Die Kleine Heuchlerin - Barbara Cartland - E-Book

Die Kleine Heuchlerin E-Book

Barbara Cartland

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Beschreibung

In Schottland im Jahre 1750, nur vier Jahre nachdem der Stuart-Prinz Charles die Clans zum Aufstand aufrief, ist es schwer zu ahnen, wessen Loyalität den Engländern gehört und wer den Stuarts treu bleibt. Und die schöne siebzehnjährige Jona hat die gefährliche Mission herauszufinden, ob der Duke von Arkrae, Schottlands mächtigstes Clanoberhaupt, ein Verräter ist – oder mit den Engländern unter einer Decke steckt. Der Plan ist, dass Jona das Vertrauen des Dukes erlangen soll, indem sie sich als seine längst totgeglaubte Schwester ausgibt. Als alle um sie herum ihre Behauptung bezweifeln, fällt es Jona schwer die Nerven zu behalten. Aber ihre angeborene Klugheit und ihr Geist verlassen sie nicht – aber fast im selben Augenblick indem sie den Duke zum ersten Mal trifft, ist es ihr Herz, das sie im Stick lässt. Sie hat sich verliebt…Doch kann der Duke sich in jemanden verlieben, der geschickt wurde ihn in eine Falle zu locken?

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Seitenzahl: 479

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Die Kleine Heuchlerin

Barbara Cartland

Barbara Cartland E-Books Ltd.

Vorliegende Ausgabe ©2021

Copyright Cartland Promotions 1950

 

Gestaltung M-Y Books

www.m-ybooks.co.uk

I

»Bonjour Mademoiselle, Sie sehen entzückend aus!«

Die Augen aufmerksam zu Boden gerichtet, ging Jona die schmutzige, mit Kopfsteinpflaster bedeckte Straße entlang. Beim Klang der fremden Stimme blieb sie stehen und blickte auf.

Vor ihr stand ein Gentleman und versperrte ihr den Weg. Seine Kleidung entsprach dem letzten Schrei, doch weder die elegante Aufmachung noch das mit Schminke und Rouge sorgfältig zurechtgemachte Gesicht konnten darüber hinwegtäuschen, daß der Mann nicht mehr der Jüngste war.

Aber wenn der betagte Stutzer auch sein Alter zu ignorieren wünschte, so gab er sich doch keine Mühe, den Ausdruck der Lüsternheit in seinen Augen und das erwartungsvolle Lächeln der schmalen, knallrot gefärbten Lippen zu verbergen.

Jona richtete sich kerzengerade auf, und mit einer Stimme, die ihre ganze Verachtung ausdrückte, erwiderte sie auf Französisch: »Ich wünsche nicht, von Ihnen belästigt zu werden. Bitte lassen Sie mich vorbei!«

Stolz warf sie den Kopf in den Nacken, und das Licht des sterbenden Tages enthüllte die makellose Reinheit ihrer weißen Haut, die großen ausdrucksvollen Augen und die ungewöhnliche Schönheit ihrer Züge, die vorher von der pelzgefütterten Kapuze ihres Umhangs verdeckt gewesen waren.

Das Lächeln des Gecken wurde breiter. Voller Eifer trat er einen Schritt näher. Er hatte sich also nicht geirrt. Im Gegenteil, er hatte eine ungewöhnliche Entdeckung gemacht. Die plötzliche Bewegung des Mannes ließ Jona zurückweichen.

 Dabei verspürte sie eigentlich keine Furcht. Seit ihrer Kindheit war sie es gewohnt, allein durch Paris zu gehen. Und oft genug war sie von jenen alternden Kavalieren angesprochen worden, die ein Mädchen, das sich ohne Begleitung auf der Straße zeigte, für leichte Beute hielten.

Für gewöhnlich gelang es ihr mit ein paar Worten, sich dieser Männer zu erwehren, aber an diesem Abend befand sie sich in einem Teil der Stadt, der ihr fremd war und in dem eine Frau wie sie wohl stets mit unliebsamen Überraschungen rechnen mußte.

Mit einem raschen Blick sah sie sich nach einem geeigneten Fluchtweg um. Es war nicht einfach, die richtige Entscheidung zu treffen. Die Gasse war eng, und in der Mitte der Fahrbahn hatten die Regenfälle der letzten Stunden einen regelrechten Bach gebildet. Auf dem gelblich braunen Wasser schwammen Abfälle und Küchenreste, die die Bewohner der mehrstöckigen, halb verfallenen Häuser einfach auf die Straße zu werfen pflegten.

Es mochte möglich sein, die breite Rinne zu überqueren. Aber die Steine waren naß und schlüpfrig, und es bestand die Gefahr, daß sie ausrutschte und hinfiel. Darauf aber wollte sie es nicht ankommen lassen.

Nein, es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihrem Bedränger voller Entschlossenheit entgegenzutreten: Sie zog den dunklen Umhang fester um die Schultern und sagte klar und bestimmt: »Ich bin in einer Sache von größter Wichtigkeit unterwegs, Monsieur. Seien Sie so freundlich, und geben Sie mir sofort den Weg frei!«

Vielleicht war es der Ton ihrer Stimme, vielleicht die hochmütige Art, in der sie den Kopf hielt, oder der Ausdruck äußerster Verachtung in ihren Augen, die dem Dandy klarmachten, daß er bei ihr keine Chance haben würde. Schon schien er gewillt, von ihr abzulassen, als er ganz plötzlich seinen Entschluß änderte.

»Wenn Sie schon keine Zeit für mich haben, mein schönes Fräulein«, sagte er, »dann erlauben Sie mir wenigstens, Ihre Lippen zu küssen, bevor Sie mich verlassen.«

Seine Stimme klang bittend, aber sie verriet ein solches Maß an Begehrlichkeit, daß Jona erschreckt zusammenfuhr. Aus einem Impuls heraus gab sie dem Mann, der ihr den Weg versperrte, einen Stoß und lag Sekunden später in seinen Armen.

Seine Hände, an deren Fingern schwere, mit Brillanten besetzte Ringe funkelten, besaßen eine erstaunliche Kraft. Jona wehrte sich, verzweifelt, mußte aber erkennen, daß sie gegen den Galan nicht ankam. Seine Lüsternheit verlieh ihm die Stärke der Jugend, die er längst verloren hatte.

Und dann, in ihrer äußersten Not, gebrauchte sie die Worte in ihrer Muttersprache.

 »Hilfe! Hilfe!« rief sie auf Englisch.

Schon spürte sie den heißen Atem des Lüstlings an ihrer Wange, sah die Gier, die in seinen dunklen Augen brannte, fühlte, wie er ihre Schulter umfaßte und an sich preßte. Panische Angst ergriff sie.

Die Knie drohten unter ihr nachzugeben, und schwarze Nebel wogten vor ihren Augen. Doch in der Sekunde, als sie fürchtete, das Bewußtsein zu verlieren, kam unerwartet Hilfe.

Ein Schatten tauchte aus der Dunkelheit auf, und ehe Jona sich klar wurde über das, was da vorging, war sie frei. Die Rettung erfolgte mit einer solchen Plötzlichkeit, daß sie taumelte und fast zu Boden gestürzt wäre.

Es gelang ihr, sich zu fangen, und überrascht stellte sie fest, daß der Wüstling sich nun in der Gewalt eines anderen befand. Ihr Befreier war ein hochgewachsener Mann, in dessen Händen sich der alte Stutzer wie ein Zwerg ausnahm.

»Dieser Bursche hat Sie belästigt, Mademoiselle?« fragte der Fremde.

Jonas Antwort war nur ein Flüstern.

Der alte Lüstling zuckte unter den Händen des Fremden wie eine Ratte in den Krallen einer Katze.

»Laß mich, Kanaille, laß mich los!« schrie er mit überschnappender Stimme. 

Er war genauso hilflos und wehrlos wie Jona noch vor wenigen Sekunden. Sein Schrei, in dem sich Wut und Angst mischten, gellte durch die enge Gasse, als der Hüne ihn mit der einen Hand am Rockkragen, mit der anderen am Hosenboden packte und in hohem Bogen in den Rinnstein katapultierte. Gelbbraunes Wasser spritzte auf, als Jonas Bedränger mit einem klatschenden Geräusch, die weißbestrumpften Beine in der Luft, hinterrücks in der schlammigen Brühe landete.

Sein Gesicht war zu einer wütenden Grimasse verzerrt, die Perücke saß verrutscht auf dem kahlen Schädel, und Jona spürte einen Lachreiz in ihrer Kehle aufsteigen. Doch dann wurde ihr bewußt, in welcher Gefahr sie geschwebt hatte. Ihr Herz klopfte immer noch wie rasend, und sie  zitterte an allen Gliedern.

Sie wandte sich ihrem Erretter zu.

 »Ich danke Ihnen, Sir«, sagte sie, und dann erst fiel ihr auf, daß sie Englisch gesprochen hatte.

Die Antwort folgte in derselben Sprache.

»Ich bin froh, daß ich Ihnen von Nutzen sein konnte, Mademoiselle.«

Die Worte klangen förmlich und auch der Stimme fehlte jede Wärme. Jona hatte das Gefühl, als habe der Mann ihre Gegenwart bereits vergessen, obwohl er soeben noch mit ihr gesprochen hatte.

