Die Klasse - Dominik W. Rettinger - E-Book

Die Klasse E-Book

Dominik W. Rettinger

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Beschreibung

Live auf Sendung bekommt Adam Wierzbicki einen seltsamen Anruf. Sein alter Schulfreund Piotr Lasota, der mit Komplizen dem amerikanischen East Fund eineinhalb Milliarden Zloty gestohlen hat, bittet nach einer schweren Prügelattacke um Hilfe. Adam begibt sich auf eine gefährliche Mission, um herauszufinden, was das alles mit den Titanvorkommen im Nordosten von Polen zu tun hat, die seit den 1980er Jahren aus ökologischen Gründen nicht mehr abgebaut werden. Skrupellose Großkonzerne, korrupte Politiker, mächtige Journalisten und der gefährliche Missbrauch wissenschaftlicher und militärischer Technologien: ein extrem spannender Polit-Thriller, der die Grenzen zwischen Gut und Böse immer wieder in Frage stellt.

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Über das Buch

Live auf Sendung bekommt der Radiomoderator Adam Wierzbicki einen seltsamen Anruf. Sein alter Schulfreund Piotr Lasota meldet sich aus dem Krankenhaus und bittet um Hilfe. Doch seine Gutmütigkeit wird Adam zum Verhängnis. Es stellt sich heraus, dass Lasota und seine Komplizen – unter ihnen zwei weitere ehemalige Klassenkameraden – dem amerikanischen East Fund eineinhalb Milliarden Złoty gestohlen haben. Lasota überlebt eine Prügelattacke nur knapp, und auch Adam und seine Familie geraten ins Visier von Schlägern. Adam begibt sich auf eine gefährliche Mission um herauszufinden, was das alles mit den Titanvorkommen im Nordosten Polens zu tun hat, die seit den 1980er Jahren aus ökologischen Gründen nicht mehr abgebaut werden. Der erfolgreiche Drehbuchautor Dominik Rettinger hat einen klassischen Politthriller geschrieben, der einen von der ersten Seite an den Atem anhalten lässt.

Zsolnay E-Book

Dominik W. Rettinger

Die Klasse

Thriller

Aus dem Polnischen von Marta Kijowska

Paul Zsolnay Verlag

Alle Personen und Ereignisse in diesem Buch sind erfunden. Der Hintergrund der Handlung hingegen – die Existenz großer Vorkommen von verschiedenen Metallen, deren Wert auf über zwei Billionen Dollar geschätzt wird und die in den späten 1970er Jahren von Polen mithilfe der deutschen Regierung gefördert werden sollten – ist eine Realität, die immer noch auf ihre Fortsetzung wartet.

Dominik W. Rettinger

Er spürte, dass er den nächsten Schlag nicht mehr aushalten, dass er das Bewusstsein verlieren oder verrückt werden würde. Oder sterben. Der Schmerz wurde unerträglich. Die Schläge und Tritte trafen unentwegt seinen Körper und seinen Kopf, immer wieder an denselben Stellen. In Wellen breitete sich der Schmerz in den Muskeln und in den Knochen aus, erreichte das Herz und das Gehirn. Er biss die Zähne zusammen, um nicht zu schreien. Über sich hörte er den schnellen Atem und die Flüche der beiden Gangster, die ihn mit Fäusten und Füßen traktierten.

Er konnte nicht begreifen, woher sie so viel Hass nahmen. Sie hatten ihn mit einem Elektroschocker überwältigt, als er vor dem Haus, das er in einem Warschauer Vorort mietete, in sein Auto stieg. Sie hatten ihn hierhergebracht, in den dritten Stock geschleppt und auf den Fußboden eines leeren Zimmers geworfen; dann hatten sie sofort angefangen, ihn zu schlagen. Als er nach dem Schock zu sich kam, den der Stromschlag ausgelöst hatte, lag er zusammengekrümmt auf dem Boden und wurde immer wieder in die Luft gehoben durch die Tritte der schweren Stiefel. Er hatte keine Zeit, keine Chance gehabt zu fragen, wer sie waren und was sie von ihm wollten. Die Antwort auf die zweite Frage kannte er, aber wie sollte er sich mit ihnen verständigen, wenn die Schläge und Tritte ihm den Atem und die Sprechfähigkeit raubten.

Er fing an, die Sehkraft zu verlieren, seine geschwollenen und blutüberströmten Augen sahen nur die hellen Vierecke der Fenster und der geöffneten Balkontür. Mit letzter Willenskraft konzentrierte er seine ganze Aufmerksamkeit auf sie. Nach jedem Tritt versuchte er, ein Stück in Richtung Balkon zu rutschen. Seine Peiniger bemerkten es nicht, sie waren viel zu sehr damit beschäftigt, die richtigen Stellen für die nächsten Schläge auszumachen. Nieren, Schienbeine, Solarplexus, Kopf – sie beherrschten ihren Job wirklich gut. Er wusste nicht, wie lange das schon dauerte, vielleicht hatten sie ihm Rippen und Beine bereits gebrochen, vielleicht sollte er auf diese Weise sterben. Jedes Mal, wenn ein Tritt es ihm erlaubte und der Schmerz nicht zu lähmend war, zog er sich an den Händen hoch und kroch in Richtung Balkon. Auf diese Weise erreichte er die offene Balkontür; der letzte Tritt warf ihn an den Türrahmen. Dann hörten die Schläge plötzlich auf.

Er lag auf dem Bauch und sah undeutliche Lichtreflexe. Hörte ein schweres Atmen und das Knipsen eines Feuerzeugs, roch den Geruch des Zigarettenrauchs. Er nahm Schritte wahr – einer der Männer ging nach nebenan, und man konnte hören, wie er dort auf seinem Handy eine Nummer wählte. Also hatten sie nicht die Absicht, ihn zu töten, jetzt noch nicht. Oder sie warteten auf das endgültige Urteil.

Sein Körper war ein einziger Schmerz, er konnte kaum noch atmen. Er wollte unbedingt sehen, was die Lichtreflexe auf dem Balkon, direkt über seinem Kopf, bedeuteten, doch er war nicht imstande, den Blick darauf zu konzentrieren. Er hörte eine undeutliche Stimme aus dem Zimmer nebenan, verstand aber die Worte nicht, als wäre es kein Polnisch. Oder hatte vielleicht sein gemartertes Gehirn aufgehört, die Wortbedeutungen zu unterscheiden? Schließlich gelang es ihm zu erkennen, was die Sonnenstrahlen auf dem Betonboden des Balkons widerspiegelte: Es waren Splitter von zerbrochenem Glas. Er sah auch die Stäbe des Balkongeländers, doch sie lagen zu eng beieinander, es würde ihm nicht gelingen, sich da durchzupressen.

Als sie ihn aus dem Auto hierherschleppten, sah er auf dem Rasen vor dem Wohnblock ein dichtes Gebüsch; sein Gedächtnis hatte registriert, dass es etwa zwei Meter von der Betonwand des Gebäudes entfernt war. Wenn er sich am Balkongeländer abstoßen könnte, bestand die Chance, dass er auf das Gebüsch fiel. Und wenn ihm dies nicht gelingen sollte, dann war es besser, an dem Aufprall zu sterben, als noch eine Minute länger diese Schläge zu ertragen.

Langsam und vorsichtig zog er sich wieder an den Händen hoch und kroch über die Türschwelle. Das zerbrochene Glas knirschte unter seinen Fingern.

»Hey du! Wo willst du hin?«, ertönte hinter seinem Rücken eine primitiv klingende Stimme.

Er reagierte nicht, sondern kroch weiter, bis er das Geländer erreichte. Er hörte einige Schritte und die Stimme des Gangsters, der sich in der Balkontür postiert hatte und in Gelächter ausbrach.

»Nicht so schnell. Wir schmeißen dich sowieso hinunter, wenn die Zeit reif ist«, sagte er und trat ihn in den Unterschenkel.

Piotr schrie durch die zusammengebissenen Zähne auf und begann, sich am Geländer hochzuziehen, indem er mit größter Mühe seinen kraftlosen, schmerzenden Körper anhob. Es wurde still, und er stellte sich vor, wie der andere ihn neugierig betrachtete. Er richtete sich auf die Knie auf, hielt sich am Geländer fest und versuchte aufzustehen.

»Okay, das reicht.« Der Gangster packte seinen Arm. »Zurück mit dir, Kumpel.«

Er drehte sich so schnell um, wie seine gebrochenen Rippen es erlaubten, und stieß, vor Schmerz stöhnend, dem Mann einen großen Glassplitter ins Gesicht, den er mit der Hand fest umklammert hatte. Es ertönte ein Schrei, der Gangster griff sich mit beiden Händen an den Kopf. Piotr sah das Blut, das durch die dicken Finger spritzte, die herunterfließenden Reste des Auges und das aus der Augenhöhle ragende Glasdreieck.

Der Schrei verwandelte sich in ein Geheul der Verzweiflung. Der Verwundete trat einen Schritt zurück und fiel auf den Rücken. Der zweite Gangster stürzte ins Zimmer, sah verblüfft auf seinen sich windenden, schreienden und blutenden Kollegen hinunter, richtete seinen Blick auf den Balkon und zog blitzschnell eine Pistole unter dem Arm hervor.

Es galt, keine Sekunde zu verlieren. Piotr zog sich mühsam über das Geländer und stieß sich mit den Händen so weit ab, wie er konnte. Als er hinunterfiel, hörte er immer noch das Geschrei des Schmerzes und der Angst. Er sah, wie sich der zweite Gangster über das Balkongeländer lehnte und mit seiner Pistole auf ihn zielte.

