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Auch wer barfuß im Herzen ist, darf Satinschuhe tragen Keine Prinzessinnenhochzeit! Das steht für Mara trotz Disneyliebe fest. Doch mit tatkräftiger Unterstützung ihrer Freundinnen findet sie sich im Wunderland wieder, in dem Filztauben, rosa Toilettenpapier und hohe Erwartungen herrschen – und allerlei Hindernisse der Märchenhochzeit im Weg stehen. Zwischen den Verlockungen der Brautwelt und der Organisation eines haarsträubenden Job-Events, das Maras launenhafter Chef direkt vor der Hochzeit ansetzt, verliert sich Mara zunehmend im Irrsinn. Zum Ticken des Wedding Countdowns steht sie schließlich vor der Frage: Was steckt da in mir – und was sagt Bräutigam Tom dazu? Zur Antwort zu finden, ist vielleicht das Beste an der Hochzeit …
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Die kleine Märchenhochzeit am Rande des Wahnsinns
Lea Nicolas
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Instagram @lea_nicolas.autorin
2. Auflage, 2025, veröffentlicht über tolino media
Zuerst erschienen unter dem Titel „Märchen schreibt die HochZeit“, 2022, bei KDP
© Alle Rechte vorbehalten.
Lea Nicolas
c/o Block Services
Stuttgarter Str. 106
70736 Fellbach
Die Handlung und alle handelnden Personen sowie alle Namen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden und/oder realen Personen oder Organisationen ist rein zufällig.
Für meine Hochzeits-Feen,
die allzeit bereit waren, Glitzer über mich zu werfen.
Besonders Ivy,
die dafür gesorgt hat, dass ich auf dem Teppich bleibe –
dieser aber in den richtigen Momenten mit mir abhebt!
Die Hochzeit ist der
goldene Ring
einer Kette,
die mit einem Blick beginnt
und deren Ende die Ewigkeit ist.
Khalil Gibran, Philosoph, 1883-1931
Prolog
Der fliegende Teppich legt ganz schön Tempo vor. Mit mindestens zweihundert saust er mit mir im Kreis. Oder hundertachtzig. Hundertsechzig jedenfalls ganz sicher, denn das ist die Geschwindigkeit, bei der mir auch im Auto schwindlig wird. Da sind Gläser, die aneinander klirren, meine Schon-immer-für-immer-Beste Claire sprudelt unter Schluchzern Entzückensworte hervor. Vorbeifliegend strahlt mich Toms bester Freund Ruben an, der romantisch überwältigt die Pfeffermühle umklammert. Apropos Tom, wo ist der überhaupt? Ah da, er hält meine Hand und scheint auf etwas zu warten. Irgendwie sehen mich alle erwartungsvoll an, inklusive des schick befrackten Kellners, den ich während eines waghalsigen Loopings des Teppichs erspähe.
Äh, habe ich irgendwas verpasst?
Mal rekapitulieren.
Überraschungstrip nach Verona (gut). Gleiches Hotel wie vor verflixt schönen sieben Jahren (wirklich gut). Französisches Restaurant als Hommage an meine kulinarisch prägende erste Liebe (extrem gut). Heimlich unsere besten Freunde eingeladen (affenstark). Ergriffene Claire. Glitzerring. Bin ganz geblendet von dem Glitzerring.
Oh. Oooh.
Ja! Ich will!
Ja, selbst auf hundert Erbsen will ich bei dir schlafen! Ja, für dich will ich mein knallrotes Haar den Turm hinunterlassen (Erdgeschoss). Ja, dich will ich auch in Froschgestalt küssen, ja, dir will ich mein Hemdchen zum Sammeln der Sterntaler schenken, ja, nur dein Gesicht will ich im Spieglein betrachten …
Warum starren die denn immer noch so?
Toms Kastanienaugen blicken mich beschwörend an, als wolle ich dem Lebensgefährten seines Vaters erneut eröffnen, dass ich Bettwäsche-Bügler für bekloppt halte. Claires Blick ist intensiv auf meine Kontaktlinsen gerichtet wie damals im Schulsport, wenn ich meine Übelkeit nicht ausreichend überzeugend darstellte. Ruben sieht mich auch so auffordernd an, sogar der Frack scheint zu warten, was ist bloß –
Herrje, achso!
Unter der konzentrierten Aufmerksamkeit der beim Franzosen versammelten Italiener öffne ich den Mund und lege alles an Emotion in die entscheidenden drei Worte.
»Oh, oh, okeee!«
WhatsApp von Mara an Mama, Papa, Isabelle, Victoria, Becca
Ich werde heiraten!!!!!!?
WhatsApp von Tom an Vati und Reinhard
Holt die Taschentücher raus, es wird geheiratet!
WhatsApp von Claire an Mara
So toll, dass ich diesen Augenblick mit dir erleben durfte! Und das war erst DER ANFANG, ma petit mariée hippie!
Eins
»Du musst nur deine Füße bewegen!«
Victoria, den nutellabraunen Bob ausreißerfrei geglättet, und Isabelle, deren rotgoldene Ohrstecker shoppingkanalwürdig zu ihrer Swarovski-Uhr passen, schauen mich auffordernd an. Gleichzeitig. Gefolgt von einem ihrer Hochgezogene-Augenbrauen-Blickwechsel. Ihre Mimik läuft nach fünfundzwanzigjähriger Freundschaft synchron. Victorias makellos manikürter Zeigefinger pikt in mein Ringelshirt, mit der ganzen Vehemenz, zu der ihr Däumelinchen-Körper fähig ist. Seit sie diesen stressigen Job in ihrer Schickimicki-Bank hat, ist sie endgültig unerbittlich geworden. Ihre raue Gianna Nannini-Stimme treibt mich an.
»Nur drei kleine Schritte, dann sind wir drin!«
Eine Lichterkette blinkt grell in meine Augen. Meine Netzhaut könnte sich ablösen. Auch für das Augenlicht des Rapunzel-Prinzen wurde die Liebe zum Verhängnis.
»Mara!«, schnaubt Isabelle zu mir herunter, ihr Lidstrich perfekt passend zu den Ohrringen. Zum Nagellack. Zu den Dutzenden von Nadeln, die ihr perlblondes Haar in knapp zwei Metern Höhe in einem seidigen Meisterwerk bändigen. »Du weißt, warum wir das tun!«
»Gnade«, wispere ich, ernte jedoch unterhalb und oberhalb meiner Augenhöhe nur stoisches Kopfschütteln.
Nervös zwirble ich meine Locken, die heute wieder weniger an Pretty Woman als an das Wikingermädchen Merida erinnern. Na schön. Zeit, sich den grellen Tatsachen zu stellen.
Ich werde das Reich des Bösen betreten.
Die Hochzeitsmesse.
Ich weiß, ich weiß! Aber ich plane immer, ich plane alles, und Victoria und Isabelle haben mich der Ahnungslosigkeit in Brautdingen überführt. Außerdem der Verweigerung brautgemäßen Verhaltens. Weil es mir egal ist, ob andere Bräute Perlen, Peperoni-Diät und Probesträußen huldigen. Na gut, weil ich nicht wusste, was ein Probestrauß ist. Ich will keinen großen Auftritt. Ich sehe nicht ein, was Heiraten mit Pediküre zu tun hat und wieso ich mich mit Heißwachs quälen soll, wo sonst der Rasierer gute Dienste leistet. Ich brauche dieses Theater nicht. Und offenbar wissen meine Füße das und wurzeln deshalb in ihren flachen Stiefeln vor dem Eingang fest. Pedistische Intelligenz.
Bei den Blinklichtern handelt es sich um Herzen.
Rote Herzen.
An. Aus. An. Aus. An.
Gut … ich LIEBE Hochzeiten.
Ich heule schon, wenn ich meinen platten Hintern auf einer harten Kirchenbank platziere und den Bräutigam aufgeregt vorne stehen sehe. Ich heule, wenn Megara von Hercules ins Leben zurückgeholt wird und wenn Dornröschen und der Prinz einst im Traum durch den Wald tanzen. Für den auferstandenen Walt Disney würde ich Tom sofort verlassen. Aber ich wollte nie Prinzessin sein. Barbiepuppen habe ich geschoren und das Stroh für meinen Playmobilhof benutzt. Ich renne in ausgeleierten grünen Shorts herum, die Claire als Schande von Karlsruhe bezeichnet, obwohl sie inzwischen die Schande unseres beschaulichen Pfälzer Dörfchens sein müssten – aber Claire meint, schon Karlsruhe wäre kaum groß genug, die Schande zu tragen. Was ich sagen will, ist, dass ich heirate, dass es aber nicht um all das Rosa und Bling und diese Federfrisuren geht!
»Nicht mit mir, ihr Hypnoseherzen!«, rufe ich kampfbereit und recke abwehrend die Arme in die Luft. Dabei verpasse ich Victoria einen Handkantenschlag, was mir irritierte Blicke von Isabelle einträgt, die unter der blinkenden Lichterkette in Trance gefallen war. Sowas hätten die zu Aladdins Zeiten gebraucht, um die Schlangen zu dressieren.
»Können wir dann mal?«, schlüpfen Isas Lebensgeister aus der Lampe.
Victorias Piksfinger, unbeeindruckt von meinen neuen Karatefähigkeiten, bohrt sich abermals in mein Blau-Weiß.
»Hallo, kleine Spinnerin, kommen wir heute noch voran?«
Die Herzen schalten ins Stakkato, dann zu wechselnden Geschwindigkeitsstufen.
An-aus, an-aus.
Aaaan. Auuus. Aaaan.
Es kann nicht wirklich schaden, einen Blick auf diese merkwürdige Brautwelt zu werfen, oder?
Nur, um keine Informationen zu verpassen. Aus rein wissenschaftlicher Neugier. Dann kann ich schließlich alles Mögliche ausschließen. Genau. Jawohl.
Gut, ihr Füße, dann mal los. Kommt schon.
Schritt eins … Schritt zwei … Schritt drei …
Oh Gott.