Sie hob den Blick und schaute ihm ins Gesicht. Sie spürte seine Ungeduld. Er schien es eilig zu haben. Jetzt, nachdem er ihr von Nutzen gewesen war, wie er sich ausgedrückt hatte, drängte es ihn weiterzukommen.

Aber trotz des Eindrucks der Eile, den er erweckte, machte er keine Anstalten, sich zu entfernen und im Dunkel der Gasse unterzutauchen. Unbeweglich stand er vor ihr. Den Dreispitz tief in die Augen gezogen, blickte er ruhig auf sie nieder. Jona fand keine Erklärung für das eigenartige Verhalten ihres Befreiers. Eine seltsame Beklommenheit hatte sie erfaßt. Etwas Rätselhaftes, Geheimnisvolles umgab den Fremden.

Er war ein gutaussehender Mann, vielleicht der schönste, den sie jemals gesehen hatte. Aber in seiner Haltung und vor allem in den scharfgeschnittenen Zügen seines markanten Gesichtes drückte sich eine derartige Distanziertheit und Kälte aus, daß die Worte des Dankes, die Jona ihm sagen wollte, ihr buchstäblich auf den Lippen erstarben. Irgendwie hegte sie die Befürchtung, daß die Worte falsch klingen oder fehl am Platze sein könnten. Die spürbare Atmosphäre von Autorität, die er um sich verbreitete, erzeugte in Jona eine Art von Schuldbewußtsein, weil sie seine Hilfe überhaupt hatte in Anspruch nehmen müssen.

Seine Kleidung war einfach. So einfach, daß Jona davon überzeugt war, er hätte sie für einen ganz besonderen Anlaß ausgewählt. Außerdem trug er keinerlei Schmuck; und auch dieser Umstand schien beabsichtigt zu sein. Jona hatte ihn nur eine Sekunde lang angesehen, und doch glaubte sie, schon vieles über ihn zu wissen. Vor allem spürte sie, daß er sie zum Gehen drängte. Und unter dem Zwang einer ebenso unverständlichen wie unwiderstehlichen Gewalt gehorchte sie.

Sie machte einen Knicks, er verneigte sich schweigend. Dann eilte sie die Straße hinunter, ohne dem liebestollen Dandy, der sich soeben schimpfend und fluchend aus dem Morast des Rinnsteins erhob, noch einen Blick zu gönnen.

Jona lief so rasch, daß sie nach kurzer Zeit atemlos ihr Ziel erreichte.

Sie ergriff den Türklopfer, wartete jedoch mit dem Klopfen, bis sie wieder zu Atem gekommen war. Zum ersten Mal blickte sie sich um und sah eine andere Straße, die genau so eng, düster und schmutzig war wie diejenige, die sie vor wenigen Minuten verlassen hatte.

Jona betätigte den Türklopfer. Fast im selben Augenblick wurde ihr geöffnet, so, als hätte jemand hinter der Tür gestanden und auf ihr Kommen gewartet. Kaum hatte sie die Schwelle überschritten, wurde die Tür hinter ihr wieder geschlossen. Jona hörte das Geräusch eines hastig vorgeschobenen Riegels.

 Sie blieb stehen. Undurchdringliche Dunkelheit umgab sie, dann ertönte eine schnaufende Stimme: »Hier entlang, Mademoiselle!«

Vor ihr öffnete sich eine Tür, und eine breite Lichtbahn fiel in den dunklen Flur. In der Mitte des Raumes brannten auf einem Tisch vier Kerzen. Sechs Männer saßen um den Tisch, und als Jona blinzelnd das Zimmer betrat, erhoben sich zwei der Anwesenden aus ihren Sesseln. Einer wich in die Schatten des hinteren Teil des Raumes zurück, während der andere auf sie zukam.

Mit einem erleichterten Lächeln erkannte sie sein freundliches Gesicht.

 »Hier bin ich, Colonel«, sagte sie einfach.

»Ich wußte, Sie würden uns finden«, erwiderte er.

Er war ein großer Mann, sein gerötetes Gesicht strahlte Freundlichkeit und Wohlwollen aus. Es lag etwas ungemein Beruhigendes in der Art, wie er Jona mit einem festen, warmen Händedruck begrüßte, und sie spürte, wie alle Ängste und Befürchtungen der letzten Tage mit einem Mal von ihr abfielen. 

Nächtelang hatte sie vor Sorgen und Unruhe nicht schlafen können, und tagsüber hatte die Furcht vor dem eigenen Unvermögen sie verfolgt. Doch jetzt, da sie dem Colonel gegenüberstand und ihm in die gutmütigen Augen schaute, schien es keine Probleme mehr zu geben. Das, was ihr bis vor wenigen Minuten noch völlig phantastisch und unmöglich vorgekommen war, hielt sie nun für vernünftig und durchführbar.

Unwillkürlich holte sie tief Luft, hob die Hände und schlug die Kapuze zurück. Mit ein paar raschen Bewegungen ordnete sie das schwere, rotblonde Haar, das im Schein der Kerzen schimmerte wie dunkles Gold.

Colonel Brett wandte sich den Herren am Tisch zu.

»Gentlemen«, sagte er lächelnd, »dies ist die Lady, von der ich sprach.«

Die vier Gentlemen erhoben sich und verbeugten sich in Jonas Richtung. Jona sah die scharfen, prüfenden Blicke, mit denen die Männer sie musterten. Aber bevor sie noch die Zeit fand, sich darüber zu beunruhigen, ergriff der Colonel ihren Arm, zog sie zum Tisch und rückte ihr einen Stuhl zurecht.

»Nehmen Sie Platz, meine Liebe«, forderte er sie freundlich auf. »Möchten Sie Wein oder Kaffee?«

»Kaffee, bitte«, erwiderte Jona.

Das Gewünschte wurde gebracht, sie führte die Tasse zum Mund und nahm einen Schluck des wohltuend heißen Getränks. Während sie trank, blickte sie sich im Raum um.

Mit Colonel Brett saßen fünf Männer am Tisch. Ein Stuhl war leer. Es war der Armstuhl am Kopfende des Tisches. Im Hintergrund, den Arm auf den Kaminsims gestützt, stand der sechste Mann, der sich bei ihrem Eintritt erhoben und aus dem Lichtkreis der Kerzen zurückgezogen hätte.

Sie sah nur die dunklen Umrisse seiner hochgewachsenen, schlanken Gestalt. Aber an seiner angespannten Haltung erkannte sie, daß er die Tischrunde aufmerksam beobachtete und daß ihm kein Wort entging.

Die Männer am Tisch schätzte Jona auf fünfundvierzig oder älter, und ein Blick genügte ihr, zu erkennen, daß es sich bei ihnen um Schotten handelte. Um Schotten im Exil, wie ihr verstorbener Vormund.

Ganz unvermittelt überkam sie ein heftiges Gefühl des Heimwehs, eine Sehnsucht nach längst vergangenen Tagen. Es war die Vertrautheit dieser Szene, die sie anrührte. Der dunkle, vom Schein der brennenden Kerzen nur spärlich erhellte Raum, die halbleeren Weingläser auf dem Tisch, die vom Tabakrauch schwere Luft. Wie gut erinnerte sie sich an die gedämpften Stimmen, die sorgsam verschlossenen Fenster, den Diener, der draußen vor der Tür Posten bezogen hatte. Ja, nichts von alledem war ihrem Gedächtnis entfallen. Sie dachte an die langen, nicht enden wollenden Gespräche, die oft bis in die frühen Morgenstunden dauerten, an das erbitterte Für und Wider der Argumente, an die unablässigen Auseinandersetzungen, an die Traurigkeit der Menschen, die kaum noch eine Hoffnung hatten.

Wie sehr hatte ihr all das gefehlt. Jetzt erst erkannte sie, wie lang die beiden letzten Jahre für sie gewesen waren und in welch schrecklicher Einsamkeit sie diese Zeit verbracht hatte. Tief in Gedanken versunken, saß sie still und reglos in dem hochlehnigen Sessel, aber dann spürte sie die durchdringenden Blicke der Männer, und eine erwartungsvolle Erregung erfüllte sie. Sie hob die Augen.

Die tiefe, ruhige Stimme des Colonel erfüllte den Raum.

»Jona«, begann er, »ich habe diese Gentlemen von Ihrem Kommen unterrichtet. Sie wissen, um was es geht. Aber ich zog es vor, mit der Erörterung der Einzelheiten bis zu Ihrer Ankunft zu warten. Doch bevor wir uns der Sache zuwenden, die uns allen so sehr am Herzen liegt, möchte ich eine Frage an Sie richten. Sollten Sie inzwischen Ihre Meinung geändert haben oder zu der Überzeugung gelangt sein, daß unser Auftrag zu schwierig für Sie ist, bitte, sagen Sie es. Sie brauchen keine Angst zu haben. Wir werden Ihre Entscheidung akzeptieren - ein jeder von uns.«

Zustimmendes Gemurmel ertönte, aber Jona schwieg. Sie senkte lediglich den Blick. Die langen dunklen Wimpern schienen die bleichen Wangen zu berühren.

