Die Kirschvilla - Hanna Caspian - E-Book

Die Kirschvilla E-Book

Hanna Caspian

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Beschreibung

Isabell und ihre Großmutter Pauline treten ein Erbe in Köln an – Paulines Geburtshaus. Doch die alte Villa am Rheinufer birgt dunkle Geheimnisse. Bald sieht sich Isabell mit der Frage konfrontiert, ob ihr Liebesglück mit den Geheimnissen ihrer Familie zusammenhängt. Denn ausgerechnet Julius, Isabells neue Liebe, scheint tief in die schmerzliche Familientragödie verstrickt. Doch schließlich geben zwei Tagebücher aus den 1920er-Jahren, die die Zeit überdauert haben, Auskunft über die schockierenden Geschehnisse am Rheinufer – und über Wahrheiten, die niemand gerne über seine Familie erfährt.

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Seitenzahl: 569

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Das Buch

Jeder Raum scheint seine eigene tragische Geschichte zu haben, an jedem Baum hängt eine andere düstere Erinnerung.

Isabell und ihre Großmutter Pauline Korte treten ein Erbe in Köln an – Paulines Geburtshaus. Doch die alte Villa am Rheinufer mit der angeschlossenen Brauerei birgt lang gehütete Geheimnisse. Schnell sieht sich Isabell mit einer Frage konfrontiert: Kann es sein, dass es den Vergehen ihrer Ahnen geschuldet ist, dass ihr Leben bisher so unstet verlaufen ist? Offensichtlich hängt ihr Liebesglück mit den Geheimnissen ihrer Familie zusammen. Denn ausgerechnet Julius, Isabells neue Liebe, scheint tief in die schmerzliche Familientragödie verstrickt. Je näher die beiden sich kommen, desto deutlicher erkennt Isabell, dass sie den Schleier über den Geheimnissen lüften muss, wenn sie ihr neu gewonnenes Glück behalten möchte …

Die Autorin

Hinter Hanna Caspian verbirgt sich eine erfolgreiche deutsche Autorin, die ihr Herz ans Rheinland verloren hat. Am liebsten aber wandert sie durch die wenig bekannten, spannenden Abschnitte deutscher Geschichte. Hanna Caspian studierte Literaturwissenschaften und Sprachen. Mit ihrem Mann wohnt und arbeitet sie dort, wo auch ihr neuer Roman spielt – in unmittelbarer Nähe zum Rhein.

Hanna Caspian

Die

KIRSCH

VILLA

Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Copyright © 2016 by Hanna Caspian Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München unter Verwendung von Trevillion Images/Elisabeth Ansley; Getty Images/bravobravo; Bigstock/Jakow Kaliwien Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach ISBN 978-3-641-17928-1V003
www.heyne.de

1

KÖLN-RHEINKASSEL – 27. JULI 1926

Nichts deutete auf das Entsetzliche hin, das geschehen war. Nur die Zeichen einer unregelmäßigen Strömung auf der Oberfläche ließen erkennen, wie mächtig und unerbittlich der Rhein tatsächlich war. Was er einmal hatte, gab er so schnell nicht mehr her.

Vergeblich versuchte Clementine, ihre Schluchzer hinunterzuwürgen, doch es brach immer wieder aus ihr heraus. Ihr Herz pochte so wild, dass sie glaubte, ihr Brustkorb würde bersten. Sie war die Älteste, aber ihr Bemühen, den Brüdern ein Vorbild zu sein, war vergeblich. Ihre Hände flatterten.

Neben ihr stand Magnus mit nackten Füßen im seichten Uferwasser. Er fröstelte, obwohl es eine schwülwarme Sommernacht war. Gustav, der jüngere der beiden Jungen, drehte sich ängstlich um, als sie hörten, wie jemand keuchend durch den dunklen Garten gerannt kam. Wenige Augenblicke später blieb Josefine atemlos neben dem Holunderbusch stehen. Ihre aufgerissenen Augen versuchten zu erfassen, was gerade passiert war. Der kleine Oskar rannte schluchzend zu ihr und klammerte sich an ihrem Kleid fest.

Für einen Moment sagte niemand etwas. Nur Oskars Jammern und der unregelmäßige Atem der anderen ließ erkennen, wie erschüttert die Geschwister waren. Heimchen zirpten in der Kulisse der Nacht, die ihre Unschuld für immer verloren hatte. Hinter einigen Wolkenfetzen kam der Mond zum Vorschein und spiegelte sein bleiches Licht in ihren Gesichtern.

»Was habt ihr …?« Josefine beendete die Frage nicht. Jede mögliche Antwort war zu entsetzlich.

Reglos stand Clementine in ihrem nassen Nachthemd da. Der Stoff klebte an ihrem Körper, und noch immer spürte sie den mächtigen Sog, der sie beinahe mit fortgerissen hätte. Ihre Hände waren aufgeschürft von den letzten Metern, die sie sich über das Ufer gequält hatte.

Hörbar drehte Gustav sich um. Seine Knie verursachten ein knirschendes Geräusch auf dem sandigen wie kiesigen Untergrund. Sein jugendlicher Körper schüttelte sich, als er sich lautstark übergab. Clementine blickte mitleidig auf ihren Bruder.

Josefine schien genug Mut gesammelt zu haben, um die nächste Frage zu stellen. »Wo ist er?«

Magnus machte eine unbestimmte Handbewegung in Richtung des Rheins. Nur noch in weiter Ferne konnte man das alte Holzboot erkennen, das kopfüber den Fluss hinuntertrieb. »Der Aalschocker … Wir mussten ihm mit dem Boot …« Seine Stimme klang noch immer heiser und gepresst.

»Und ist er …?«, flüsterte Josefine rau.

Die drei älteren Geschwister tauschten ängstliche Blicke. Clementine schüttelte den Kopf. Die nassen schwarzen Haare schimmerten dunkel auf der Stirn wie Striemen. Magnus war weiß wie eine gekalkte Wand, und das lag nicht am Mondschein. Da weder er noch Gustav antworteten, kam ihr die Aufgabe zu. Kraftlos zuckte sie mit den Schultern. »Ich glaube schon.«

»Du glaubst?«, fragte Josefine schrill und schaute ihre ältere Schwester entsetzt an.

»Was sollen wir denn jetzt tun?«, jammerte Gustav.

Oskar vergrub sein Gesicht in Josefines Kleid. Die legte ihm beruhigend die Hände auf den Haarschopf.

Plötzlich wurde allen bewusst, dass es keine einfache Antwort gab. Magnus wich dem Blick seiner Geschwister aus.

»Was ist mit Mama?«, fragte Clementine.

»Kläre ist gekommen.«

»Bist du auf der Straße jemandem begegnet?«

»Ich glaube nicht, dass mich jemand gesehen hat.«

Noch immer auf Knien, drehte Gustav sich zum Rheinufer um und wusch sich seinen Mund. Umständlich stand er auf. Auch er war von oben bis unten nass. Nacheinander blickte er sie alle an. Seine Augen waren riesengroß, die Worte kamen stockend. »Und wenn er wiederkommt?«

Das war das Schlimmste, was passieren konnte. Die Blicke der vier älteren Geschwister richteten sich auf den großen breiten Strom, der träge dahinfloss. Selbst Oskar löste sich von seiner Schwester und schaute hinaus auf die Wasseroberfläche, die wie matter Obsidian schimmerte. In der Ferne waren die Positionslichter eines Kohleschleppers zu sehen.

»Er wird nicht wiederkommen!«, spie Magnus aus.

Verstört tastete Josefine über den Holunderstrauch, der neben ihr stand. Sie riss einen Ast mit unreifen Beeren ab. Ein Vogel, der sich in seiner Nachtruhe gestört fühlte, flog schimpfend auf.

Clementine wischte sich die feuchten Strähnen aus dem Gesicht. Ihr Blick fiel auf den verstümmelten Ast, den Josefine zwischen ihren Händen verdrehte. Was galt jetzt noch Vergangenheit oder Zukunft? Sie dachte an den letzten Herbst, als sie die bitteren schwarzen Früchte geerntet hatten. Für den Rest ihres Lebens würde keiner von ihnen mehr froh werden. »Wenn die Blätter von den Bäumen fallen, werden wir es wissen!« Ein tiefer Atemzug folgte ihren Worten. Sie drehte sich um und stapfte die Böschung hinauf. Ohne ein weiteres Wort folgten ihr die Geschwister.

BERLIN – EIN MITTWOCH IM MAI 2014

Isabell schaute auf ihre ineinander verknoteten Finger. Unter ihren Achseln breitete sich der Schweiß rasend schnell aus. Eine heiße Röte stieg über ihren Hals zum Kopf auf. Sie hatte gedacht, die Angst würde schwächer, je älter sie wurde. Sie hatte gehofft, die Panikanfälle wären nur vereinzelte Ausreißer gewesen. Stattdessen überraschten die Vorzeichen der Panik sie immer wieder – nicht nur, wenn sie flog. Ihr Blick schweifte nervös über die schwindende Landschaft, bis sich Wolkenfelder vor die Fenster schoben. Als der Flieger wenige Minuten später durch die dünne Wolkendecke stieß, fiel gleißendes Licht in den Innenraum. Wie feiner Eischnee lagen die Wolken nun unter ihnen.