»Dreihundertsiebenundfünfzig«, keuche ich. Ein Arsenal an Spiegeln reflektiert meine aufgerissenen Augen und bebenden Nasenflügel. »Dreihundertsiebenundfünfzig Parfüms …«
Victoria drängelt von hinten, während Isabelle den Weg freiwedelt und aufmunternd zu mir herunter zwinkert. Verzweifelt aussehende Männer quälen sich mit mir über den roten Teppich durch die mit Frauen vollgestopften Gänge. Ein schmächtiger Igelkopf stolpert, wird aber von seiner Zukünftigen mit stählernem Griff weitergezogen. Angehende Bräute krallen sich an die Pappstände, um Bewerbungsgespräche mit den Halbgöttern in einheitlichen Anzügen und Kostümchen zu führen. Neunundzwanzig Lebensjahre lang dachte ich, ich würde mir eine Location, einen Fotografen oder ein Brautstudio aussuchen. Damit habe ich so viel Ahnung bewiesen wie Nemos Dorie Orientierungssinn. Selbstverständlich kommt für die Hochzeit nur das Beste in Frage, und das Beste hat eine Warteliste und genaue Vorstellungen von meiner Hochzeit. Durch den geschäftigen Lärm dringen ein paar Takte aus My Girl, die eine Nachricht von Claire melden: Hast du dich rein getraut?
Ich bin zu keiner Antwort fähig. In meinen äußeren Augenwinkeln flimmert es. Einladungspixel, Tischkartenpixel, Kutschenpixel, Frisierkopfpixel, Taubenpixel. Tauben?
Mandeln. Überall Mandeln. Rosa Mandeln, lila Mandeln, gelbe Mandeln. Ich frage mich, woher dieser Mandelwahnsinn kommt, kann mich aber nicht weiter mit dem Gedanken beschäftigen, denn vor meinen Augen baumelt eine Braut über einer Gletscherspalte. Waaah! Ich blinzele heftig, um das Flimmern loszuwerden. Perfekter Lippenstift, perfekter Pony, perfekte Nägel, Gletscherspalte. Der gegelte Göttergatte hält den glitzernden Wattebausch mit einem strahlenden Lächeln in seinen ebenfalls manikürten Händen. Stark, ritterlich. Ein Mann, bei dem man keine Fragen stellt. Abgesehen von der einen vielleicht: Was zur Hölle machen die an ihrem Hochzeitstag auf einem Gletscher, und, achja: Frieren die nicht?
Tief durchatmen. Vielleicht sind es dreihundertachtundfünfzig Parfüms. Oder existiert eine Stressvariabilität von Düften?
»Schatzi«, haucht es neben mir, und ich erkenne pixelig ein betörtes Brautgesicht und einen unglücklichen, ungegelten Bräutigam in spe, »wäre DAS nicht toll?«
Unwillkürlich folge ich dem Blick und starre auf ein ineinander verschlungenes Paar in einem Herz aus Feuer. Das Lodern der Flammen spiegelt sich in ihren Blicken, die Funken sprühen. Plötzlich schießt eine Stichflamme in die Höhe, der Tüll des Kleides steht in Flammen, der Polyester lodert lichterloh, jetzt greift das Feuer auf die hochglänzende Krawatte des Bräutigams über, doch todesmutig zerrt er mit seinen unschwieligen Händen an der gründlichen Schnürung der Korsage, um seine Braut zu retten … Hilfe, Kopfkino aus!
Ist das rosafarbenes Toilettenpapier da drüben?
Angeschoben von Victoria passiere ich ein Areal, das mich in Aladdins Zauberhöhle versetzt. Es glitzert und funkelt so überwältigend, dass ich meine Lederbeutel auspacken und die Pracht einsammeln möchte, bevor ich aus der Höhle wieder ins Tageslicht trete. Wo ist schon wieder mein Äffchen? Nichts anfassen, Abu! Ich muss den Skarabäus finden. Oder die Lampe? Dieses Geglitzer bringt mich ganz durcheinander.
»Erde an Mara, Erde an Mara!«
Ich pralle gegen Isabelle, die mit etwas wedelt. Ein Programmheft. Für eine Hochzeitsmesse. Ach ja, stimmt.
»Hm, was?«
Meine Konzentration hängt zwischen Diamanten und den Kuchen, die ich vorne erspähe, was mich an einen Film erinnert, in dem der Verlobungsring in einem Stück Torte versteckt war, die Zukünftige leider großen Hunger hatte und der Ring dann auf weitaus unrühmlichere Art …
»Maaara!!« Victorias Piksfinger malträtiert meine Baumwoll-Polyester-Mischung.
Ich zucke zusammen. »Was?«
»Die Show geht gleich los! Komm!«
Alla hopp, Galopp! Wir preschen vor Richtung Bühnenbereich wie drei weibliche Musketiere. Kurz stoppe ich versonnen vor einer traumhaft geschmückten Kutsche, schon zieht der Sog mich weiter. Im Eiltempo vorbei an einem Stand mit der schonendsten Methode für weißere Zähne, Pralinen mit unseren Initialen, ultralangen Extensions und Heißwachsbehandlung, Limousinen und Oldtimer, immer wieder die Maniküre-Mafia. Claire hat mich gewarnt, Abstand zu halten, damit unter den Mafiosi in Anbetracht meiner Totalverweigerung keine Stampede losbricht, also renne ich mit den Händen in den Rocktaschen starren Blickes vorbei.
Ein Quieken von Isabelle reißt mich los von einer Braut auf einem Elefanten und einer Braut, die ihren perlengeschmückten Strauß von einem Paraglider aus zu ihren acht pittoresken Sahnetupfern in die Tiefe hinab wirft.
»Da sind die Torten!«
Aaah, Zucker. Danke, Wunderlampe.
Ich gebe es zu (jajaaa), eine Torte wünsche ich mir. Weil ich die Torte anschneiden möchte, traditionell-romantisch. Natürlich werde ich die Hand oben haben, denn ich wette, Tom kennt den Brauch nicht. Und, ich wage es gar nicht zu sagen, weil ich auf diese kleinen Tortenfiguren abfahre. Unbemerkt und ungehorsam trippeln meine Füße näher (ein weiterer Fall von pedistischer Intelligenz). Ein Refugium vor dem Wahnsinn dieses Parallel-Universums, oooh, eine Burg mit Brautburgfräulein, und … neunhundert Euro??
Weil ich um ein Zuckerkorn dem plötzlichen Herztod erlegen wäre, hänge ich mich an Isabelles Ärmel und lasse mich durch die Sahnecreme-Abteilung treiben. Gigantische Marienkäfer mit Punkten aus Hochzeitsmandeln, Marzipan-Foto-Torte, raumfüllende Buttercremepracht, Bio-Sahne-Torte. Die fünfstöckige Trüffeltorte überschreitet das Budget, das ich für die Flitterwochen eingeplant habe. Bisher wusste ich es nicht, aber ich bin offensichtlich arm.
Am bräutlichen Existenzminimum.
»Möchten Sie probieren?«
Ein Teller schießt auf mein Gesicht zu. Er gehört zu einem kleinen Mann mit einer großen Konditormütze. Blütenweiß. Genau wie der Teller, auf dem eine perfekte, mit Zuckerröschen dekorierte Schnitte aus Sahne und Biskuit drapiert ist. Aufatmend greife ich nach dem Teller, doch der kleine Mann hält ihn umklammert.
»Ähm, Dankeschön?«, versuche ich es und zerre nochmal an dem Geschirr.
Die Mütze hat einen festen Griff.
»Mylady, Sie können doch nicht einfach diese Torte essen!«, ereifert er sich schrill.
Erschrocken lasse ich den Teller los, die Mütze stolpert, fängt sich jedoch gleich wieder und hält mir den Teller hin.
»No, no! Sie sollen doch probieren!«
Hilfesuchend sehe ich mich nach Victoria um, doch mit ihrer Statur verschwindet sie problemlos in der Menge. Isabelles Haarnadeln blitzen in unerreichbaren drei Metern Entfernung auf. Ich werde für meine Kommunikationsfähigkeiten bezahlt, also wo ist meine Stimme?
»Ähm, Entschuldigung …«, stammle ich und trete hastig den Rückzug an.
Die Mütze folgt mir.
»Mylady!«, schrillt er. »Sie sollen die Torte probieren!«
Ja, das habe ich doch versucht! Zaghaft strecke ich die Hand nach dem Kuchenteller aus. Hallo, saftig lockerer Biskuit –
»HALT!«, kreischt der Maestro unter der Mütze. »Sie können doch diese Torte nicht essen!«
Meine Hand zuckt zurück. Angst kriecht meinen Nacken hoch. Weg hier!
Rückwärts stolpere ich davon, der kleine Mann, fuchtelnd mit dem Tortenteller, hinter mir her. Eine Hand greift von hinten nach meinem Arm. Hilfe!
»Ma-ra!« Isabelle lacht sich schlapp.
Ah, es ist Isabelles Hand. Rettung naht.
»Flucht!«, flüstere ich. »Der Typ ist durchgeknallt!«
Isabelle kann sich kaum halten, die Haarnadeln wippen belustigt. Dann reißt sie sich zusammen, setzt ihr Galeristengesicht auf und säuselt: »Ein traumhaft schönes Musterstück, Meister! Haben Sie vielleicht Probierstücke an Ihrem Stand?«
Ansatzweise gestärkt von etlichen winzigen Probierstücken verlassen wir den Stand der Mütze. Victoria und Isabelle stürmen wieder voran, als wären die Bären hinter ihnen her, bei denen sich Goldlöckchen des Mundraubs schuldig gemacht hat.
»Was für eine Show ist das denn?«, rufe ich meinen Freundinnen atemlos nach.
Dafür, dass wir früher notorisch den Schulsport geschwänzt haben, legen die ordentlich Tempo vor. Ich war beim Gucken noch nie von der schnellen Sorte, ich kann mich im Edeka so lange aufhalten wie andere Leute im Metropolitan Museum of Art – und das hier fällt unter Reizüberflutung der übelsten Sorte. Abgehetzt erreiche ich unser Ziel und kremple die Ärmel hoch und sofort wieder herunter, als mich eine Reklame für sommersprossenabdeckendes Body-Make-Up anspringt.
»Was«, schnaufe ich in einem erneuten Orientierungsversuch, »was schauen wir uns an?«
Victoria lacht ihr Reibeisenlachen. »Mädchen, du bist unmöglich! Das sag ich dir jetzt das dritte Mal!«
Isabelle verdreht angesichts meines ratlosen Blicks gespielt genervt die Augen Richtung akkuraten Lidstrichs und frohlockt: »Die Hochzeitssänger!«
Und so hören wir uns die Hochzeitssänger an, für die ich trotz ihrer lieblichen Kreidestimmen nicht die Tür öffnen werde. Das bietet Victoria und Isabelle Raum, ihr Netz um mich zu weben, während wir harmonisch an unserem Probe-Piccolo nippen.