»Well, Gentlemen«, fuhr Colonel Brett fort. »Sie alle erinnern sich noch an James Drummond. Er war einer der unseren. Ein Mann, der unsere ganze Liebe und unser ganzes Vertrauen besaß. Er kämpfte im Jahre fünfzehn mit außerordentlicher Tapferkeit für den Chevalier von St. George und wurde zu lebenslänglicher Verbannung verurteilt. James Drummond ist vor zwei Jahren gestorben. Ich weilte oft als Gast in seinem Haus und weiß, was Schottland ihm bedeutete. Er starb, wie er lebte. Seine ganze Sorge galt dem König, und noch auf dem Sterbebett kannte er nur den einen Wunsch, die baldige Rückkehr Seiner Majestät auf den Thron Schottlands. Bei James Drummond lebte sein Mündel Jona, die Sie nun in unserer Mitte sehen. Er nahm sie bei sich auf, als sie noch ein Baby war. Er war ihr Vormund, ohne mit ihr verwandt zu sein. Überhaupt gibt es nicht die geringsten Anhaltspunkte über Jonas Herkunft und Familie. Fest steht lediglich, daß sie schottischer Abstammung ist und daß, obwohl sie nie in Schottland lebte, unsere Heimat auch die ihre ist.«

Colonel Brett machte eine Pause und blickte auf Jona.

»Ist es so, meine Liebe?« fragte er.

Jona vermochte nur zu nicken. Denn die Erwähnung des Vormunds brachte ihr die Schwere des Verlustes, der sie getroffen hatte, allzu deutlich in Erinnerung. Einen kurzen Moment lang hob sie die Augen, in denen Tränen standen, dann blickte sie wieder vor sich auf die gefalteten Hände.

»Das ist Jonas Vergangenheit«, fuhr Colonel Brett in seinen Darlegungen fort. »Nun zum zweiten Teil meiner Geschichte, Gentlemen. Vor einigen Wochen kam Father Allan MacDonald, der Feldkaplan des Clanranalds Regiment zu Falkirk, mit einer seltsamen Story zu mir. Ein französischer Priester, mit dem er Freundschaft geschlossen hatte, besuchte ihn eines Abends und bat ihn um den priesterlichen Beistand für ein sterbendes Gemeindemitglied, das seine letzte Beichte ablegen wollte. Father MacDonald erfuhr dann, daß besagtes Gemeindemitglied schottischer Nationalität war. Der Pfarrgeistliche, der unsere Sprache nur bruchstückhaft beherrscht, bat ihn um Hilfe, da er sich mit der alten Schottin nur schwer verständigen konnte. Father MacDonald folgte dem Abbé zu einem armseligen, halb verfallenen Haus. Dort fand er eine Greisin, die mit fast übermenschlicher Anstrengung gegen den Tod ankämpfte, dem sie sich nicht eher ergeben wollte, bis sie vor einem Priester ihr Gewissen erleichtert und ihm ihre Geschichte erzählt hatte. Ihre Freude, als sie Father MacDonald sah, war groß, und sie eröffnete ihm, sie sei Jeannie MacLeod, das ehemalige Kindermädchen der Tochter des Duke von Arkrae.«

Obwohl keiner der Anwesenden es wagte, den Colonel zu unterbrechen, schwieg dieser sekundenlang.

Dann sprach er weiter.

»Siebzehn Jahre zuvor, Anno Domini 1733, überquerten der Duke und die Duchess von Arkrae mit ihrer Familie den Kanal, um auf Einladung Kaiser Karls nach Wien zu reisen. Bei ihrer Rückkehr auf der Privatjacht des Duke gerieten sie in einen fürchterlichen Sturm. An diesem Punkt ihrer Geschichte schien Jeannie MacLeod, wie Father MacDonalds sagte, ein wenig verwirrt. Ihre Erzählung wurde unzusammenhängend und unklar. Verständlich, wenn man bedenkt, daß sie im Aufruhr der Elemente vor lauter Angst und Panik den Kopf verlor. Jedenfalls so viel steht fest: Jeannie liebte zu dieser Zeit den Kammerdiener des Duke und war überglücklich, daß sie sich, erwacht aus ihrer Ohnmacht, in einem Rettungsboot wiederfand. Die Ruder bediente jener Kammerdiener, und in den Armen hielt Jeannie ihren Schützling, die kleine, rothaarige Tochter des Duke.«

Colonel Brett räusperte sich und nahm einen Schluck Wein. Mit einem beschwörenden Unterton in der Stimme fuhr er fort: »Aber ihr Glück war nicht von langer Dauer. Wenige Stunden später - sie befanden sich immer noch mitten auf dem tobenden Meer - starb das Kind. Verzweifelt, seekrank, gequält von Hunger, Durst und Kälte, vermochte Jeannie MacLeod das, was um sie herum geschah, nicht mehr wahrzunehmen, bis sie nach drei Tagen halbtot von einem französischen Fischerboot aufgenommen und zur bretonischen Küste gebracht wurden. Nach ihren Aussagen war sie dann eine lange Zeit krank. Doch nach ihrer Genesung erfuhr sie zu ihrem Entsetzen zwei niederschmetternde Tatsachen. Der Diener, der mit Vornamen Ewart hieß, hatte die sinkende Yacht verlassen, ohne sich um das Schicksal des Duke, der Duchess und der anderen Mitglieder der Reisegesellschaft zu kümmern. Außerdem hatte er sämtlichen Schmuck der herzoglichen Familie mitgehen lassen. Father MacDonald sagte, er habe keinen Grund, an der Aufrichtigkeit und Ehrenhaftigkeit von Jeannie MacLeod zu zweifeln. Sie war über Ewarts Handlungsweise erschreckt und empört, aber sie liebte ihn. Überdies war sie in einem fremden Land ganz und gar auf ihn angewiesen. Das Kind, das ihr anvertraut gewesen war, lebte nicht mehr. Um es vereinfacht zu sagen: Sie hatte wenig zu gewinnen und alles zu verlieren, wenn sie Ewart den französischen Gerichten übergab. Also machte sie das Beste aus einer schlechten Sache. Sie heiratete den Mann. Der Verkauf des herzoglichen Schmucks setzte sie in die Lage, in einem Vorort von Paris ein kleines Geschäft zu eröffnen.«

Wieder ergriff der Colonel das Weinglas und setzte es an die Lippen. Nach einem forschenden Blick in die Runde fuhr er mit seinem Bericht fort: »Der Mann erkrankte dann an einem tückischen Fieber und starb. Jeannie war gezwungen, das Geschäft aufzugeben und schlug sich als Wäscherin durch. Aber die Schuld, die ihr Gatte auf sich geladen hatte und von der sie sich als Mitwisserin nicht freisprach, lastete schwer auf ihrer Seele. Sie bat Father MacDonald um die Absolution und beschwor ihn, dafür zu sorgen, daß der Duke die Wahrheit erfahren werde. Das Kind habe nicht gelitten, sagte sie. Es sei gerade drei Jahre alt gewesen. Außerdem habe es die ganze Zeit über in einer tiefen Ohnmacht gelegen, aus der es nicht wieder aufgewacht sei. Von dem geraubten Schmuck hatte Jeannie nur zwei Dinge behalten, die auf ihre ausdrückliche Bitte hin dem rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben werden sollten. Das eine ist eine Miniatur, deren kostbarer, mit Brillanten besetzter Rahmen verkauft worden war, das zweite ein verhältnismäßig wertloser Armreif, den das Kind am Handgelenk getragen hatte.«

Colonel Brett streckte die Hand in die Tasche und holte zwei Gegenstände hervor. Ein Armband aus Gold, in das einige winzige Perlen eingelassen waren, und die ungerahmte Miniatur. Beide Dinge legte er nebeneinander vor auf den Tisch.

Jona warf einen neugierigen Blick auf das kleine Bild und erkannte, daß es ein Frauenporträt war.

Colonel Brett räusperte sich.

»Sie mögen sich fragen, was diese ganze Geschichte mit uns zu tun hat. Ich werde es Ihnen sagen. Als Father MacDonald mir den Armreif und die Miniatur übergab, dachte ich nur daran, so schnell wie möglich jemanden zu finden, der nach Schottland reiste, um dem Duke von Arkrae die beiden Gegenstände zu überbringen. Dann sah ich mir das Frauenbildnis auf der Miniatur etwas genauer an und machte eine verblüffende Feststellung: Dieses Bild, das jemand vor einer Reihe von Jahren gemalt hat, gleicht einer jungen Person, die ich sehr gut kenne. Jeannie MacLeod hatte Father MacDonald nicht gesagt, wen die Miniatur darstellt, aber für mich besteht kein Zweifel daran, daß es sich um die Duchess von Arkrae handelt, die Mutter des Kindes, das vor siebzehn Jahren ums Leben kam. Ich werde das Bild nun rund gehen lassen.

Bitte, schauen Sie es sich sorgfältig an, und fragen Sie sich, ob es Sie genauso wie mich an jemanden erinnert, den Sie schon einmal gesehen haben.«

Colonel Brett schob das Bild seinem Nachbarn zur Linken hin. Der Mann betrachtete es sekundenlang, dann sah er den Colonel unter buschigen Brauen an und gab es wortlos an seinen unmittelbaren Nachbarn weiter. So wanderte die Miniatur von Hand zu Hand. Am Tisch herrschte tiefes Schweigen, das nur von einem gelegentlichen kurzen Ausruf der Überraschung unterbrochen wurde.

