untertanen so mit ihrem Prinzen sprechen? Vielleicht lag es daran, dass Mali bis zu diesem Tag überhaupt keine Freunde hatte, oder vielleicht war er nur ein Opfer seiner Erziehung, doch er konnte nicht anders, als dieses freche Verhalten als eine Beleidigung seiner Stellung zu betrachten. Na, er würde ihm schon beibringen, mit wem er es zu tun hatte.
„Ich würde sagen, du bist ein Junge, mit dem die Pferde durchgegangen sind“, hatte der Junge übermütig und wenig beeindruckt gesagt. Dabei hatte er Mali die Hand entgegengestreckt und gesagt:
„Ich heiße übrigens Ziko. Nur, damit du schon einmal weißt, wer ich bin.“
Viel zu überrumpelt, um standesgemäß zu reagieren, hatte Mali dann Zikos Hand ergriffen, seinen Namen ohne Prinzenzusatz und weitere Schnörkel gestammelt und so den Beginn einer tiefen Freundschaft markiert.
„Guten Mo...Ach, Prinz. Ihr seid ja schon komplett angekleidet!“, säuselte die Amme und riss Mali aus seinen Gedanken.
Mali fragte sich, ob sie es irgendwann einmal nicht mehr überraschen würde. Wahrscheinlich würde das der Tag sein, an dem sie aufhören würde, nach Kohl zu stinken. Also niemals.
„Was macht Ihr denn schon so früh am Fenster?“
„Ich sehe hinaus“, sagte Mali genervt und ergänzte in Gedanken „Wie immer.“
„Was gibt es denn zu sehen? So früh am Morgen?“
„Wenn es regnet, Regen. Und wenn es schneit, Schnee. Und wenn der Mond vom Himmel fällt, dann einen großen Krater.“
Das war natürlich sehr frech, aber diese Unterhaltung erinnerte Mali sehr stark an die von gestern. Und von vorgestern und all den anderen Tagen davor. Und was kümmerte es ihn? Er war der Prinz. Die Amme schien unterdessen gar nicht zugehört zu haben, was auch nicht neu war. Sie fuhr unbeirrt fort:
„Schön. Denkt daran: Der Herr will Euch heute sehen. Ihr habt Unterricht in Regierungskunde.“
„Ich weiß“, antwortete Mali. „So ist es ja jeden Morgen!“
Die Amme ignorierte Malis Antwort ein weiteres Mal und stellte ihm sein Frühstück an das Bett.
„Esst gut, mein Prinz. Ihr müsst mal ein großer starker König werden. Ihr müsst ein großes Land regieren. Und alle Gefahren mit Mut und großer Tapferkeit abwehren. Nicht so wie Euer unseliger Vater...“
In anderen Königreichen hätten Ammen für so einen Satz sicherlich ihren Kopf verloren, aber für Mali war es nichts Besonderes, dass jemand so über seinen Vater sprach. Das gehörte gewissermaßen zum guten Ton am Hof und ein jeder schien geradezu bemüht, in Malis Gegenwart noch einmal etwas Schlechtes über seine Eltern zu sagen. Und den Menschen fiel es leicht, so böse zu reden, denn Malis Eltern lebten schon lange nicht mehr.
Mali konnte sich kaum an seinen Vater und an seine Mutter erinnern, denn er selbst war gerade einmal drei Jahre alt, als sie plötzlich verschwanden. In seinem Kopf gab es nur noch ein verschwommenes Bild und dieses Bild kramte er immer abends vor dem Einschlafen aus den Tiefen seines Bewusstseins hervor. Sein Vater und seine Mutter, nebeneinander auf ihrem Thron, der Vater mit einer großen, erhabenen Krone und einem mächtigen Umhang, die Mutter mit ihrem warmen Blick und den goldenen Haaren, so wunderschön geflochten. Beide lächeln ihn an. Seine Mutter breitet ihre Arme aus, und in seinem Traum, in den Mali dabei jedes Mal hinüberglitt, fliegt er auf ihre Arme zu. Mama! Immer näher kommt er seiner Mutter. Und plötzlich, mit einem lauten „Poff“ verschwindet sie plötzlich. Eine kleine Rauchwolke steigt auf. Vor Schreck dreht sich Mali in seinem Traum zu seinem Vater, aber genau in diesem Moment macht es noch einmal „Poff“ und auch sein Vater ist verschwunden. Mali will schreien, doch er kann nicht. Immer wieder öffnet er seinen Mund. Vergebens. Dann zieht ihn der traumlose Schlaf mit sich.