»Bist du weiter mit dem Farbkonzept?«, fragt Victoria.
Ich kann stolz verkünden, dass ich inzwischen weiß, dass sie meine Deko meint. Aber woher soll ich jetzt schon wissen, welche Farben für meine Hochzeit die richtigen sind? Kennen Sie die Sanduhren bei Tabu, die die Zeit vorgeben, um Begriffe zu erklären? Ich brauche diese Zeit, um mich zwischen den Begriffen zu entscheiden.
»Hauptsache nicht rosa!«, verkünde ich inbrünstig das einzig Wichtige und schüttle mich ausgiebig, was mir irritierte Blicke von vorbeihastenden Bräuten einträgt. Meine unabsichtlich exaltierte Körpersprache ist berüchtigt. Im Freundeskreis kursiert eine Liste von Gläsern, die ich im wilden Gestikulieren zerschmettert habe. Mein Gesicht ist kein offenes Buch, sondern ein Marktschreier.
»Vielleicht ein zartes Violett«, träumt Victoria, »Richtung Flieder, und in deinem Brautstrauß könnten dunklere violette Blüten sein!«
Ich stutze. »Was hat denn der Brautstrauß damit zu tun?«
»Mara!«, entringt sich Victoria ein Aufschrei.
Ja, was denn?
Isabelle ist ebenso fassungslos.
»Darüber haben wir doch schon gesprochen! Dein Farbkonzept« – sie ringt die Hände – »deine verschiedenen Dekorationselemente« – Schnappatmung – »und dazu gehört natürlich der Strauß! Die müssen aufeinander abgestimmt sein, um das Ereignis perfekt in Szene zu setzen!«
»Einladungskarten, Namenskarten, Tischnummernkarten, Blumendekoration, Servietten!«, rattert Victoria los. »Luftballons in der Kirche! Tischdecken oder Tischläufer!«
Isabelle nickt, noch kurzatmig vom Schock.
»Vergiss die Streudeko nicht, Glassteine, Täubchen, Mandeln, Herzchen, Ringe, und die Kirchenhefte!«
Victoria fühlt sich genötigt, zu den Grundlagen der Brautlehre zurückzukehren: »Und natürlich dein Brautstrauß und Toms Einsteckblume oder sein Einstecktüchlein oder Stecker am Revers!«
Revers-Stecker? Ich räuspere mich.
»Ihr wisst schon noch, dass ich den Abschlussball geschwänzt habe …«
Doch Victoria ist jetzt völlig in ihrem Element.
»Wenn die Einladungskarten fliederfarben waren, können die Blütenblätter in der Kirche nicht rot sein!«
Eifrig ergänzt Isabelle: »Und pass auf mit dem Schmuck! Wenn du alles mit Silber kombinierst, muss natürlich auch der Schmuck silbern sein. Stell dir nur vor, du hast in der Tischdeko silberne Elemente und dazu Goldschmuck, wie sich das beißt!«
Sie schüttelt sich angewidert. Vielleicht färbe ich ab.
»Ach Gott, und die Haarnadeln! Die können den Gesamteindruck total ruinieren!«
Verblüfft sehe ich dem weißen Häschen hinterher, das mit seiner Uhr davon hoppelt. Offenbar bin ich ins Kaninchenloch gefallen und in Alices Wunderland aufgewacht. Klopf klopf? Wo geht’s hier bitte raus?
Ich liebe jegliche Möglichkeit für Deko (wie zu Toms Leidwesen drei XXL-Kartons mit Weihnachtskram belegen, die Mama und ich bei unserem jährlichen Deko-Shopping füttern) und, falls ich es noch nicht ausreichend erwähnt habe, liebe ich es zu planen, immer, alles, rund um die Uhr und bis ins Detail. Auch wenn meine ausgefeilten Pläne üblicherweise den unberechenbaren Anfällen des mein Gehalt bezahlenden Kobolds zum Opfer fallen, sichert meine Obsession mir doch das Überleben in seiner Koboldshöhle. Meine Schokoladenvorräte gingen noch nie zur Neige, in meinem Auto tummeln sich stets vernünftige und unvernünftige Ersatzschuhe, Notfallstrumpfhosen in allen gängigen Farben befinden sich in meiner Schreibtischschublade. Fehlende Leerzeichen in einem Satz erkenne ich aus fünf Metern Entfernung. Aber den Brautstrauß auf die Streudeko abstimmen, ist das nicht ein wenig übertrieben?
»Ich weiß gar nicht, ob ich einen Strauß will«, sinniere ich. »Wohin damit die ganze Zeit, und wozu das Risiko eingehen, dass er Flecken ans Kleid bringt?«
Victorias raues Aufstöhnen untermalt Isabelles glockenhellen Schrei, flankiert von bösem Zischen von allen Seiten.
»Du bist die Braut!«, jault Victoria, während Isabelle zeitgleich quietscht: »Jede Braut braucht einen Strauß!«
Amen. Dieser Aspekt sollte ins Grundgesetz aufgenommen werden, und von dort in die Bußgeldverordnung. Ich sehe mich schon vierundvierzig Sozialstunden lang Graffiti von den Wänden waschen.
Was sie wohl sagen, wenn ich in Flip-Flops zum Altar hüpfe?
»Ich weiß nicht«, weihe ich meine Freundinnen in meine offenbar kühnen Gedanken ein, »vielleicht spare ich mir den Strauß und trage lieber Blumen im Haar …«
Meine Kindergartenfreundin Becca findet das passend für »mein verkapptes Hippiemädchen«, aber Victoria und Isabelle greifen sich stöhnend ans Herz. Simultan, schon wieder. Vielleicht sind sie ein Fall fürs Supertalent. Isabelle schafft es dennoch, dass ihr Lidstrich sich nur minimal kräuselt, als sie mit einem lapidaren »Ein Brautstrauß gehört schon dazu« das Thema wechselt.
»Was ist mit Schmuck? Hast du schon eine Idee?«
Jetzt kann ich zur Planung beitragen.
»Ja, ich will keinen!«, erkläre ich fröhlich. »Ich trage nie Schmuck!«
Schon ist das Problem Tischdeko – Schmuck aus der Welt. Um noch eins draufzusetzen, denn die schockierten Gesichter weisen mich darauf hin, dass ich für die Ableistung dieses Umfangs an Sozialstunden meinen Job kündigen muss, ergänze ich eifrig: »Und ich trage meine Blümchen-Pumps, die sind so ganz ICH!«
Als sich das Entsetzen langsam legt, haken wir die nächsten Punkte ab.
Datum: Wenn wir noch eine tolle Location finden, diesen Sommer (vier perfekt gezupfte hochgezogene Augenbrauen), sonst nächsten. Habe schon Termine ausgesucht, die rechtzeitig vor der pickelgefährdeten PMS-Phase liegen.
Brautauto: Wieso, wir haben doch ein Auto?
Gäste: Wir laden alle ein, die wir an dem Tag gern um uns hätten. Eine richtige Sause!
Frisur: bloß keine Brautfrisur. Ich muss Victoria darauf hinweisen, dass das knallige Rot meiner Haare Absicht und kein Jahre währender Unfall ist, und ich deshalb selbstverständlich dieselbe Haarfarbe an der Hochzeit zu tragen gedenke. Nein, nichts Dezenteres!
Make-Up: Mache ich selbst, ich will ja nicht aussehen wie jemand anderes.
Nägel: Was soll mit meinen Nägeln sein? (Wehret der Maniküre-Mafia!)
Die Schreckensschreie sind sicher bis zu Alice ins Wunderland zu hören, wo das langohrige Kerlchen sich seinen Wecker auf den Kopf schlägt, bis die Schrauben fliegen. Glücklicherweise kommen gerade zur Ergänzung des musikalischen Programms die Brautfrisuren, Sträuße und Handtaschen auf die Bühne, die meine Lehrerinnen ablenken. Ich bemühe derweil zur Beruhigung meine Notration Knoppers, was mir von mehreren Seiten verständnislose Blicke einträgt. Das habe ich ja total vergessen, die Brautdiät! Sie schwebt über dem Raum und blinzelt hinter jedem Stand hervor, lauert neben Strapsen für die Hochzeitsnacht und springt einen hinterrücks an, wenn man die Alben mit Fotomotiven aufschlägt. Schuldbewusst verdrücke ich die letzten Sündenkrümel. Sicher wären Bräute mit den Nerven nicht so runter, wenn sie mehr Schokolade und weniger Weizengrassaft konsumieren würden. Aber wie könnten sie, wenn der schönste Tag im Leben der Tag ist, an dem genau geschaut wird, ob auch die Braut so schön ist wie nie zuvor?
»Ich wette alles, chérie, dass ich genau weiß, was du denkst!«, höre ich ein Kichern.
Als ich vom Ablecken meiner Finger aufblicke, steht aus dem Nichts manifestiert Claire vor mir. Ihre dunkelblauen Augen blitzen amüsiert hinter ihrer roten Brille mit den großen runden Gläsern, die zusammen mit dem farbgleichen Lippenstift ihr Markenzeichen ist. Mit ihren schwarzen Wellen, der Alabasterhaut und dem zarten Mäuschengesicht wirkt Claire wie eine coole Version von Schneewittchen. Mit Temperament.
»Mausi!«, quietsche ich entzückt, was im stimmgewaltigen »I will always love youuu« der Hochzeitssängerin untergeht. Fest drücke ich meine beste Freundin an mich. Genauso unverhofft ist sie damals in der siebten Klasse aufgetaucht, ein zweisprachiges Energiebündel mit taillenlanger Mähne und Plateau-Buffalos. Ich selbst, mit einer übergroßen Portion Unsicherheit geboren, trug damals nur unförmige Sweatshirts, um meine kürzlich explodierte Oberweite zu kaschieren. Zeitlebens die Kleinste, war ich zudem plötzlich auf meine finale Größe von einsfünfundsiebzig aufgeschossen und fühlte mich linkisch wie eine Marionette. Ständig trat ich jemandem bei der Begrüßungsumarmung auf die Füße, weil meine Schritte auf einmal so riesig waren. Das passiert mir bis heute.