Sie atmete tief durch. Oben war es nicht ganz so schlimm. Die Angst würde sie erst wieder umklammern, wenn sie zur Landung ansetzten. Ihr Nebenmann stieß sie an, als er mit wichtigen Gesten sein Laptop ausklappte. Er schob den Ellenbogen über die gesamte Armlehne. Für einen kurzen Moment schaute er hoch, und sein Blick wurde abfällig, als er ihre vielen bunten Armreifen entdeckte. Er strömte den schweißigen Geruch eines Dauergestressten aus. Vielleicht war seine Unhöflichkeit nur seine Art, der Flugangst zu begegnen. Ein Glück, dass sie so schmal war.

Isabell fasste ihre langen braunen Haare, eine Mähne, die sie mit bunten Haarbändern zu bändigen versuchte, und schob eine Strähne unter ein Band. Dann überprüfte sie auf ihrem Smartphone die Zugverbindungen vom Köln-Bonner Flughafen nach Königswinter. Sie freute sich auf ihre Großmutter, war sie doch ihre letzte lebende Verwandte. Zudem hatten Oma Paulines Worte so vielversprechend wie auch dringlich geklungen: Sie habe Post aus Amerika bekommen – es ginge um eine Erbschaft. Isabell hatte ihre Bitte nicht abschlagen können. Ein Besuch in der Seniorenresidenz war ohnehin längst überfällig gewesen. Die elegante Dame war achtundachtzig Jahre alt, und wenngleich sie noch einigermaßen rüstig war, waren ihre Tage doch gezählt.

Sie telefonierten regelmäßig, und Isabell schrieb ihr gewissenhaft von ihren vielen Reisen Postkarten, doch sie war Weihnachten das letzte Mal bei ihr gewesen. Deswegen hatte sie sich sofort bereit erklärt, eine ganze Woche Urlaub zu nehmen. Isabell hatte kein Haustier, das gefüttert, und auch keine Pflanzen, die gegossen werden mussten. Tatsächlich war es erstaunlich, wie wenig Leben sie zurückließ. Heimat hieß für sie nicht mehr als ein Schlüssel zu einer beliebigen Wohnung. Ihre Wurzeln bestanden lediglich aus Luftranken, die verzweifelt versuchten, im hektischen Wind der Zeit einen Anker zu finden.

»Isabell? Bella, da bist du ja.« Umständlich versuchte Oma Pauline aufzustehen.

»Bleib sitzen.«

»Ich werde doch meine einzige Enkelin richtig begrüßen, wenn sie schon mal vorbeikommt.« In ihren Worten lag ein leichter Tadel.

Die alte Frau richtete sich auf, aber anders als beim letzten Besuch stützte sie sich auf einem Stock ab. Als sie ihre Großmutter herzlich umarmte, nahm Isabell flüchtig wahr, dass sie wieder etwas kleiner und ein bisschen schmächtiger geworden war. Nichts, was in ihrem Alter ungewöhnlich war. Trotzdem versetzte es Isabell einen Stich. Als würde eines Tages einfach nicht mehr genug Körper übrig sein, falls sie ihren nächsten Besuch zu lange hinauszögerte.

Ächzend ließ Oma Pauline sich wieder in den Sessel fallen. Isabell setzte sich ihr gegenüber. Der Tisch war liebevoll gedeckt, und es gab zwei Stück Bienenstich und zwei Obststücke. Oma Pauline liebte Kuchen, und sie wusste, dass ihre Enkelin diese Leidenschaft mit ihr teilte.

»Hast du schon lange auf mich gewartet?«

»Nein, der Kuchen ist gerade erst gebracht worden.«

Isabell bemerkte, dass ihre Oma einen müden Eindruck machte. Sie ließ ihren Mittagsschlaf für die Enkelin ausfallen. Für einen Moment schauten die beiden sich nur an. Ihrem Alter entsprechend, hatte Pauline weiße Haare und ein Gesicht, in dem man ihre frühere Schönheit nur noch erahnen konnte. Jetzt war ihre Haut fleckig und ihr Hals faltig. Im Gegensatz zu Isabell, die dunkelbraune, lange Haare hatte, war ihre Oma dunkelblond gewesen. Und während Isabell saphirblaue Augen hatte, hatte Pauline grüne. Ihre Verwandtschaft trat eher in den Gesichtszügen zutage.

Wie gewöhnlich quittierte ihre Großmutter ihre etwas wilde Mischung aus violettem Rock, langem, grasgrünem T-Shirt und einem gemusterten selbst gestrickten Pullover mit einem amüsierten Blick. Sie hatte schon längst aufgegeben, ihrer Enkelin etwas dezentere Mode aufschwatzen zu wollen.

Isabell atmete einmal tief durch. »Herzliches Beileid! Ich weiß, ihr habt euch lange nicht mehr gesehen, aber immerhin war Onkel Oskar der Letzte deiner Geschwister, der noch lebte, oder?«

Die alte Dame sah sie mit einem gemischten Ausdruck an. Die Trauer schien nicht allzu groß, und doch war da eine Wehmut, die tiefer zu gehen schien.

Nach Kaffee und Kuchen und dem Austauschen über jüngste Ereignisse begannen sie, die verschiedenen Unterlagen zu sichten, die in dem Paket aus Amerika gewesen waren. Oma Pauline fühlte sich damit völlig überfordert. Zuerst las Isabell den Brief, der in Englisch gehalten war und aus dem nur wenig mehr hervorging, als dass Paulines Bruder Oskar Anfang April mit stolzen fünfundneunzig Jahren an einem Herzinfarkt gestorben war. Henry, ein Enkel von Oskar, hatte es übernommen, den Nachlass seines Großvaters zu regeln. Die formalen Angelegenheiten sollten über einen deutschen Notar laufen, dessen Kontaktdaten er in dem Brief angab. Ein Paket mit persönlichen Hinterlassenschaften, die Oskar seiner Schwester Pauline zukommen lassen wollte, sei ebenfalls zu diesem Notar unterwegs. Anbei lagen ein Grundbuchauszug, Abrechnungen der jährlichen Grundsteuer sowie eine kompliziert wirkende Aufstellung über Mieteinnahmen. Der englische Brief war wenig aussagekräftig, was die private Seite anging. Nur ein Foto von Oskar hatte dabeigelegen und eine Todesanzeige aus einer amerikanischen Zeitung.

»Wie viel älter war Oskar?«

»Knapp sieben Jahre, wenn ich mich richtig erinnere«, entgegnete Pauline nachdenklich.

»Und er hatte eine Pferdezucht in Montana?« Isabell schaute auf die Rückseite des Fotos, »April 2010« stand dort. Das Bild zeigte einen alten Mann mit Cowboyhut, der neben einem Pferd stand. Das Gesicht war zu verwittert, als dass man hätte sagen können, ob Oskar seiner Schwester Pauline früher ähnlich gesehen hatte.

»Soweit ich weiß. Allerdings hatten wir kaum Kontakt in den letzten Jahren. Im Grunde genommen hatten wir nie viel Kontakt miteinander, seit er nach Amerika ausgewandert ist. Das letzte Mal, dass ich ihn persönlich gesehen habe, ist über dreißig Jahre her.«

»Kenne ich ihn? Ich meine, bin ich ihm jemals persönlich begegnet, als kleines Kind?«

»Höchstens kurz, auf den Beerdigungen deiner Großtanten.« Pauline stand umständlich auf und ging langsam zu einem wuchtigen Wohnzimmerschrank, eines der wenigen Überbleibsel aus ihrer eigenen Wohnung, die sie vor sechs Jahren aufgelöst hatten. Aus einem Fach holte sie zwei Fotoalben heraus und setzte sich zu Isabell aufs Sofa. Doch als sie jetzt durch die Fotoalben blätterte, seufzte sie unzufrieden und klappte ein Album laut zu. »Bella, Kind. Kannst du mir bitte die Schachtel bringen« Sie wies in Richtung Schrank.

Isabell stand auf und öffnete die gleiche Schranktür. »Diese hier?«

»Nein, die von ganz unten.«

Isabell zog eine abgegriffene, vergilbte Pappschachtel unter einem Stapel Brettspiele hervor. Sie reichte sie ihrer Großmutter, die sich jetzt zurücklehnte und die Schachtel öffnete. Pauline schnaufte laut, als würde sie Anlauf für eine Strapaze nehmen. Neugierig rutschte Isabell näher an ihre Großmutter, die einen Stapel alter Fotos herausnahm.

»Der hier, schau, das ist Oskar.« Ein vielleicht neunjähriger Junge saß am Ende einer geschwungenen Treppe auf einem Steinsockel, vor ihm thronte ein steinerner Löwe.

Isabell nahm ihr das Foto ab. »Ein trauriger kleiner Junge«, sagte sie mit Blick auf das Bild. Da reichte ihr Pauline schon das nächste Foto.

»Das ist Josefine, die mittlere Schwester. Und hier, hier sind meine drei Brüder. Das ist Magnus, der Älteste. Das ist Gustav, und der Kleine hier ist wieder Oskar. Das muss etwas früher gewesen sein.« Sie drehte das Foto um. Auf der Rückseite stand: »Mai 1926«.

Isabell schaute sich das Foto näher an. Gustav und Oskar saßen oben auf einem Holzzaun, während Magnus gegen einen der Pfähle lehnte. »Drei Brüder, Josefine und du. Ihr wart aber doch zu sechst, oder?«

»Ja, es gab noch eine Schwester. Clementine. Sie war die Älteste von allen.« Pauline wühlte in der Schachtel und zog schließlich ein Foto hervor. Eine hübsche, schwarzhaarige junge Frau schaute ernst in die Kamera. Isabell glaubte etwas Ähnlichkeit mit ihrer Großmutter erkennen zu können. Sie legte das Foto beiseite und atmete tief durch. Dann nahm sie noch einmal das Foto des alten Mannes in die Hand.