Auch wenn Mali daran gewöhnt war, hasste er es, wenn nach so einer Nacht irgendjemand über seine Eltern sprach. Mali konnte nicht sagen, was seine Eltern für Menschen gewesen waren. Ob sie gute Absichten gehabt hatten, ob sie das Land gut regiert hatten und ob sie freundlich zu den Menschen gewesen waren. Aber in ihren Gesichtern in seinem Traum lag so viel Wärme, so viel Güte, dass er sich einfach nicht vorstellen konnte, dass die bösen Worte, die man über sie sprach, stimmten. Was wusste die Amme schon? Woher wusste sie, was einen König ausmachte? Sie hatte schließlich nichts anderes zu tun, als unten in der Küche Kohlsuppe zu essen und mit dem Küchenpersonal zu schwatzen. Mehr als einmal hatte Mali sie belauscht und dabei so viel Wut angestaut, dass er hätte platzen können.
„Ein schlimmer König...“
„Und die Königin erst.“
„Jaja, das hat der Herr auch gesagt...“
Solches oder Ähnliches warf sich das dumme Gesindel zu, doch die Amme übertraf sie alle.
„Und was bist du, du blöde Kohlkuh?“, dachte Mali. Hass loderte dann in seiner Brust, doch meist traute er sich nicht, seine Gedanken laut auszusprechen. Der Herr hätte sonst sicher Wege gefunden, ihn zu bestrafen. Stattdessen blickte Mali lieber aus diesem Fenster und …
Verdammt! Über seinen Gram hatte er beinahe seinen Unterricht vergessen. Hastig trank er seine Milch aus, wischte sich den Mund ab und rannte die Treppe hinab. Er eilte durch die große Halle, vorbei an Rüstungen und Wandteppichen, den langen Gang entlang zum Ostturm. Mit verbundenen Augen und Ohren hätte er den Weg hierher gefunden, schließlich hatte er ihn jeden Morgen zu gehen. Und tatsächlich wünschte er sich nichts sehnlicher, als seine Augen und Ohren zu verbinden, denn das, was ihn hier im Turm erwartete, war kein Spaß. Eine steile Wendeltreppe wandte sich hinauf bis zu einer schweren Eichentür. Mali hastete die Treppe hinauf und obwohl seine Oberschenkel schnell brannten, nahm er immer zwei Stufen auf einmal. Außer Atem klopfte er an die Tür, die wie durch Zauberhand mit entsetzlichem Knarren aufschwang.
Auf einem großen schweren Holztisch standen, wie an jedem Morgen, die bauchigen Flaschen, gefüllt mit bunten, stinkigen Flüssigkeiten. Manche rauchten, in manchen schwammen seltsame Teile, die an Spinnen- oder Froschbeine erinnerten. Auf der anderen Seite des Raums stand der alte braune Ohrensessel. Er war in der Sitzfläche schon ganz durchgesessen und sah mit jedem Tag dreckiger aus. Mali drehte seinen Kopf noch ein Stückchen weiter und sah schließlich vor dem schmalen Turmfenster den Herrn. Der schwarze Umhang dieser finsteren Gestalt flatterte durch den Windstoß, den die offene Tür verursachte. Er starrte aus dem Fenster und so sah Mali nur seine schwarzen, öligen, bis zum Rücken reichenden Haare. Doch Mali wollte auch gar nicht mehr sehen. Er wusste, was nun folgte.