Claire kannte keine solchen Probleme und ließ sie auch bei mir nicht gelten. Sie überredete mich zu meinem ersten engen Pullover und hielt meine schweißnasse Hand, als ich mir die Nase piercen ließ. Das Ergebnis kommentierte sie ohne jedes französische Anstandsempfinden mit »sieht aus wie ein Eiterpickel«. Im Gegenzug hielt ich Claires Haare, wenn die gesammelten Werke des Sommernachtsfests ihren Weg in die Büsche nahmen, erfand dreimal die Woche Ausreden für ihr Zuspätkommen und schmierte ihr stinkende Bleichcreme auf den Kopf (einer dieser Fehler, aus denen man fürs Leben lernt).
»Was machst du denn hier?«, rufe ich über die letzten schmachtenden Töne der Hochzeitssängerin hinweg und lasse Claire zu Atem kommen. »Ich dachte, du kannst nicht!«
Ohne Claire wäre ich verloren. Das weiß sie auch, deshalb ist sie aufgekreuzt, um mich zu retten.
Oder um mich für unnötigen rosa Glitzerkram zu begeistern, das weiß man nie so genau.
Ich versuche, von ihren rot bemalten Lippen zu lesen, weil die Musik zum finalen Crescendo anschwillt, habe aber keine Chance, weil meine Lieblingsfreundin haltlos kichert.
»Was?«, rufe ich, und während plötzlich die Musik erstirbt und sich in der Stille alle Augen auf uns richten, brüllt Claire: »DICH zwischen den Brautmonstern konnte ich mir doch nicht entgehen lassen!«
Der befrackte Moderator rettet uns in letzter Sekunde vor dem Mob in Pumps.
»Und nun, meine Damen«, ruft er im Euphorietaumel in sein Mikrofon, »kommen wir zum Höhepunkt unserer Show. Naaa, was könnte das wohl sein?«
Kalorienfreies KitKat, denke ich, aber ekstatisch schallt es von der Bühne: »Die Brautkleider!«
Ah, die Brautkleider, die Brautkleider!
Bin wieder da, bin bereit, vergessen Sie alles, was ich von mir gegeben habe – die KLEIDER kommen!
Mein Herzschlag beschleunigt sich, ich halte den Atem an, gebannt. Mein Brautkleid. Das Kleid nur für die Braut, nur für diesen Tag, nur für diesen Ball der Bälle. Ein Kleid wie aus dem Märchen, von Feen geschneidert, von Zauber umgeben …
Aufgeregt drücke ich Isabelles Arm auf der einen, Victorias Arm auf der anderen Seite und ignoriere Claires belustigtes Zwinkern. Kippelnd halte ich mich auf den Zehenspitzen, um besser zu sehen.
Da rauschen sie heran, ein Traum aus Tüll und Chiffon und Seide nach dem anderen. Prinzessin Sissi, Lady Di und Madonna sind dabei, Arielle schwimmt zum Traualtar, mehrere blumenbekränzte Kinder tragen eine Schleppe, woanders reicht der Schleier bis zum Boden, und jetzt …
»Das ist es!«, entringt sich ein Keuchen meiner glühenden Brust. »Dieses Kleid muss ich anprobieren!!«
Wahrscheinlich war der Moment, in dem ich das Kleid auf dem Arm hielt, der Moment, in dem LA MARIÉE, wie Claire sie taufen wird, geboren wurde. Tief drinnen, wo sie noch eine Weile schlummerte, mit einem halb geöffneten Auge. Heimtückisch, um auf den richtigen Zeitpunkt zu warten. Als wir endlich aus der stickigen Halle an die frische Luft treten, ist jedoch noch alles unter Kontrolle.
»Nicht dieses Prinzessinnengehabe!«, wiederhole ich mit gestrafften Schultern meinen Standpunkt.
Während Claire nur grinst, blinken die Herzen spöttisch. Victoria haucht mir zum Abschied ein Küsschen neben die Wange und schenkt mir ein mildes Lächeln. Mit einem wissenden »Warten wir mal ab, was du bis zur Hochzeit denkst« und einem letzten Hochgezogene-Augenbrauen-Blickwechsel zwischen ihr und Isabelle stöckelt sie von dannen.
Vielleicht ahnt nicht einmal sie, wie Recht sie behalten soll.
Schuhe – Check.
Schmuck
Nägel
Brautfrisur
Barbie
WhatsApp von Mara an Claire
Stell dir vor, sie bekommen im Januar alle Kleider und verkaufen sie dann aus! Wenn ich bis April warte, sind alle weg! Zum Glück habe ich schon einen Termin!
Zwei
»Süße«, haucht Tom, und seine moccabraunen Augen leuchten, »du bist der Wahnsinn!«
Sein Fuß wippt aufgeregt auf den Holzdielen unserer Küche. Mit den Ellenbogen auf dem Tisch studiert er meine wissenschaftliche Ausarbeitung zum Thema Hochzeitslocation. Eine klitzekleine Tabelle, in der ich neunundvierzig Locations im Umkreis von hundertfünfzig Kilometern zusammengetragen habe. Ergänzt um wenige relevante Daten wie maximale Personenzahl, Übernachtungsmöglichkeiten, Getränkepreise, hübsche Kirchen in der Nähe, Einrichtungsfarben, Zusatzkosten, Entfernung zu uns, den Freunde-Ballungszentren sowie der Anbindung an die Öffentlichen, der Sperrstunde und der Möglichkeit, draußen zu feiern. Ich sonne mich in der Bewunderung wie unser Kater Richard Löwenherz auf dem Frühstückstisch, wenn Tom nicht hinsieht. Mein Bräutigam ist richtig aus dem Häuschen, begeistert fährt er sich immer wieder durch das kurze Blond auf seinem Kopf, bis er jedem Hühnchen Konkurrenz macht.
»Schau dir das an! Da können wir schon alles Mögliche ausschließen!«
Er sagt das mit einer Euphorie, als hätte ich Stroh zu Gold gesponnen. Mir wird warm. Ich habe den Meister der Tag genau aktualisierten, in ausgefeilte Verbrauchskategorien aufgeteilten, seit vierundzwanzig Jahren auf den Cent stimmenden Excel-Finanztabellen beeindruckt. Unglaublich.
Vielleicht KANN ich Gold spinnen.
Gut für unser Budget wäre das allemal.
»Wie hast du das nur in den paar Tagen recherchieren können? Du bist genial!«
Röte steigt meinen Hals hoch und freut sich, auf den Wangen Verwandte zu treffen. Sch-sch! Cool bleiben jetzt!
»Urgsgrll!«
Wah, kam das aus meinem Mund?
Oh, Mist.
Cool bleiben! Vielleicht kann ich das als Aufstoßen deklarieren? Zu peinlich. Räuspern? Verdächtig. Schluckauf. Schluckauf könnte gehen.
»Hicks!«, mache ich vernehmlich. »Hicks!«
Tom, bisher völlig vertieft in die Tabelle, wirft einen Blick zu mir herüber. Sieht mein Gesicht. Zieht die Augenbrauen hoch. Meine Röte intensiviert sich. Verdammter Marktschreier!
»Najaaa«, sagt mein elender Mund, der einfach keine Ahnung von Diskretion hat. Die erbsengroßen Möchtegerntomaten an unserem liebevoll gehätschelten Stämmchen werden neben mir vor Neid noch blasser. Toms Blick ähnelt jetzt dem bei Navy CIS, wenn er vor Abigail Sciuto den Täter überführen will. Beziehungsregel Nummer Eins: Versuche nie, einen technischen Forensiker auf die falsche Fährte zu locken. Er wird die Spuren sichern, ausgefeilte Kenntnisse der Prüftechnik anwenden, seine interne Vergleichsspurendatenbank durchspulen und dich auch ohne Stereovergleichsmikroskop überführen. Ich bekomme wirklich Schluckauf. Dann durchfährt mich der Geistesblitz, und ich werfe schnell ein wenig Luft in den Mülleimer, damit ich Tom den Rücken zuwenden kann.
»Von, hicks, Claires Hochzeitsliste aktualisiert!«
Das ist nicht ganz unwahr.
Eine der Locations war in ihrer Auswahl.
Na gut, gut!
Vielleicht habe ich ein bisschen recherchiert, so ein paar Tage, hm, Monate, bevor Tom den Glitzerring gezückt hat. Aber was hätte ich bitte tun sollen? Da fanden wir uns im September zum Wurstmarkt knutschend im Zelt wieder, die Band heizte richtig ein, und Tom sagte ohne Vorwarnung: »Wenn wir heiraten, schmeißen wir eine große Party!«
Wie, was, heiraten? Ach, egal!
»Oh jaaa«, freute ich mich, »und natürlich brauche ich ein ganz, ganz hübsches Kleid!«
Tom strahlte mich an. »Wir laden alle ein. Das wird die Party unseres Lebens!«
Ein winziger lichter Augenblick huschte durch meine Seligkeit. Tom hat nämlich mal Fußball gespielt. Diese Art von Männern kennt nicht Leute aus einem Dorf, sondern das gesamte Dorf. Jeder ist der Cousin oder Onkel oder Bruder des Freundes der Nichte von irgendwem, der irgendwann mal im selben Verein gespielt hat. Oder spielen wollte.
»Das wird ganz schön teuer!«, rief ich, aber Tom, der während meines Angstschubs kräftig mit der Band Tage wie diese gegrölt hatte, wischte meine Sorgen beiseite.
»Wir haben doch die Fonds, die können wir verkaufen!«
Die Fonds? »Aber die sind doch für Notfälle!«
Tom zog mich hoch auf die Bank, und zusammen mit hunderten anderer Menschen schunkelten wir taktfrei zur Musik. Ich schunkle ja sowieso immer in die entgegengesetzte Richtung. Tom zeigte auf die Bühne, zumindest schien es mir die Gegend zu sein, und schrie mir ins Trommelfell: »Und eine Band werden wir haben!«
Ich musste lachen. »Schatz, wir brauchen noch Geld für mein Kleid!«
»Wir haben doch die Fonds!«
Glucksend ließ ich mich von Tom auf der einen Seite und einer betrunkenen Rentnerin mit Schildpattohrringen auf der anderen auf dem Bänkchen hin und her wiegen. Mein Freund war so klug. Ich legte die Hände als Trichter um sein Ohr, fiel von der Bank, wurde von den Schildpattohrringen gehalten und prustete: »DAS ist wirklich ein Notfall!«
Am Morgen danach fuhr ich aus meinem Dornröschenschlaf hoch und riss ruckartig meine verklebten Wimpern auf. Schwarze Krümel rieselten aufs Kissen. Klar, er hatte mich nicht direkt gefragt, aber – Heiraten?!