»Und was vererbt er dir nun, dein Bruder Oskar?«

»Ich weiß es nicht so genau. Es gab irgendwelchen Immobilienbesitz in Deutschland, aus dessen Vermietung ich seit Oskars letztem Deutschlandbesuch eine Apanage beziehe. Ich denke, es handelt sich wahrscheinlich um das Haus von Tante Adele und Tante Dorothea hier in der Nähe von Königswinter, in dem sie bis zu ihrem Tod gewohnt haben.«

»Das mit dem Weiher?«

»Genau, das mit dem Weiher und der Obstbaumwiese.«

Diese Erinnerungen gehörten zu den schönsten ihrer Kindheit. Als kleines Kind war Isabell zusammen mit ihrer Mutter Caroline und Oma Pauline regelmäßig dort gewesen. Ihre frühesten Erinnerungen waren untrennbar mit dem frischen Apfelkuchen ihrer Urgroßtanten, Plantschen im Weiher und dem Duft nach reifem Obst verbunden.

»Ich wusste gar nicht, dass es ihnen gehörte.« Isabell griff wieder nach den mitgeschickten Papieren. Der Grundbuchauszug war eine schlechte Kopie, und es war nicht viel darauf zu erkennen. Auf dem Auszug der Grundsteuer wurde sie fündig. Ein zweifelnder Laut kam ihr über die Lippen. »Das scheint mir allerdings eine Kölner Adresse zu sein.«

Oma Pauline schaute erstaunt auf. »Es ist nicht das Haus in Königswinter?«

Isabell griff nach ihrer Tasche und holte ihr Smartphone heraus. Sie rief eine App auf und gab die in den Papieren angegebene Adresse ein. Erstaunt beobachtete sie, wo das Programm sie hinführte. »Das scheint eine Immobilie direkt am Rhein zu sein. Im Norden von Köln!«

»In Köln? Direkt am Rhein sagst du?«

Isabell zoomte aus der kleinen Karte heraus. »Im Stadtteil Rheinkassel. Köln-Rheinkassel. Sagt dir das was?«

Oma Pauline senkte den Kopf und starrte in die Schachtel mit den Fotos. Zögerlich bewegte sie ihre Hand zwischen den alten Aufnahmen. Isabells Neugierde war geweckt. Schließlich schien Oma Pauline gefunden zu haben, wonach sie suchte. Sie zog eine Fotografie hervor und starrte nun ebenso intensiv auf das Bild, wie sie vorher in die Vergangenheit geschaut hatte. Isabell beugte sich vor, um zu erkennen, was auf der vergilbten Schwarz-Weiß-Fotografie abgebildet war.

Die Rückseite einer alten Jugendstilvilla war darauf zu erkennen. Ein idyllischer Wintergarten war rückwärtig an das höher liegende Erdgeschoss der Villa angebaut, und die Tür, die über eine kurze Treppe in den Garten führte, stand offen. Das Gebäude sah hochherrschaftlich aus. Nichts, was Isabell mit ihrer Familie in Verbindung bringen konnte.

»Was ist das für ein Haus?«

»In dem Haus wurde ich geboren«, entgegnete Pauline, als würde das alles erklären.

Erstaunt schüttelte Isabell den Kopf. »Das gibt es noch?« Wieder warf sie einen Blick auf das kleine Display auf ihrem Smartphone. Mit einigen Handgriffen stellte sie die Satellitenfunktion bei der App ein. Auf der Aufnahme war allerdings nicht viel zu erkennen. Es schien nicht so, als würde unter der angegebenen Adresse eine große Villa stehen.

Oma Pauline versank im Anblick des Fotos. Isabell wollte sie nicht stören und prüfte noch einmal die Adresse. Sie war korrekt. Leise sagte sie: »Dann existiert also diese Villa noch, und du sollst sie erben?«

Ganz langsam schaute Oma Pauline hoch. Endlich fand ihr Blick zurück in die Gegenwart. »Ich dachte immer … Nein, eigentlich dachte ich gar nicht daran. Ich habe mir keine Gedanken darüber gemacht, was mit dem Haus passiert ist. Ich habe nie darüber nachgedacht.«

»Kann es sein, dass du aus der Vermietung dieses Hauses deine Apanage bekommst?«

Pauline schüttelte den Kopf. »Die kleine Kate von meinen Tanten hätte nie und nimmer so viel Geld abgeworfen. Aber da ich kurz nach deren Tod zum ersten Mal die Apanage bezogen habe, hatte ich gedacht, Oskar habe sie verkauft und den Erlös gewinnbringend in Immobilien-Aktien angelegt. Er hatte sich immer bedeckt gehalten. Er wollte nicht mit mir darüber reden. Der weitere Kontakt lief über den Notar.«

»Du hast den Notar nie gefragt, woher das Geld kommt?«

»Theodor hat sich um alles Finanzielle gekümmert. Und als er dann plötzlich gestorben ist, war ich ein bisschen überfordert. Schau, ich war damals auch schon weit über siebzig und einfach froh, dass der Geldsegen nicht versiegte. Ich habe nicht weiter nachgeforscht. Ohne dieses Geld könnte ich mir heute dieses Seniorenheim gar nicht leisten.« Ungläubig schüttelte sie den Kopf. »Das kann eigentlich gar nicht sein. Wir haben doch im Krieg alles verloren!«

Isabell nickte. »Weißt du was, ich kläre das mal direkt.« Sie nahm den Brief zur Hand, suchte nach der Adresse des Notars. In Windeseile hatte sie die Nummer eingetippt. Unterdessen trat sie auf den kleinen Balkon und genoss für einen Moment die warme Sonne. Das Gespräch dauerte nicht lange. Das Sekretariat des Notars war anscheinend darauf vorbereitet, dass ein Anruf von Oskars deutschen Angehörigen kommen würde. Isabell wurde durchgestellt, und ein Mann mit einer sonoren Stimme erklärte ihr, worum es ging.

Zehn Minuten später trat Isabell zurück ins Zimmer, wo ihre Oma noch immer das Foto betrachtete. »Es ist diese Villa. Dein Geburtshaus.«

Plötzlich, als habe sie endlich begriffen, worum es ging, leuchteten die Augen der alten Dame auf. »Dann steht die Villa wirklich noch? Unfassbar. Ich dachte immer, das Haus wäre komplett zerbombt worden.«

»Ich bin mir nicht sicher. Er sagte etwas von Gebäuden, aber auch von einer Ruine. Ich hab es nicht so genau verstanden.«

»Gebäuden? Dann steht vielleicht sogar noch die alte Brauerei?« Ein leises Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. »Dass es die Villa noch gibt! Ich würde sie wirklich gerne noch einmal sehen. Meinst du, das lässt sich machen?«

Isabell lächelte. Das Glänzen in den Augen ihrer Großmutter war ihr nicht entgangen. Und als die alte Dame, aufgeregt wie ein kleines Kind, auf das Foto der Villa blickte, wusste sie, sie konnte ihr den Wunsch nicht abschlagen. Es war eine gute Gelegenheit, die Versäumnisse der letzten Monate wiedergutzumachen. Sie legte ihre Hand auf Oma Paulines Hand. »Natürlich, der Notar hat es mir ja selbst angeboten. Ich soll ihm Bescheid sagen, wenn wir kommen. Dann macht er einen Termin mit uns. Ich kann ihn jetzt sofort anrufen. Dann frag ich ihn direkt nach einer preiswerten Pension.«

Eine Stunde später hatte Isabell alles arrangiert. Morgen früh würde sie einen Mietwagen holen, und am frühen Nachmittag hatten sie schon einen Termin beim Notar.

In der Zwischenzeit hatte Oma Pauline sich ausgiebig mit den alten Bildern beschäftigt. Auf dem Tisch hatte sie gut dreißig Fotografien ausgelegt. Isabell setzte sich zu ihr und ließ sich alles erklären.

Da waren zum einen Tante Adele und Tante Dorothea, die Schwestern von Paulines Mutter Sofia, die hier in der Nähe von Königswinter in einem wunderschönen alten Häuschen gelebt hatten. Im Winter war es kalt und zugig gewesen, und die Wärme der alten Kachelöfen schien mit dem steten Luftzug, der durchs Haus ging, zu verfliegen. Doch im Sommer war es das Paradies auf Erden. Es gab ein halbes Dutzend Fotografien von den Großtanten und dem Haus. Beinahe schien es, als habe ihr gesamtes Leben draußen im Garten stattgefunden.