„Hat der Hahn gekräht?“, fragte der Herr so leise, dass Mali es kaum verstehen konnte.
Die leise Stimme verhieß nichts Gutes.
„Ja“, sagte Mali und wünschte sich sofort, dass seine Stimme fester geklungen hätte.
„Hat die Amme Euch gesagt, dass Ihr heute Unterricht habt?“
„Ja, Herr.“
Es blieb still. Unerträglich still. Plötzlich drehte sich der Herr in einer ruckartigen Bewegung um, so schnell, dass Malis Augen es kaum erfassen konnten.
„Und wo seid Ihr dann gewesen?“
Die zischende Stimme fand nur mit Mühe zwischen beinahe geschlossenen Lippen den Ausgang in die Freiheit. Die schwarzen Pupillen seiner rotgeränderten Augäpfel bohrten sich in Malis Augen. Wie sehr er diesen Blick hasste! Eigentlich hasste er alles in diesem Zimmer. Die blubbernden Flüssigkeiten auf dem Tisch, die stickige Luft und vor allem den Herrn selbst. Aber Furcht hatte er nicht. Nicht mehr. Dafür hatte er dieses Schauspiel schon viel zu oft erlebt.
Er wusste, dass der Herr ihn nun bis in den späten Nachmittag Gesetze auswendig lernen ließ, Gesetze, die der Herr selbst gemacht hatte und deren Einhaltung er mit Vergnügen selbst überwachte. Im ganzen Königreich nannte man ihn nur „den Herrn“, seit er nach dem Tod von Malis Eltern erklärt hatte, dass er als Reichsverweser die Vormundschaft für Mali übernommen hatte. Unter gewissen Voraussetzungen nämlich konnte das Land auch von nichtadligen Menschen, sogenannten Verwesern, regiert werden. Allerdings musste es dafür einen triftigen Grund geben und der schwarze Herr wurde nicht müde, seinem Volk wieder und wieder eben diesen zu liefern. Das Land befinde sich in einer schweren Krise, der minderjährige Prinz tauge nicht zum König und nur er selbst könne für die Sicherheit des Landes garantieren.
Manches Mal fragte sich Mali, warum niemand etwas dagegen sagte und es brachte ihn zur Verzweiflung, dass er noch zu jung war, um sich selbst dagegen zu wehren. Der Herr hatte ihn einfach eines Morgens aus dem Bett gezogen und in den Innenhof der Burg gezerrt. Dort hatte Mali gestanden und vor Kälte zitternd den Worten des Herrn zugehört, die er natürlich überhaupt nicht verstand. Der schwarze Mann hatte gesagt, dass die Königin und der König tot seien. Er hatte damals nicht den Hauch einer Ahnung, was das bedeutete.
„Tot? Wo sind sie denn jetzt und wann kommen sie wieder?“, hatte er sich gefragt, als er in die stummen Gesichter der Menschen unter ihm geblickt hatte.
Keiner hatte gewagt, etwas zu sagen, viele hatten die Köpfe gesenkt und auf ihre Schuhe geblickt. Dann hatte ihn die schwarze Gestalt mit sich gerissen und schon an diesem Tag hatte Mali gelernt, dass von diesem Mann keine Liebe zu erwarten war. An jenem Tag im Winter vor sieben Jahren war zum ersten Mal die Amme zu ihm gekommen. Und gleich an diesem Tag begann auch schon der Unterricht beim Herrn.
„Ein Nichtsnutz wollt Ihr bleiben? Ein Nichtsnutz?“, schnaubte der Herr. „Dieses Land wurde schon zu lange von einem Nichtsnutz regiert. Viel zu lange. Dein Vater war ein Versager, das weißt du doch?“
„Ja Herr, Ihr habt es mir gesagt.“
„Als er endlich starb und Eure Mutter gleich mit ihm, da war unser Land im Innern und von außen bedroht. Da wimmelten unsere Städte nur so von Verbrechern, Saboteuren und Dieben. Die Menschen waren verarmt, sie litten Hunger und Durst.“
Er spuckte die Worte eher aus, als dass er sie sprach, wechselte schließlich aber in eine viel weichere und zutrauliche Stimme.