Er presste die Augenlider zusammen und wartete auf den Zusammenstoß mit der Erde. Das Geräusch der brechenden Zweige und der reißenden Kleidung vermischte sich mit dem Knall zweier Schüsse. Er spürte einen heftigen Schlag an seinem Arm, fiel durch das dichte Gebüsch hindurch und prallte auf die Erde. Ein starker Schmerz durchdrang seinen ganzen Körper, dann umgab ihn die Dunkelheit. Das Letzte, was er hörte, waren die Rufe der erschrockenen Passanten, das Weinen eines Kindes und Hundegebell.

Es gibt Augenblicke, da sollte in einem Menschen die Intuition erwachen und ihn warnen: »Stopp, geh diesen Weg nicht!« Leider meldet sich diese Stimme erst dann, wenn in seinem Gehirn das Getöse der Ambitionen und Pläne verklungen ist und die Angst, die seine Gedanken und Taten begleitet, sich für einen Moment verflüchtigt hat. Wenn der Mensch sein immer hungriges Ego abgestellt hat.

Im Falle von Adam Wierzbicki, einem erfolgreichen Rundfunkjournalisten, war dies nicht möglich. Der dreiundvierzigjährige Liebling der Hörer, intelligent und gutaussehend, von Frau und Sohn geliebt, hätte sich gewundert, wenn ihn jemand gewarnt hätte, er solle innehalten und auf seine innere Stimme hören. Im Gegenteil, mit jedem Monat, mit jedem Jahr hatte Adam mehr das Gefühl, beschleunigen zu müssen, weil viele in seinem Alter schon weiter gekommen waren.

Auch an diesem Frühlingsvormittag tauchte in seinem Kopf keine Warnung auf. Es leuchtete nur das rote Licht über der Glasscheibe auf, hinter der Janek saß, der massige Tontechniker von Radio Wave, wo Adam seine Livesendung Schnelle, wichtige Gespräche moderierte. Die leuchtende Lampe bedeutete, dass Janek mit dem nächsten Hörer verbunden war.

Am Tisch, gegenüber von Adam, saß Professor Stanisław Berger, ein sechzigjähriger Guru der Psychotherapie. Schon seit einer halben Stunde lief ein lebhaftes Gespräch zwischen ihm und dem Journalisten, unterbrochen durch die Anrufe der Hörer, Informationen und Werbung. Adam liebte diese Arbeit; im Studio war er in seinem Element, fiel in eine Art Trance, jonglierte mit Argumenten, verzauberte und verführte sein Publikum. Er sprach schnell, genoss seine intelligent klingende und sinnliche Stimme. »Wir sind uns also einig, Herr Professor: Ohne Freunde kann man nicht viel erreichen. Sogar ein gebildeter und kreativer Mensch ist dann machtlos. Ob in der Geschäftswelt, Kunst oder Politik – unser Wert hängt davon ab, wie viele und was für Freunde wir haben.«

Berger beobachtete Adam aufmerksam und mit einem freundlichen Gesichtsausdruck. »Das ist zwar eine Verallgemeinerung, aber in den meisten Fällen ist es tatsächlich so. Eine Ausnahme bilden freilich die Genies.«

»Ja, die Verrückten«, sagte Adam mit ironischem Unterton.

Die Antwort des Professors klang ernst: »Sagen wir eher, freie Menschen, die keine Kompromisse eingehen.«

Adam, der solche Wortgefechte nur ungern verlor, gab keine Antwort. Zu Hilfe kam ihm Janek: »Ein Typ wartet in der Leitung. Er will sich nicht vorstellen, aber seine Stimme klingt seltsam. Vielleicht nehme ich lieber den nächsten?«

»Unser Glück also, dass es nur wenige Genies gibt, sonst wäre das Leben unerträglich«, sagte Adam und wandte sich, ohne Berger die Chance auf eine Replik zu geben, an den Hörer in der Leitung: »Willkommen auf Sendung. Sagen Sie bitte, kommen Sie dank Freunden zurecht oder ohne sie aus? Oder sind Sie vielleicht ein Genie?«

Aus dem Lautsprecher im Studio drang eine heisere Männerstimme, aus der große Anstrengung herauszuhören war: »Ich bin in Schwierigkeiten, ernsten Schwierigkeiten … Hilf mir … Stell keine Fragen … Gib mir deine Handynummer.«

Adam sah Janek überrascht an, dieser breitete die Arme in einer hilflosen Geste aus. Zwei Sekunden lang herrschte Stille, der Tontechniker machte hinter der Glasscheibe eine drehende Handbewegung – das Zeichen dafür, dass das Gespräch weiterlaufen sollte. Berger wartete mit professioneller Ruhe. Durch Adams Kopf schoss der Gedanke, dass der Psychologe hinter dem Anruf stehen könnte.

»Verzeihung, ich erkenne Ihre Stimme nicht«, sagte er in der Hoffnung, dass der Anrufer sich als Spaßvogel entpuppen würde. Gleichzeitig wurde ihm klar, dass er sehr wohl wusste, mit wem er sprach. Er spürte eine Aufwallung von Angst, eine widerliche Ohnmacht in der Gegend um den Solarplexus. Er sah das Gesicht eines Mannes, weiß wie Papier vor dem Hintergrund einer Betonwand, und den zitternden Lauf einer Pistole, unsicher umklammert von einer verschwitzten Hand. Er atmete tief durch, um Ruhe ringend. Er spürte Bergers aufmerksamen Blick.

»Doch, du erkennst sie«, stellte die heisere Stimme fest. »Gibst du mir deine Nummer? Ich habe keine Zeit … Gleich nehmen sie mir das Telefon weg …«

Adam hatte sich wieder im Griff. Er spürte wachsende Irritation. »Sorry, Alter, aber die Sendung hat viele Zuhörer und …«

»Dann wirst du eben die Nummer wechseln. Oder erzähl keine Märchen von Freundschaft, Wierzba.«

Adam versuchte, Zeit zu gewinnen. »Du hast mich überrascht, Piotr. Wir waren zwar mal eine Clique von Freunden, aber wir haben uns seit Jahren nicht gesehen. Ruf bitte nach der Sendung nochmal an. Der Aufnahmetechniker wird dir die Nummer der Zentrale geben.«

Im Studio wurde es still, man konnte nur den ungleichmäßigen Atem des Anrufers hören.

»Hallo?«, sagte Adam in der Hoffnung, dass das Gespräch beendet war.

Berger lächelte. »Ist die Telefonnummer wichtiger als die Freundschaft? Oder ist die Freundschaft wichtiger als die Nummer? Wir leben in einer Zeit, in der diese Frage durchaus einen Sinn ergibt.«

Adam hasste den Professor und seine ganze psychotherapeutische Selbstsicherheit jetzt. »Sechs, null, zwei, zwei, eins, fünf, hunderteins«, sagte er ins Mikrofon. Er war sich dessen bewusst, welche Unvorsichtigkeit er beging. »Bist du nun zufrieden? Gerade habe ich meine Nummer aufgegeben.«

Aus dem Lautsprecher ertönte das Besetztzeichen. Janek verspätete sich um eine Sekunde mit dem Beenden des Gesprächs und korrigierte den Fehler, indem er einen Werbeblock einschaltete. Dann sah er Adam an und tippte sich bedeutungsvoll an die Stirn.

Eine Viertelstunde später traten Adam und Professor Berger aus dem Studio auf den Flur. Hier wartete schon Adams Assistentin, die dreiundzwanzigjährige Beata. Ihr Gesichtsausdruck deutete darauf hin, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, was sie von dem Zwischenfall im Studio halten sollte. »Voll abgefahren, was?«, sagte sie vorsichtig, während sie Adams Reaktion durch die dicken Gläser ihrer Brille prüfte.

Der Journalist verzog das Gesicht und sah Berger an. Gleichzeitig ertönten die Vibration und das Signal einer SMS-Nachricht. Beata holte ein Handy aus der Tasche ihrer Jacke hervor und gab es Adam – er überließ ihr sein Telefon, wenn er die Sendung moderierte. Er warf einen Blick aufs Display und zeigte es Beata mit einem Seufzer.

»Komm in die Klinik an der Banach-Straße. Chirurgie, ITS. Jetzt! Lösch die SMS. Piotr«, las die Assistentin, und ihre Augen glänzten auf. »Nicht schlecht.«

»Piotr Lasota, ein Schulfreund. Ist vor fünfzehn oder sechzehn Jahren in die USA ausgewandert«, erklärte Adam.

»Nimm das Tonbandgerät und fahr hin«, sagte Beata mit aufgeregter Stimme. »ITS bedeutet Intensivstation, der Typ ist also in einem ernsten Zustand. Soll ich mitkommen?«, fügte sie hoffnungsvoll hinzu.

Adam warf Berger einen fragenden Blick zu.

»Ihre Rolle besteht in der Diskussion, nicht in der Intervention«, bemerkte der Psychologe. »Die Bitte um die Telefonnummer ging mit einer Erpressung einher.«

»Sie waren derjenige, der Adam erpresst hat«, rief ihm Beata in Erinnerung. »›Ist die Nummer wichtiger als die Freundschaft?‹ Vielleicht wäre es besser gewesen …«

Adam hielt sie mit einer Handbewegung zurück und sah das Telefon an, in dem die nächste Nachricht vibrierte. Nach einer Sekunde kam die nächste und die nächste …

»Ich habe diese Nummer seit zwölf Jahren.« Er seufzte resigniert.

Die Vibrationen und Signale nahmen kein Ende. Beata nahm das Telefon und begann zu lesen: »›Ich wollte dir schon lange sagen, dass du ein eingebildetes Arsch…‹ Sorry, Adam.« Sie brach verlegen ab. »Das ist wohl von einem Hörer.«

»Der Preis des Erfolgs.« Berger lächelte.

»Ich danke Ihnen vielmals für das Gespräch. Auf Wiedersehen, Herr Professor.« Der Journalist gab dem Psychologen die Hand.

»Auf Wiedersehen. Eine interessante Situation«, sagte der Professor.

