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Eine inspirierende Reise zu deiner Wahrheit Lily, eine kleine, neugierige Wolke, folgt dem Ruf ihres Herzens und verlässt ihre Heimat, den Wolkenhimmel. Sie geht hinaus ins Ungewisse. Ihre Reise führt sie in verschiedene Länder und zu unterschiedlichen Menschen, zu deren Lebensgeschichte und Religion. Lily lernt so die großen Weltreligionen mit ihren Bräuchen, Gründern und Leitfiguren kennen. Was sie zu Anfang begeistert, stürzt sie während ihrer Reise immer mehr in einen tiefen Konflikt. »Welches ist der wirkliche Gott, die wahre Religion, der richtige Weg?« Zudem bemerkt Lily, dass sie sich dunkel färbt und den Weg zurück in ihre Heimat nicht mehr kennt. Eine berührende Geschichte über den Mut, seinem Herzen und seiner Bestimmung zu folgen und vor allem nie müde zu werden, auf der Suche nach dem eigenen Weg.
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Seitenzahl: 215
Veröffentlichungsjahr: 2022
DIE KLEINE WOLKE LILY
auf ihrem Weg zur Wahrheit
1. Auflage 2022
Veröffentlicht im AMARNA VERLAG
Copyright © 2022 by Amarna Verlag, Silke A. Fritz
Buchgestaltung und Satz: Miriam Bloching, Berlin
Lektorat: Petra Seitzmayer
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, German
ISBN: 978-3-347-50012-9
Illustrationen: Sharon Spitz
Fotos Unsplash: Odion Kutsaev, Anna Spencer,
Eberhard Grossgasteiger, Odion Kutsaev, Kamal J
Fotos Pexels: Alex Andrews, Francesco Ungaro, Brett Sayles (2)
Foto Pitopia: Foto-Ruhrgebiet
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte
bibliografische Daten sind im Internet über
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Dieses Buch widme ich meinen Töchtern Malea und Celia, auf dass sie immer Frieden und Liebe im Herzen tragen und allem, was ›ist‹, mit Achtung und Respekt begegnen.
In Liebe und aus tiefstem Herzen Eure Mama
Inhalt
I. WOLKENHIMMEL
II. ABSCHIED
III. LILY UND DAS JUDENTUM
IV. LILY UND DIE CHRISTEN
V. LILY UND DER ISLAM
VI. LILY BEI DEN HINDUS
VII. LILY BEI DEN BUDDHISTEN
VIII. LOSLASSEN
IX. ANKOMMEN
I. WOLKENHIMMEL
Kühle Morgenluft strömte durch den Wolkenhimmel und brachte mildes Sonnenlicht mit sich. Zart strich sie über die Wolken, ließ erfrischende Tautröpfchen zurück und weckte sie nach und nach mit ihrem zärtlichen Ritual sanft aus dem Schlaf. Überall begann es sich zu regen. Verträumt blinzelten die Wolken ins Licht und rieben sich die letzte Müdigkeit aus den Augen. Rasch nahm die Kraft der Sonne zu und durchflutete alles mit ihrem strahlenden Licht. Sie hüllte jede von ihnen in ihren wärmenden Mantel und verwandelte die kleinen Tautropfen zu zahllosen Prismen, die den Himmel in den schillerndsten Farben zum Leuchten brachten und ein sprühendes Funkeln hinterließen. Die zarten Gesänge des Windes erfüllten alles und ließen die duftigen Wölkchen freudig vibrieren. Mit einem Lächeln auf den Lippen reckten und streckten sie sich und füllten ihre fluffigen Kammern mit klarer, frischer Luft.
So war jeder Morgen hier im Wolkenhimmel. Und an jedem neuen Tag gab es auch neue Wölkchen. Doch dieser Tag war ein besonderer. Es war der Tag, an dem Lily geboren wurde. Kräftige Winde hatten sie aus Tausendenden und Abertausenden von Wassertröpfchen zu einer schönen bauschigen Wolke aufgepustet. Lily war stolz, denn sie war wirklich sehr hübsch geworden. Wohl nicht sehr groß geraten, aber weiß und luftig. Anfangs fühlte sie sich noch etwas wackelig, während sie so zwischen den großen und kleinen Windböen hin- und hergeschaukelt wurde. Sie plumpste in Luftlöcher, segelte rasend schnell und wusste manchmal nicht mehr, wo oben und unten war. Nicht lange und sie fand heraus, wie sie sich drehen musste, damit die Winde sie mit sich trugen und sie geschwind über den Horizont düsen oder auch ganz sacht und langsam schweben konnte. Lily liebte es, durch die Lüfte zu gleiten und sich tragen zu lassen.