„Ihr, Prinz, seid auch nicht besser. Ihr seid jetzt schon, in Euren frühen Jahren, eine Schande für dieses Land. Ihr würdet ein ebenso schwacher König werden wie Euer Vater. Ich versuche jeden Tag, aus Euch einen halbwegs tauglichen Herrscher zu machen, aber ich sehe, dass die Bemühungen vergebens sind. Ich versuche, Euch darin stark zu machen, das Land zu vergrößern, andere Länder zu beherrschen, das Volk Euch Untertan zu machen und in die Geschichte einzugehen. Doch es fruchtet nicht. Ihr begreift es nicht. Aber ich habe meine Methoden.“
Diesen letzten Satz sagte er mehr zu sich selbst, als zu Mali, wodurch das Gesagte nur noch bedrohlicher wirken sollte. Mali aber sah den Herrn nur ausdruckslos an. Diese Tiraden hatte er schon so oft über sich ergehen lassen, dass sie ihn nicht mehr trafen. Ganz im Gegenteil. Er hatte einen Weg gefunden, eine Kruste um sein Selbstvertrauen zu bilden, durch die diese vergifteten Worte nicht zu stoßen vermochten. Er wusste, dass er der rechtmäßige Prinz war. Das war eine unumstößliche Tatsache. Er war durch die Gnade der Geburt auf eine höhere Stufe gestellt worden, auf eine Stufe mit den großen edlen Königen, seinen Vorfahren. Und er würde sein Recht einfordern, wenn es an der Zeit war. Wie sehr er diese Sicht auf sein Dasein eines Tages ändern würde, konnte er an dieser Stelle noch nicht ahnen. Für den Moment jedenfalls half sie ihm, die Worte des schwarzen Herrn zu ertragen.
Der Herr blickte ihn hart an. „Wie heißt das erste Gesetz des Herrschaftsbuches unseres Landes? Und wehe, du machst auch nur einen Fehler.“
„Die Herrschaft über das Land steht nur einem Manne zu. Er herrscht allumfassend und macht keine Fehler“, antwortete Mali ohne nachzudenken. „Und das gilt nur, solange du dieser Mann bist, nicht wahr?“, fügte Mali in Gedanken hinzu.
Was für ein grober Unfug! Wer machte schon keine Fehler? Wenn er erst König war, würde er dieses Gesetz streichen. Es war doch viel besser, per Gesetz festzuschreiben, dass der König das Recht hatte, Fehler zu machen. Schließlich könnte man so doch viel beruhigter einschlafen. Mali wusste aber, dass solche Einwände den Herrn noch mehr erzürnten. Stattdessen ließ er unaufgefordert das zweite Gesetz folgen.
„Wenn das Land ohne König ist, so herrscht an seiner statt der Reichsverweser, bis ein neuer König rechtmäßig eingeführt ist.“
Sein Lehrer rieb sich die Hände und verzog seine Lippen zu einem schmalen Lächeln, doch die glucksenden Laute aus seiner Kehle erinnerten nur sehr entfernt an ein Lachen.
„Sehr gut, Prinz.“
Das Wort „Prinz“ zog er dabei unnötig in die Länge. „Wer, meint Ihr, ist der Reichsverweser dieses Landes?“
„Das seid Ihr, Herr“, antwortete Mali, zog dabei das Wort „Herr“ ebenso lang und schaute dann aus dem Fenster.
Was Ziko jetzt wohl machte? Durch die Wälder streifen? Fischen? In den Bäumen klettern? Was auch immer es war, es musste tausende Male besser sein als das, was auf Mali noch wartete. Der Herr ließ ihn hintereinander die nächsten zwanzig Gesetze aufsagen und widmete sich währenddessen seinen bauchigen Glasflaschen. Als Mali fertig war wusste er, dass er keinen Fehler gemacht hatte.