»Was wohl aus der alten Bauernkate geworden ist, das würde mich wirklich sehr interessieren.«

»Ehrlich gesagt weiß ich das auch nicht. Wenn ich mich recht erinnere, war die Beerdigung von Tante Adele die letzte Gelegenheit, bei der ich Oskar gesehen habe. Danach scheint er nie wieder nach Deutschland gekommen zu sein.« Sie lehnte sich zurück und dachte angestrengt nach. »Ich weiß noch, wie überrascht ich damals gewesen bin, dass Oskar sowohl zur Beerdigung von Tante Dorothea als auch zwei Jahre später zur Beerdigung von Tante Adele den weiten Weg aus Amerika auf sich genommen hat. Es hat mir schon einen Stich versetzt, dass er ihnen so viel mehr Bedeutung zugemessen hat als mir. Er hatte sich nicht einmal bei mir gemeldet. Ich war ganz überrascht, als ich ihm auf dem Friedhof begegnete.«

»Hattet ihr Streit?«

»Nein, aber wenn ich es recht bedenke, habe ich nie besonders engen Kontakt zu meinen Geschwistern gehabt.«

Isabell wurde angezogen von einem Foto, auf dem ein stattlicher Mann mit kräftigen schwarzen Haaren, einem dicken Schnauzbart und glühenden Augen hinter einer zierlichen Frau stand. Ihre ebenfalls dunklen Haare waren kunstvoll hochgesteckt, und sie hielt ein kleines Blumenbouquet in der Hand. Die Ähnlichkeit zwischen dieser Frau und ihr selbst war so augenscheinlich, dass Isabell völlig überrumpelt war. Ihr Herz machte einen doppelten Schlag. So fing es oft an.

»Wer ist das?« Unerwartet kroch ein Kribbeln den Rücken hinauf. Nein, bitte nicht jetzt. Nicht hier neben ihrer Großmutter.

»Meine Eltern. Das ist das Hochzeitsfoto meiner Eltern. Sofia und August Korte.« Oma Pauline nahm ihr das Foto aus der Hand und studierte es. Ihre Finger strichen ganz leicht an dem Rand der Fotografie entlang, als wollte sie die beiden streicheln. »Meinen Vater habe ich ja nie kennengelernt. Er ist wenige Tage vor meiner Geburt gestorben.« Sie ließ das Foto sinken, und ihr Blick fiel auf das Foto daneben. »Unsere Villa … Die Jungs haben immer so getan, als würden sie die Löwen reiten. Oskar hat mir erzählt, dass es Vater sehr geärgert hat. Mehr als einmal musste er die Nacht im Kohlenkeller verbringen.«

»Im Kohlenkeller? Wie alt war er denn da?«, fragte Isabell pikiert. Solange sie sich mit etwas anderem beschäftigte, wurde es nicht so schlimm. Aber sie spürte, wie sich ein feiner Schweißfilm über die Stirn legte.

Pauline schüttelte den Kopf und lachte leise. »Weiß ich nicht. Damals war ja alles anders. Die Kindererziehung ist ja mit heute nicht zu vergleichen. Und mein Vater muss wohl sehr streng gewesen sein. Streng, aber auch mutig und abenteuerlustig.«

KÖLN-RHEINKASSEL – 15. FEBRUAR 1924

Verkrampft saß Sofia in der Mietdroschke und presste ihre Geldbörse an die Brust. Es gab nur selten Gelegenheit, mit einem Wagen zu fahren, und eine Droschke konnten sie sich erst recht nicht leisten. Vom Martinsviertel bis hierher in den hohen Norden von Köln war die weiteste Strecke, die sie jemals in einem Automobil gefahren war. Selbst nach Königwinter, ihrem Geburtsort, war sie immer mit den Dampfschiffen gefahren.

Doch heute war kein normaler Tag. August hatte sich einen kleinen Lastwagen geliehen, auf den all ihre Möbel und anderen Habseligkeiten geladen wurden. In der Mietdroschke fuhr Sofia mit ihren Kindern dem Laster hinterher, der in diesem Moment auf das Gelände ihres neuen Zuhauses rollte. August hatte ihr bereits in schillernden Farben von dem Anwesen erzählt, aber bis zum heutigen Tag konnte Sofia es nicht wirklich glauben: Bei einem Kartenspiel am Silvesterabend hatte August dieses große, herrschaftliche Haus samt dem weitläufigen Gelände gewonnen.

Die Mietdroschke blieb vor dem großen gemauerten Rundbogen stehen, und der Fahrer schaute fragend zu ihr hinüber. »Hier ziehen Sie ein?«

Er verbarg seinen ungläubigen Blick nicht, und Sofia konnte es ihm kaum verdenken. Ihre Kleidung war sauber, ließ allerdings nicht den Schluss zu, dass es sich bei ihr um die neue Hausherrin handeln könnte.

Clemens von Hohenbuche, ein ehemaliger Unternehmer, der in der Inflation spekuliert und verloren hatte, war zu einem Säufer und Spieler verkommen. August hatte erzählt, dass er schon diverse Male mit ihm und anderen Männern Karten gespielt hatte. Mal hatte von Hohenbuche gewonnen, mal hatte er verloren. Nachdem er schon seine Schuhfabrik im Herzen von Köln aus Liquiditätsgründen hatte aufgeben müssen, war ihm anscheinend nur noch dieses Anwesen geblieben. Seine junge Frau war vor einigen Jahren hier im Kindbett, gemeinsam mit dem neugeborenen Sohn, gestorben.

Sofia konnte nicht begreifen, dass er die Villa dennoch als Wetteinsatz eingebracht hatte. Sie atmete tief durch, und ohne dem Fahrer eine Antwort auf seine Frage zu geben, reichte sie ihm das abgezählte Geld. Sie konnte nur beten, dass Augusts Plan schnell aufgehen würde. Er hatte die Familie zwar sowohl durch die Kriegsjahre als auch durch die Große Inflation und die Währungskrise der letzten Jahre gebracht, ohne dass sie allzu oft hungern oder frieren mussten. Aber seit er im Krieg seine Arbeit in der Brauerei verloren hatte, lebten sie von der Hand in den Mund. Daran hatte auch ihre Anstellung in einer Sprengstofffabrik nichts geändert, denn Frauen verdienten selbst bei dieser harten Arbeit furchtbar wenig. Clementine und Magnus hatten zu Hause Zigarettentabak mit getrockneten Waldmeisterblättern vermischt und neu gerollt, die August dann auf dem Schwarzmarkt verkaufte. Die Reichen hatten auch während des Krieges genug Geld, um ihr Leben wie gewohnt fortzusetzen. Und August zog seinen Vorteil daraus.

Eigentlich durfte Sofia sich nicht beschweren, denn er hatte immer dafür gesorgt, dass es ihnen nicht am Notwendigsten mangelte. In diesen unsicheren Zeiten, die geprägt waren von Anarchie und Chaos, war sie froh, einen Mann wie ihn an ihrer Seite zu haben. Was ihr viel mehr Sorgen machte, war die Tatsache, dass August betrog und sein Glück auf dem Unglück anderer aufbaute.

August Korte hatte lange in der Brauerei gearbeitet, und schon im Krieg hatte er Schwarzmarktgeschäfte mit Bier und anderem Alkohol gemacht. Unter der Hand gab es immer etwas zu kaufen und zu verkaufen, wenn man die richtigen Leute kannte. Anscheinend kannte August immer gerade die richtigen Leute. Das war im Krieg schon so gewesen. Und in den Revolutionsmonaten nach Kriegsende, in denen man nicht wusste, ob das Kaiserreich den geflohenen Kaiser zurückholen oder vielleicht doch der Kommunismus im Land Einzug halten würde, war es genauso gewesen. Sie hatten sogar gelegentlich Fleisch auf dem Tisch, und keines ihrer Kinder musste jemals ohne Mantel oder mit zu kleinen Schuhen auf die Straße.

Sofia stieg aus dem Wagen, und die Kinder folgten ihr stumm. Sie selbst hatte vorne beim Fahrer gesessen. Mit staunenden Augen hatte Clementine, die Älteste, hinten neben Magnus gesessen. Josefine, Gustav und Oskar hatten ihnen gegenüber gehockt. Sofia warf noch einen prüfenden Blick ins Wageninnere, dass sie auch nichts vergessen hatten. Dann stellte sie sich hinter ihre Kinder, die alle schwere Taschen und dicke Bündel trugen. Zusammen schauten sie gebannt auf das Anwesen, das nun ihnen gehören sollte. Die Ungläubigkeit stand den fünfen ins Gesicht geschrieben. Sofia fragte sich, ob August sich diesmal nicht doch übernommen hatte. Doch gestern Abend hatte er alle ihre Bedenken weggewischt und eifrig Pläne geschmiedet. Er hatte nicht nur diese Villa gewonnen. Schon vor drei Jahren hatte er zusammen mit einem Kameraden im Bergischen eine illegale Destilliere aufgemacht, in der sie Schnaps aus Kartoffeln oder Rüben oder überreifem Obst brannten. Auf dem abgelegenen Bauernhof hinter Siegburg, außerhalb der besetzten Zone, war nicht zu befürchten, dass man den heimlichen Verschlag finden würde.

Todesmutig fuhr er in der Dunkelheit der Nacht mit einem alten Kahn, einem Aalschocker, den er einem Kriegsversehrten billig abgekauft hatte, von Sürth aus auf die andere Flussseite und versteckte das Boot in den wilden Böschungen der Rheininsel De Groov, denn die britischen Besatzer kontrollierten Brücken und Fähren besonders streng. Von Porz aus war er schnell aus der Stadt heraus, im Niemandsland, wo es kaum noch britische Patrouillen gab. Auf dem gleichen Weg schaffte August den Branntwein in die Stadt und verhökerte ihn hier für gutes Geld. Die alliierten Soldaten stillten ihr Heimweh gerne mit Alkohol. Oft genug verkaufte August direkt an die britischen Truppen selbst, die Köln seit Kriegsende besetzt hielten. Augusts neuester Plan war allerdings so gewagt, wie er tollkühn war. Sofia wollte lieber nicht daran denken.