Wiederbelebt durch zwei Liter gutes Pfälzer Leitungswasser kuschelte ich mich aufs Sofa und tippte heimlich bei Google »Kosten Hochzeit« ein. Vor Schreck fiel mir das Duplo aus dem Mund, was Richard Löwenherz zu einem gewagten Sprung auf meinen Schoß verleitete, von dem er sich voller enttäuschter Hoffnungen wieder trollte. Da war eine Hochzeitsplanerin, die konnte den Kostenrahmen nur auf fünftausend Euro genau einhalten. Eine Zwanzigjährige fragte nach einer Örtlichkeit im Budget von fünfzehntausend Euro. Hektisch klickte ich das X. Der Angstschub klopfte mir freundlich auf die Schulter.
WAS KOSTETE DENN SO EINE HOCHZEIT?
Miete. Keine Miete. Buffet oder Menü. Getränkepreise. Mit fliegenden Fingern legte ich eine Tabelle an. Getränkepauschalen waren rar wie Spindeln in Dornröschens Reich. Mal war die Dienerschaft drin, mal nicht. Hier spielte die Größe des Gefolges eine Rolle, dort nicht. Die Tabellenspalten bekamen Zuwachs. Ich erweiterte meinen Wortschatz um das Wort Hussen. Es gab Nachtaufschläge und, kein Scherz, Sitzgelegenheiten während des Empfangs. Die Tücken der Einrichtung sprangen mich an. Schwere schwarze Samtvorhänge, vielleicht noch von Maleficents Audienz. Geblümte Teppiche. Ich ergänzte die Tabelle um Markierungsfarben nach dem Ampelprinzip. Ein Weingut wies im Kleingedruckten darauf hin, dass die Terrasse für andere Gäste offen bliebe, die durch unsere Feier zum Weinlassen marschierten. Aber sicher nur selten.
Was denn – ich habe doch schon zugegeben, dass ich eine Obsession fürs Planen habe! Soll ich mich da ausgerechnet auf den Ball der Bälle unvorbereitet einlassen? Jede Wette, dass auch Aschenputtel heimlich geplant hat, während sie die Täubchen zur Arbeit motivierte!
Außerdem zählt schließlich das Ergebnis, nicht wahr? Und das sind sechs Besichtigungstermine in dank Tabelle einwandfrei identifizierten Favoritenlocations.
Nein, nichts. Ich konzentriere mich nochmal auf alle meine Sinne, dann atme ich auf. Keine drohenden Moll-Töne oder fliehenden Mäuse. Kein heranwehendes Moschusparfüm, das das Nahen des Kobolds ankündigt. Für den Augenblick kann ich mich um die wichtigen Dinge kümmern: Ich versuche während der Arbeitszeit mein Glück bei der Pfarrerin, die für unser Kaff zuständig ist. Vor zwölf kann ich das riskieren, denn die knochige Gestalt meines Chefs taucht nie vor der Mittagessenszeit in unserer kleinen Privatakademie in Kaiserslautern auf. Er kann sich das erlauben, weil er den Laden gegründet hat und uns mit Terror und exorbitantem Schmerzensgeld dazu bringt, alles am Laufen zu halten.
Tuut. Tuut.
Wir bieten eine private berufsschulische Ausbildung wie die Physiotherapeuten oder die Kochschule nebenan, aber dank eines zugegebenermaßen genialen Einfalls des Kobolds heißen wir Akademie, teilen die Schuljahre in Semester und nennen unsere Schüler Studiosi. Mit coolen Namen für die Lehrgänge in Mediengestaltung sind wir hip. Offiziell bin ich stellvertretende Leitung, aber tatsächlich bin ich Cinderella und Schweinemagd in einem, in rasantem Wechsel. Für meine Schüler bin ich die gute Fee. Vor allem aber werde ich ab Betreten des Büros zu Irongirl, was mich täglich wieder selbst überrascht.
Tuut. Tuut.
Angespannt kauere ich auf meinem Bürostuhl, die Stiefel unter dem Schreibtisch, meine Füße unter den Beinen verknotet.
Tuut. Tuut. Tuu–
»Pfarramt, hallo?«
»Hallo, oh, hallo, wir würden gerne heiraten, Lenz ist mein Name, und ich wollte fragen, ob der siebenundzwanzigste August noch möglich ist?«
Es raschelt am anderen Ende. Sag ja, sag ja!
»Dieses Jahr?«, fragt die Frauenstimme.
Victoria und Isabelle vor meinem geistigen Auge zucken angesichts meiner Vermessenheit, eine Hochzeit in weniger als einem Jahr planen zu wollen, zusammen. Die imaginäre Claire gibt mir ein ermutigendes Daumen-Hoch.
»Moment … ja, das ist kein Problem. Der ist noch frei.«
Hurra!
Ich vollführe eine schnelle Drehung auf meinem Stuhl und jubiliere lautlos mit den Armen in der Luft.
»Ich habe sowieso fast nur Beerdigungen, ich freu mich immer richtig, wenn ich mal eine Hochzeit machen kann!«
Begeistert springe ich von meinem Stuhl, falle wegen der verknoteten Füße vornüber und stoße beim Festklammern an der Schreibtischplatte den bunten Stapel Unerledigtes um. Anweisungen für Artikel in verschiedenen Stufen der Selbstbeweihräucherung, Pressekontakte und Notizen zu sonstigen vom Kobold ausgewählten einzulullenden Persönlichkeiten regnen fröhlich zu Boden.
»Oh, das ist ja toll! Also, nicht das mit den Beerdigungen, nein, keinesfalls, aber, ich freue mich! Und was müssen wir dafür tun?«
»Sie sind doch evangelisch?«
Oh, also, hm. Gebettet auf meinem bunten Blätterhaufen drücke ich mir die Daumen.
»Ja, wobei, mein Freund ist ausgetreten, aber seine Eltern sind in der Kirche, naja, sein Vater und dessen Lebensgefährte, und meine Eltern auch, außer meinem Vater, und die Konfirmation hat Tom noch gemacht, und ich sowieso …«
Fröhlich schallt es aus der Leitung: »Einer reicht, wir Pfälzer feiern doch alle gern!«
Die nehmen wir, auf jeden Fall. Toms Verhältnis zur christlichen Lehre ist ja eher vermeidender Natur. Er hat mich ernsthaft gefragt, ob wir nicht eine Kirche ohne Pfarrer mieten könnten, zur Not mit Security. Obwohl die Liste bewiesen hat, dass es weitaus attraktivere Kandidaten gibt, haben wir uns für unsere Dorfkirche entschieden. Aus rein sentimentalen Gründen.
Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass ich noch nie dort war, aber immer, wenn mich der Heißhunger auf eine Mandelschleife zum Bäcker treibt, freue ich mich an dem hübschen kleinen Gebäude. Eingerahmt von Gemüselädchen und Apotheke beglückwünscht es mich, dass ich alle Sehenswürdigkeiten von Stirweiler auf einen Streich besichtigt habe. Die Pfarrerin ist ein überaus erfreulicher Glückstreffer. Meine persönliche Zaubernuss. Nein, TOMS Zaubernuss, ich brauche meine vielleicht noch.
»Ach, ich freue mich!« Redseligkeit überfällt mich. »Es gibt ja in der Umgebung einige Kirchen, die romantischer sind, aber wir wollen gern in unserer neuen Heimat heiraten!«
»Ja, ich kenne die Problematik mit unserer Kirche«, stimmt die Pfarrerin bedauernd zu, »vor allem natürlich der fehlende Mittelgang.«
Ich verschlucke mich so heftig, dass ich über den gerade wieder aufgerichteten Zettelstapel falle. Ich japse. WAS? Kein Mittelgang?
Mit einem lauten Platsch fällt die goldene Kugel in den Brunnen, und weit und breit ist kein verzauberter Frosch zu sehen, um sie herauszufischen. Es überrascht mich selbst, weil ich diese Art Aufmerksamkeit sonst meide wie Pechmarie die Arbeit, aber plötzlich will ich den Mittelgang, unbedingt. Belle hatte auch ihren Auftritt, oder?
Erstmal tief Luft holen. Ausatmen. Einatmen.
KEIN MITTELGANG??
Ach du heilige Sch… Wie komme ich aus der Nummer raus, ohne zugeben zu müssen, dass ich die Kirche noch nie von innen gesehen habe?
Folgende Lösungen fallen mir spontan ein:
• Oh, bin ich gar nicht in Bad Dürkheim herausgekommen? Das tut mir sehr leid, da habe ich mich verwählt!
• Oh gütiger Herr Jesus. Sie meinen, die Kirche, deren Mittelgang entlang ich jeden Sonntag pünktlich zum Ruf der Glocke zu meinem Stammplatz in der zweiten Reihe Platz vier gehe, steht gar nicht in Stirweiler? Was für ein Spiel treibt mein Mann hier? Rufen Sie bitte sofort die Polizei!
• Frau Pfarrerin, hallo? Entschuldigen Sie bitte die Störung, wir hatten die Patientin nur kurz aus den Augen gelassen!
Bevor ich aufgrund sinnloser Brabbelei wirklich eingewiesen werde, hat Gott ein Einsehen mit meiner treulosen Seele.
»Ich bin ebenfalls für die Kirche in Kerhausen zuständig, die ist natürlich ein bisschen feierlicher«, wirft die Pfarrerin mir den Rettungsring hinüber, »mit Mittelgang und Buntglasfenstern, und größer. An welche Kirche hatten Sie gedacht?«
Danke, oh Herr, der du mich unverdienterweise vor einer Katastrophe bewahrst. Gleich morgen stifte ich Gesangbücher, die nicht müffeln. Ach nein, bei den Evangelischen gibt es keinen Ablasshandel. Schön souverän bleiben jetzt. Das Licht fest im Blick behalten und stramm den Tunnel entlang.
»Da wir über hundert Leute sind, empfiehlt sich wahrscheinlich die Kirche in Kerhausen?«
Suggestivfrage, Suggestivfrage! Gott lässt mich nicht hängen, und die Pfarrerin stimmt zu. Mittelgang olé. Wir heiraten am siebenundzwanzigsten August!