Insgeheim rechnete er mit einem Lob des Herrn, einem Kopfnicken vielleicht, aber sein Lehrer sagte stattdessen streng: „Es reicht nicht, Prinz, dass Ihr die Gesetze nur aufsagt. Ihr müsst sie in Eurem Kopf und in Eurem Herzen verstehen. Ihr müsst sie in Euch aufnehmen und an sie glauben. Stattdessen glotzt Ihr aus dem Fenster und leiert mir die Sätze nur so um die Ohren. Das ist nicht nur eine Frechheit, das ist im höchsten Maße besorgniserregend.“ Der schwarze Mann wurde immer lauter, je länger er sprach. „Ihr werdet heute hier sitzen bis die Sonne untergeht und wenn es notwendig ist, noch länger. Ihr werdet immer wieder die Gesetze aufsagen und dabei auf Euer Herz achten. Erst, wenn Euer armseliges Herz an das glaubt, was über Eure Lippen kommt, werdet Ihr aufhören. Dann erst werdet Ihr mich rufen und dann betet, dass ich von Euch überzeugt bin, während Ihr zu mir sprecht.“
Das war schlimmer als sonst.
Mali wollte etwas sagen, sein Mund öffnete sich, aber der Herr fuhr fort: „Mir ist zu Ohren gekommen, dass Ihr Euch zunehmend mit dem einfachen Volk abgebt. Viel zu häufig, wie ich hörte. Dass Ihr Euch aus der Burg schleicht und den Bäckerjungen aufsucht. Ist das wahr? Geziemt sich das für einen Prinzen? Habt Ihr nicht genug zu tun, hier? Habt Ihr etwa schon genug gelernt? Wollt Ihr ein Nichtsnutz werden, Prinz?“, und wieder zog er das Wort lange durch die Zähne.
So ein Fragengewitter war etwas Neues, Unerwartetes und es beunruhigte Mali. Woher wusste er von Ziko? Hatte jemand versucht, sich bei dem Herrn wichtig zu machen? Oder ließ er ihn gar beobachten? Das konnte nichts Gutes bedeuten.
„Nein Herr, das will ich nicht“, antwortete er unsicher und hoffte inständig, dass der Herr sich nun wieder den Flaschen zuwenden mochte. Doch er täuschte sich.
„Das wollt Ihr also nicht? Nun, dann wird es Euch ja freuen, dass ich selbst eine Lösung für dieses Problem gefunden habe. Ich lasse sie alle aus dem Land werfen. Den Vater, die Mutter und den Bengel, der Euch schon viel zu viel Zeit gestohlen hat.“
Zwei Herzschläge lang versuchte Mali, das Gehörte zu verarbeiten.
Die nächsten zwei Herzschläge setzten sodann aus und dann endlich brach es aus ihm heraus: „Aber warum? Das könnt Ihr nicht machen. Das dürft Ihr nicht. Das ist Unrecht.“ Malis Augen füllten sich mit Tränen.
„Also doch“, sprach der Herr. „Ihr wollt doch ein Nichtsnutz sein. Ich wusste es. Ich muss noch härter an Euch arbeiten. Ihr habt noch nichts gelernt. Hört zu, Prinz. In diesem Moment wird der Bäckerlump mit seiner Familie auf einen Karren verladen. Meine Männer fahren ihn tief in den Wald, bis ans Ende des Königreichs und werfen ihn da vom Wagen. Und sollten sie es wagen, noch einen Schritt auf unser Land zu setzen, dann Gnade ihnen Gott.“
„Bitte. Ich werde ihn nicht mehr treffen. Ich verspreche es. Aber lasst sie hier. Bitte.“
„Schweig!“ Der Herr gab Mali eine satte Backpfeife. „Was schert es dich, wie ich mit meinen Untertanen verfahre? Du weißt, was du zu tun hast. Nun fange an!“
Mali konnte vor lauter Verzweiflung nichts mehr entgegnen. Mit tränenüberströmtem Gesicht stand er da und dachte an seinen einzigen Freund. Wie konnte er nur helfen? Was sollte er nur tun? Er schüttelte den Kopf. Erst langsam, dann immer heftiger und während er immer und immer wieder die Worte: „Nein“ und „Bitte“ formte, sank er in die Knie. Der Herr machte sich nicht einmal die Mühe, sein hämisches Grinsen zu verbergen. Er sah auf Mali herab und lachte.