Adam verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Das hoffe ich.«

Du aufgeblasener psychotherapeutischer Angeber, fügte er in Gedanken rachsüchtig hinzu und wandte sich an Beata: »Kümmere dich bitte um den Herrn Professor. Lass ihn den Vertrag unterschreiben und so weiter.« Er drehte sich um und ging in Richtung Ausgang. Das Handy, das immer noch vibrierte, versteckte er in der Tasche seiner Lederjacke. Seine Intuition schwieg, sein Gedächtnis arbeitete intensiv, aber erfolglos – weitere Bilder aus der Vergangenheit tauchten nicht auf. Seine Angst ließ nicht nach.

Die Fahrt durch die verstopfte Warschauer Innenstadt dauerte eine Ewigkeit. Die SMS-Nachrichten vibrierten weiter in seinem Smartphone in der Halterung neben der Handbremse. Adam schwor sich zum x-ten Mal, ein Motorrad zu kaufen, trotz der Versprechungen, die er Agata gegeben hatte. Was für einen Sinn hatte es, die Luft zu verschmutzen und im Stau zu stehen mit einem Audi A6 quattro, der in fünf Sekunden hundert Stundenkilometer erreichte? Welcher Teufel hatte ihn geritten, sich zum Testen dieses Wagens überreden zu lassen? Verdammte Eitelkeit.

Er hörte die nervenberuhigende vierzigste Symphonie von Mozart und überlegte, wie viele SMS wohl Sympathie und Unterstützung und wie viele einen Angriff bedeuteten. Es kam ihm in den Sinn, dass das eine gute Gelegenheit wäre, seine Beliebtheit zu testen, aber er gab den Gedanken schnell wieder auf. Er würde all diese Wortkaskaden löschen und die Nummer wechseln.

Nach dem Verlassen des Senders hatte er versucht, Piotr unter seiner Nummer zu erreichen, doch ohne Erfolg. Er hatte gehört, dass der Freund seit einem Jahr wieder in Polen war. Offenbar hatte er keine Zeit gefunden, sich einfach mal zu melden, erst jetzt rief er an, da er Hilfe brauchte und auf der Intensivstation lag.

Adam wusste, dass er ungerecht war – er hatte selbst seit einem Jahr die Entscheidung hinausgezögert, bei der amerikanischen Firma anzurufen, bei der Piotr beschäftigt war. Warum aber hatte seine Stimme eine Panikattacke bei ihm ausgelöst, diese Fetzen von Erinnerungen und Angst? Er wusste darauf keine Antwort. Vielleicht würde die Begegnung mit Piotr sein Gedächtnis beleben und beruhigen? Er kannte den Chefarzt der Chirurgischen Abteilung in diesem Krankenhaus – Professor Haus war auch schon Gast in den Schnellen, wichtigen Gesprächen gewesen.

Seit einiger Zeit fuhr seinem Audi ein schwarzer Van hinterher, dessen Fahrer durch die getönten Scheiben nicht zu sehen war. Er blieb auf Distanz, immer durch ein oder zwei Autos getrennt, doch er wechselte die Spur, wenn der Audi es tat, und er bog in dieselben Straßen ab.

Beide Autos hatten die Strecke zwischen der Jerozolimski-Allee und dem Platz der Verfassung zurückgelegt. Adam bog nach links ab, scherte am Erlöserplatz aus dem Stau aus, beschleunigte auf einer leeren Straße und bremste vor einem Mietshaus. Im Eingangsflur sah er drei Frauen, die rauchten und sich angeregt unterhielten. Eine von ihnen war Agata.

Er sah sie gern an, wenn sie es nicht bemerkte. Sie war groß und schlank und hatte dichtes, kastanienbraunes Haar, ein schmales Gesicht und dunkle, intelligente Augen. Sie sah den Gesprächspartner mit leicht gesenktem Kopf und einem verirrten Funken in den Augen an. Niemand konnte sie überzeugen, wenn sie anderer Meinung war, und niemand konnte ihr böse sein.

»Ihr Charme ist unwiderstehlich«, rechtfertigte sich ihr Chefredakteur vor den Besitzern des Blattes, als sie ihn zum ersten Mal zwang, ihren Text ohne Kürzungen und Korrekturen abzudrucken. Die Sache endete mit einem Prozess, den sie zum Glück gewannen.

Von dem Moment an, in dem Adam sie zum ersten Mal gesehen hatte, über das ganze Jahr, in dem er um ihre Liebe gekämpft hatte, und dann in den achtzehn Jahren ihrer Ehe sah er sie immer mit derselben Bewunderung an, manchmal mit Unruhe. Durch welch ein Wunder hatte ein Mädchen wie sie ausgerechnet ihn gewählt – einen schüchternen, arbeitslosen Absolventen der Polonistik?

An jenem Februarabend, an dem sie, dem kalten Wind von der Weichsel ausgeliefert und von einem Spaziergang durchgefroren, sich an ihn geschmiegt und ihm zugeflüstert hatte, sie sei einverstanden, mit ihm den Rest ihres Lebens zu verbringen, hatte Adam das Gefühl, klüger und stärker zu sein, als er je vermutet hätte. Seitdem gab es keine Hindernisse, die er nicht überwinden konnte, vor allem nach Rafałs Geburt. Wenn seine Zuversicht oder Energie nachließen, waren es Agatas Ruhe und Optimismus, die das Chaos und seine Angst vor der Welt minderten. Alles, was er erreicht hatte, verdankte er ihrer Liebe.

Eine der Frauen berührte Agatas Arm und zeigte mit dem Kinn auf Adams Wagen. Agata drehte sich überrascht um, lächelte und drückte ruhig ihre Zigarette im Aschenbecher am Eingang aus. Sie verabschiedete sich von den beiden Frauen und kam auf den Audi zu. Nachdem sie eingestiegen war, beugte sie sich vor und küsste ihren Mann auf die Wange. »Du hast mich erwischt.«

Adam roch den Duft von Nikotin. Er drückte mit einem Finger der linken Hand den Knopf an der Tür, die Fensterscheibe fuhr geräuschlos hinunter. Agata tat so, als würde sie seine Demonstration nicht bemerken, und schnallte sich an.

»Guten Tag, Liebling. Verzeih, dass du warten musstest«, sagte er. Er wollte sich jetzt nicht über ihr Versprechen unterhalten, das Rauchen aufzugeben. Der Gedanke an Piotrs Anruf kehrte in Form von Unruhe und Druck im Magen zurück.

»Du wirst mich doch nicht bei Rafał verpetzen?« Agata sah ihn aufmerksam an. »Okay? Ich habe heute nicht auf dich gehört, zu viel Arbeit.«

»Ist schon gut.« Adam legte den Gang ein und fädelte sich in den Straßenverkehr ein. Seinem immer schneller fahrenden Audi folgte der schwarze Van. Sein Telefon vibrierte weiter und empfing immer neue SMS-Nachrichten. »Ein alter Bekannter hat mich gezwungen, ihm während der Sendung meine Nummer zu nennen. Die Hörer können sich jetzt austoben«, sagte Adam, Agatas Frage zuvorkommend.

»Wirst du die Nummer wechseln? Bist du deswegen so angespannt?«

Adam nickte, drehte am Lenkrad und fuhr in die Ujazdowski-Allee ein. Im Rückspiegel sah er den hinter ihm abbiegenden schwarzen Van. Er hatte den Eindruck, diesen Wagen schon zum zweiten, vielleicht sogar dritten Mal zu sehen.

Agata zeigte ihm die Titelseite des Blattes, bei dem sie arbeitete, einer politischen Wochenzeitung: Die Anführer der wichtigsten Parteien standen auf einer Londoner Straße, in Arbeitskleidung und mit der Ausrüstung von Klempnern. Die Überschrift der Fotomontage lautete: Und wann reisen sie aus? Adam lächelte.

»Super! Deine Idee?«

»Nur der Text, nicht der ganze Entwurf.«

»Du hast vorgeschlagen, dass sie ausreisen? Alle?«

»Etwas in der Art. Mein Text ist eine genaue Analyse des Einflusses der Politiker auf den Staat in den letzten zwanzig Jahren. Schädliche Gesetze, allgegenwärtige Bürokratie, Zerstören von Unternehmen, Schwachstellen in Wissenschaft und Bildung, fehlende Strategien gegen Armut, Korruption und so weiter. Du weißt schon, es ist das, woran ich drei Wochen lang mit den Wirtschaftsexperten von der Zentralen Handelsschule gearbeitet habe. Das meiste habe ich von ihnen. Doch die zwei Millionen jungen Polen, die im Exil leben, sprechen schließlich auch für sich.«

»Wie willst du das bei deinem Chef durchbringen?«

»Wie immer.« Sie lächelte und versteckte den Cover-Entwurf in ihrer Tasche. »Er hat mir angedroht, dass ich diesmal alle Prozesse selbst bezahlen werde – gegen das Parlament, die Kanzlei des Premierministers und die Kanzlei des Präsidenten.«

»Wir schaffen das schon«, nickte Adam.

Agata legte die Hand auf seinen Oberschenkel und den Kopf an seine Schulter. Der Geruch ihrer Haare und ihrer Haut löste bei ihm einen Druck in der Brust aus. Er hatte Lust, die Augen zu schließen und aufzuhören zu existieren, genauso wie in den Momenten, in denen sie sich liebten. Einen Augenblick lang fuhren sie schweigend, erfasst von dem Gefühl der Nähe.