Vorausgesetzt natürlich, unsere favorisierte Location taugt was und wir bekommen den Termin noch.
Euphorieberauscht greife ich gleich nochmal zum Hörer und rufe den Chor an, in den ich meine letzte Hoffnung gesetzt habe. Dabei sammle ich die verstreuten Papiere ein und schichte sie erneut zu einem rekordverdächtig hohen Turm. Metrosexuals steht auf einem gelben Zettel. Das ist die neueste Idee des Kobolds für unser nächstes öffentliches Event, das offiziell von den Studiosi organisiert wird, für das aber ich mir die Hacken abrenne. Vor drei Monaten gefiel ihm Lifestyle-Kommunikation, vor den Weihnachtsferien Jugendkreativität, jetzt hat er das aus seinem Neunziger-Jahre-Fundus gekramt. Da er mich vor einem halben Jahr, Verzeihung, vor einem Semester schon durch die Kurse gejagt hat, um eine Eventgruppe zusammenzustellen, die mangels Aufgabe zur Mara-hört-sich-eure-Probleme-an-Gruppe mutiert ist, sehe ich das gelassen. Nicht so die Sache mit den Gospel-Chören: Drei Chöre haben mir abgesagt, weil unser Termin (wir bekommen ihn schon noch!) in den Sommerferien liegt. Jetzt bleibt mir nur noch ein Pfälzer Chor. Ich will nicht unken – aber »Dir geheeert moi Hääärz« wäre für mich eventuell ein Romantik-Killer.
Claire hat mich angesteckt mit ihrem Graus vor der pfälzischen Sprache, was in Anbetracht meines Wohnortes und meines eingeborenen Zukünftigen etwas besorgniserregend ist. Furchtlos stelle ich mich der Herausforderung und lausche auf das Tuten. Das Glück ist mit den Mutigen, und die nette Chorleiterin Wanda Lapislatschuli (sicher mit hennaroten Zöpfen, Wallegewändern und Bindi – wer hat bitte so einen Namen?), zerstreut alle meine Sorgen und macht mich in wenigen Minuten zu ihrem Groupie. Ich weiß zwar noch nicht, welche Lieder wir wollen, aber Walle-Wanda wird alles Erdenkliche für uns möglich machen, und den Termin hat sie fest in ihren Kalender eingetragen. Außerdem spricht sie hochdeutsch mit niedlichem Pfälzer Einschlag. Was soll da noch schiefgehen!
Offenbar habe ich mir auf der Hochzeitsmesse aber doch etwas Ansteckendes geholt, denn plötzlich kommt mir noch ein Gedanke. Geduckt hinter meinen bunten Post-it-Stapel wähle ich schnell Toms Nummer.
»Schatz!«, rufe ich beschwingt. »Willst du eigentlich was ans Revers, das zu meinem Brautkleid passt?«
Tom, aus forensischem Technikerkram wie Profilschließzylinderabnutzung oder verschleißrelevante thermische Einwirkung gerissen, murmelt verwirrt: »Re-was bitte?«
»Revers!«, wiederhole ich enthusiastisch.
Schweigen. Murmeln.
Ich rufe lauter: »Revers! Revers!«
Toms Stimme aus der Ferne: »Was soll denn bitte ein Rebers sein?«
Ich verdrehe die Augen. »Rev-v-v-vers! Das Kragenteil!«
Schweigen.
»Revers, Tom! Mit W wie Vogel!«
Stille in der Leitung, dann bricht Tom in Lachen aus. Sein Humor in allen Ehren, was soll an der Frage witzig sein? Keuchen dringt durch den Hörer, unterbrochen von frechen Lachern, bevor mein Verlobter zu Atem kommt.
Dann gluckst er: »Werwirr mich doch nicht!«
Und, von einer Lachsalve gekrönt:
»Jetzt ist meine Konzentration wom Winde werweht!«
Gästeliste – Check.
Kirche – Check.
Chor – Check.
Meinen Werlobten mit Werachtung strafen – to do
Drei
Die ersten zwei Locations, die Tom und ich uns aufgeregt und händchenhaltend ansehen, sind nicht schlecht, aber der Funke springt nicht über. Die dritte und vierte sind katastrophal, die fünfte sagt ab, weil sie die letzten Termine vergeben hat.
Früher war das einfacher, geheiratet wurde im eigenen Schloss, und ich bräuchte mir keine Gedanken zu machen, ob sich während der Anfahrt Wimperntusche pandamäßig um die Augen absetzt. Wobei ich solche Probleme ohnehin nicht kennen würde, wenn ich von Feen unterstützt würde. Oder noch besser, diese schusseligen Tanten nicht bei meiner Geburt vergessen hätten, ihre guten Wünsche über mir auszugießen. Was nicht passiert wäre, wenn meine Eltern ausreichend goldene Teller besäßen und zum Festmahl geladen hätten. Na, Schwamm drüber.
In Ermangelung eines eigenen Prunkbaus setze ich meine Hoffnungen auf die sechste Stätte. Um sieben Uhr müssen wir am Weingut sein, und Tom ist noch nicht zuhause.
»Wo bleibst du?«, rufe ich gehetzt ins Telefon.
Ich habe es über die Feuerleiter und dank der Deckung meiner Kollegin Christiane geschafft, aus dem Büro zu fliehen, aber jetzt kommt mein Bräutigam nicht bei. Wenn das heute nichts ist, bleibt uns nur noch eine Tischlerlehre mit einem hoffentlich funktionierenden Tischlein deck dich als Belohnung.
Außerdem gerate ich etwas in Erklärungsnot gegenüber der Talar- und der Binditrägerin.
»Bin in zehn Minuten da!«, verspricht mein angehender Ehemann. Das hat er vor zehn Minuten und vor weiteren zehn Minuten schon gesagt, aber die Straßen sind dicht. Wo bleiben diese fliegenden Teppiche, wenn man sie braucht? Ist das ein Zeichen? Bringt es wirklich Unglück, eine Hochzeit zu planen, bevor man gefragt wurde?
Hey – ich musste doch wissen, was auf mich zukommt! Und all diese nervenaufreibenden Entscheidungsprozesse: romantisch im Landhausstil, gemütlich in einem Restaurant, vielleicht ein Schloss oder eine Burg, wo wir zum Eröffnungstanz über glänzendes Parkett schweben (oder wo das Parkett zumindest glänzt)? Wie soll man handeln, wenn man noch gar nicht weiß, was man möchte? Und wie sollte ich wissen, was ich möchte, wenn es grenzenlose Möglichkeiten gibt?
Ich meine, jeden Sommerabend warte ich auf das sonore »Gelatooo« meines Lieblingseismanns, der mit seinem altersschwachen gelben VW-Bus die Straße entlang rollt, und jeden Abend beim aus der Tür rennen weiß ich genau, was ich will. Doch kaum stehe ich vor der Theke, muss ich die Greisin von gegenüber und Schokoladeneis-Piet vorlassen, weil mich die Auswahl ins Grübeln bringt. Wie soll ich da in Zeitnot entscheiden, was ich mir für meine Hochzeit wünsche? Diese Entscheidung kann ich schließlich nur dieses eine Mal treffen!
Toms schwarzes Angeberauto holpert in die Einfahrt und erlöst mich von meinen selbstkasteienden Gedanken. Er feixt aus dem Seitenfenster. Durch die Scheibe zeige ich ihm den Stinkefinger. Checkliste, Notizblock, raus.
»Ach Süße«, lacht Tom, als ich in den Wagen springe, »du darfst nicht alles so ernst nehmen! Lass uns Spaß haben!«
Damit fällt er in Ungnade. Spitz fordere ich ihn heraus: »Was weißt du denn über die Location, zu der wir fahren?«
»Die Adresse«, strahlt er, »alles andere weißt ja du!«
Drei Minuten zu spät stehen wir vor dem hölzernen Tor und betrachten unsere potenzielle Hochzeitsörtlichkeit, während Frau Holle sanft die Betten aufschüttelt. Schönes altes Fachwerk, Sandsteingemäuer, die großen Holzfenster mit üppig Tannengrün geschmückt. Das Tor lässt sich zur Seite schieben, sodass der gepflasterte Eingangsbereich zum Eintreten einlädt. Lichterketten ziehen sich durchs Grün und verbreiten eine anheimelnde Atmosphäre. Ich bin bezaubert. Mit die Dämmerung erhellenden Lichtern ist es grundsätzlich um mich geschehen. Mit einem Lagerfeuer kann man alles von mir haben.
Wir betreten durch einen lichtergeschmückten Bogen den Innenhof. Der gemauerte Kamin in der Ecke sieht genauso hübsch aus wie auf den Fotos. Die Spinnweben sind auch pittoresk, aber es wäre strategisch ungeschickt, Toms Aufmerksamkeit in diese Richtung zu lenken. Alles wirkt luftig und hell, trotz der heraufgezogenen Dunkelheit. Man kann erkennen, wie sich im Sommer der wilde Wein das transparente Dach entlangranken wird. Geradeaus geht eine terrakottageflieste Treppe in die Weinreben, zwischen denen bezaubernde Sitzgrüppchen stehen. Hochzeitsfotos tauchen vor meinen Augen auf. Tom und ich, die sattgrünen Weinblätter, meine roten Haare und diese hübschen blaukarierten Kissen auf dem verschnörkelten weißen Bänkchen …
Ergriffen packe ich Toms Arm. »Ist es nicht wunderschön?«, flüstere ich. »Ich habe so Angst, was der Haken ist!«
Tom drückt meine Hand und schiebt die knarrende Tür zum Restaurant auf. Wärme und Bratenduft schlagen uns entgegen.
»Aaah, da sind Sie ja!«
Frau Ritter, drall und adrett, kommt schwungvoll auf uns zu. »Herein, herein! Was darf ich Ihnen anbieten? Rotwein, Weißwein, Rosé?«
Das fängt gut an. So eine Feierabendschorle ist doch nie verkehrt. Aber nein, unter Weineinfluss neige ich zu übertriebener Euphorie (ja, noch mehr! Ich bin eben begeisterungsfähig!), also entscheide ich mich für das Wasser. Klar und kühl, wie mein Kopf es sein sollte.
»Gut, legen wir los«, strahlt Frau Ritter und lässt sich uns gegenüber auf die Bank fallen. »Wir haben noch zwei Anfragen für den siebenundzwanzigsten bekommen …«
Oh neiiin, sie hat meinen Termin vergeben!