„Prinz“, zischte er herablassend. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und verließ den Raum. Mali war allein.
Teahs Kopf tat höllisch weh. Behutsam ihre Stirn betastend merkte sie, wie sich dort eine Stelle direkt über ihrem rechten Auge langsam zu einer besorgniserregenden Schwellung erhob. „Ooohhh“, wimmerte sie, als sie mit dem Finger zu fest drückte und buchstäblich Sterne sah. Reichte es nicht, dass sie die Hand kaum vor Augen sehen konnte und zudem noch ihre Eltern wie vom Erdboden verschluckt waren? Teah hatte allen Grund, mit dem Weinen anzufangen. Schließlich konnte es ja kaum schlimmer kommen. Aber das kleine Mädchen wollte nicht weinen. Wenn ich jetzt heule, dachte sie, dann höre ich nicht mehr auf. Das wollte Teah auf keinen Fall. Sie musste an ihrer furchtbaren Lage etwas ändern, soviel stand fest. Und da niemand in der Nähe zu sein schien, der ihr helfen konnte, wusste Teah, dass nur sie selbst sich helfen konnte.
Langsam rappelte sie sich auf und nachdem sie wieder auf ihren Beinen stand, streckte sie ihre Hände aus. Sofort verschwanden ihre Finger im Nebel, als hätte sie sie in ein Fass Milch getaucht. Sie tastete sich so langsam voran, dass es eine schiere Ewigkeit dauerte, bis sie endlich an der Haustür angelangt war. Insgeheim hatte sie zu hoffen begonnen, dass vor der Tür vielleicht kein Nebel mehr waberte. Natürlich war das höchst unwahrscheinlich, denn Nebel ist ja in aller Regel eher im Freien anzutreffen und außer bei diesem Abenteuer gibt es eigentlich keine Geschichten, wo es mal in einem Haus drinnen nebelig war. Doch wenn man in Not ist, dann klammert man sich an jeden Strohhalm. Und so hoffte Teah einfach, dass bei ihr alles anders herum war. Umsonst, wie sie betrübt feststellte. Sie setzte einen Fuß vor die Tür, ohne, dass sie irgendetwas sah. Wo kommt das nur her? Natürlich hatte sie schon öfter Nebel gesehen, auch hier bei ihr im Tal, aber der war noch nie so dicht gewesen. Und geflüstert hatte der auch nie. Einen Fuß vor den anderen setzend tapste sie weiter bis zum Gartentor und entschied sich, noch einmal ihr Glück zu versuchen. Aus Leibeskräften schrie sie: „Mama!“ und „Papa!“
Nichts.
Sie schrie noch einmal, gab es dann aber auf, denn der Nebel verschluckte auch hier draußen jedes ihrer Worte. Teah überlegte. Sollte sie beim Haus bleiben? Vielleicht wäre es ja das Beste, einfach hier auf ihre Eltern zu warten, bis sich die Suppe verzogen hatte. Andererseits waren sie fort, ganz ohne ihr ein Wort zu sagen. Das hatten sie noch nie getan und Teah war sich sicher, dass sie so etwas auch nie absichtlich tun würden. Irgendetwas war passiert. Was, wenn sich ihre Eltern selbst in dem schlimmen Nebel verlaufen hatten? Was, wenn sie nun irgendwo im Nebel kauerten und nicht weiterwussten? Teah musste sie suchen. Sie konnte doch nicht zu Hause hocken und hoffen, dass schon alles von selbst wieder in Ordnung kam.