Schließlich hielt Jona das Bild in den Fingern.

Sie hatte gewußt, was sie erwartete, aber als sie nun das Gesicht der dargestellten Frau betrachtete, konnte auch sie einen Laut der Überraschung nicht unterdrücken.

Denn es war ihr, als blickte sie in einen Spiegel. Bei der Miniatur handelte es sich um eine äußerst kunstvolle Arbeit, die sich in einem ungewöhnlich gut erhaltenen Zustand befand. Das Bild hatte nicht den kleinsten Kratzer, und die Farben waren frisch und leuchtend.

Was Jona in Händen hielt, hätte man für ein Porträt ihrer selbst halten können. Die Abgebildete besaß das gleiche schwere rote Haar, dessen wilde Lockenfülle eine hohe weiße Stirn umrahmte. Sie besaß die gleichen ausdrucksvollen grünen Augen, die von auffallend dunklen und langen Wimpern beschattet wurden. Die Ähnlichkeit zwischen dem Frauenbildnis und Jona war unverkennbar. Jeder Betrachter mußte das feine, herzförmige Gesicht auf dem kleinen Gemälde für das Gesicht Jonas halten. Und auch was den stolzen Schwung des weißen Nackens betraf, schien Jona dafür Modell gestanden zu haben.

Einer der Männer am oberen Teil des Tisches räusperte sich.

»Well, Brett, fahren Sie fort!« forderte er den Colonel auf.

Der Colonel blickte auf den winzigen Armreif und berührte ihn mit dem Zeigefinger.

»Bisher habe ich - Jona ausgenommen - mit niemanden über diese Angelegenheit gesprochen. Auch Father MacDonald darf nichts davon erfahren. Überhaupt sollten wir auf strengste Geheimhaltung achten. Die Kenntnis der brisanten Tatsache sollte unbedingt auf die Personen in diesem Raum beschränkt bleiben. Mein Vorschlag ist: Jona reist nach Schottland, überbringt dem Duke auf Skaig Castle die Miniatur und das Armband und stellt sich ihm als seine Schwester vor.«

Eine plötzliche Unruhe entstand bei den Zuhörern und jemand sagte mit barscher Stimme: »Ein verrückter Plan!«

»Verwegen, wenn Sie so wollen«, verbesserte Colonel Brett, »aber nicht verrückt. Sie, Gentlemen, wissen genauso gut wie ich, daß wir seit Monaten, ja sogar Jahren, versuchen, mit dem augenblicklich regierenden Duke in Verbindung zu treten. Der alte Duke, sein Vater, starb im Jahre fünfundvierzig. Er war einundachtzig und lag im Sterben als Prinz Charles landete. Der MacCraggan-Clan nahm aus diesem Grund nicht offiziell an der Erhebung teil, obwohl sich sehr viele seiner Mitglieder unserer heiligen Sache anschlossen. Der gegenwärtige Duke weilte zu dieser Zeit im Ausland. Er kehrte erst nach unserer Niederlage und nach der Flucht des Prinzen aufs Festland zurück. Und so war es uns unmöglich, in Erfahrung zu bringen, auf welcher Seite seine Sympathien liegen, auf unserer Seite oder auf der unserer Feinde. Sie und ich, Gentlemen, wissen sehr genau, was die Unterstützung durch die MacCraggans für unsere zukünftigen Planungen bedeutet, aber wir vermögen im Augenblick nicht zu sagen, ob sie für oder gegen uns sind.«

Der Mann am unteren Tischende ließ ein unwilliges Brummen hören, beschränkte sich jedoch auf diese Form der Meinungsäußerung. Colonel Brett blickte kurz in seine Richtung und fuhr in seinen Darlegungen fort: »Zweimal haben wir im vergangenen Jahr einen Boten nach Schottland gesandt. Beide hatten den Auftrag, mit dem Duke Kontakt aufzunehmen. Der erste Mann wurde von den Engländern abgefangen und hingerichtet, bevor er Skaig Castle überhaupt erreichte. Von dem anderen fehlt uns seit seiner Abreise jegliches Lebenszeichen.

Gewiß, es gab alle möglichen Gerüchte. Es wurde erzählt, der alte Duke habe in enger Verbindung mit dem hannoverischen Usurpator auf dem britischen Königsthron gestanden. Aber es ist unmöglich, Klarheit darüber zu erlangen, ob es sich hierbei um Wahrheit oder Lüge handelt. Er war der Nachfolger seines Onkels und besaß keinen allzu großen Einfluß im Land. Anders sein Sohn. Seit er den Herzogstitel innehat, gelangen ihm bedeutsame Erweiterungen seines Territoriums. Er konnte seine Macht und seinen Herrschaftsbereich erheblich ausbauen, denn sein Clan stand im Gegensatz zu vielen anderen nicht auf der schwarzen Liste der Engländer und blieb von Schikanen und Verfolgungen unbehelligt.

Wir legen den größten Wert darauf, ihn als Verbündeten an unserer Seite zu wissen. Doch sollte er sich für das Lager unserer Feinde entschlossen haben, möchten wir das wissen, um uns entsprechend darauf einstellen zu können.«

»Und die Lady soll uns auf diese heikle Frage eine Antwort beschaffen?« fragte jemand.

»Wenn ich mit meinem Vortrag zu Ende gekommen bin, soll Jona selbst zu Ihrem Einwurf Stellung nehmen«, erwiderte Colonel Brett. »Es gibt da noch einen weiteren Punkt. Sie alle kennen die ,Tränen von Torrish'. Jene kostbaren Brillanten, die unserem Prinzen vor der Schlacht von Culloden zur Aufbewahrung anvertraut wurden. Zur Sicherheit nähte man sie in das Futter seines Hutes ein. Aber als Seine Königliche Hoheit sich gezwungen sah, vom Schlachtfeld zu fliehen, riß der Wind ihm den Hut vom Kopf. Seitdem sind die ,Tränen von Torrish' wie vom Erdboden verschluckt.

Jahrelang unternahmen wir alle erdenkbaren Anstrengungen, sie wiederzufinden. Umsonst. Wir hatten die Hoffnung, jemals wieder etwas von den Brillanten zu hören, bereits aufgegeben, als uns vor einigen Monaten plötzlich das Gerücht erreichte, die MacCraggans wüßten etwas über den Verbleib des Schmuckes. Wenn Jona nach Skaig Castle reist, wird es eine weitere Aufgabe für sie sein, Erkundigungen über das verlorene Geschmeide einzuziehen. Ich brauche Ihnen nicht zu erklären, was die ,Tränen von Torrish' in dieser Phase unseres Befreiungskampfes für den Prinzen bedeuten. Vor vier Jahren bemaß man ihren Wert auf fünfzehntausend Pfund. Heute wird man ihn wesentlich höher ansetzen müssen.«

Colonel Brett holte tief Luft und legte die Hände mit den Handtellern nach unten auf die Tischplatte.

»Dies, Gentlemen, ist meine Geschichte. Sie haben die Miniatur gesehen, und Sie haben Jona gesehen. Falls Sie dazu bereit ist, das Abenteuer mit all seinen Risiken und Gefahren auf sich zu nehmen, dann - so versichere ich Ihnen - tut sie es einzig und allein aus einem Grund: Sie glaubt an unsere Sache. Sie glaubt wie wir, daß Charles Edward Stuart ein heiliges Anrecht auf die Krone von England und von Schottland hat. Daß er über die beiden Länder herrschen soll wie er jetzt und für alle Zeiten in unseren Herzen herrscht.«.

Plötzliches Schweigen entstand. Jona wußte: Alle Anwesenden in diesem Raum warteten darauf, daß sie das Wort ergriff. Ihr Blick wanderte zu der Miniatur, die vor ihr auf dem Tisch lag, zu dem goldenen Kinderarmband daneben, das irgendwie rührend wirkte in seiner Winzigkeit. Und plötzlich sprang sie auf.

Sie stand da, umgeben vom schwachen Schein der Kerzen, und sie wirkte derart zerbrechlich und verwundbar in ihrer mädchenhaften Zartheit, daß die Männer unwillkürlich den Atem anhielten. Diese junge Frau erschien ihnen höchst ungeeignet für einen solchen Auftrag. Ihr fehlte die Kraft dazu, und es hatte den Anschein, als sei sie nicht einmal fähig, auf die an sie gerichteten Fragen eine Antwort zu geben.

Jona hob die langen, seidigen Wimpern und blickte in die Runde. Die Männer sahen das Feuer, das in den großen, ausdrucksvollen Augen loderte, und ihre Haltung spannte sich unwillkürlich.

»Bei Ihren Darlegungen, Colonel«, begann Jona leise, »haben Sie die Aufgabe, die zu übernehmen ich Ihnen versprochen habe, als eine gefahrvolle Sache dargestellt. In meinen Augen ist sie das nicht. Die Durchführung des Auftrags, der mir zufiel, ist das wenigste, was ich für den Prinzen tun kann, dem unsere ganze Treue gehört.«

Ihre Worte lösten unter den Versammelten einen Seufzer der Erleichterung aus. Eine Gestalt löste sich aus dem Halbdunkel bei der Feuerstelle. Sie näherte sich dem Kopfende des Tisches. Hinter dem Lehnsessel blieb der Hochgewachsene stehen. Die Herren der Runde erhoben sich, und Jonas Blick heftete sich auf den Mann, der ihr durch den Tisch getrennt gegenüber stand.