»Rafał hat wieder von Großbritannien gesprochen.«

Adam verzog das Gesicht. Agata sprach trotzdem weiter: »Er hat im Internet eine Schule gefunden, dort angerufen und sich nach den Bedingungen erkundigt. Sie sollen ihm ihr Angebot und ein Vertragsformular schicken. Eine Schule in Nordschottland, mit Internat. Prinz Charles gehört zu den Absolventen. Er hat unsere Einkünfte zusammengerechnet und gesagt, wir könnten es uns leisten.«

»Prinz Charles?«

Agata seufzte. »Rafał wird langsam erwachsen. Er wird mir sehr fehlen.«

»Moment mal«, protestierte Adam, »wir haben ja noch nichts entschieden.«

Er schielte zu Agatas Gesicht hinunter, das an seiner Schulter lehnte. An den trotzig zusammengekniffenen Augen erkannte er, dass seine Proteste nichts bringen würden.

»Ich kann mir schon denken, wie viel sie uns für diese Schule berechnen. Und für Prinz Charles. Danach ein Studium in London, nehme ich an?«

»Du hast wohl nicht die Absicht, diesen Wagen zu kaufen?«, fragte Agata plötzlich.

Adam schüttelte missbilligend den Kopf – diese Frage war eindeutig unter der Gürtellinie. »Das ist nur ein Testwagen. Ich habe es dir schon erklärt: Sie geben ihn bekannten Leuten zum Ausprobieren.«

Agata streckte den Arm aus und berührte zärtlich seine Wange. »Ein bisschen schneller, du bekannter Mann. Ich habe eine Menge Arbeit.«

»Du hast leicht reden.« Adam beschleunigte. Ohne daran zu denken, dass er damit das Zerkratzen der Karosserie riskierte, drängte er sich zwischen einen anfahrenden Bus und einen Lieferwagen. Der Busfahrer drückte auf die Hupe und drohte ihm mit der Faust. Direkt hinter seinem Audi sprang der schwarze Van in die schmale Lücke hinein. Beide Autos fuhren hinab in Richtung Stadtautobahn, die zu einer Brücke über die Weichsel führte.

Der schwarze Van blieb am Ende der Straße stehen; von hier war der vor der Siedlungseinfahrt stehende Audi gut zu sehen.

Agata nahm den Gurt ab und sah ihren Mann fragend an.

»Ich muss noch arbeiten. Bin in zwei Stunden wieder da«, sagte Adam. Er wollte ihr nicht von der Angst erzählen, die er von dem Moment an empfand, in dem er Piotrs Stimme erkannt hatte. Wie sollte er sie auch erklären? Mit einem Albtraum in seinem Unterbewusstsein? Agatas aufmerksamer Blick aber sagte ihm, dass er sie nicht belügen sollte.

»Denkst du an Rafałs Spiel?«, fragte sie.

»Klar, das schaffe ich schon. Ich rede auch mit ihm, vielleicht gelingt es mir, ihm dieses Schottland auszureden. Denn was würden wir ohne ihn tun?«

Agata küsste ihn auf die Wange. »Verwechsle die Rollen nicht. Ich bin die leidende Mutter, du bist der strenge Vater. Bis dann. Hau ab.«

Adam verfolgte sie mit den Augen. Agata wackelte kurz mit den Hüften, löste ihr hochgestecktes Haar, drehte sich um, warf ihm einen verführerischen Blick zu und bog lächelnd in Richtung Eingang ab. Sie wollte ihn sichtlich dazu ermuntern, seine Pläne zu ändern. Er unterdrückte den Impuls, den Wagen zu parken und ihr ins Haus zu folgen – sie hätten einige Stunden für sich, bevor Rafał zurückkam. Er seufzte resigniert und fuhr los. Die Strecke bis zur nächsten Kreuzung legte er schnell zurück und bog mit quietschenden Reifen ab. Der schwarze Van fuhr scharf an, passierte die Umzäunung der Siedlung und folgte ihm.

Die verglaste, halb übermalte Tür im dritten Stock der Klinik war verschlossen. An der Wand hing eine Tafel mit der Aufschrift »Innenchirurgie – Intensivstation«. Aus der Gegensprechanlage kam eine weibliche Stimme: »Ja bitte?«

Adam beugte sich näher ans Mikrofon. »Mein Name ist Adam Wierzbicki. Hier liegt ein Bekannter von mir. Er hat mich gebeten, ihn dringend persönlich zu kontaktieren.«

»Name?«

»Piotr Lasota.«

Einen Moment lang herrschte Stille. Dann hörte er eine männliche Stimme, die von weitem, vermutlich zu der Krankenschwester, sagte: »Gestern eingeliefert, schwere Verletzungen, halb totgeprügelt.«

»Bitte.«

Als das Summen des Schlosses ertönte, spürte Adam plötzlich, dass er sich umdrehen und weggehen sollte. Wieder hörte er die Stimme der Krankenschwester, die schon ziemlich ungeduldig klang: »Kommen Sie nun herein oder nicht? Und haben Sie die Überschuhe an?«

»Habe ich.«

»Bitte.«

Ein erneutes Summen. Adam drückte gegen die Tür. In der Mitte des Flurs stand die Krankenschwester mit einem weißen Kittel in der Hand. »Sie müssen das anziehen. Hallo! Hören Sie mich?«

»Ja, Entschuldigung.« Er ging auf die Frau zu und nahm ihr den Kittel ab. »Ich bin ein Bekannter von Professor Haus.«

Diese Information machte auf die Krankenschwester nicht den geringsten Eindruck. »Fünf Minuten, nicht länger. Der Patient ist in einem sehr schlechten Zustand, man darf ihn nicht anstrengen. Und er hat schon einen Besucher. Dort ist der Saal.« Sie zeigte auf eine große Glasscheibe seitlich des Flurs, drehte sich um und verschwand im Bereitschaftsraum.

Adam ging auf die Glasscheibe zu. Aus dem Krankensaal kam ein kräftig gebauter Mann und nahm den weißen Kittel ab, unter dem er eine schwarze Lederjacke trug. Adam sah, dass einer der Patienten von seinem Bett auf den Fußboden gerutscht war und nun ratlos herumzappelte, indem er mit den Kabeln und Röhrchen kämpfte, die um seinen Hals gewickelt waren.

Es ertönte ein unterbrochenes Alarmsignal. Die Tür des Bereitschaftsraums ging auf, und die Krankenschwester erschien; aus dem nächsten Zimmer kam der diensthabende Arzt. Beiden liefen in Richtung des Krankensaals.

Adam und der Mann in der Lederjacke betrachteten den Raum durch die Glasscheibe. Der Arzt und die Krankenschwester wickelten schnell die Kabel auseinander, die dem Patienten die Luftzufuhr abschnitten, hoben ihn mühsam hoch und legten ihn aufs Bett. Die Krankenschwester legte ihm die Sauerstoffmaske wieder an, der Arzt überprüfte die Arbeit der Monitore. Der Mann in der Lederjacke zog einen kleinen Fotoapparat hervor und knipste ein paar Bilder. Das Blitzlicht der Kamera weckte die Aufmerksamkeit des Arztes, der auf den Flur herauskam. »Was tun Sie da? Und was ist hier passiert?«, fragte er in scharfem Ton und zeigte auf den Saal.

Der Mann steckte ruhig die Kamera ein. »Er fing an, sich auf dem Bett herumzuwerfen, und fiel hinunter. Ich versuchte, ihm zu helfen.«

»Sie hätten ihn töten können! Man darf weder die Patienten anfassen noch die Apparatur berühren!«

Der Mann hob die Hände in einer versöhnlichen Geste und sah dem Arzt lächelnd in die Augen. »Sorry, Doktor, ich tue es nie wieder. Es war nur ein menschlicher Reflex.«

Der Arzt unterdrückte seine Irritation und richtete den Blick auf Adam. »Und zu wem wollen Sie?«

»Ich wurde von Piotr Lasota herbestellt.«

»Nicht heute. Ende der Besuchszeit.«

»Ich bin Journalist und ein Bekannter von Herrn Lasota. Ich habe die Absicht, über seinen Fall zu berichten. Hat das Krankenhaus die Polizei gerufen?«

Der Arzt musterte Adam unzufrieden. »Ja, sie waren schon da. Der Patient weiß nicht, von wem oder warum er angegriffen wurde. Das ist alles. Bitte.« Er zeigte auf den Ausgang.

In der Tür der Intensivstation erschien die Krankenschwerster und wandte sich an Adam: »Herr Lasota möchte Sie sehen.«

Der Arzt verzog missbilligend das Gesicht. »Zwei Minuten. Die Apparatur darf nicht berührt werden. Und Sie lassen den Patienten nicht aus den Augen«, sagte er zu der Krankenschwester. »Wenn irgendwas ist, rufen Sie den Sicherheitsdienst.«

»Ja, Herr Doktor.«

Der Arzt drehte sich um und ging in sein Zimmer. Adam betrat den Saal. Der Mann in der Lederjacke blieb hinter der Glasscheibe neben der Krankenschwester stehen.

Zwei Patienten, beide im Koma versunken, atmeten schwer durch ihre Sauerstoffmasken. Die grünen Linien der Diagramme auf den Monitoren verfolgten die Arbeit ihrer Herzen. Adam ging auf das mittlere Bett mit dem dritten Patienten zu.

Er erkannte Piotr trotz der bläulichen Schwellungen im Gesicht und der dicken Augen. Sein Gesicht, sein Brustkorb sowie je ein Arm und eine Hand waren verbunden, sein vergipstes Bein war mit dünnen Metallbändern am Bettrahmen aufgehängt. Unter dem Laken hingen Kabel und Röhrchen hinunter, aus den Plastiksäckchen über seinem Kopf tröpfelten irgendwelche Substanzen. Seine Augen, die Adam über die Sauerstoffmaske hinweg ansahen, glänzten vor Fieber. Adam beugte sich über das Bett. Piotr hob mit der gesunden Hand den Rand der Sauerstoffmaske hoch und flüsterte mit abbrechender Stimme: »Heb das auf … Sei vorsichtig … Sag es niemandem.«

Seine Hand ließ die Sauerstoffmaske los und wanderte die Bettkante entlang. Adam spürte eine Berührung, senkte den Blick und sah das Pappkärtchen eines U-Bahn-Fahrscheins. Er schielte in Richtung Flur – hinter der Glasscheibe sah er den Mann in der Lederjacke, der ihn anstarrte. Er richtete sich auf, versteckte den Fahrschein in seiner Tasche und fragte leise: »Was ist das? Wer hat dich zusammengeschlagen? Wer ist der Typ hinter der Scheibe?«

Piotr atmete schwer, ohne den Blick von Adams Gesicht abzuwenden. Nach einer Weile schloss er die Augen. Adam wartete, nicht sicher, ob er bleiben oder weggehen sollte. Plötzlich hörte er das Klacken hoher Absätze, drehte sich um – und erstarrte.