Sie wagte sich vor, die Hände vor dem Körper und versuchte, darauf gefasst zu sein, jeden Moment mit etwas oder jemandem zusammenzustoßen. So lief sie Meter um Meter und dann passierte das, was immer passiert, wenn man längere Zeit nichts sehen kann. Teahs Sinne schärften sich, sie hörte plötzlich viel angestrengter und aufmerksamer, ihre Nase nahm ganz intensiv Gerüche auf und wenn sie etwas berührte, kam ihr die Berührung viel deutlicher, viel stärker vor als früher. Hören, Tasten und Riechen ersetzten das Sehen so gut sie nur konnten. Ihre blanken Füße berührten den Wiesenboden und bald schon dachte Teah, sie würde jeden Grashalm spüren und jede Tannennadel fühlen können.
Sie merkte genau, dass der sonst so frische Geruch im Tal verschwunden war. Es roch jetzt überall so stickig und fad wie es immer roch, wenn ihre Mutter Wäsche kochte. Teah mochte diesen Geruch nicht sonderlich und versuchte, nicht darauf zu achten. Stattdessen lauschte sie angestrengt. Flüstern, Wispern, Säuseln. Ekelhaft. Diese Geräusche schienen alles an Tönen zu verschlingen, was in dieses Tal gehörte. Während Teah so sehr auf alles achtete, geriet sie immer tiefer in den Wald, der die Anhöhen auf der rechten Seite ihres Tals bewuchs. Längst war sie vom Weg abgekommen, ihre Füße traten immer öfter auf Zweige, erst dünne, dann immer dickere. Manchmal tauchte direkt vor ihr ein Baum auf, den ihre Hände zuvor verfehlt hatten. Dann drehte sie sich ein wenig und lief einfach weiter. Das jedoch war ein Fehler, denn so konnte sie schon bald nicht mehr sagen, in welche Richtung sie sich vorarbeitete. Vielleicht lief sie ja sogar im Kreis, doch sie schob diesen Gedanken schnell zur Seite.
Hin und wieder rief sie nach ihrer Mutter oder ihrem Vater. Vergeblich. Irgendwann konnte sie nicht einmal mehr mit Bestimmtheit sagen, ob es noch immer vormittags war, oder ob es schon dem Nachmittag zuging. Nur dass sie langsam müde wurde, das wusste sie. Teahs Füße schmerzten, wund und zerschnitten von dem Unterholz. Außerdem waren ihre Beine schwer wie Blei und sie keuchte in der Nebelluft wie ein erschöpfter Lastesel. Wie lange war sie schon unterwegs? Eine Stunde? Oder drei? Die Verzweiflung nagte immer stärker an ihr. Wäre sie doch nur beim Haus geblieben. Aber wie sollte sie das jetzt wiederfinden?
Der Stamm einer alten Eiche tauchte vor ihr auf und da mochte sie sich nicht noch einmal drehen und weiterlaufen. Sie ließ sich fallen, kauerte sich zusammen und umfasste ihre Knie fest mit ihren Armen. Die Tränen kamen ganz von allein, Teah konnte nichts dagegen machen. Und jetzt wollte sie auch nichts mehr dagegen machen. Sie war doch ein kleines Mädchen und das hier war kein Ort, wo Mädchen ganz allein sein sollten. Teah weinte und weinte. Sie weinte so sehr, dass ihre Tränen von ihren Wangen tropften und auf ihre Knie fielen. Von dort rannen sie an ihrem Bein herunter und verschwanden im Nebel. So saß sie eine lange Zeit auf dem Boden und je weiter die Zeit voranschritt, desto mutloser wurde sie. Der Nebel machte überhaupt keine Anstalten, sich langsam aufzulösen oder wenigstens einmal still zu sein. Irgendwann wollten ihre Augen keine Flüssigkeit mehr preisgeben und so saß sie nur noch auf dem Boden und wippte leicht vor und zurück.