Obwohl sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte, wußte sie, wer er war. Sie wußte es mit der gleichen Sicherheit, mit der sie gewußt hatte, daß er sie die ganze Zeit über aus dem Dunkel heraus beobachtet hatte.

Schweigend wichen die Männer zurück, um sie vorbeizulassen. Wie in Trance ging Jona auf den Mann zu, sank zu seinen Füßen auf die Knie und preßte lie Lippen auf die Hand, die sich ihr entgegenstreckte. Dann beugte er sich nieder, ergriff ihren Arm und bedeutete ihr, sich wieder zu erheben.

Jona stand auf. Sie blickte in seine hellen, blauen Augen, sie sah das männlich schöne Gesicht und spürte die ungewöhnliche Faszination, die davon ausging und auf sie überströmte. Jetzt konnte sie verstehen, weshalb selbst nüchtern denkende Männer sich dem Charme dieses Mannes nicht zu entziehen vermochten. Weshalb sie bereit waren, entgegen aller Einsicht und Vernunft für ihn zu kämpfen und in den Tod zu gehen.

»Ich danke Ihnen, Jona«, sagte er.

 Der Klang seiner Stimme ließ ihr Herz schneller schlagen und erfüllte sie mit einem nie gekannten Glücksgefühl.

Immer noch hielt er Jonas Hand in der seinen, während er sich an die Versammelten wandte.

»Gentlemen«, sagte er, »wenn diese Lady das Wagnis auf sich nimmt, für uns eine solch gefahrvolle Mission zu übernehmen, dann sollten wir ihr wenigstens all unsere guten Wünsche und unser ganzes Vertrauen in den Erfolg ihrer Reise mit auf den Weg geben.«

Seine Finger verstärkten einen Moment lang den Druck um Jonas Hand, bevor er sie freigab.

»Stoßen wir darauf an, Colonel!« sagte er und ergriff das Glas, das vor seinem leeren Sessel auf dem Tisch stand.

Fünf Männer folgten seiner Aufforderung. Sie ergriffen die Gläser und wandten sich Jona zu. Eine nie gekannte Erregung erfaßte sie, und mit einem Mal spürte sie die Kraft und Zuversicht in sich, die sie befähigte, alles zu vollbringen, was von ihr verlangt wurde.

Ja, ihre Mission würde mit Erfolg gekrönt sein, weil das, was sie tat, seiner Sache diente und weil sie wußte, daß er ihr bedingungslos vertraute.

Sie ballte ihre kleinen Hände zu Fäusten. Es war ein Augenblick unbeschreiblicher Freude, und ihr Herz drohte zu zerspringen.

Die Männer erhoben die Gläser.

 »Auf Jona, die kleine Spionin«, sagte Seine königliche Hoheit leise.

II

Eine Kirchenglocke schlug sechs, als Jona erwachte. Sie stand auf und schob den Vorhang beiseite. Vom Fenster des Hotelzimmers hatte sie einen Blick über graue Hausdächer, die sich vom Grau des Himmels kaum unterschieden. Eine eigenartige Schwermut und Trostlosigkeit lag über der Szene. Jona fröstelte. Hastig drehte sie sich um und begann, sich anzukleiden.

Am vergangenen Abend, kurz nach Sonnenuntergang, war das kleine französische Postschiff langsam die Moray Firth hinaufgedampft und im Hafen von Inverness vor Anker gegangen.

Jona hatte die ganze Zeit an Deck gestanden. Von dem Moment an, da man ihr gesagt hatte, daß die Küste von Schottland in Sicht sei, bis zur Landung. Eine ungeheure Erregung war über sie gekommen bei der Vorstellung, endlich die Küste jenes Landes zu sehen, dem ihre Sehnsucht gegolten hatte, seit sie denken konnte.

Und dann erblickte sie in der Ferne das Steilufer der Küste. Langsam rückte das Gebirge näher. Berggipfel um Berggipfel wuchs vor einer scharlachrot versinkenden Sonne am Horizont empor. Ein übermächtiges Gefühl der Ergriffenheit überkam sie. Die Hände um die Reling gekrampft, auf dem Gesicht den Widerschein des glühenden Abendhimmels, verharrte sie reglos im Bewußtsein der Tatsache, endlich heimgekehrt zu sein.

Schäumend brachen sich die Wellen am Bug des Schiffes. Feiner Sprühregen fiel auf Jona nieder und lag glitzernd auf Haar und Wangen. Doch sie fühlte weder die salzige Feuchtigkeit der winzigen Wassertropfen noch die beißende Schärfe des Windes. Das außergewöhnliche Schauspiel hatte sie so sehr in seinen Bann geschlagen, daß sie nicht einmal bemerkte, wie Hector MacGregor zu ihr an die Reling trat.

Eine Weile betrachtete er sie aufmerksam, dann sagte er: »Ist es das, was Sie erwartet haben?«

Sie wandte ihm das Gesicht zu. Ihr Blick schien aus weiter Ferne zu kommen.

»Schottland«, flüsterte sie. »Endlich sind wir da. Schottland! Meine Heimat, Ihre Heimat und seine Heimat.«

Die beiden letzten Worte waren kaum zu vernehmen. Der Gedanke an den Prinzen, der fern von der Insel das Brot der Verbannung aß, bereitete ihr physischen Schmerz.

»Vier Jahre her, seit ich das letzte Mal hier war«, sagte Hector rauh. »Und Gott weiß, es kommt mir schöner vor denn je.«

Seine Stimme klang gequält, und Jona warf ihm einen verständnisvollen Blick zu. Sie kannte seine Geschichte nur zu gut. Sein Vater und seine beiden Brüder waren in Culloden getötet worden, und auf seinen eigenen Kopf war eine Fangprämie ausgesetzt.

Nach Monaten bitterster Entbehrung und unvorstellbarer Mühsal war ihm die Flucht über den Kanal gelungen. In Frankreich stieß er zum Prinzen und seinem kleinen Gefolge. Von allen Getreuen war er der Ruheloseste. Unablässig schmiedete er Pläne, knüpfte Verbindungen, suchte Helfer. Er arbeitete unermüdlich und mit unbeugsamer Entschlossenheit an einer siegreichen Rückkehr Seiner Königlichen Hoheit auf den Thron von England und Schottland.

Ein schlanker, sehniger Mann mit rotblonden Haaren, konnte er seine Nationalität unmöglich verbergen. Er war erst siebenundzwanzig, aber dennoch besaß er eine so überragende Erfahrung und Klugheit, wie sie ein Durchschnittsmann in einem ganzen Leben nicht erwirbt.

Im allgemeinen von eher ernstem und schweigsamem Charakter, fehlte ihm keineswegs der Sinn für Witz und Humor. Und wenn er lächelte, vermochte niemand ihm zu widerstehen. Der zurückhaltende, ein wenig schwerfällige Schotte verwandelte sich dann in einen anziehenden, sympathischen jungen Mann. Er war von unbändigem Tatendrang und einem unverwüstlichen Optimismus erfüllt. In einer schwierigen, ausweglosen Lage, in Stunden äußerster Gefahr, war Hector ein unschätzbarer Gefährte, ein Partner, wie man seinesgleichen nur selten fand.

Es war der Prinz gewesen, der gewünscht hatte, daß jemand Jona auf der Überfahrt nach Schottland begleitete. Jona hatte eine solche Begleitung nicht für notwendig gehalten, doch der Prinz hatte auf seiner Meinung beharrt. Unnachgiebig bestand er darauf, daß jemand mit ihr fuhr, bis sie sicher die schottische Küste erreicht hatte.

Seine ritterliche Sorge hatte Jona gerührt. Außerdem hatte sie lange genug in Frankreich gelebt, um die Gefahren zu kennen, denen ein junges, hübsches Mädchen sich aussetzte, wenn es sich allein auf ein französisches Postschiff wagte, das nur selten einen Passagier an Bord führte. Und obwohl sie entschlossen gewesen war, den Gefahren, welcher Art auch immer sie sein mochten, tapfer ins Auge zu sehen, hatte sie mit großer Erleichterung vernommen, daß Hector MacGregor sich als ihr Begleiter angeboten hatte.

Sie wußte, daß dieser Entschluß ihn in höchste Gefahr bringen konnte. Er wurde gesucht, und die Möglichkeit, erkannt und verhaftet zu werden, war groß. In diesem Fall würde die Reise unweigerlich seinen Tod bedeuten, die Hinrichtung durch das Schwert. Aber Hector MacGregor hatte für Jonas Befürchtungen nur ein unbekümmertes Lachen.

»Ich habe noch ganz andere Dinge riskiert«, hatte er erwidert. »Und außerdem lohnt es sich, für ein Wiedersehen mit Schottland sein Leben zu wagen. Ich werde den Wind riechen, der über die Moore streicht. Ich werde endlich wieder Menschen hören, die in einer zivilisierten Sprache mit mir reden.«,

Jona lachte. Sie hatte nicht lange dazu gebraucht, um festzustellen, wie sehr Hector alles Französische verachtete und wie schlecht er auf die Menschen in diesem Land zu sprechen war.