Der dunkle Rauchwolken spuckende Lastwagen war vor dem Gebäude zum Stillstand gekommen. Er hinterließ tiefe Spuren im Schnee. August sprang herunter. »Nun kommt schon! Lasst euch doch nicht bitten. Das ist unser neues Heim!«

Der Droschkenfahrer warf Sofia einen letzten ungläubigen Blick zu, dann fuhr der Wagen an. Die Kinder standen wie angewurzelt da. Sofia lief um sie herum und durchschritt das Tor. Der frische Schnee unter ihren Füßen knirschte leise, und endlich konnte sie das Gebäude in seiner vollen Pracht bestaunen.

»Kommt doch endlich«, winkte August sie ungeduldig heran. Er stand bereits am Fuße einer Steintreppe, die mit wenigen Stufen zum Hauseingang hochführte. Auf den unteren Sockeln des grauen Geländers thronten links und rechts graue aufrecht sitzende Löwen, die auf ihren Häuptern eine Krone aus Schnee trugen.

Wieso ausgerechnet dieser Anblick Sofia ein hysterisches Lachen entlockte, wusste sie nicht. Es war einfach nicht zu glauben, dass diese Löwen ab heute ihnen gehören sollten.

Erst der Krieg, dann die Monate des Chaos und der Revolution, eine neue Ordnung und schließlich die Hyperinflation mit der darauf folgenden Währungsumstellung hatten jedes Sicherheitsgefühl getötet. In dieser Welt war nichts mehr sicher. Nichts konnte als selbstverständlich genommen werden. Anarchisten und Separatisten hatten in der ganzen Republik gekämpft und verloren. Der Adel war abgesetzt, der Kaiser geflohen wie ein feiger Hund. Innerhalb der letzten zehn Jahre hatte sich so viel verändert. Wie sollte es in dieser kopfstehenden Welt nicht möglich sein, dass sie plötzlich reich waren? Streng genommen waren sie natürlich gar nicht reich. Gestern noch hatte sie versucht, August gut zuzureden. Dass sie das Haus und das Grundstück verkaufen und sich dafür eine Wohnung in der Stadt nehmen könnten. Sie mussten ja nicht im verkommenen Martinsviertel mit all seinen Spelunken und den Schieberbanden wohnen bleiben. Sie konnten sich ein schönes Viertel aussuchen, eins mit guten Schulen und einem kleinen Garten, um Gemüse anzubauen.

August hatte sie nur ausgelacht. »Du denkst immer viel zu klein«, hatte er sie gescholten. Dann hatte er sie in den Arm genommen und herumgewirbelt. Seine Zukunftspläne schienen genauso unwirklich wie die Villa, die vor ihrem Antlitz hochragte.

Andererseits gab das Leben August recht. Bis vor Kurzem hatte er sich die Taschen mit Geld gefüllt, indem er den Arbeitern von der Farbenfabrik in Leverkusen Alkohol verkaufte, wenn sie an der Anlegestelle in Niehl auf die Flittarder Fähre warteten, um auf die rechte Rheinseite gebracht zu werden. Vor Kurzem war der Fährbetrieb eingestellt worden, aber August wäre nicht August, wenn er nicht schon längst einen neuen Plan im Hinterkopf hätte.

Sofia setzte sich wieder in Bewegung. Ihr Ehemann wartete ungeduldig an der untersten Stufe und legte ihr den Arm um die Schulter. Er hielt einen Schlüssel aus Metall in den Händen, den er bedeutungsvoll von sich streckte.

»Und das ist erst der Anfang«, versprach er. »Wir werden sicherlich nicht sofort von goldenen Tellern essen, doch ich sage dir, in wenigen Jahren sind wir reich. Du wirst schon sehen.« Jedes seiner Worte wurde von einer kleinen Atemwolke begleitet.

Oskar, der mit seinen gerade mal fünf Jahren der Jüngste war, marschierte begeistert durch den Schnee. Das weiße Pulver stob vor seinen Füßen in die Luft. Die anderen Kinder folgten zögerlich. August wartete, bis sie herangekommen waren, doch plötzlich erstarb sein Lächeln. Sofia drehte sich um und sah, wie ein elegant gekleideter Herr sich ihnen näherte. Das konnte nur Clemens von Hohenbuche sein, schoss ihr durch den Kopf. Seine Augen sprachen von Bitterkeit, von Verlust, aber auch von Feindseligkeit.

August trat schützend einen Schritt vor seine Familie. »Werter Graf von Hohenbuche, wollen Sie uns zum Einzug Glück wünschen, oder wollen Sie sich noch von Ihrem Anwesen verabschieden?« In seiner Stimme schwang eine kaum versteckte Drohung mit.

Der adelige Mann schaute stumm an der Fassade hoch. Dann glitt sein Blick weiter, über August, über Sofia und über jedes einzelne Kind, als wolle er sich diesen Moment und seine Teilnehmer einprägen. »Dieses Heim hat mir nichts als Unglück gebracht. Ich kann froh sein, dass ich es los bin.« Aus seinen Worten tropfte die Galle. »Und Ihnen, Ihnen wird diese Villa auch kein Glück bringen.«

Sofia trat erschrocken vor und legte ihre Arme um Oskar und Josefine, ihre beiden Jüngsten.

Breitschultrig stellte August sich ihm in den Weg. »Was soll das jetzt? Glauben Sie, ich verzichte auf den Gewinn, wenn Sie mir Angst machen?«

Von Hohenbuche gab ein bitteres Lachen von sich. »Sicher nicht. Ich sag Ihnen was. Ich bin froh, dass ich es los bin. Sie haben es ehrlich gewonnen. Nur ist nichts Ehrenhaftes dabei, um Hab und Gut zu spielen. Und nichts Gutes kann daraus entstehen. Das Haus wird Ihr Unglück sein. So wie es meines war.« Er warf August einen hochmütigen Blick zu, drehte sich um und ging. Doch noch einmal blieb er stehen. Mit seinem intensiven Blick rang er Sofia ein stummes Versprechen ab. »Passen Sie gut auf Ihre Kinder auf.« Die Worte klangen wie eine düstere Prophezeiung.

Es lief ihr kalt den Rücken herunter. Alle blieben stumm. Erst als das Knirschen seiner Schritte im Schnee verklungen waren, rührte August sich wieder.

»Was für ein Narr. Ein Säufer und ein Spieler. Immerhin muss sich niemand mehr um die Enteignung des Herrn Grafen kümmern. Das hat er schon selbst erledigt. Kommt, wir lassen uns den Neuanfang von ihm nicht vermiesen.«

Schon war August wieder bei der breiten Steintreppe und stieg allen voran die Stufen hoch. Ganz langsam, als wolle er diesen Augenblick in seine Erinnerung einbrennen, schloss er auf. Er zog zwei Hebel auf der Innenseite hoch und stieß feierlich die Doppelflügeltür auf. Auf der Türschwelle blieb er stehen und sah hinein. Als er sich wieder umdrehte, lag bereits wieder ein strahlendes Lächeln auf seinem Gesicht. »Merkt euch diesen Tag, Kinder. Wenn ihr in vielen Jahren euren Kindern und Enkeln die Geschichte unsere Familie erzählt, dann wird das hier der Anfang sein.«

Sofia schluckte beklommen. Sie nahm zwei Bündel auf, die die Kinder in den Schnee hatten fallen lassen, und stieg die Steinstufen hoch. Oben ließ sie die Bündel fassungslos zu Boden gleiten. Die Eingangshalle war breiter als das größte ihrer Zimmer in ihrer alten Wohnung. Links und rechts davon gingen jeweils zwei Türen ab. Eine ausladende, wunderschöne Holztreppe wand sich mittig in der Halle in einer einzigen eleganten Kurve zum nächsten Stockwerk hoch. Der Fußboden war mit einem aufwendigen Fliesenmosaik ausgestattet. Staunend trat Sofia ein, drehte sich einmal um die eigene Achse und schlug die Hände vor den Mund. Ein albernes Kleinmädchenkichern platzte aus ihr heraus. Sie lief durch die gesamte Halle, und ihre Hand glitt über eine seidene Stofftapete mit Lilienmuster in Zartrosa, Grasgrün und Bronze, bevor sie in den kurzen Durchgang trat, der zu einem Raum mit bunten Lichtern führte.

»August, das musst du dir ansehen. Komm her.«

Auch die Kinder kamen zögerlich nach. Oskar lief zu seiner Mutter, versteckte sich halb hinter ihrem Rücken und schaute in den Raum, in den das Licht einfiel wie in eine Kirche, wenn die Sonne durch die bunten Fenster scheint.

Eingeschüchtert blickte Oskar zu seiner Mutter hoch. Sofia nahm seine Hand. Gemeinsam stiegen sie die zwei Stufen hinunter in einen Wintergarten. Zwischen einzelnen Mauersäulen waren rundherum bleiverglaste, bunte Jugendstilfenster eingelassen. Genau gegenüber des Durchgangs gab es eine massive Holztür zum Garten. In dem Raum war es wärmer, da die Sonne schon seit Stunden an einem klaren blauen Winterhimmel stand.

August trat zu ihr. Sie fühlte seine Hand auf ihrer Schulter. »Hab ich dir zu viel versprochen?« Das Licht, das durch das Glasmosaik fiel, warf ein wirres Muster auf sein Gesicht.

Sofia schüttelte ungläubig den Kopf und drehte sich einmal um die eigene Achse. »Wo sollen wir nur so viele Möbel herbekommen?«

August klatschte in die Hände. »Magnus, Gustav. Und auch du, Clementine. Ihr kommt mit raus und helft beim Abladen.« Seine Schritte klangen durch die große Halle.