Schon bald hatte Lily viele Freunde gefunden und ihre Tage verbrachte sie, um mit ihnen herumzutollen und um die Wette zu segeln. Immer wieder gab es jedoch Momente, in denen sie sich zurückzog und sich ein ruhiges, wolkenleeres Feld suchte. Dort lag sie auf ihrem flockigen Bauch, ihre Wolkenbäckchen in die Hände gestützt, und ihre Gedanken flogen mit den Winden in die Ferne. Sie kannte ihre Heimat inzwischen sehr gut. Alles war erfüllt von Licht und je nach Tageszeit schimmerte es in den wunderbarsten Farben. Das Schönste allerdings im Wolkenhimmel war für Lily ihre Familie und ihre Freunde und das warme, kuschelige Gefühl, das sich immer einstellte, wenn sie in Lilys Nähe waren. Doch in der letzten Zeit strömte noch etwas anderes durch sie hindurch, ein leises Vibrieren. Besonders wenn sie in die Ferne sah, begann es. Sie kannte dieses Gefühl nicht und es machte sie zugleich neugierig und unruhig. Was sie noch viel mehr beunruhigte, war, dass es immer stärker wurde.
»Na, Lily, träumst du wieder?« Hinter ihr hörte sie eine tiefe, wohlklingende Stimme. Diese war ihr sehr vertraut, sie gehörte der alten Weisen Wolke.
Seufzend drehte sich Lily um. »Ja, wenn man das träumen nennt, was ich gerade mache, dann ist das wohl so.«
»Warum seufzt zu denn so schwer? Genießt du es nicht, hier zu liegen und dem Treiben im Wolkenhimmel zuzuschauen?«
»Doch …« Lily zögerte. Sie mochte die alte Wolke sehr gerne, in ihrer Nähe fühlte sie sich immer ruhig und zufrieden. Vielleicht sollte sie sich ihr anvertrauen und von diesem neuen, fremden Gefühl erzählen. Die Weise Wolke wusste viel. Die anderen gingen zu ihr, wenn sie einen Rat brauchten. Schon oft hatte sie mit ihr gesprochen, aber noch nie um einen Rat gefragt, denn bisher war alles immer ganz klar und einfach für sie gewesen. Konzentriert zog sie ihre puffigen Augenbrauen zusammen, kräuselte ihren Mund und blickte die alte Wolke, die ruhig darauf wartete, dass Lily weitersprach, unentschlossen an. Sie meinte, ein belustigtes Blitzen in deren Augen zu sehen. Lily hatte Angst, ausgelacht zu werden. Aber was hatte sie schon zu verlieren. Sie wollte es einfach wagen. Mit einem leisen »Pffh« ließ sie die Luft, die sie vor Anspannung angehalten hatte, heraus und begann langsam: »Kennst du so ein Vibrieren, so ein Ziehen, da tief drin?«, und tippte sich dabei auf die Brust.
Statt einer Antwort sagte die Weise Wolke nur: »Hm. Wann hast du denn immer so ein Ziehen?«
Noch fester zog sie ihre Augenbrauen zusammen. »Ja, zum Beispiel wenn ich hier liege und in die Ferne schaue.«
»Und was siehst du dort?«
»Das ist es ja, ich kenne den Wolkenhimmel so gut, aber ich weiß gar nicht was dahinter liegt. So gerne würde ich all das sehen und entdecken. Ich spüre, da muss noch ganz viel sein.« Lily war jetzt richtig in Fahrt gekommen, sie hatte ihre Angst ganz vergessen und einfach so erzählt, wie sie es fühlte.
»Hm«, erwiderte diese nur.
Lily schaute sie neugierig und mit großen Augen an. War das eine Bestätigung gewesen? Vorsichtig fragte sie: »Ist denn da noch mehr?« Vor Aufregung sprach sie immer schneller.
Lange blickte sie Lily an, bevor sie weitersprach. »Weißt du es gibt da draußen tatsächlich noch viel mehr als hier bei uns.«
»Aber warum bleiben wir dann alle hier, wenn es noch mehr gibt?«
Wieder gab die Weise Wolke keine Antwort, sondern fragte: »Was gefällt dir denn hier besonders gut?«
Lily überlegte: »Ich mag es, mit meinen Freunden zu spielen, mit meiner Familie zusammen zu sein und ich mag es mit den Winden zu segeln …« Sie stockte kurz. »Draußen wäre niemand von meiner Familie …«
»Ja, und vor allem kennen wir das, was dort ist, nicht sehr gut«, ergänzte sie.
»Waren denn schon andere von uns draußen?«, fragte Lily neugierig.
»Ja, schon viele. Weißt du, Lily, es gibt da sehr viel Schönes, aber auch viel Trauriges. Du hast hier, wie du bereits selbst gesagt hast, deine Familie und deine Freunde. Dort bist du ganz auf dich allein gestellt.«
»Aber warum sind dann die anderen weggegangen?«
Sie schmunzelte. »Weil sie auch wie du dieses Vibrieren fühlten. Aber viele von ihnen sind nicht wiedergekommen.«
»Vielleicht hat es ihnen ja so gut gefallen, dass sie nicht wiederkommen wollten?«
»Ja, vielleicht.« Die Weise Wolke hatte sich schon halb abgewendet.