»… aber ich hatte Ihnen ja versprochen, ihn zu blocken. Die anderen sind auf der Warteliste, falls Sie sich dagegen entscheiden …«
Aha, Manipulation durch Entscheidungsdruck!
»… aber der ist jetzt für Sie erstmal reserviert!«
Im Geiste tue ich Buße, denn Frau Ritter hat offenbar den Ehrenkodex der Edelmänner abgelegt und meint es gut mit uns. Wir rasen durch die Vielfalt an Möglichkeiten, bis mir der Kopf schwirrt. Die Ritterin ist ein begeisterter Hochzeitsfan, eine verwandte Seele, eine Hochzeitsplanerin der ersten Stunde – ohne es zu wissen. Eine Internetseite haben sie erst seit einem Jahr, und mit diesem Zeug will sie sich nicht beschäftigen. Deshalb ist ihr anscheinend entgangen, was »draußen« für ein Hype um Hochzeiten gemacht wird. Und wie die üblichen Preise sind. Entrückt blättere ich das von Hand beklebte Hochzeitsalbum durch und lasse mich dekorationstechnisch inspirieren, während Frau Ritter weiter sprudelt, was alles möglich ist (ob sie mit Merlin im Bunde ist?).
»Sie wollen ja mit Pauschale«, reißt sie mich plötzlich aus meinen Träumereien.
Ein Schlag von hinten. Da kommt er, der Haken. Im Leben gibt es nichts geschenkt. Sogar Schneewittchen musste für die sieben Zwerge putzen, damit sie ihr ein Dach boten. Und die war eine Prinzessin.
»Hier ist unsere Speisekarte, wir machen auch andere Sachen, ich kann das alles gar nicht aufschreiben, es kommt immer was Neues dazu. Die Sachen mit Sternchen wären jetzt bei Pauschale nicht drin, die wären mit Aufpreis!«
Wusste ich es doch. Bei der Pauschale bleiben uns nur grüner Salat und Ofenkartoffeln. Unglücklich nehme ich das Heft entgegen, doppelseitig bedruckt in kleiner Schrift. Ich kneife die Augen auf Lidstrichbreite zusammen, kann aber keine Sternchen finden. Suchend schaue ich auf Toms Liste, der die einzelnen Posten mit dem Finger nachfährt und seinem entrückten Gesichtsausdruck nach die Vorspeise gedanklich schon verspeist hat. Die einzigen Sternchen, die wir schließlich entdecken, sind das Trüffelmousse und das Filet Mignon. Ich muss nachfragen. Alles andere ist tatsächlich drin.
»Die Pauschale berechnet sich ja nach Personenzahl«, fährt Frau Ritter fort. »Wie viele Gäste haben Sie denn?«
Oje, ich habe es geahnt. Bei mehreren Locations ist mir das passiert. Bei der einen konnten sie den Preis nicht halten, weil wir zu viele waren (»zusätzliches Personal«), bei einer anderen waren wir zu wenige (»unser Gewinn rechnet sich über die Menge«), eine dritte wollte sich gar nicht festlegen, wenn ich nicht genau sagen kann, wie viele Personen. Ich seufze lautlos. Tom tätschelt mir das Bein. Frau Ritter schiebt mir einen Teller Kekse hin. Vielleicht sollte ich an meiner Lautlosigkeit arbeiten.
»Auf unserer Gästeliste stehen hundertzwölf«, erkläre ich. »Aber da wir die Einladungen noch nicht raus haben, wissen wir das noch nicht genau!«
Frau Ritter nickt energisch, vor lauter Eifer muss sie sich Luft zufächeln und die Bluse aufknöpfen.
»Das reicht als Anhaltswert. Wir rechnen mit hundert, und wenn Sie die Zusagen haben, sagen Sie Bescheid, und die endgültige Personenzahl melden Sie dann Donnerstag vor der Hochzeit. Da gehe ich nämlich einkaufen!«
Tom und ich sehen uns an, der Hakenalarm verstummt. Alles klingt wirklich gut. Mein Vertrauen in die Menschheit, durch die Hochzeitsplanung erschüttert, kehrt zurück.
Eine halbe Stunde später haben wir zu einem unschlagbaren Pauschalpreis einen Blütenempfang, alle Getränke, ein Buffet im Menütakt mit acht Vorspeisen und ebenso vielen Nachspeisen, die allein vom Namen schon ein Blutzuckerhoch bei mir auslösen. Unsere Drachenbezwingerin überschlägt sich fast vor Begeisterung. »Mmm, zum Kalb nehmen Sie ein Pfefferrahm-sößchen, das ist was Feines, hach, oder wir machen ein Burgundersößchen!«
Ich höre nur halb zu, denn mich begeistert vor allem die Eistorte mit Pralinensauce, die Fruchtsorbet-Pyramide, das hausgemachte Tiramisu und die Mousse au Chocolat, …
Komisch eigentlich, dass die Hexe Hänsel braten wollte, wo sie doch in einem Haus voller Süßigkeiten gewohnt hat. Na, jedem das Seine.
Oh, ich verpasse den Anschluss.
»Für die Pauschale suchen Sie drei Weine als Tischweine aus, aber alle anderen schenken wir auch aus«, erklärt Frau Ritter gerade. Oh nein. JETZT kommen wir zum Haken. Und was für einer.
Meine Stimme klingt piepsig. »Die Pauschale umfasst nur Tischweine und Sektempfang, den Rest zahlen wir zusätzlich?«
Da wir Biertrinker mit außergewöhnlich hohem Fassungsvermögen im Freundeskreis haben, kommt für uns ausschließlich eine Getränkepauschale in Frage. Ihr Motto »Männa, ’s muss mehr gsoff wärre!« verlangt unbedingt nach einem Festpreis. Ich kenne den Worst Case. Der Kontrollfreak kann sich entspannt zurücklehnen.
Frau Ritters üppiger, von der Bluse befreiter Busen bebt, als sie herzhaft lacht.
»Nein nein, alle Getränke sind drin, wir stellen nur nicht alle auf den Tisch. Sie können alles beim Personal bestellen, Wein, Weizen oder Pils, Softdrinks, Kaffee, Espresso und Tee, Sekt!«
Sie fächelt sich nochmal Luft zu.
»Achja, und Longdrinks, die hatten wir noch nicht, als Sie im Oktober angefragt haben!«
Hochinteressante Einkerbungen hat die Tischplatte. Symmetrisch in ihrer Asymmetrie. Faszinierend in der feinen Nuancierung ihrer Brauntöne.
Bevor ich auf Toms irritierten Blick reagieren und irgendwas Technisches zum Härtegrad von Holz fragen muss, schaut Frau Ritter von einem zum anderen, runzelt die Stirn und macht ihrem Namen Ehre, indem sie in schillernder Rüstung in die Bresche springt:
»Äh, im Januar, als Sie im Januar angefragt haben, die haben wir ganz neu eingeführt! Also nennen Sie mir noch zwei Longdrinks – was trinken Sie gern?«
Vorsichtig luge ich zu Tom hinüber, der sich schon in die Auswahl vertieft hat. Manchmal ist seine Aufmerksamkeitsspanne glücklicherweise so kurz wie das Leben der Moskitos, die sich in unser Schlafzimmer verirren.
Es ist aber auch eine Wucht: In den anderen Restaurants haben wir um ein zweites Glas Sekt zum Empfang gefeilscht, und hier müssen wir aufpassen, dass die Gäste das Buffet noch erleben. Tom findet als erstes seine Sprache wieder.
»Da müssen wir noch überlegen. Zwei Longdrinks gibt es also noch dazu?«
Frau Ritter, strotzend vor Energie, schüttelt vehement den Kopf und wirft den bösen Gedanken schwungvoll den Fehdehandschuh zu.
»Nein, nein! Zwei Longdrinks nennen Sie mir, damit wir davon größere Mengen auf Vorrat haben. Auch andere Longdrinks können bestellt werden!«
Ist ja ein Ding. Wir fassen nochmal die wesentlichen Daten zusammen, da fällt Frau Ritter noch was ein.
»Ach«, ruft sie aus, und ich denke, JETZT kommt WIRKLICH der Haken, »wir haben noch ganz die Schnapsauswahl vergessen!«
Datum und Location – Check.
Dem Himmel sei Dank!
Von: Claire An: Mara Zeit, der Wahrheit ins Auge zu sehen – du hast den Antrag vor einem Monat bekommen, und du hast schon:
- den Termin (samt verschickten Save the Date-Karten)
- die Location für die Feier
- die Pfarrerin
- die Kirche
- das Kleid hast du im Grunde auch schon
- Gästeliste (muss ja, wegen der Karten, n’est-ce pas?)
- ein FARBKONZEPT!!!???!!!
Und das ist nur alles, was ich WEISS! Wahrscheinlich hast du schon Ringe ausgeguckt, Tischordnung grob gemacht, Toms Anzug, Gastgeschenke ausgewählt etc. Na?
Von: Mara
Du bist grausam und du kennst mich zu gut :-) Zu meiner Verteidigung kann ich anführen, dass es gar kein richtiges Farbkonzept geben wird, glaube ich. Zumindest überlege ich noch, ob ich mir von der Tischdeko wirklich die Farben der Einladungskarten diktieren lassen will.
Von: Claire Einladungskarten müssen definitiv NICHT zu den Tischkarten passen! Das ist Victoria-esk!
Von: Mara
Aber wenn doch, ist es vertretbar, oder? *duck*
Von: Claire Wenn doch, lach ich dich ein wenig … AN :-)
Vier
»Zweihundertneunzig Euro? Im Bastelladen??«
Tom guckt, als zwänge man ihn, Rosenkohl zu essen (eines unserer gemeinsamen Hassobjekte) und der Geruch läge schon in der Luft.
»Was um Himmels Willen kann man im Bastelladen kaufen, das zweihundertneunzig Euro kostet?«
Ich bleibe cool, obwohl meine Hand einen akuten Stepptanz-Anfall hatte, als ich meine EC-Karte zücken musste. Nur weil es mir egal ist, ob auf der Feier die Gläser zueinander passen, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht das Maximum aus den Themen Einladungskarten und Tischdeko herausholen kann.
»Material!«, verkünde ich kryptisch.
»Wofür?«, fragt Tom ungläubig. »Eine Arche Noah aus Tonpapier?«
Ha, ha.