Den Saal betrat eine Frau in weißem Kittel, den sie über einem locker sitzenden Kleid und einem Blazer trug. Sie war etwas über vierzig, wirkte aber jünger. Ihr starkes Make-up und der Duft ihres Parfüms passten nicht zu diesem Ort. Sie nickte Adam zu und blieb an Piotrs Bett stehen. Ihre Haut unter dem Make-up war blass, ihre Augen waren voller Tränen. Sie beugte sich vor, ergriff Piotrs Hand und drückte sie an ihre Lippen. Piotr öffnete die Augen und lächelte.

»Lass uns allein«, sagte die Frau leise. »Warte draußen. Bitte.«

Adam nickte, drehte sich um und verließ den Saal. Der Flur hinter der Glasscheibe war leer, der Mann in der Lederjacke war verschwunden.

Nach etwa fünfzehn Minuten ging die Tür der Intensivstation auf, und die Frau, die Piotr besucht hatte, kam heraus. Sie wirkte aufgeregt, ihre Augen waren gerötet. Ohne Adam anzusehen, zog sie eine Zigarette aus einer Schachtel Marlboro.

»Hier darf man nicht rauchen«, sagte der Journalist.

Sie sah ihn geistesabwesend an und setzte sich schwerfällig auf eine Holzbank an der Wand, die Zigarette in der Hand. »Ich bin nicht mehr mit Karol zusammen«, sagte sie mit einer abwehrenden Geste, als wollte sie einer Beschuldigung zuvorkommen.

»Das wusste ich nicht.«

»Ich fürchte, dass er es war«, flüsterte sie.

Adam spürte wieder einen Anflug von Angst. »Du denkst wohl nicht, dass Piotr von Karol so zusammengeschlagen wurde?«, fragte er vorsichtig.

»Oder von jemandem, den er beauftragt hatte.«

Adam war verwirrt. Es konnte doch unmöglich Karol sein. Sie kannten sich seit siebenundzwanzig Jahren, hatten seit der ersten Gymnasialklasse eine unzertrennliche Clique gebildet. Anna wurde Karols Frau, nachdem Piotr ausgereist war.

»Hat Karol von euch gewusst? Euch gedroht?«

»Hör auf.« Anna holte tief Luft, als hätte sie Schwierigkeiten mit dem Atmen. »Du hast gesehen, wie Piotr aussieht … Es ist furchtbar.«

Sie schwiegen. Adam spürte, dass der Albtraum aus seinem Unterbewusstsein langsam begann, Wirklichkeit zu werden. Und dass er seit langem darauf gewartet hatte. Anna saß kraftlos da, mit gesenktem Kopf.

»Soll ich dir etwas zu trinken holen?«, fragte er, um die Stille zu unterbrechen.

Sie schüttelte den Kopf.

»Wer ist dieser Kerl?«

»Welcher?«

»Der in der schwarzen Lederjacke. Er stand vor dem Saal, als du kamst.«

»Ich habe ihn nicht bemerkt.«

»Er war bei Piotr und wollte ihm wohl etwas …«

»Was?«, unterbrach ihn Anna gereizt. »Ich will nichts von irgendeinem Kerl hören, hör auf.«

Es hatte keinen Sinn, dieses Gespräch fortzusetzen.

»Ruf mich an, wenn du dich beruhigt hast. Ich kann versuchen, mit Karol zu reden, aber dazu muss ich mehr wissen. Mach’s gut.«

»Entschuldige bitte. Das ist zu viel für mich.« Anna hielt sich eine Hand vor den Mund, die Tränen zurückhaltend. »Wozu hat Piotr dich hergeholt?«

»Ich habe keine Ahnung. Wie lange geht das schon? Euer Verhältnis?«

Er bemerkte, dass Anna überlegte, was sie antworten sollte. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und fing an, eine Nummer zu wählen. »Geh jetzt«, sagte sie ungeduldig. »Entschuldige mich.«

Adam unterdrückte einen Anflug von Zorn. Mit welchem Recht hatte sie sich zwischen zwei Freunde gestellt, indem sie den einen betrog und den anderen in Gefahr gebracht hatte? Er drehte sich um, betrat den Fahrstuhl, den einige plaudernde Krankenschwestern verlassen hatten, und drückte auf Erdgeschoss. Er tastete mit den Fingern nach dem U-Bahn-Schein in seiner Tasche. Ein Stockwerk tiefer stieg der Mann in der schwarzen Lederjacke zu. Er wartete ab, bis die Fahrstuhltür zugegangen war, und sah Adam an. »Wozu hat Lasota dich herbestellt?«

Adam spürte eine Kältewelle und einen Druck im Solarplexus. Die Augen des Mannes waren ruhig, doch seine Gesichtsmuskeln wirkten angespannt. »Ich verstehe Ihre Frage nicht?«

»Tu nicht so. Er hat dich im Sender angerufen.«

»Wer sind Sie?« Adam versuchte, seiner Stimme einen harten Klang zu geben.

»Falls Lasota dir etwas gegeben hat, muss ich es haben.« Der Mann griff nach den Fahrstuhlknöpfen und drückte auf Stopp.

»Das darf doch nicht wahr sein!«

Adams Angst verwandelte sich in Zorn. Er streckte die Hand in Richtung Fahrstuhlknöpfe aus. Der Mann ergriff sein Handgelenk, mit der anderen Hand packte er ihn am Adamsapfel und stieß ihn gegen die Wand. Adams Hand und sein Hals waren vor Schmerz wie betäubt, er bekam keine Luft, war nicht imstande, sich zu bewegen. Der Mann durchsuchte mit der freien Hand die Taschen seiner Jacke. Adam sammelte seine schwindenden Kräfte und trat ihm mit dem Knie zwischen die Beine. Der Mann blockte mit einem Bein den Tritt ab und verpasste Adam zwei blitzschnelle Schläge mit der Handkante, einen auf den Nasenansatz und einen auf den Kehlkopf; der dritte Schlag traf seinen Unterleib. Adam verlor langsam die Orientierung, ihm wurde schwarz vor Augen. Er sank an der Fahrstuhlwand hinunter und setzte sich auf den Boden. Von weitem hörte er ein Klopfen und eine verärgerte Stimme, die nach dem Fahrstuhl verlangte.

Der Mann zog Adams Brieftasche aus dessen Jacke, sah sie durch und warf sie auf den Boden. Daneben landete der Inhalt der Jackentaschen: ein Päckchen Taschentücher, eine Schachtel Tic-Tac-Dragées und ein U-Bahn-Ticket. Dann sah er Adam aus nächster Nähe in die Augen. »Willst du auf dem Bett neben Lasota landen? Hör auf, dich hier herumzutreiben.«

Der Fahrstuhl fuhr nach unten und blieb im Erdgeschoss stehen. Die Tür ging auf, und der Mann drängte sich hastig zwischen den wartenden Personen hindurch und bog in Richtung Ausgang ab.

Adam holte mühsam Luft durch die schmerzende Kehle. Ein Arzt in weißem Kittel betrat den Fahrstuhl; er beugte sich über ihn und ergriff sein Handgelenk. »Geht’s Ihnen nicht gut?«

Adam war nicht imstande, ihm zu antworten. Er bückte sich langsam, hob den U-Bahn-Schein auf und schob ihn in seine Tasche.

Agata betrat schnellen Schrittes das Behandlungszimmer. Adam lag auf einer Liege, er hatte einen Verband um die Nase und war sehr blass. Neben ihm, auf einem Stuhl, saß ein Mann Mitte dreißig, dunkles Haar und dunkle Haut, mit Notizblock und Kugelschreiber. Agata gefiel sein Gesichtsausdruck nicht. Ehrgeizig und aggressiv, beschrieb sie ihn in Gedanken. Sie setzte sich zu Adam auf die Liege und nahm seine Hand. »Was ist passiert? Wie fühlst du dich?«, fragte sie.

»Nichts Ernstes. Eine kleine Auseinandersetzung«, antwortete er, heiser knarzend durch den schmerzenden Hals. Er lächelte beruhigend und drückte ihre Hand.

Der Mann erhob sich und streckte Agata seine Hand entgegen. »Guten Tag. Ich bin Kommissar Marcos. Ihr Mann wurde in einem Fahrstuhl überfallen und verprügelt.«

»Verprügelt? Hier, im Krankenhaus?«

Marcos breitete die Arme aus. »Ich versuche gerade herauszufinden, was genau passiert ist, aber wir haben Verständigungsschwierigkeiten.«

»Wieso?«

Agata sah Adam fragend an. Sie verstanden sich sofort und ohne Worte – aus irgendeinem Grund wollte er mit diesem Polizisten nicht sprechen. Marcos beobachtete die beiden aufmerksam. »Ihr Mann verbirgt etwas vor mir.«

»Ich habe nichts hinzuzufügen.« Adam setzte sich auf und fasste sich stöhnend an den Kopf.

»Wie Sie wünschen. Hier ist meine Telefonnummer.« Er holte seine Visitenkarte hervor. »Warten Sie bitte auf die Vorladung.«

»Weswegen? Ich habe es Ihnen doch gesagt, es war vermutlich ein Bekannter von Piotr«, sagte Adam.