Clementine war mit fünfzehn Jahren die Älteste der Kinder, und Magnus und Gustav folgten ihr in einem beinahe exakten Zweijahresrhythmus. Josefine war mit ihren acht Jahren beinahe so groß wie Gustav, mager und hoch aufgeschossen wie ein Spargel.

»Fine, du hilfst mir.« Sofia schaute sich in den anderen Zimmern um. In dem großen Salon, der links vom Eingang lag, gab es einen riesigen Kaminofen. Josefine folgte ihr stumm staunend. »Schau, ob du irgendwo Papier findest oder Kleinholz. Dein Vater hat etwas von einem Kohlenkeller gesagt. Sieh dort mal nach.«

Josefine schaute ihre Mutter mit großen Augen an. »Ich gehe nicht alleine in den Keller.«

Sofia nahm lächelnd ihre Hand. »Natürlich. Komm, wir gehen zusammen.« Es fühlte sich tollkühn an, dieses riesige, vornehme Haus in Besitz zu nehmen.

Oben an der Kellertreppe betätigte Sofia einen Drehschalter und stieg im schwachen Licht einer Glühbirne vorsichtig hinab. Die Decke unten war niedrig, und mehrere kleine Verschläge waren durch einfache Holzwände und Türen abgetrennt. In der hinteren Ecke gab es eine große Waschküche mit einem gemauerten Waschofen, in dem unter dem Laugenbottich ein Feuer angeheizt werden konnte. Ein breites steinernes Waschbecken mit Wasserhahn würde ihr das Waschen sehr erleichtern, stellte Sofia erfreut fest. Unterhalb des Salons ging man über einen kleinen Absatz in den Vorratskühlkeller. Sofia sah sich kurz um und fand sofort, was sie suchte. Der Kohlenkeller war noch gut bestückt. Sie nahm sich eine der vier Blechkippen und fuhr damit in die Kohlen.

»Mama, hier ist noch Anmachholz und ganz viel alte Zeitung.« Josefine hatte sich alleine in den benachbarten Verschlag getraut.

»Nimm so viel, wie du tragen kannst«, wies Sofia ihre Tochter an, die schon dabei war, die dünnen Holzscheite auf das alte Papier zu legen. Sofia griff nach den Henkeln. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass ein großes Feuer die klirrende Kälte in dem ausgekühlten Haus vertreiben würde.

Josefine ging vor ihr die Treppe hoch und verschwand im Salon, als Sofia einen Moment in der geräumigen Eingangshalle stehen blieb. Noch einmal ließ sie ihren Blick ungläubig schweifen und blieb beim Anblick eines Kronleuchters an der Decke haften. Ob es die Februarkälte war oder die eisigen Worte des Vorbesitzers – ein Frösteln schoss ihr durch die Knochen.

Clementine war mutig genug gewesen, als Erste die Treppe hochzusteigen. Oben gab es eine ähnliche Einteilung der Zimmer wie unten. Links und rechts von einem etwas schmaleren Flur lagen jeweils zwei Räume, jeder mit einem eigenen Ofen ausgestattet.

Als sie eine der Zimmertüren öffnete, konnte sie nur noch staunen. Eine glänzende Kupferbadewanne mit Klauenfüßen stand mitten im Raum. Dahinter war ein Gasbadeofen mit einem schlanken Kupferkessel. Ein geschwungener Wasserhahn wölbte sich von dort über die Wanne. Sie schlug die Hände vors Gesicht. Meine Güte, was für ein Luxus! Ein Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Sie würde hier baden wie eine Prinzessin in einem Palast. Entzückt streichelte sie die zwei goldenen Knäufe, mit denen die Wasserzufuhr geregelt wurde. Fließendes Wasser, ja sogar fließend warmes Wasser.

Natürlich musste man zuvor das Wasser erhitzen, und natürlich war es nicht echtes Gold, sondern Messing, trotzdem – sie konnte es kaum fassen. Nie wieder in der Zinkbadewanne in der Küche frieren, weil die Luft zu kalt und das Wasser zu lau war. Kein verschämtes Umherhuschen mehr, um sich vor den Jungs zu verstecken.

Sie drehte sich um. Ein wunderschönes, mit floralen Applikationen bemaltes weißes Keramikwaschbecken hing vor passenden Fliesen, darüber ein wunderschöner in Facetten geschliffener Spiegel. In einer Ecke war ein kleines Räumchen ausgespart, und als Clementine die Tür öffnete, fand sie dort den Abort.

Sie schüttelte den Kopf. Natürlich gingen so feine Herrschaften wie die, die hier vorher gewohnt hatten, nicht eine halbe Etage tiefer, um dort in einem Kämmerchen neben dem Treppenabsatz ihre Notdurft zu verrichten. So wie sie und ihre Familie es bis gestern getan hatten. Im Kölner Martinsviertel konnte man froh sein, wenn man sich nicht eine Wohnung mit einer anderen Familie teilen musste, sondern nur den Abtritt. Im Winter war es furchtbar kalt, und im Sommer stank es. Das würde hier anders sein.

Clementine ging über eine schmale Treppe ins nächste Geschoss. Auf dieser Ebene sah es anders aus als in den unteren Geschossen. Der kleine Flur war holzvertäfelt. Alles war sauber, aber schlicht und einfach. Hier gab es keine Stofftapeten an den Wänden, die Zimmer waren nur weiß getüncht. Die Decken waren niedriger und oben an den Außenwänden schräg. Es gab drei Kammern und ein schlichtes Badezimmer mit separater Toilette. Hier mussten die Angestellten gewohnt haben, dachte Clementine.

Sie ging in das mittlere Zimmer. Dort war ein ovales Fenster wie ein großes Bullauge in eine Nische eingelassen. Clementine näherte sich neugierig dem Glas. Unter ihr breitete sich der kleine private Park aus. Rechter Hand lagen Pferdestallungen, dahinter die Koppeln. Das Gelände war mit einer hohen roten Backsteinmauer eingefriedet. Nach hinten fiel es leicht ab und wurde über die ganze Breite vom Rhein begrenzt. Kleine Eisschollen hatten sich die Uferböschung hochgeschoben. Einige Meter entfernt stand eine Trauerweide, deren Äste bis hinunter zum Boden reichten. Sie war komplett eingehüllt in eine dichte Decke aus Schnee und wirkte, als hätte ein Kind sich ein Bettlaken übergezogen, um Gespenst zu spielen.

Auf der Treppe waren zögerliche Schritte zu hören. Clementine ging zurück in den Flur und sah hinunter. Josefine kam schwer bepackt die letzten Treppenstufen hochgestapft, stellte die Kohlenkippe ab und ließ die Zeitung mit dem Holz auf den Holzboden gleiten. Dicht bei Clementine blieb sie stehen.

»Unheimlich, nicht wahr?« Sie nestelte an ihren dunkelbraunen Zöpfen, die sich bald auflösen würden, wie so oft bei ihr. Josefine war eher eine draufgängerische Natur. Dass sie sich trotzdem fürchtete, überraschte Clementine.

Sie grinste ihre kleine Schwester an. »Findest du? Ich suche mir jetzt das schönste Zimmer aus, weil ich die Älteste bin. Endlich haben wir genug Platz, damit ich ein eigenes Zimmer bekomme. Hier oben.«

Erschrocken blickte Josefine sie an. »Aber nein. Nicht hier oben. Ich kann doch nicht mit einem der Jungs in einem Zimmer schlafen. Und alleine will ich nicht. Nicht in diesem Haus.« Sie zog sich ihre dicke Strickjacke enger um den Körper.

»Ich will nicht mehr direkt neben der Schlafstube von Mama und Vater schlafen.« Clementine sagte nichts weiter. Auch die jüngeren Kinder kannten die verräterischen Geräusche, die aus dem alten Wohnzimmer gedrungen waren. Alle Kinder schliefen in einem großen Raum. Die Mädchen von den Jungen nur getrennt durch einen wuchtigen Schrank. Und abends, wenn die Kinder im Bett waren, dann machte Mama das Ehebett auf dem großen Sofa in der Wohnküche fertig.

Wie viele Stunden schon hatte Clementine – und sicher auch die anderen Geschwister – mit zusammengekniffenen Beinen und voller Blase im Bett gehorcht, ob das Jammern und Stöhnen aus dem Nebenzimmer endlich verstummt war. Nein, je weiter ihr neues Zimmer von dem der Eltern entfernt wäre, desto besser. Noch besser, wenn sie sich nicht einmal das gleiche Bad teilen mussten. Lieber würde sie hier oben wohnen, wo das Bad bescheiden war. Zudem war es immer besser, möglichst aus der Reichweite von Vater zu bleiben. Er war schnell mit der Hand dabei, wenn ihm etwas missfiel.

Josefine schaute mit großen Augen zu ihr hoch. »Meinst du, das stimmt, was der Mann gesagt hat? Das war fast wie ein Fluch. Als habe er Vater verflucht. Gustav sagt das auch.« Fines Stimme war nur noch ein Flüstern. Als wolle sie nicht, dass die Wände ihre Worte hörten.