Aber ihre Fröhlichkeit war nur von kurzer Dauer. Die Furcht um Hectors Sicherheit meldete sich aufs Neue. Und je mehr sie sich der Küste näherten, desto größer wurde ihre Angst. Und wieder bat sie ihn inständig, doch um alles in der Welt vorsichtig zu sein.

»Ich werde schon aufpassen«, gab er zur Antwort. »Zerbrechen Sie sich meinetwegen nicht den hübschen Kopf. Ich habe Freunde, die ich unbedingt sprechen muß, bevor ich nach Frankreich zurückkehre. Auch der Prinz will, daß ich einige Dinge für ihn erledige. Wichtig ist, daß wir beide uns nicht mehr kennen, sobald wir an Land gegangen sind. Sprechen Sie zu niemandem von mir. Auch dann nicht, wenn Sie zufällig erfahren sollten, daß ich mich in Schwierigkeiten befinde. Im Gegenteil, wenn man Sie fragt, leugnen Sie, jemals etwas von mir gehört zu haben. Selbst die kleinste Andeutung einer Bekanntschaft mit mir könnte Verdacht erregen und Ihre Mission aufs Äußerste gefährden. Und Sie wissen, von welch entscheidender Wichtigkeit Ihr Auftrag ist.«

Es hätte der Ermahnungen durch Hector nicht bedurft, Jona wußte dies alles sehr wohl. Colonel Brett hätte ihr die notwendigen Erklärungen und Verhaltensregeln gegeben. Und auch den Gesprächen mit dem Prinzen und den Männern seiner Umgebung hatte sie entnommen, daß man ihrer Reise nach Skaig Castle eine große Bedeutung beimaß.

Bekundungen der Treue erreichten den Prinzen fast täglich von den Clans, die ihn vor vier Jahren auf seinem Marsch gen Süden, der unter einem unheilvollen Stern stand, begleitet hatten. Aber die meisten dieser Clans waren geschwächt, ihre Führer enthauptet worden. Und diejenigen ihrer Mitglieder, die dem furchtbaren Massaker von Culloden entrinnen konnten, wurden von den Engländern gnadenlos gejagt.

Am grausamsten gebärdete sich der Herzog von Cumberland. Er spürte verwundete Hochländer in ihren Verstecken auf und ließ sie zu Tode foltern. Er ließ ihre Häuser dem Erdboden gleichmachen und ihre Frauen und Kinder vertreiben. Die meisten von ihnen starben vor Hunger und Kälte.

In einigen Fällen waren ganze Stämme kaltblütig bis auf den letzten Mann ausgetilgt worden. Andere blieben von der völligen Ausrottung zwar verschont, doch fristeten die Überlebenden ein armseliges, menschenunwürdiges Dasein unter der Schreckensherrschaft englischer Fronvögte, die argwöhnisch jeden Schritt und jede Bewegung der Unterworfenen beobachteten.

Nur der MacCraggan-Clan wuchs und erstarkte. Niemand wagte es, das Territorium des Stammes zu verletzen. Die Menschen dort lebten unangefochten und ohne Angst, der Duke von Arkrae galt als der mächtigste und einflussreichste Mann von Schottland. Sollte sich herausstellen, daß seine Sympathien auf der Seite des Prinzen lagen, dann war dieser Mann nach Meinung der Ratgeber Seiner Königlichen Hoheit geradezu prädestiniert, der Sache Charles Edward Stuarts zum Sieg zu verhelfen.

Jona hatte versucht, sich von dem geheimnisumwitterten Duke ein Bild zu machen. Aber es gab niemanden, der ihr genaue Einzelheiten über ihn hätte mitteilen können - weder über seinen Charakter noch über sein Aussehen. Diejenigen, die bereits nach der Verschwörung im Jahre fünfzehn aufs Festland flohen, wie ihr Beschützer Hector zum Beispiel, waren ihm aus verständlichen Gründen nie begegnet. Und die jüngeren Männer, die die Insel nach der Niederlage im Jahre fünfundvierzig verlassen mußten, wußten auch nichts über ihn. Hector MacGregor, den  sie während der Überfahrt befragte, konnte ihr nicht mehr sagen, als sie schon wußte.

 »Seine Gnaden sind von höchster Wichtigkeit für uns«, sagte er. »Einmal wegen der strategischen Lage seines Landes. Zum anderen soll er, nach allem, was man hört, auf dem besten Wege sein, die einflussreichste und mächtigste Persönlichkeit Schottlands zu werden. So viele der großen Führer unseres Volkes sind für unsere Sache verloren. Kilmarnock und Balmerinoch wurden hingerichtet. Keppoch und Strathallan fielen auf dem Schlachtfeld. Lochiel und Elcho leben in der Verbannung. Wenn Arkrae den richtigen Standpunkt einnimmt und sich auf die richtige Seite schlägt, kann er zum Retter Schottlands werden.« 

»Und wenn nicht?«

Hector verzog das Gesicht.

»Dann sollten wir es wenigstens wissen. Das ist besser, als weiter gegen alle Hoffnung zu hoffen.«

Er sah sie an, schüttelte den Kopf. Sie bemerkte das Mitleid in seinen Augen.

»Man hat Ihnen eine unmenschliche Aufgabe gestellt, mein Mädchen«, murmelte er. »Ich weiß nicht, ob ich sie angenommen hätte. Das Ganze ist einfach zu gefährlich.«

Stolz hob Jona den Kopf und lächelte ihn an.

»Ich habe keine Angst«, sagte sie, fügte jedoch zögernd hinzu: »Well, keine allzu große.«

Hector MacGregor legte die Hand auf ihre Schulter.

»Natürlich haben Sie Angst. Wir alle haben Angst, wenn wir in die Schlacht ziehen. Und genau das ist es, was Sie tun werden. Sie ziehen in einen Kampf, und der Himmel weiß, wie ich es hasse, Frauen kämpfen zu sehen.«

»Aber es ist doch kein richtiger Kampf«, erwiderte Jona.

»Warten Sie es ab«, Hector blickte besorgt. »Was ist zum Beispiel, wenn man Sie gefangen nimmt? Wenn man herausfindet, wer Sie auf die Reise geschickt hat? Man wird Sie ins Gefängnis werfen und noch schlimmere Dinge mit Ihnen anstellen.«

»Folter?« fragte Jona mit angstgeweiteten Augen.

»Vielleicht«, antwortete Hector. »Die Engländer würden Gott weiß was dafür geben, wenn sie den Aufenthaltsort des Prinzen erfahren könnten. Wie Sie wissen, wurde er aus Paris ausgewiesen, nachdem König Ludwig den Vertrag von Aachen unterzeichnete. Aber viele Franzosen haben eine unheimliche Schwäche für die Sache der Stuarts. Sie schauen eher einen anderen Weg, wenn sie dem Prinzen begegnen, als daß sie ihn verraten. Jedenfalls lebt der Prinz in ständiger Gefahr. Die Engländer befürchten nämlich einen neuen Aufstand, und den wollen sie mit allen Mitteln und unter allen Umständen verhindern.«

»Ich bin froh, daß ich nur so wenig weiß«, sagte Jona. »Was ich nicht weiß, kann ich auch nicht verraten. Seine Königliche Hoheit mag Paris inzwischen längst verlassen haben und sich irgendwo sonst in Europa aufhalten. Woher soll ich wissen, wo er ist?«

»Die Tatsache, daß Sie eine Jakobitin sind, genügt Sie zu verurteilen«, entgegnete Hector. »Aber selbst, wenn wir den günstigsten Fall annehmen, selbst wenn alles gutgeht, Sie müssen so rasch wie möglich wieder von Skaig Castle fort, bevor man Sie als Betrügerin entlarvt. Ich nehme an, Sie haben genaue Vorstellungen davon, wie Sie wieder nach Frankreich zurückkommen werden, oder?«

Jona nickte.

»Colonel Brett hat mir Namen und Adresse eines Mannes in Inverness gegeben, dem ich vertrauen kann.«

»Dann wollen wir beten, daß der Mann wirklich zuverlässig ist und Ihnen zu helfen vermag. Brett ist allright, aber er hat seinen Kopf ständig voller Pläne und Ideen, und viele davon sind völlig unbrauchbar, wenn es um die Durchführung geht. Verlassen Sie sich nicht zu sehr auf ihn. Vor allem die Details einer Sache sollten Sie kritisch prüfen, Jona. Halten Sie die Augen offen, und vertrauen Sie einem Menschen nur dann, wenn Sie sich selbst von seiner Vertrauenswürdigkeit überzeugt haben. Es ist Ihr Hals, den Sie riskieren, nicht der des Colonels!«

Jona blickte erschreckt.