Marcos schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich habe Herrn Lasota schon gefragt. Er kennt diesen Mann nicht.«

»Warum wurde er dann auf der Intensivstation hereingelassen?«

»Ähnlich wie Sie.«

»Aber ich überfalle keine Menschen.« Adams Irritation wuchs.

Marcos zuckte die Achseln. »Das Krankenhauspersonal ist nicht die Polizei. Und Herr Lasota hatte keinen Personenschutz, weil er nur das Opfer eines Überfalls ist.«

»Nur das Opfer eines Überfalls?!« Adam griff sich an den Hals und bekam einen Hustenanfall.

»Reg dich nicht auf.« Agata legte die Hand auf seine Schulter.

»Als ich auf die Intensivstation kam, lag Piotr Lasota neben seinem Bett und erstickte fast an einem Tropfkabel«, fuhr Adam fort. »Das war die Arbeit dieses Kerls. Vielleicht wird die Polizei jetzt über den Personenschutz für ihn nachdenken?«

Marcos sah ihn aufmerksam an. »Sagen Sie mir bitte, was der Angreifer von Ihnen wollte. Das ist wichtig für die Ermittlungen.«

»Ich habe keinen blassen Schimmer! Wie oft soll ich das noch wiederholen?«

Marcos schüttelte ungläubig den Kopf und sah in seinem Notizblock nach. »Piotr Lasota ist Direktor der polnischen Niederlassung eines amerikanischen Investmentfonds, er wohnt im Marriott Hotel. Er hat auch ein Haus außerhalb der Stadt gemietet, in Konstancin. Aus seinem Pass geht hervor, dass er seit einem Jahr in Polen lebt, aber immer wieder nach New York fliegt. Wozu hat er Sie ins Krankenhaus bestellt?«

Adam ließ die Beine von der Liege hinunter und rückte seine Kleidung zurecht. Agata nahm seine Jacke von einer Stuhllehne.

»Ich habe Ihnen eine Frage gestellt«, insistierte Marcos.

Adam zog seine Jacke an. Magen und Hals taten ihm weh. Er sagte in irritiertem Ton: »Sie verdächtigen mich, an dem Ganzen beteiligt gewesen zu sein? Soll ich meinen Anwalt anrufen? Ich sage Ihnen was: Ich habe mich mit meinem Komplizen um die Beute gestritten. Lasota versteckt den Tresor, den wir ausgeraubt haben, unter seinem Bett. Und ich habe die Kohle in meinen Hosenbeinen aus der Intensivstation geschafft und sie hinter dem Klo auf der Männertoilette versteckt. Ich komme in der Nacht zurück, um sie zu holen. Passt Ihnen diese Version?«

Marcos klappte seinen Notizblock zu.

»Machen Sie sich lieber auf die Suche nach dem Täter«, fuhr Adam fort. »Fangen Sie mit den Überwachungskameras an. Ist dieser Gedanke schon mal in Ihrem Polizistenkopf aufgetaucht?«

»Adam«, warf Agata mit einer weichen Stimme ein.

»Sorry, Liebling, aber Piotr ist in Gefahr, ich wurde überfallen, und der Herr Kommissar vergeudet seine Zeit mit merkwürdigen Fragen.«

Agata warf einen Blick auf Marcos’ Gesicht und spürte plötzlich eine Unruhe. Der Polizist sah Adam mit einer Grimasse des Hasses an – als würde er sich nur mühsam beherrschen können, ihm keinen Schlag zu verpassen. Marcos bemerkte den Blick der Frau und nahm sich zusammen. »Wir bleiben in Verbindung. Sollten Sie sich entscheiden, doch mehr zu sagen, rufen Sie mich bitte an.«

Adam antwortete nicht, sondern stieß die Tür auf und betrat den nächsten Raum. Bei seinem Anblick erhob sich der diensthabende Arzt. »Ich möchte Sie noch eine Weile zur Beobachtung hierbehalten.«

»Danke, Herr Doktor, aber dieser Ort ist mir zu gefährlich«, gab Adam zurück und verließ das Behandlungszimmer. Agata nickte dem Arzt mit einem entschuldigenden Lächeln zu und folgte ihrem Mann.

Zwei Sekunden später klingelte das Telefon des Arztes, der sofort den Hörer abhob: »Behandlungszimmer.« Er hörte einige Sekunden lang zu. »Der Mann, der im Fahrstuhl verprügelt wurde, ist gerade gegangen. Gut, ich warte.« Er legte auf und sah Marcos fragend an. »Das war die Polizei … Sie werden gleich da sein.«

»Gut. Meine Leute werden nur noch die Spuren sichern. Auf Wiedersehen, Herr Doktor«, sagte Marcos, steckte seinen Notizblock ein, ging hinaus und machte die Tür hinter sich zu.

Der Arzt sah die Krankenschwester verwundert an. »Was für Spuren? Er hat doch nur eins auf die Rübe gekriegt.«

Agata lief neben Adam über den langen Krankenhausflur, an Patienten und Personal vorbei. Adam sah sich um, doch er konnte nirgendwo den Mann entdecken, der ihn im Fahrstuhl überfallen hatte.

»Sagst du mir, worum es geht?«, fragte Agata.

»Nicht hier.«

Sie verließen das Krankenhaus. Agata setzte sich ans Steuer des Audis. Sie erreichten die Schranke der Ausfahrt. Agata stieg aus, um fürs Parken zu bezahlen. Adam sah in den Seitenspiegel. Nach einer Weile bemerkte er, dass vor dem Krankenhaus ein schwarzer Van mit getönten Scheiben losfuhr. Jetzt war er sich sicher – er hatte den Wagen schon mehrmals gesehen. Er wandte sich an Agata, die wieder eingestiegen war: »Versuch, möglichst schnell wegzufahren. Der Typ, der mich verfolgt, schafft es nicht, den Parkschein zu lösen. Reg dich nicht auf. Es sind wohl Leute vom Geheimdienst. Sie haben Piotr im Visier.«

Agata warf einen Blick in den Rückspiegel. »Der schwarze Van?«

Adam nickte. Ihre Ruhe imponierte ihm.

»Schnall dich an«, sagte sie.

Adam griff nach dem Gurt; er spürte immer noch einen Schmerz in den Rippen. Agata schob den Parkschein in den Schlitz des Automaten, und die Schranke ging auf. Die plötzliche Beschleunigung des losfahrenden Wagens presste Adam in den Sitz hinein. Die Zentrifugalkraft warf ihn in einer scharfen Kurve so stark zur Seite, dass er nur mit Mühe die Gurtklammer in die Halterung schieben konnte.

Agata fuhr mit quietschenden Reifen in die Kreuzung an der Hauptstraße, kurz bevor die Ampel auf Rot umschaltete. Ein Passant sprang zurück und drohte ihnen mit der Faust. Agata beschleunigte erneut, legte die Entfernung bis zur nächsten Kreuzung in wenigen Sekunden zurück und bog wieder scharf ab.

Adam warf einen Blick nach hinten. Der schwarze Van fuhr gerade aus dem Parkplatz hinaus.

»Versteck dich, schnell!«

Agata gelang es, den Audi nach dem letzten Manöver zu stabilisieren. Der Van tauchte noch nicht an der Kreuzung auf.

»Jetzt!«

Sie bremste, fuhr in eine Haltebucht hinein und parkte blitzschnell hinter einem Lieferwagen. Nach einigen Sekunden raste der Van mit hoher Geschwindigkeit an ihnen vorbei.

»Uff, vielleicht solltest du diesen Wagen doch kaufen.« Agatas Wangen waren gerötet, ihre Augen glänzten vor Aufregung. »Aber jetzt sagst du mir, was hier gespielt wird.«

Adam lächelte, zog den U-Bahn-Schein aus der Tasche und hielt ihn sich direkt vor die Augen. Über dem schwarzen Magnetstreifen sah er eine Reihe kleiner Ziffern und Buchstaben. Kein Wunder, dass der Angreifer aus dem Fahrstuhl sie nicht bemerkt hatte. Er reichte Agata den Fahrschein. »Ohne ein Vergrößerungsglas werden wir es nicht lesen können«, sagte er.

»Was ist das? Irgendeine Chiffre? Hat Piotr dir das gegeben?«, fragte sie überrascht.

»Ja, aber ich habe keine Ahnung, worum es geht. Er war nicht imstande zu sprechen, hatte hohes Fieber. Er bat mich nur nachdrücklich, das aufzuheben.«

»Denkst du, dass der Kerl im Fahrstuhl danach suchte?«

Adam nickte. »Ich bin mir sicher.«

»Was macht Piotr wirklich?«

»Ich weiß es nicht, im Ernst.«

Agata verzog ungläubig das Gesicht.

»Hör auf, ich würde es doch vor dir nicht verbergen«, sagte Adam. »Piotr und ich hatten lange keinen Kontakt zueinander. Er ist vor Jahren weggegangen, in den Staaten antwortete er auf E-Mails nur selten, dann verstummte er ganz.«

»Eine seltsame Geschichte.«

Adam nickte. Er überlegte einen Moment, ob er ihr von den mit Angstattacken verbundenen Träumen erzählen sollte, die ihn in der Vergangenheit geplagt hatten. Er verstand sie aber selbst nicht, hatte also kein Recht, ihr damit Angst einzujagen.

»Lass uns umkehren, wir sind falsch abgebogen«, sagte er und nahm den U-Bahn-Schein aus Agatas Fingern. »Übrigens, du fährst wie Schumacher. Ich vergöttere dich.«

»Versprich mir, dass du keine Dummheiten machst.«

Adam nickte mit einem gehorsamen Gesichtsausdruck. Agata rückte näher und küsste ihn auf die Wange. »Ich nehme einen anderen Weg.« Sie legte den Gang ein und fuhr los.