»Ach was. Blödsinn. Du liest zu viele Schauergeschichten.« Fine war mit ihren jungen Jahren erstaunlich gut im Lesen und Schreiben. Und Tante Adele gab ihr immer ihre ausgelesenen Heftchen mit. Bücher gehörten nicht zum Inventar der Kortes. Doch als Clementine sah, wie ihre kleine Schwester mit eingezogenem Kopf vor ihr stand, bekam sie doch Mitleid. »Na gut, du darfst mit mir in einem Zimmer schlafen, allerdings hier oben. Ich will nicht unten schlafen. Hörst du?«

»Ist mir egal. Hauptsache, ich muss nicht alleine schlafen.« Beinahe vorwurfsvoll ließ sie ihren Blick über die Holzvertäfelung gleiten. »Ich finde das Haus furchterregend.«

Clementine vermied es, ihre Schwester anzuschauen. Sie wusste, die Kleine wartete darauf, dass sie etwas Beruhigendes sagte. Aber die Wahrheit war – schönes Bad und getrennte Etagen hin oder her: Seit sie die Villa betreten hatte, fühlte sie sich beklommen.

2

KÖLN-RHEINKASSEL – EIN DONNERSTAG IM MAI 2014

Heute Morgen hatte Isabell den Mietwagen abgeholt, nachdem sie mit Oma Pauline einen Koffer gepackt hatte. Gerade eben hatten sie sich in einer Pension in Rheinkassel einquartiert und waren sofort wieder aufgebrochen. Der Notar in Merkenich hatte ihnen kurzfristig einen Termin eingeräumt. Jetzt wollte Isabell unbedingt mehr über das Erbe erfahren. »Du hast gedacht, das Haus wäre zerbombt worden. Wieso?«, fragte Isabell, als sie sich anschnallte.

»Köln war völlig zerbombt worden. Du musst doch die Bilder kennen. Der zerstörte Dom und rundherum kein Stein mehr auf dem anderen.«

Isabell nickte. Ja, sie kannte die Bilder. Das zerstörte Köln aus dem Jahr 1945. Dem Jahr null. Wahrhaftig glichen sie den heutigen Bildern aus Syrien oder aus dem Gaza-Streifen.

»Der Krieg hatte uns ja schon Gustav genommen. Er ist in den ersten Kriegsmonaten gefallen – im Herbst 1939. Es war schrecklich. Mutter hat sich von dem Schlag nie ganz erholt.«

»Dann war er Soldat?« Isabell startete den Wagen und fuhr los.

Pauline zögerte mit ihrer Antwort. »Ja … Ich weiß nicht genau. Ich hab ihn noch in Erinnerung, wie er auf den verfluchten Krieg geschimpft hat. Genau wie Magnus hatte er etwas gegen die Nazis. Magnus, mein ältester Bruder, war 1933 bei Straßenkämpfen der Kommunisten am Eigelstein gegen die Braunhemden mit dabei. Zwei von den Braunhemden sind erschossen worden. Einige Wochen später hat man Magnus ein paar Straßenzüge entfernt tot aufgefunden. Blutüberströmt und brutal zusammengeschlagen.«

»Und dann hat sich Gustav freiwillig gemeldet, obwohl die Nazis seinen Bruder auf dem Gewissen hatten?«

»Nun … Ich weiß nicht. Damals wurde man nicht lange gefragt, ob man freiwillig gehen will.«

»Und Oskar, wie alt war er damals? Musste er nicht an die Front?«

»Oskar muss damals Anfang zwanzig gewesen sein, dreiundzwanzig, glaube ich. Er war angestellt in einem kriegswichtigen Betrieb. Eine Gummifabrik, die Gasmasken für die Front herstellte. Er war UK – unabkömmlich.«

Das muss man dann wohl Glück nennen, dachte Isabell. Sie startete den Wagen und fuhr los.

»Dann wurde unser Haus getroffen.« Pauline atmete tief durch. »Nach dem Bombenangriff fehlte oben ein großer Teil des Daches. Wir haben noch einige Wochen weiter in den unteren Geschossen der Villa gewohnt, mehr schlecht als recht. Aber Köln wurde immer weiter bombardiert, und auch die Grenzgebiete waren davon betroffen. Es wurde immer schlimmer, besonders in der Nähe des Doms und entlang des Rheins. Es war ja Verdunklung angeordnet, jedoch den Fluss konnten die Flieger besonders gut sehen. Und am gegenüberliegenden Ufer war die IG Farben angesiedelt. Industrieanlagen waren immer ein beliebtes Ziel der Bomber. Im Spätsommer sind wir dann zu Tante Adele und Tante Dorothea nach Königswinter gezogen.«

»Was passierte mit der Villa?« Isabell fuhr langsam durch die ruhige Straße.

»Im Herbst des gleichen Jahres wurde Oskar doch noch an die Front abkommandiert, und im Jahr darauf verschwand Josefine. Ich blieb in Königswinter bei den Tanten, und als Oskar aus amerikanischer Gefangenschaft zurückkam, im März 1946, fuhr er immer wieder mal nach Köln. Ob er sich da um das Haus gekümmert hat, kann ich dir nicht sagen. Das Haus war so unwichtig. Das Einzige, was damals zählte, war das Leben. Ich dachte immer, er sucht nach Josefine.«

»Was war mit ihr? Sie ist verschwunden, einfach so?« Als sie kurz ihren Blick vom Steuer nahm und zur Seite blickte, sah sie, dass ihre Großmutter ziemlich betroffen wirkte.

Oma Pauline verzog den Mund und rieb die knochigen Hände aneinander. »Meine Tanten wollten nicht mit mir darüber sprechen. Ich kann es dir nicht sagen. Sie war eines Tages einfach weg.«

»Ein Mensch kann doch nicht einfach so weg sein.«

»Es war der größte Krieg, den die Menschheit jemals gesehen hat. Was glaubst du, was damals für Dinge passiert sind, die sich heute niemand mehr vorstellen kann?«

Isabell schüttelte den Kopf. »All deine Geschwister sind … irgendwie …«

»Gestorben oder verschwunden. Oder weggegangen.«

»Sie haben dich einfach alleine gelassen.« Isabell wollte ihre Großmutter nicht bedrängen, doch die Neugierde siegte: »Hast du nicht nachgefragt? Ich meine, all diese offenen Fragen und merkwürdigen Begebenheiten. Gustav, wieso er zum Militär gegangen ist? Wieso ist Josefine verschwunden?«

»Was Josefine angeht, nun, irgendwie war es meinen Tanten unangenehm. Wieso, weiß ich nicht. Sie haben nicht gerne darüber gesprochen.« Sie schwieg für einen Moment, als müsste sie die Erinnerungen erst mühselig hervorkramen. »Und was diese Geschichten mit dem Haus und mit Oskar, mit meinen Geschwistern und mit all diesen anderen Dingen angeht – natürlich hab ich mich das irgendwann gefragt. Aber als es passiert ist … ich war erst … Verstehst du nicht? Ich war fünfzehn, und … mein ganzes Leben, so wie ich es kannte, war … zerstört. Meine halbe Familie … tot. Die andere Hälfte verschwunden. Ich hatte eine solche Angst. Ich kann es dir gar nicht beschreiben. Jahrelang habe ich nicht durchschlafen können.« Pauline schluckte hart. Sie brauchte einen Moment, um sich zu sammeln.

Isabell fragte sich, ob sie die Angst und die Schlaflosigkeit wohl von ihrer Oma geerbt hatte. Diese Lähmung, die in einem hochkroch und sich in die Seele fraß, die kannte sie ebenfalls. Dabei hatte sie keinen Krieg miterlebt. Konnten sich Krieg, Tod und Vertreibung in die Gene einnisten wie blinde Passagiere?

Pauline sprach endlich weiter. »Es war ja nicht so, als wären Tote und Vermisste in diesen Jahren etwas Außergewöhnliches gewesen. Keiner hat mehr nach dem Warum gefragt in dieser in Chaos und Schuld versunkenen Welt. Es zählte nur: Man war selbst noch mal mit dem Leben davongekommen. Später, als die schweren Nachkriegsjahre vorbei waren, das Leben wieder mehr Normalität bekam und ich älter wurde, da lebte schon niemand mehr, der mir noch hätte Antworten geben können. Oskar war schon längst in Amerika, und meine alten Tanten, nun … Du weißt doch, wie …« Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Du weißt doch, wie das in Familien ist. Es gibt bestimmte Themen, über die spricht man nicht. All das Unausgesprochene, das quasi vererbt wird. Wie Muttermale.«

Ein Stück weiter vorne sah Isabell auf dem Bürgersteig eine Frau, zwei kleine Kinder neben sich, die einen Kinderwagen schob. Da schoss es ihr durch den Kopf: Nein, ich weiß eigentlich nicht, wie das in Familien ist. Da war immer nur ihre Mutter gewesen, ihre Mutter und Oma Pauline. Und ganz früher die beiden uralten Tanten, die gestorben waren, als Isabell drei beziehungsweise fünf Jahre alt war. Ihr Vater war gegangen, da war sie gerade drei. Das hatte Isabell so enorm verstört, dass sie ein halbes Jahr nicht mehr gesprochen hatte. Ihre Mutter war gerade mal zweiundvierzig Jahre, als sie an Krebs starb. Da war Isabell selbst dreiundzwanzig. Dieser frühe Verlust war einschneidend gewesen. Das Leben ihrer Mutter war innerhalb weniger Wochen zwischen ihren Händen zerronnen. Jahrelang war sie danach durch ihr Leben getaumelt, von einer Ecke der Welt in die andere, ohne Halt zu finden. Denn was nutzte ein Halt, wenn er jede Sekunde einfach wegbrechen konnte? Die Fragen, die sie damals umtrieben, waren Fragen nach dem Warum, nach dem Wiesojetzt schon und Wieso ausgerechnet meine Mutter. Fragen nach ihren Ahnen waren ihr nicht in den Sinn gekommen. Mit Anfang zwanzig kümmert man sich nicht um Familiengeschichten. Und bis heute hatte sie sich nicht überwinden können, ihren Vater von Angesicht zu Angesicht zu fragen, warum er damals gegangen war. Sie war jetzt sechsunddreißig und hatte sich bisher kaum um die Vergangenheit ihrer Familie gekümmert. Wie konnte sie das dann von ihrer Oma erwarten?