Plop! Teah hob eine Augenbraue. War das ein Geräusch? War sie eingeschlafen? Träumte sie? Um sie herum war alles weiß. Plop! Da war es wieder. Teah hob ihren Kopf. War das ein Tier? Aber welches Tier macht Plop? Gab es überhaupt irgendetwas, das Plop! machte? Ihr fiel nichts ein, außer… Plop! und wenig später wieder Plop. Teah sprang auf.
„Hallo?“, rief sie vorsichtig und nicht besonders laut.
Keine Antwort. Sie rief noch einmal „Hallo?“, jetzt aber so laut, dass es sie selbst überraschte.
Das Plop hatte aufgehört. Plötzlich rief etwas zurück. „Hallo? Wieso denn Hallo?“
Die Stimme gehörte zu einem Kind, das konnte Teah erkennen. Aber dank des Nebelflüsterns war es unmöglich zu sagen, aus welcher Richtung sie kam.
„Na, Hallo! eben. Was soll ich denn sonst rufen?“
„Seit wann kann denn Nebel überhaupt rufen?“, kam es zurück.
„Ich bin doch gar nicht der Nebel“, rief Teah. „Ich meine…ich bin im Nebel, aber doch nicht selbst der Nebel.“
„Du bist im Nebel? Aber was machst du denn da drin? Macht dir das etwa Spaß?
Teah glaubte, sich verhört zu haben. „Spaß? Spinnst du? Ich kann hier kaum atmen.“
„Na, dann komm doch raus. Oder musst du da drin sein?“
„Ob ich…Jetzt hör mal. Ich würde sofort herauskommen, wenn ich wüsste, wo dieses Heraus denn ist. Hier gibt es aber kein Heraus. Hier gibt es nur Nebel. Stickigen, weißen Nebel.“
„Also bei mir nicht“; sagte die Stimme, gefolgt von einem Plop.
„Und wo bist du?“
„Na, ich bin direkt vor dieser weißen Wand und werfe Steine hier in den Tümpel. Das siehst du doch.“
Teah schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. Wie konnte jemand so begriffsstutzig sein.
„Nein, tatsächlich sehe ich nichts. Ich bin ja im Nebel. Kannst du mich irgendwie hier herausführen?“
„Das ist ja eine dumme Frage. Wie soll ich das machen? Ich weiß doch gar nicht, wo du bist. Und reinkommen will ich nicht. Ich hätte im Nebel sicherlich nicht so viel Spaß wie du.“
Teah war kurz davor aufzugeben. Offensichtlich hatte sie es mit einem Verrückten zu tun, doch andererseits war diese Stimme der hauchdünne Faden einer Chance.
„Pass auf, wir machen Folgendes. Ich singe ein Lied und laufe in eine Richtung. Wenn ich für dich lauter werde, dann komme ich auf dich zu. Wird es leiser, musst du mich warnen, weil ich dann ja in die falsche Richtung laufe.“
„Das geht aber nur, wenn du immer gleichlaut singst. Ist dir das klar?“, mahnte die Stimme. „Sonst trickst du mich aus und wenn es etwas gibt, das ich hasse, dann…“
„Du hast Recht, danke für den Tipp“, unterbrach Teah die Stimme verdrießlich und marschierte laut singend los.
„Wenn die Sonne schlafen geht
kommt der große Mond daher, der
mit den Sternen am Himmel steht.
Dann werden auch meine Augen schwer.“
„Willst du, dass ich einschlafe?“, rief die Stimme hinter dem Nebel und gähnte.
„Natürlich nicht. Das Lied ist mir gerade so eingefallen. Es ist doch auch egal. Komme ich dir näher oder werde ich leiser?“
„Wie? Keine Ahnung. Ich habe nur auf den Text geachtet. Ein wirklich schönes Lied.“