Der Audi kam langsam hinter dem Lieferwagen hervor. Der schwarze Van war verschwunden. Agata ließ einige Autos vorbei, dann wechselte sie schnell auf die linke Spur und bog in eine Seitenstraße ab.

Durch das Vergrößerungsglas war die Reihe von Ziffern und Buchstaben deutlicher zu sehen: »I. Vorname – 2, 4, 3, 2, 1, 6, 3, 3; II. Nachname – 1, 3, 2, 4, 3, 5, 1, 3, 5, 4; III. Spitzname – 1, 2, 4, 5, 6, 3, 1, 1.«

Es war später Abend, über dem Schreibtisch brannte eine tief gestellte Lampe. Adam las die Aufschrift auf dem Fahrschein zu Ende und schob die Lupe weg. Er sah Agata fragend an, die auf der Lehne seines Sessels saß.

»Ruf Piotr an, vielleicht ist er schon in der Lage zu reden«, schlug sie vor.

»Sein Telefon könnte abgehört werden.«

»Dann warten wir, bis er aus dem Krankenhaus entlassen wird. Er hat bestimmt einen Plan.«

»Du hast recht.« Adam legte die Lupe wieder an den Fahrschein. »Den würde ich gern knacken. Vorname, Nachname, Spitzname … Piotr, Lasota, Fuchs. Und weiter?«

Er nahm einen Kugelschreiber vom Schreibtisch und begann, den Code auf einen Zettel zu schreiben. Agata näherte die Lippen an sein Ohr und flüsterte: »Ich habe eine andere Idee.« Sie berührte den Verband an seiner Nase. »Schaffst du es? Es reicht, wenn du brav auf dem Rücken liegen bleibst. Tut es weh?«

Adam schüttelte den Kopf. Er spürte einen Anflug von Begehren, streckte die Hand aus und zog Agata an sich heran. Da erklang eine junge Stimme: »Geheimnisse?«

Beide drehten sich um. In der Tür stand Rafał, ein sechzehnjähriger, schlanker Junge mit Agatas Augen. Adam fiel sein Versprechen plötzlich wieder ein, und er schämte sich. »Sorry … Ich habe dein Spiel nicht vergessen. Mir ist leider etwas dazwischengekommen, ich habe es nicht geschafft.«

Rafał winkte resigniert ab. »Vier zu null. Ein Massaker. Ich habe zwei Tore reingelassen. Es ist besser, dass du es nicht gesehen hast. Was ist mit deiner Nase?«

»Mama hat scharf gebremst, und ich war nicht angeschnallt«, log Adam.

»Wirst du diesen angeberischen Schlitten wirklich kaufen? Er schluckt Benzin wie ein Drache, und du verpestest die Umwelt«, verkündete Rafał. Er bemerkte den Fahrschein und die Lupe in Adams Hand, kam näher und warf einen Blick auf den Zettel auf dem Schreibtisch. »Was ist das?«

»Ich habe vor, das herauszufinden«, antwortete Adam.

»Irgendein Code?«

»Nicht zu viele Fragen? Lass den Vater arbeiten«, sagte Agata und stand von der Sessellehne auf. »Was möchtest du zum Abendessen?«

Rafał lehnte sich rückwärts gegen den Schreibtisch und sah seine Eltern ernst an: »Was ist mit Schottland? Oder wollt ihr, dass ich mein Leben lang in Polen eingesperrt bleibe?«

»In Polen gibt es auch Schulen, nach denen man an einer guten Universität studieren kann. Überall in der Welt«, sagte Adam.

Rafał verzog das Gesicht. »Solche wie deine?«

»Hey, das war nicht fair«, protestierte Agata. »Dein Vater hat Abitur gemacht, als es mit dem Kommunismus zu Ende ging. Er hatte keine Chance, im Ausland zu studieren. Man musste Eltern haben, die der Nomenklatur angehörten. Oder der Partei beitreten. Das weißt du doch.«

»Genau davon spreche ich«, sagte Rafał versöhnlich und ging in Richtung Tür. »Heute sage ich nichts mehr. Aber morgen zeige ich euch das Angebot der Schule. Wir rechnen eure Einkünfte zusammen und treffen eine Entscheidung, okay?«

Agata biss sich auf die Lippen, um beim Anblick von Adams Gesichtsausdruck nicht zu lachen.

»Okay«, sagte Adam und sah Agata an. »Von wem hat er bloß diesen Charakter? In meiner Familie waren alle ruhig.«

»Aber nicht ehrgeizig genug«, wandte Rafał ein und schloss die Tür.

Über den Himmel zogen bleierne Wolken, jenseits der Reichweite der Straßenlaternen herrschte Dunkelheit. Auch die Wohnung im vierten Stock eines gepflegten Mietshauses lag im Dunklen, nur in den beiden Eckfenstern brannte Licht, und man konnte eine hin und her gehende Gestalt sehen.

Der Mann, der am Steuer des schwarzen Vans saß, nahm den Zigarettenanzünder aus der Verkleidung unterhalb des Armaturenbretts heraus und hielt den glühenden Teil an die Zigarette, die in seinem Mund steckte. Er sog den Rauch ein, fasste an den Griff an seinem Sitz und verstellte die Rückenlehne. Er rückte den Kopfhörer in seinem Ohr zurecht und sah auf die Uhr. Es war kurz vor Mitternacht.

An der Wand des Mietshauses stand ein zweiter Mann und hantierte am offenen Telefonkasten herum. Zwei dünne Kabel hingen aus dem Kasten heraus und verschwanden in einer Plastikschachtel, die er in der Hand hielt.

Adam lief mit dem Festnetztelefon in seinem Arbeitszimmer herum. »Nur eine Frage, das wird ihn bestimmt nicht zu sehr anstrengen.« Er hörte sich die Antwort unzufrieden an. »Ich weiß, dass es Mitternacht ist, aber es ist sehr wichtig. Wie bitte? Ich habe den Zwischenfall provoziert? Das ist wohl ein Scherz? Bitte unterbrechen Sie mich nicht! Die Polizei kann dem Patienten nicht verbieten, Kontakt zu … Hallo?!«

Adam schaltete das Telefon aus und warf es auf den Schreibtisch. Dann blieb er vor dem Fenster stehen und sah kurz sein Spiegelbild an. Er rieb unwillkürlich an seinem Hals, verzog vor Schmerz das Gesicht, drehte sich vom Fenster weg und ging zum Schreibtisch zurück. Er zog ein Notizbuch aus der Schublade, fand darin eine Telefonnummer und griff wieder nach dem Hörer.

Die leise Musik wurde vom Klingeln des Telefons übertönt. Die Einrichtung des Zimmers, die aus Kommode, Frisiertisch und Schrank in antikem Stil bestand, ergänzte ein kleiner Glastisch. An den Wänden hingen moderne Grafiken, in den Fenstern Vorhänge mit dezentem Blumenmuster. Dem kleinen Salon war eine weibliche Hand anzumerken.

Der Mann, Anfang vierzig, der im Schlafzimmer auf dem Bett saß, war schlank und mittelgroß. Die breiten Schultern und die muskulösen Arme zeugten von seiner physischen Kraft, der starke Umriss des Kiefers und die hohe Stirn sagten viel über seinen Charakter aus. Er hatte helle, tiefliegende Augen, ihr sanfter Ausdruck bildete einen überraschenden Kontrast zu der Stärke und Entschlossenheit, die er ausstrahlte. Er sah aus wie jemand, der Wissenschaftler oder Künstler hätte werden sollen, doch infolge einer falschen Wahl oder einer Notwendigkeit Soldat geworden ist.

Der Telefonanruf unterbrach ihn beim Lesen. Er sah auf das Display der Radiouhr. Die grünen Ziffern zeigten Viertel nach zwölf an. Er legte das Buch mit dem englischen Titel Bluebird weg, stellte per Fernbedienung die Musik leiser und nahm den Hörer ab. »Karol Siennicki, ich höre«, sagte er mit ruhiger Stimme, gefasst auf eine Nachricht, die eine schlaflose Nacht bedeuten könnte.

Adam wusste nicht mehr, wann er das letzte Mal mit Karol gesprochen hatte, wahrscheinlich vor über einem Jahr. Er konnte auch nicht sagen, warum ihre Freundschaft abzuklingen begann. Irgendetwas ließ sie einander vermissen und gleichzeitig einen inneren Widerstand gegen den Kontakt zum anderen empfinden. Möglich, dass dieselbe Angst der Grund war, die Adam im Studio nach Piotrs Anruf empfunden hatte. Keiner von ihnen hätte erklären können, warum diese Freundschaft unklare und eher schlechte Assoziationen weckte.

»Hallo, ich bin es. Nicht zu spät?«

Karol schwieg eine Weile. »Hallo, Adam. Ich höre.«

»Ich habe Piotr gesehen.«

»Wann? Wo?«

»In der Klinik an der Banach-Straße. Er ist brutal zusammengeschlagen worden.«

»Zusammengeschlagen? Von wem? Was hat er dir gesagt?« Karols Stimme klang überrascht.

»Nicht viel. Er liegt auf der Intensivstation, es sieht nicht gut aus. Ich habe darum gebeten, dass er Polizeischutz bekommt, aber angeblich steht ihm der nicht zu.«

»Ich erledige das. Ist er bei Bewusstsein?«

»Ja, aber er hat Fieber, kann kaum sprechen.«

»Welche Intensivstation?«

»Innere Chirurgie.«

»Ich gebe dir Bescheid, wenn ich etwas erfahre. Noch etwas?«

»Ja.« Adam hielt kurz inne. »Anna ist dort aufgetaucht.«

Karol schwieg.