»Einladungskarten!«, erkläre ich und wedele mit den Armen. »Tischdeko!«
Das ist nicht ganz die Wahrheit, denn alles, was sich in der zeltgroßen Tüte befindet, wird für die Einladungen draufgehen. Es hat mich unzählige Prototypen und viele entscheidungsschwere Stunden zwischen Transparentpapier, Goldpapier, handgeschöpftem Büttenpapier, marmoriertem und Tonpapier in allen Größen, Stärken und Farben gekostet, den Tüteninhalt auszuwählen. Ich habe goldene, silberne, kupfer- und bronzefarbene, elfenbeinglänzende und perlmuttschimmernde Stifte auf dem ausgewählten Papier ausprobiert und mich dann für andere Kartenrohlinge entschieden. Ganz abgesehen von den Ausflügen zu den Gefilden der Filztauben, Silberfolienringe, Holzherzchen, Spitzenbänder, Aufkleber und Schleifchen, Stempel und Stanzen. Ich habe nun so viele Ideen auf Lager, dass das Material auch nicht verloren wäre, wenn wir die Hochzeit absagten. Werden wir natürlich nicht. Und deshalb brauchen wir das alles. Plus, aber der Zeitpunkt ist unpassend, das zu erwähnen, den Container an Zeug für die Kirchen- und Tischdekoration, der weitere Stunden an komplexen Entscheidungsprozessen erfordert.
Filztauben rangieren bei Tom irgendwo zwischen Rosenkohl und Sonnenbaden. Glücklicherweise kann ich das getrost ignorieren, denn Tom ist der großzügigste und gutmütigste Mensch überhaupt. Es ist keine Frage, dass er mir freiwillig den letzten Pfannkuchen überlässt. Ich muss ihn nie vorher fragen, wenn ich jemandem verspreche, dass er das Wochenende ellbogenhoch in Tapetenkleister verbringt. Immer lässt er eine Scheibe Schinken für Richard Löwenherz in der Packung, und manchmal fährt er heimlich mein Auto zum Waschen. Von Dienstreisen ruft er abends an und tut so, als wüsste er nicht, dass ich mich erst mit dem Hörer nach oben unter die Bettdecke traue. Außerdem hat er nie Parmesanfüße.
Ja, den Mann kann ich heiraten!
»Ist schon gut, Schatz«, erlöse ich ihn mit einem Kuss auf die Nase von den durchs Haus ziehenden Bastelschwaden, »ich mache das schon!«
Jetzt schnell weg.
Aufatmend werfe ich im Obergeschoss die Tür hinter mir zu und verteile meine kostbare Fracht quer durch unser Allzweckzimmer. Hach! Das Sepia-Foto von uns macht sich wirklich hübsch auf der linken Innenseite der Karte. Oh, Mist, zu tief gerutscht. Zum Glück kann ich es mit den filigranen goldenen Stickern kaschieren. Ein Schnäppchen, zumindest im Vergleich zu den schimmernden Perlen, die die i-Punkte verschönern. Wobei, wenn ich mir das so ansehe, sollte ich EINLADUNG großschreiben. Dann sind allerdings die Perlensticker nutzlos. Aber sowas im Haus zu haben, ist immer gut.
Dunkelrot sind unsere Karten, mit goldener Schrift. Womit entschieden wäre, dass die Einladungskarten raus sind aus dem Farbkonzept, denn ich werde auf keinen Fall goldenen Schmuck tragen und ein roter Strauß geht gar nicht. Ich meine, falls ich überhaupt Schmuck und Strauß haben werde, natürlich. Ich weiß, ich hatte das schon ausgeschlossen, doch jetzt ist das »Gelatooo« erklungen, Marios Eistruhe hat sich geöffnet und ich bin angesichts der vielen Möglichkeiten verloren gegangen.
Ich schnappe mir Karte Nummer vier, rücke sie hin und her, um den Mut für den ersten Buchstaben zu finden, und male das E für Einladung. Ein markerschütterndes Gellen lässt mir die Haare zu Berge stehen. Vorsichtig lege ich mein Schmuckstück beiseite und stürme die Treppe hinunter, um dem Postboten seine Schätze zu entreißen.
»Mal wieder ein neuer Klingelton?«, grinst der freundliche Afrikaner, der uns samstäglich beehrt.
»Er gibt einfach nicht auf«, nicke ich und verdrehe die Augen. »Mit diesem hat er mich fast klein!«
Tom behauptet, seine fast wöchentlichen Wechsel des Klingelsignals dienten der höheren Aufmerksamkeitswirkung. Ich behaupte, er will mich damit vom Online-Shopping abbringen. Komischerweise nutzt er dieses Folterinstrument nämlich, seit ich ihm von den pawlowschen Hunden vorgelesen habe. Außerdem geht er samstags niemals an die Tür.
»Dann werfe ich Steinchen ans Fenster«, schlägt sich der Mann der Stunde auf meine Seite und lässt seine weißen Zähne in einem herzhaften Lachen aufblitzen. Grinsend nehme ich mein Päckchen entgegen und erkenne sofort Claires ungeduldige Schrift, die Dozenten zur Verzweiflung getrieben hat und sie heute davor bewahrt, bei Meetings die Flip Charts vorbereiten zu müssen. Ich wurde unschuldig bestraft! Krieche zu Kreuze, Tom! Ich hüpfe die Treppenstufen hinauf, pule gespannt die drei Lagen Klebeband ab und reiße das Päckchen auf. Eine Kaskade roter Glitzerherzchen ergießt sich in meinen Ausschnitt.
»Claiiire!«, quietsche ich begeistert.
Die glitzernden Herzen verschwinden im Teppich, eins fummle ich mir aus dem Ohr. Aus dem Karton ziehe ich ein Heft. Gala Wedding! Vor Entzücken und Horror über mein unzweifelhaftes Entzücken (was PASSIERT da mit mir?) kreische ich nochmal los. Irre kichere ich vor mich hin und hüpfe auf und ab. Ein Glück, dass Tom das Weite gesucht hat. Auf dem funkelnden Teppich werfe ich mich auf den Bauch und schlage atemlos die erste Zeitschrift auf. Eine perfekte Welt empfängt mich, und ich tauche ein in das Universum von Karten, die sehr wohl zum Brautstrauß passen, fantastischen Locations für nur dreieinhalb Millionen Dollar und einer Fotostrecke mit aktuellen Brautkleidern. Oh, dieses hier ist hübsch – huch – sechstausend Euro?? Egal, ich will mir nur Ideen holen.
Oh, ist Heiraten so toll!
Das Päckchen ist typisch Claire, sie zelebriert immer und exzessiv. Zum Start des Sex and the City-Films steht sie in Stilettos vor dem Kino, ein Glas Prosecco in der Hand. Sie kann ausflippen, weil auf einem Foto ihre Füße abgeschnitten wurden, und fast wäre ihr der eigene Junggesellinnenabschied verdorben gewesen, weil sie ein Kleid im Schrank hatte, das besser zum Motto gepasst hätte. Wenn schon, dann richtig, das ist Claire. Ein Ausbund an Kreativität, ungeheuer großzügig und so ansteckend fröhlich wie niemand sonst. Die perfekte Trauzeugin für ein Mädchen wie mich, das sich niemals beim Kauf einer bräutlichen Gala erwischen lassen würde.
Ich blättere weiter. Sträuße. Will ich ja nicht – halt Moment, das ist ein toller Strauß. Vintage-Hochzeit. Oooh, Blumen im Haar. Windlichter aus bunten Fläschchen, Lampions, und alle feiern glücklich und ausgelassen auf einer Wiese. Ich schlüpfe in das Bild wie der Straßenmaler Bert bei Mary Poppins. Da ist sogar ein Apfelbaum, und ein Kirschbaum voller saftiger Kirschen, die sich gut als Deko machen. Und dieses entzückende Geschirr! Rot mit weißen Punkten, zauberhaft! Das Kleid allerdings ist sehr schlicht. Aber es zwingt mich ja keiner, auf ein umwerfendes Hochzeitskleid zu verzichten, nur weil ich Lampions habe. Obwohl diese Bierbänke eine echte Gefahr für mein Kleid darstellen, und es wirkt ein bisschen fehl am Platz … ich reiße die Seite mit dem Strauß heraus.
Weiter geht’s. Hübsche Ideen für Dankeskarten. Überhaupt die Karten. Es gibt unendliche Möglichkeiten, seine Hochzeit zu verkünden. Selbst basteln, Fotokarten drucken lassen, einen Grafiker beauftragen oder Karten im Comic-Stil versenden. Ich hätte mich auf Postkarten beschränken oder handgeschöpftes Büttenpapier mit Blüteneinschlüssen wählen können. Weil ich weiß, und Tom weiß, dass meine Entscheidungsprozesse dauern können, haben wir vorab Save the Date-Karten mit dem Termin verschickt. Witzige Postkarten mit Bild von uns in starrem Schreck ob der Hochzeitsidee. Zu dem Zeitpunkt wusste ich ja noch, dass ich keinen Kitsch möchte, sondern was Originelles.
Ich schlage die Gala zu und entdecke die Karte. Bedruckt mit rosa Rosen und pinkfarbenen Herzen. Wo findet Claire sowas nur immer?
Meine kleine Tam-Tam-Abstinenzlerin, lese ich, sorry, du hast jetzt mal Sendepause … hier kommt Inspiration für LA MARIÉE!
La was? Ich fische mein Handy unter den Glitzerherzen hervor und drücke die Kurzwahltaste.
»Was ist das nun wieder, beste Vorfreudepäckchen-Packerin der Welt?«, frage ich lachend.
»Ach, tu doch nicht so!«, giggelt Claire am anderen Ende. »Täubchenaufkleber? Stuhlhussen? Mittelgang?« Sie kichert immer noch. »Du hast eine Brautose entwickelt!«
Mir fällt das Lächeln aus dem Gesicht. »Brautose?«
Also bitte!
Ich bin meilenweit von einer Prinzessinnennummer entfernt. Kein einziger Schluck Weizengrassaft durfte diese Lippen passieren. Meine Fußnägel sind eine Schande.
Und nur weil ich … hm …
Guuut, das mit den Täubchen … und dem Gold …
Die Perlenaufkleber haben so schön geschimmert …
Ächz.
»Höchstens ein Anflug von Brautitis!«, gebe ich verlegen zu.
»Brauterpes!«, setzt Claire schlagfertig einen drauf. »Hochansteckend!«