»Aber ich kenne den Colonel schon viele Jahre, und er lebt nur, um der Sache des Prinzen zu dienen.«

»Ja, ja«, sagte Hector ungeduldig. »Ich zweifle seine Treue ja auch nicht an. Ich wollte nur sagen: Er ist oft von  seinen großartigen Plänen derart in Anspruch genommen, daß er darüber die Details vergißt. Aber gerade die Berücksichtigung der Details, der banalen Kleinigkeiten macht oft genug den Unterschied zwischen Erfolg und Mißerfolg aus. Nehmen Sie zum Beispiel Ihren Fall. Der Colonel sieht eine Miniatur und kommt zu dem Schluß, daß die darauf abgebildete Dame Ihnen gleicht. Schon steht es für ihn, ohne weitere Nachforschungen, fest, daß Sie die geeignete Person sind, um in die Rolle eines Mädchens zu schlüpfen, das vor siebzehn Jahren ertrunken sein soll. Woher nimmt er die Sicherheit, anzunehmen, daß dieses Mädchen wirklich ertrunken ist! Woher weiß er, daß die Frau auf dem Miniaturbild tatsächlich die Mutter dieses Kindes ist? Angenommen, der Duke hat damals das Porträt seiner Geliebten bei sich getragen. Was ist dann?«

Hector sprach mit leidenschaftlichem Eifer, aber Jona warf den Kopf zurück und lachte.

»O Hector! Hector! Sie sehen Gespenster! Glauben Sie mir, Ihre Einbildungskraft treibt noch schlimmere Blüten als die des Colonels. Die alte Frau, Jeannie MacLeod hat doch gesagt, das Kind sei in ihren Armen gestorben und sie hätte seinen Leichnam den Wellen übergeben. Warum, um alles in der Welt, sollte sie auf ihrem Sterbebett gelogen haben. Und das Kind besaß nach Jeannies Auskunft rote Haare. Jemand - ich weiß nicht mehr, wer es war - sagte, dies sei charakteristisch für die MacCraggans. Von daher gesehen ist des Colonels Annahme doch gar nicht so abwegig, daß man mich für die Schwester des Duke halten kann. Außerdem würde das ertrunkene Kind genau in meinem Alter sein, wenn es noch lebte.«

»Ja, natürlich, das ist schon richtig«, erwiderte Hector nachdenklich. »Und es ist auch richtig, daß die MacCraggans rothaarig sind. Aber es gibt viele Leute mit roten Haaren in Schottland.«

»Ich werde Ihnen nicht mehr zuhören!« rief Jona. »Sie versuchen, mir Angst einzujagen. Und wozu soll das jetzt noch gut sein? Das Abenteuer hat begonnen. Es gibt für mich kein Zurück mehr!«

»Ich weiß«, sagte Hector. »Aber seien Sie auf der Hut. Versprechen Sie mir das?«

»Ich verspreche es Ihnen«, antwortete Jona ernst. Sie unterschätzte die Gefahren, die sie auf Skaig Castle erwarteten, keineswegs.

Jona erinnerte sich an Hectors Worte, während die Morgenkühle durch das geöffnete Fenster ihres Hotelzimmers drang. Mit zitternden Händen kleidete sie sich an, und es war ihr bewußt, daß es nicht nur die Kälte war, die sie erschauern ließ.

Gleich bei ihrer Ankunft in der vergangenen Nacht hatte sie sich nach der Möglichkeit einer Weiterfahrt erkundigt, und man hatte ihr gesagt, es gäbe eine Kutsche, die um sieben Uhr nach Fort Augustus fahre. Und von Fort Augustus wären es nur noch zehn Meilen bis Skaig Castle.

Jona wählte ihr Reisekostüm aus grüner Seide und legte ein weißes Tuch um die Schultern, das von einer schlichten Silberspange gehalten wurde. Sie hatte nur wenig Kleider bei sich. Die Summe, die Colonel Brett ihr für die Vorbereitung der Reise zur Verfügung stellte, hatte keine großen Ausgaben zugelassen. Und da Jona bei ihren Einkäufen mit peinlicher Sorgfalt vorging, fiel ihre Garderobe nicht sehr reichlich aus. Der Reisekoffer war leicht, was ihr einige kritische Bemerkungen des Hotelpersonals einbrachte.

Aber eine solche Bedürftigkeit, so dachte sie, paßte zu einem Mädchen, das von einer mittellosen Kinderfrau aufgezogen wurde. Gleichwohl war sie eitel genug, um zu bedauern, daß nicht mit einer kostbaren und reichhaltigen Garderobe auf Skaig Castle erscheinen konnte. Schöne Kleider gaben einer Frau Sicherheit und Selbstvertrauen, und die brauchte Jona, wenn sie vor dem Duke von Arkrae den Anspruch erhob, ein Mitglied der herzoglichen Familie zu sein.

Wehmütig dachte sie an einige dieser hübschen Dinge, die sie besessen hatte, als ihr Vormund noch lebte. Nicht, daß ihre Kleider und Mäntel außergewöhnlich teuer gewesen wäre, aber sie hatte sich kleiden können, wie es sich für das Mündel eines angesehenen Gentlemans schickte.  

Ihr Vormund hatte ihr nie eine Bitte abgeschlagen, und sie war immer der Meinung gewesen, daß das Geld, von dem sie lebten, auch ihr gehörte. James Drummonds Geldmittel beschränkten sich auf eine Rente, die ihm von seinen Verwandten gezahlt wurde, und Jona war sich stets darüber im Klaren, daß diese Unterstützung mit seinem Tode enden würde. Aber er besaß noch einiges Kapital in Frankreich, und das, zusammen mit ihrer Aussteuer, würde ihr dazu verhelfen, daß sie nicht ganz mittellos dastand.

Doch als James Drummond dann starb, mußte sie feststellen, daß ihre Situation längst nicht so hoffnungsvoll war, wie sie angenommen hatte.

Jona erfuhr, daß er sein eigenes bescheidenes Vermögen mitsamt dem ihren einem Verwandten geborgt hatte, der im Jahr 45 nach Frankreich geflohen war. Es war kein weltbewegender Betrag gewesen, und dem Gentleman, der ihn erhalten hatte, war er so geringfügig erschienen, daß er ihn innerhalb kürzester Zeit beim Glücksspiel verloren hatte. James Drummond hatte keine Ahnung von der Leichtfertigkeit dieses Mannes gehabt, sondern darauf vertraut, der Gentleman werde seine Schulden bald an ihn zurückzahlen. Aber nach dem Tode ihres Vormundes machte Jona die bittere Erfahrung, daß dieser finanzielle Rückhalt unwiederbringlich dahin war.

James Drummond war erst einige Tage unter der Erde, als sein Schuldner festgenommen und ins Gefängnis geworfen wurde. Er war nicht in der Lage gewesen, tausend Franc aufzubringen, die er einem französischen Kaufmann schuldete.

Von dieser Stunde an wußte Jona, was es hieß, allein in der Welt zu leben, ohne Geld, ohne ein Zuhause und sogar ohne einen richtigen Namen.

Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich erniedrigt und voller Scham über sich selbst. Sie dachte ah jenen Tag, an dem ihr Vormund ihr eröffnet hatte, daß sie nicht seine Tochter war und man sie im Alter von zwei oder drei Monaten seiner Obhut übergeben hatte.

»Ich gab der Person, die dich zu mir brachte, das feierliche Versprechen«, erzählte er, »weder dir noch sonst jemandem auf der Welt etwas über deine Herkunft zu verraten. Bei der Taufe gab man dir den Vornamen Jona nach der kleinen Insel vor der Westküste Schottlands, auf der du geboren wurdest. Das ist alles, was ich dir über dich und deine Herkunft mitteilen darf. Aber eins, meine Liebe, kann ich dir versichern: Du brauchst dich des Blutes, das in deinen Adern fließt, nicht zu schämen. Und du solltest immer voller Stolz daran denken, daß du der Abstammung nach eine Schottin bist.«

James Drummond hatte geseufzt und dann hinzugefügt: »Ich habe redlich versucht, dir bei mir eine Heimat zu geben, Jona. Wenn mir dies nicht gelungen ist, dann ganz gewiß nicht aus dem Grund, daß ich dich nicht liebte.«

Was Wunder, daß Jona ihm damals und auch bei späteren Anlässen immer wieder das Gegenteil beteuert hatte.

Ja, sie liebte ihn mehr als irgendeinen anderen Menschen, und sie wünschte sich nie ein anderes Zuhause als das seine. Oft genug machten sie sich lustig über ihre dunkle Herkunft, und bei einer solchen Gelegenheit erklärte Jona halb lachend, halb im Ernst, sie werde als Nachnamen den Namen Ward wählen. Ward war das englische Wort für Mündel, und das paßte zu ihr, denn sie war James Drummonds Mündel und er ihr Vormund.

»Jona Ward.« Sie zeigte ein spitzbübisches Lächeln. »Das ist ein hübscher Name für mich. Und eines Tages wirst du noch stolz auf ihn sein.«

Doch als sie die Wohnung aufgelöst, die Möbel und Bilder verkauft und für den Erlös den Grabstein auf James Drummonds Grab erstanden hatte, war sie in bittere Tränen ausgebrochen. Nichts war ihr mehr geblieben, nicht einmal die Kenntnis ihrer eigenen Identität.

Wer war sie?

Woher kam sie?

Und wohin sollte sie gehen?

Zum Glück fand sie eine Anstellung in einem Hutmachergeschäft, in dem sie früher einmal ihre Hüte gekauft hatte, und mietete sich ein kleines Zimmer in einem noblen Wohnhaus in der Nähe. Bis zu diesem Zeitpunkt war es ihr nie bewußt geworden, wie wenig Freunde ihr Vormund in Frankreich gefunden hatte.