Kurz blitzte ein bitteres Lächeln in ihrem Gesicht auf. Anscheinend weiß ich doch, wie das in Familien ist, dachte sie. In jeder Familie gab es dieses untrügliche Gespür, welche Themen man ansprechen konnte und welche Themen lieber im Verborgenen blieben. Kinder sogen es mit der Muttermilch auf.

Isabell bog ab. Sie waren nun auf der lang gezogenen Straße, die beinahe parallel zum Rhein verlief. Durch Lücken in der Häuserreihe war der Fluss zu erahnen. Sie suchte nach einer Hausnummer. Ein Stück die Straße hoch musste es sein. »Erkennst du irgendetwas wieder?«, fragte sie.

Pauline nickte, sagte aber nichts. Die Bebauung hörte auf, und links und rechts lagen nun Felder und Wiesen und Schwemmwiesen des Rheins. Isabell ließ den Wagen am Straßenrand ausrollen. Sie standen vor einem alten Tor aus roten Backsteinen. Die Villa lag etwas abseits des Dorfes, zwischen Rheinkassel und Kasslerberg. Abseits des Lebens, als wolle man mit ihr nichts zu tun haben. Das massive schmiedeeiserne Tor war mit einer Kette mit Zahlenschloss gesichert. Links und rechts von dem gemauerten Tor lief eine schulterhohe rote Backsteinmauer weiter. An einigen Stellen waren Steine herausgebrochen, an anderen wuchs Grünzeug aus den Ritzen, insgesamt sahen die Mauer und das Tor jedoch intakt aus. Viel war von der alten Villa, zu der ein Kiesweg führte, nicht zu erkennen, da die Mauer ihnen die Sicht nahm.

Isabell bemerkte, wie Oma Pauline ihre Hände nervös ineinander verschränkte. Ob ihre Großmutter wohl auch unter Panikattacken litt? Die alte Dame sagte nichts, aber der Anblick schien doch einige Erinnerungen hervorzuholen. Ihr Atem ging flach, und sie schien wie in Trance. Ihr Blick lief ins Leere. »Mitten im Zweiten Weltkrieg …«, hob sie an und griff nach der Klinke des Tors, als müsse sie sich festhalten. »Wir waren ja schon an die Flieger gewöhnt, doch das … Es war schrecklich. Furchtbar schrecklich.« Sie schluckte. »Ich weiß noch, später nannten es die Briten Operation Millennium.«

KÖLN-RHEINKASSEL – 30. MAI 1942

Das Heulen der Sirenen zerfetzte die wunderbare Mainacht. Sofia riss die Türen zu Josefines und Paulines Zimmer auf. »Linchen, Fine! Los raus! Die Flieger kommen.« Die beiden hatten schon geschlafen.

Pauline riss sich ihr Laken vom Körper. Josefine stand bereits vor dem Stuhl mit ihren Kleidern. Ihre Mutter stürmte zur anderen Seite des Flures und riss die Tür zu Oskars Zimmer auf. Sie kam wieder zurückgerannt.

»Wo ist euer Bruder? Ist er noch nicht wieder zu Hause?« Als sie sah, dass Josefine sich anziehen wollte, rief sie: »Keine Zeit. Keine Zeit! Nehmt es mit in den Keller. Und euer Bettzeug auch!« Da war sie schon halb die Treppe runter.

Als Pauline mit ihrem Bettzeug herunterkam, sah sie, wie die Mutter in der Küche alles Mögliche an Essbarem in einen Korb stopfte.

»Nun macht schon«, herrschte die Mutter sie an. »Beeilt euch gefälligst, oder soll ich euch etwa in den Keller tragen?« Sie griff nach einer Blechkanne aus dem Kühlschrank und rief Pauline zurück. »Hier, nimm die mit. Dann haben wir wenigstens was, falls wir wieder die ganze Nacht dort unten sitzen müssen.«

Josefine, Kissen und Bettdecken in den Armen, kam eilig von oben und blieb unschlüssig in der Eingangshalle stehen. »Sollten wir nicht besser nach Merkenich in den Luftschutzbunker gehen?«

»Damit uns jemand die Lebensmittel klaut! Sei nicht töricht. In unserem Keller sind wir genauso sicher. Außerdem habe ich keine Lust, mir Läuse und Flöhe einzufangen.«

Die Stimme der Mutter war hart, doch die Mädchen wussten, sie hatte recht. Sie hatten einige Male in einem Schutzkeller verbracht, und es war dreckig und viel zu eng. Die Leute saßen dicht gedrängt. Die Luft war schlecht und verbraucht. Kinder wimmerten unaufhörlich, und wenn man nicht schon vorher fürchterliche Angst hatte, würde man sie dort auf jeden Fall bekommen. Oft genug war draußen gar nichts passiert. Rheinkassel lag vor den Grenzen Kölns. Verhängnisvoll war nur, dass die Flieger den Rhein als Landmarke nahmen, an der sie sich orientierten.

»Wo ist Oskar?«, fragte die Mutter noch einmal. »Habt ihr ihn gesehen? Er muss da sein. Seine Jacke hängt am Haken.« Sie schlug das alte Brot, ein Stück Käse, das bisschen Butter und die ersten Möhren, die sie geerntet hatten, in ein Tuch ein und verknotete die Enden miteinander. Eilig stellte sie das Bündel vor die Kellertreppe.

»Wollt ihr wohl endlich in den Keller gehen. Wo ist Oskar?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht schläft er wieder bei den Pferden.« Oskar hatte sich schon als Kind angewöhnt, im Sommer häufiger im Pferdestall zu schlafen. Manchmal kam es Pauline so vor, als könne er das Haus nicht ertragen.

Barsch schob die Mutter auch Josefine in Paulines Richtung. »Ihr geht jetzt sofort runter und kommt nicht mehr hoch.« Sie stürzte durch den Wintergarten hinaus in den Garten. Pauline hörte ihre Mutter rufen.

Statt in den Keller zu gehen, blieb sie in der Eingangshalle hinter Josefine stehen und blickte durch den Durchgang ihrer Mutter hinterher. Auf der anderen Seite der Wand ging die enge Steintreppe mit schmalen Stufen ins Kellergeschoss hinab. Beide blieben sie stehen, wollten nicht hinab ins Dunkle. Unausgesprochen warteten sie auf ihre Mutter.

Plötzlich hörten sie laute Schritte von oben. Jemand sprang hektisch die Stufen der mächtigen Wendeltreppe herab. Oskar war offensichtlich im obersten Geschoss gewesen.

»Mama, komm rein, hörst du«, rief er. »Mama!« Jetzt entdeckte er seine Schwestern. Er übersprang die unterste Stufe und rief: »Runter mit euch in den Keller, verdammt noch mal. Sie sind schon ganz nahe.«

Jetzt wusste Pauline, was er gemacht hatte. Oft, wenn er mal wieder nicht schlafen konnte, stand er mit dem Fernglas im Dienstbotengeschoss oben unter dem Dach und suchte den Himmel nach feindlichen Fliegern ab.

»Mama, ich bin hier. Hier drin!« Seine Lederschuhe rutschten über die glatten Marmorfliesen. Er packte Josefine und Pauline unsanft an den Schultern und drückte sie in Richtung Treppe. Sie hörten schon die ersten Bomben in unmittelbarer Nachbarschaft niedergehen.

»Sofort runter!«, schrie er. Doch keine von ihnen rührte sich. Und dann sah Pauline, wie die Mutter vom Rhein her eilig auf das Haus zu rannte. Offensichtlich hatte sie ihren Sohn nicht gehört, denn sie war bis zum Ende des Geländes gelaufen, um ihn zu suchen.

Die drei duckten sich automatisch, als sie den dumpfen Einschlag einer nahen Explosion hörten. Als Pauline wieder aufschaute, sah sie, wie auch ihre Mutter geduckt weiterlief. Oskar versuchte, Pauline zur Kellertreppe zu drücken, doch wie erstarrt hielten sie inne, denn im gleichen Moment hörten sie den typischen hohen, jaulenden Ton einer sich nähernden Fliegerbombe. Für einen Bruchteil von Sekunden war jede Bewegung unmöglich. Nur verängstigte Blicke flogen zwischen den Geschwistern hin und her. Dieser Ton war viel zu hell. Viel zu schrill. Und er näherte sich in Windeseile.

Da hörten sie auch schon den Einschlag. Ein unfassbar lautes Krachen erfüllte das Haus. Unter ihren Füßen bebte die Erde. Die Stofftapeten auf den Wänden rissen. Der Stuck an der Decke bröckelte. Auf die Böden der oberen Stockwerke krachten einzelne Trümmerteile. Eine dichte Wolke aus Staub drückte sich über die Treppenöffnung in der Decke nach unten. Im letzten Augenblick hatte Oskar die Schwestern unter sich gezogen und mit seinem Oberkörper geschützt.