»Ich wusste nicht, dass ihr nicht mehr zusammen seid.«

»Ja, wir leben getrennt.«

»Aha.« Adam zögerte. Er brachte es nicht fertig, Karol zu fragen, ob er Piotr zusammengeschlagen hatte. Oder noch schlimmer: jemanden damit beauftragt hatte.

»Ist das alles?«

»Dort war noch irgend so ein Kerl. Er versuchte, etwas aus Piotr herauszuquetschen, er warf ihn vom Bett hinunter. Wirkte wie ein Profikiller.«

Diesmal kam Karols Antwort sofort: »Hast du die Polizei gerufen?«

»Das Krankenhaus hat sie geholt. Ein Kommissar hat auch mit mir gesprochen.«

»Von welcher Polizeistation?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Noch etwas?«, fragte Karol.

»Nein, mach’s gut.«

Adam betrachtete das U-Bahn-Ticket auf seinem Schreibtisch. Er hatte vorgehabt, Karol auch davon zu erzählen, doch etwas hielt ihn plötzlich zurück. »Ruf mich an, wenn du etwas erfahren hast. Tut mir leid wegen Anna.«

»Mach’s gut, Adam.«

Karol legte den Telefonhörer auf den Tisch, griff nach dem daneben liegenden Smartphone und wählte eine Nummer. »Sie haben Lasota geschnappt«, sagte er. »Er liegt in der Klinik an der Banach-Straße, auf der IST der Inneren Chirurgie. Alle in Alarmbereitschaft, die ganze Gruppe. Wir haben keine Zeit, wir müssen alles aus ihm herauspressen.«

Er steckte das Smartphone in seine Tasche und nahm von der Stuhllehne einen Gürtel mit Pistolenhalfter, aus dem der schwarze Knauf einer Glock herausschaute. Er legte den Gürtel so an, dass das Halfter sich unter seinem Arm befand. Er ging in Richtung Tür, nahm im Flur seine Jacke vom Garderobenständer und zog sie an.

Der schwarze Van blinkte mit den Scheinwerfern. Der zweite Mann trennte die Kabel vom Telefonkasten, schloss ihn, versteckte die Plastikschachtel in seiner Jackentasche und lief über den Rasen auf den Metallzaun zu. Er kletterte geschickt auf einen Betonpfosten, sprang auf den Gehsteig hinunter, überquerte die Fahrbahn und stieg in den Van. Der Wagen fuhr sofort los.

»Du hast es ihm nicht gesagt.« Agatas Stimme hatte Adam erschreckt.

Er drehte sich überrascht vom Schreibtisch weg. »Was denn?«

Agata war barfuß und trug ein kurzes Bauwollnachthemd. Sie kam näher und schmiegte sich mit dem ganzen Körper an ihn. Die Berührung ihrer Brüste und ihres Bauchs rief eine Welle der Erregung in ihm hervor.

»Das ist nicht fair«, wehrte er sich schwach, gleichzeitig ihre Taille umarmend. »Komm her.« Er stand auf und versuchte, sie in Richtung Tür zu ziehen.

Agata hielt ihn zurück, indem sie die Hand gegen seine Brust presste. »Du bist kein investigativer Journalist, und du hast eine deutliche Warnung bekommen. Versprich mir, dass du Karol von dem Überfall und dem Code auf dem Fahrschein erzählst.«

»Mache ich.« Adam fing an, ihren Hals zu küssen.

»Ruf ihn jetzt an.«

»Ich habe seine Handynummer nicht. Er hat ständig eine neue. Ich habe ihn auf dem Festnetz angerufen, doch er sagte, er müsse gleich weg. Komm her.«

Er küsste sie auf den Mund. Agata erwiderte den Kuss und flüsterte durch die halb geöffneten Lippen: »Versuch du nur, nicht anzurufen.«

»Ich hasse dich«, flüsterte Adam zurück.

Er ergriff Agatas Hand und zog sie aus dem Arbeitszimmer.

Rafał lag im Bett, in den Kopfhörern an seinen Ohren sang seine Lieblingsgruppe – die Bee Gees. Er hatte seinen silbernen Mac auf die Bettdecke gelegt und fegte jetzt mit sechs Fingern über die Tastatur. Im oberen Teil des Bildschirms war eine Reihe von Ziffern und Buchstaben zu sehen: »I. Vorname – 2, 4, 3, 2, 1, 6, 3, 3; II. Nachname – 1, 3, 2, 4, 3, 5, 1, 3, 5, 4; III. Spitzname – 1, 2, 4, 5, 6, 3, 1, 1.« Darunter erschienen immer neue Code-Kombinationen mit hinzugefügten Links aus dem Internet, Fotos und Facebook-Kontakten.

Rafał arbeitete konzentriert, leise vor sich hin summend. Er war sich sicher, dass seinem Vater entgangen war, dass er den Fahrschein auch mit seinem iPhone fotografiert hatte.

Stayin’ aaalive, falsettierte munter der Leader der Gruppe, Robin Gibb.

Anna betrat das dunkle Kinderzimmer, setzte sich neben das Bett und rüttelte sanft an der Schulter eines auf der Seite schlafenden zehnjährigen Mädchens. »Wach auf, Liebling. Natalia, wach bitte auf.«

Die Kleine drehte sich um und öffnete die verschlafenen Augen. »Mama.«

»Zieh dich an, okay?« Anna schob eine helle Haarsträhne aus ihrem Gesicht.

»Warum?« Natalias Stimme klang schon um einiges wacher. Sie stützte sich an den Ellbogen auf.

Anna war sich dessen bewusst, welchen Stress die Tochter wegen der Trennung von ihrem Vater durchlebte. »Verzeih mir bitte, wir müssen verreisen. Ziehst du dich jetzt bitte an? Ich helfe dir.«

Natalia setzte sich brav auf und hob die Arme. Sie hatte sich an die überraschenden Ideen ihrer Mutter gewöhnt. Anna zog ihr das Nachthemd über den Kopf und griff nach ihrer Kleidung. »Wohin fahren wir? Zurück zu Papa?«, fragte das Kind unter dem Kleid hervor.

Anna fühlte sich wieder schuldig. »Nein, Liebling, noch nicht.«

Sie rückte Natalias Kleid zurecht, packte die Tochter unter den Achseln und stellte sie aufs Bett. Das Mädchen umarmte Annas Hals und flüsterte ihr ins Ohr: »Versprich mir, dass ihr euch versöhnt. Du und Papa.«

Anna presste ihre Lippen an Natalias Kopf. Sie spürte einen Druck in der Brust und dachte, dass in dem Spruch von dem brechenden Herzen ein Körnchen Wahrheit stecke.

Der Saal der Intensivstation war nachts noch dunkler; nur die Lämpchen der Monitore erleuchteten den Raum. Karol stand hinter der Glasscheibe, neben einem jungen Arzt. Beide sahen Piotr an.

»Jetzt kann ich nichts tun«, sagte der Arzt. »Er hat Dormicum bekommen, wacht erst in etwa vier Stunden auf. Und er wird ziemlich benebelt sein.«

»Ich nehme an, es gibt eine Methode, das Aufwachen zu beschleunigen?«

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Zu gefährlich. Kommen Sie morgen früh wieder.«

Karol spürte, dass seine Ungeduld wuchs. Er vertrug Situationen schlecht, die er nicht unter Kontrolle hatte. »Nun ja, Sie sind für das Leben des Patienten verantwortlich. Wir sichern also das Krankenhaus, und ich sehe Sie um fünf.« Er gab dem Arzt die Hand, drehte sich um und verließ die Intensivstation.

Der Arzt wartete ab, bis Karol die Tür hinter sich geschlossen hatte, dann betrat er den Saal und ging auf das mittlere Bett zu. Er überprüfte die Angaben des Monitors, beugte sich über Piotr und rüttelte leicht an seiner Schulter. »Hören Sie mich?«

Piotr öffnete die Augen, er war bei Bewusstsein.

»Wir bringen Sie von hier weg«, sagte der Arzt. »Machen Sie sich keine Sorgen, alles wird gut.«

Es war Samstag, sieben Uhr morgens. Der Anblick der leeren, nebelumhüllten Straßen bewirkte, dass Adam sich plötzlich entfremdet und einsam fühlte. Auf dem Weg zum Krankenhaus hielt er vor einem Zeitungskiosk und sah die neueste Presse durch. Nirgendwo fand er eine Notiz über den Überfall auf den Direktor der Firma East Fund. Auch kein Radiosender hatte darüber berichtet. Er parkte den Audi neben dem Krankenhaus, stieg aus und ging auf den Eingang zu.

Er hatte immer noch Agata vor Augen – im Halbdunkel des Morgengrauens, müde vom Sex, mit dem ganzen Körper an ihn geschmiegt, das Gesicht an seiner Wange. Sie murmelte etwas im Schlaf, als er sein Bein von ihrem Schenkel befreite, ihren Arm wegschob und das Kissen unter ihren Kopf legte. Er sah die Schlafende an und hatte zum tausendsten Mal das Gefühl, keinen schöneren Anblick zu kennen.

Die Haupteingangstür fuhr geräuschlos auseinander. Adam ging am Behandlungszimmer vorbei und steuerte auf den Fahrstuhl zu. Er stieg im dritten Stock aus, blieb an der Glastür der Intensivstation stehen und drückte auf den daneben befindlichen Knopf. Er war entschlossen, sich die Erlaubnis, mit Piotr zu sprechen, bei Professor Haus zu holen.

»Adam Wierzbicki zu Professor Haus«, sagte er in die Gegensprechanlage. Er hörte ein Summen und drückte die Tür auf. Beim Hineingehen stieß er fast mit Haus zusammen. Der Professor streckte ihm die Hand entgegen und machte ein bekümmertes Gesicht. »Guten Morgen. Man hat mir gesagt, dass Sie gestern auf meiner Station überfallen wurden. Das ist unerhört! Wo ist das passiert?«

»Im Fahrstuhl.«