Er war nicht mehr der Jüngste gewesen, als er im Jahre fünfzehn dem Chevalier de St. George den Treueeid schwor. Doch es vergingen nur wenige Monate, und James Drummond sah sich gezwungen, nach Frankreich zu fliehen und sich in einem fremden Land eine neue Existenz aufzubauen. Er haßte das Leben in Paris, und das Heimweh fraß so sehr an ihn, daß er auch mit den ebenfalls vertriebenen Landsleuten nur einen losen Kontakt pflegte. Nur selten machte er dem in der Verbannung lebenden König seine Aufwartung. Nur selten verbrachte er den Abend mit ein paar anderen Schotten oder lud sie zu sich zum Essen ein. Dann hockten sie bis tief in die Nacht zusammen, redeten sich die Köpfe heiß und schmiedeten Pläne, von denen jeder wußte, daß sie Träume bleiben würden Träume, die im Weinrausch und unter Wolken von Tabakqualm geboren wurden.

Die Jahre vergingen. Die Zahl der Freunde schrumpfte zusammen. Entweder raffte der Tod sie hinweg, oder sie wurden begnadigt und kehrten in die Heimat zurück. James Drummond war ein alter Mann, als Prinz Charles im Jahr 45 nach einem niedergeschlagenen Aufstand die Insel verließ und nach Frankreich floh. Scharen von Flüchtlingen und Verbannten folgten dem Prinzen auf das Festland. Aber James Drummond verspürte kein Interesse mehr, ihre Bekanntschaft zu machen.

Mit der Selbstsucht und dem Egoismus eines Menschen, der das Ende seines Lebens erreicht hat, war er mit der Gesellschaft seines jungen Mündels vollauf zufrieden, und er kam kein einziges Mal auf den Gedanken, daß sie sich nach gleichaltrigen Freunden sehen könnte. Jona, die niemals klagte und auch nie die Gelegenheit hatte, mit jüngeren Leuten zusammenzukommen, vermißte deren Gesellschaft nicht. Aber als dann ihr Vormund starb, traf sie die plötzliche Einsamkeit mit doppelter Gewalt.

Aber sie hatte es gelernt, mit dieser Einsamkeit zu leben, und jetzt, während sie sich in dem schmucklosen, etwas schäbigen kleinen Hotelzimmer für die Reise mit der Postkutsche fertig machte, fragte sie sich, weshalb sie Angst haben sollte. Nichts, was ihr in Schottland begegnen könnte, würde schlimmer sein als das, was sie in den letzten Jahren nach James Drummonds Tod in Paris durchgemacht hatte.

Sie war damit beschäftigt, sich die Reisekappe aufzusetzen, als es an die Tür klopfte.

Sie rief »Herein!«, und ein Hausmädchen betrat den Raum. Sie brachte eine Tasse Schokolade, die sie auf dem Tisch abstellte.

»Möchten Sie vor Ihrer Abfahrt noch frühstücken?« fragte das Mädchen.

Sie war ein mageres kleines Ding mit roten Händen und plumpen Füßen.

»Nein, danke«, erwiderte Jona.

»Die Kutsche steht ab Viertel nach sieben unten im Hof, falls Sie einen Fensterplatz wünschen«, sagte das Mädchen.

Jona war ihr dankbar für den Hinweis, und als das Mädchen den Raum verlassen hatte, ergriff sie die Tasse und setzte sie an die Lippen. Die Schokolade schmeckte scheußlich, sie war nur noch lauwarm. Aber es war alles, was Jona bestellt hatte. Ihr Vormund hatte am Morgen immer ein, wie er es nannte, ordentliches Frühstück zu sich genommen. Aber Jona, die in Frankreich aufgewachsen war, zog etwas Leichtes den fetten Dingen, die einem nur schwer im Magen lagen, vor.

Sie trank die Schokolade aus und stellte die wenigen Gepäckstücke auf dem Bett zusammen. Plötzlich ließ sie den Koffer, den sie in der Hand hielt, fallen und erstarrte vor Schreck. Das Blut wich aus ihrem Gesicht, und ein jäher Schwindel erfaßte sie. Etwas Entsetzliches war ihr eingefallen. Auf dem Schiff hatte sie Hector die Miniatur und den Armreif zur Aufbewahrung gegeben. Es war ihr sicherer erschienen. Und nun erinnerte sie sich voller Panik daran, daß Hector ihr die beiden Dinge nicht zurückgegeben hatte, mit deren Hilfe sie sich auf Skaig Castle ausweisen sollte.

Colonel Brett hatte ihr außerdem noch ein Schreiben mitgegeben, das im wesentlichen das Geständnis enthielt, das Jeannie MacLeod vor Father MacDonald abgelegt hatte. Allerdings waren sie übereingekommen, dieses Geständnis an bestimmten Stellen mit gewissen Änderungen und Hinzufügungen zu versehen. Natürlich hatte er das Schreiben nicht mit Father MacDonalds richtigem Namen unterzeichnet, sondern mit einem frei erfundenen.

»Sie werden die Sache natürlich nachprüfen, Jona«, hatte Colonel Brett sie gewarnt. »Aber noch bevor jemand mit den entsprechenden Informationen aus Frankreich zurück ist, haben Sie, so Gott will, alles Notwendige längst in Erfahrung gebracht und befinden sich bereits auf der Reise zum Festland.«

Der Brief war von genauso großer Bedeutung für Jona wie die Miniatur und der Armreif. Die Gefahr, ihn und die beiden Gegenstände zu verlieren oder ihrer beraubt zu werden, war Jona zu groß gewesen, und bei Hector schienen die Sachen sicherer. Und nun hatte er vergessen, sie ihr wiederzugeben. Der Anblick der schottischen Küste hatte sie beide so in Aufregung versetzt, und Hector hatte so viel von seinen schottischen Freunden erzählt, die er an diesem Abend wiedersehen würde, daß sie den Abschied bis auf den letzten Moment verschoben hatten.

»Heute abend werde ich Whisky trinken, Jona«, hatte Hector erklärt, als das Schiff sich der Anlegestelle näherte. »Whisky, das ist ein Getränk, sage ich Ihnen! Da kommt dieses süßliche Zeug, das ich in den letzten fünf Jahren in mich hineinkippen mußte und das die Franzosen Wein nennen, nicht mit. Zweifellos werde ich mir dabei einen gloriosen Rausch antrinken. Sollte ich heute Nacht singend und lärmend ins Hotel kommen, denken Sie einfach daran, daß sie mit einem solch vulgären Burschen nicht das Geringste zu tun haben.«

Lachend hatte Jona ihm versichert, daß sie unter solchen Umständen wirklich nicht den geringsten Wert auf seine Bekanntschaft legte. Und dann waren sie beide plötzlich sehr ernst geworden und hatten sich tief in die Augen geschaut.

»Gott schütze Sie«, sagte Hector ruhig. »Bei Ihrer Rückkehr werde ich in Frankreich auf Sie warten, um Sie willkommen zu heißen.«

Er hob ihre Finger an seine Lippen.

Jona verspürte den heißen Wunsch, die Arme um seinen Nacken zu werfen. Es drängte sie, ihn zu bitten, mit ihr zu kommen. Ihm einzugestehen, daß sie Angst hatte, alleine weiterzureisen.

Er mußte gefühlt haben, was in ihr vorging, denn plötzlich legte er die Arme um sie und riß sie an sich. Einen Moment lang lehnte sie den Kopf an seine Schulter und schloß die Augen. Hier war Sicherheit und Schutz. Nur das allein zählte, und nichts sonst spielte eine Rolle. Doch dann ließ Hector sie los und wandte das Gesicht dem Ufer zu.

»Ich werde das Schiff als Erster verlassen«, erklärte er mit heiserer Stimme. »Es wäre nicht gut, wenn man uns zusammen sehen würde.«

Mit dem Gefühl, einen großen Verlust erlitten zu haben, blickte Jona hinter ihm her. Mit einem federnden Satz sprang Hector von Deck und verschwand zwischen der wartenden Menge.

Hector war der erste Mann in ihrem Alter gewesen, den sie kennengelernt hatte. Er hatte sie geneckt und gehänselt und förmlich auf Händen getragen. Während der Überfahrt war sie sich vorgekommen, als sei sie die wichtigste Person auf der Welt, so sehr hatte er sich um sie bemüht und ihr ein Gefühl der Sicherheit und des eigenen Wertes gegeben.

Sie hatten miteinander diskutiert und gelacht. Die Stunden und Tage auf dem Schiff waren wie im Flug vergangen. Jona wußte nun, daß sie zum ersten Mal wirklich glücklich gewesen war.

Während Schottland für sie voller unbekannter Gefahren steckte, war es für Hector die Heimat, die er nach jahrelangem Fern sein endlich wieder sah.

Kein Wunder, daß es ihn nicht länger an Bord gehalten hatte und daß er über der Wiedersehensfreude mit dem geliebten Land vergessen hatte, Jona ihren wertvollsten Besitz zurückzugeben.

Ratlos sah sie sich im Zimmer um.

Sollte sie eine Notiz schreiben und sie ihm aufs Zimmer schicken? Das würde nur die Neugier des Hotelpersonals anstacheln. Und außerdem hatte sie keine Zeit zu verlieren.