Lily wusste, dass das Gespräch nun beendet war. Langsam segelte die alte Wolke zu den anderen zurück und war schon bald nicht mehr von ihnen zu unterscheiden. Lily seufzte wieder. Jetzt wusste sie wohl mehr als zuvor, doch hatte sie auch umso mehr Fragen. Bei dem Gedanken, vielleicht nicht mehr hierher zurückkehren zu können, wurde es ihr ganz flau im Magen und sie entschloss sich, das Vibrieren einfach zu ignorieren. Es würde schon wieder von alleine verschwinden. Schnell hüpfte sie zu ihren Freunden zurück. Sie konnte am Ende des Himmels bereits das warme Leuchten der Abendsonne sehen und sie wusste, nicht mehr lange und es war Zeit zum Schlafen und dann war es vorbei mit dem Spielen und dem Segeln.
So verging Woche um Woche und Lily freute sich an jedem neuen Tag. Sie war glücklich! Kam das altbekannte Gefühl, das Vibrieren, zurück, suchte sie sich Ablenkung und bald verschwand es auch wieder. Eines Tages war große Aufregung im Wolkenhimmel. Nicht wie sonst war das leise Pfeifen der Winde, Lachen und fröhliche Unterhaltungen zu hören. Stattdessen vernahm sie ein unruhiges Gemurmel. Lily entdeckte, dass sich die großen Wolken versammelt hatten und in einem Kreis dicht beieinanderstanden. Ungeduldig knuffte und puffte sich Lily durch die Menge hindurch. Sie wollte sehen, was diese Aufregung ausgelöst hatte. Sie schaffte es bis fast ganz nach vorne, konnte aber immer noch nichts sehen. Allerdings konnte sie jetzt hören, über was sie sich unterhielten. »… lange Zeit unterwegs … Was, dunkel gefärbt? … dunkle Wolke … Oh je, den Weg zurück nicht mehr gewusst … Wie hast du zurückgefunden?« Sie sprachen alle aufgeregt durcheinander. So kannte sie die Großen gar nicht. Lily fühlte einen festen Griff im Nacken. Eine der Älteren hatte sie gepackt und brachte sie zu den anderen kleinen Wolken zurück, die in einigem Abstand warteten und alles neugierig beobachteten.
Ärgerlich schimpfte Lily: »Das finde ich nicht in Ordnung. Jetzt gibt es einmal etwas Interessantes, dann werden wir weggeschickt.« Wütend hüpfte sie davon. Wenn sie schon nicht zuhören konnte, so wollte sie am liebsten alleine sein und darüber nachdenken, was sie gehört hatte. Schnell ließ sich Lily von den Winden ins freie Feld tragen, bis sie einen langsamen Luftstrom gefunden hatte. Dort legte sie sich wie immer auf den Bauch, so konnte sie am besten denken. Es musste sich um eine Wolke gehandelt haben, die zurückgekehrt war. Und da war es wieder das Vibrieren. Stärker denn je und heute schien es sogar wie eine Melodie in ihr zu erklingen; es war so intensiv, es berührte sie so stark, dass sie vor Aufregung zu leuchten begann. Es fühlte sich ein bisschen an, wie wenn die Sonne auf sie schien, nur war es noch viel intensiver und es kam von innen. Ganz gefangen von dem, was mit ihr passierte, dachte sie auf einmal: »Ich werde gehen!« Erschrocken setzte sie sich auf. Dieser Gedanke war so klar und intensiv gewesen, mehr als wenn sie ihn laut ausgesprochen hätte. Sofort wusste sie, ihre Entscheidung war nun endgültig gefallen. Dieses Gefühl berauschte sie und erfüllte sie gleichzeitig mit Angst. Aber sie konnte es nicht länger verdrängen, es war zu stark geworden. Hinter ihr hörte sie ein Räuspern.
Lily drehte sich um, es war die Weise Wolke sie schaute Lily aufmerksam an und sagte ganz ruhig mit ihrer tiefen Stimme: »Du hast dich also entschieden.«
Sie schluckte: »Ist es so deutlich abzulesen?«, und fasste sich dabei ins Gesicht.
Die Weise Wolke sagte nichts und lächelte.
Lily guckte nun ganz zerknirscht. »Ich kann nicht anders, ich muss gehen.«
»Ich weiß.« Sie bestätigte ihren Entschluss mit einem ernsten Nicken.
»Doch kannst du mir vielleicht noch sagen, was es mit den dunklen Wolken auf sich hat?«
Der Blick der alten Wolke wurde traurig. »Ich kann dir nur so viel sagen, dass sie sich nur selbst helfen können.« Sie sah für einige Zeit in die Ferne, dann wendete sie sich wieder Lily zu. »Wann möchtest du denn gehen?«
Lily blickte entschlossen. »Ich denke möglichst bald.«
Die Weise Wolke nickte wieder und sagte: »Ich werde es den anderen sagen.« Und schon verschwand sie und Lily war, als hätte sie das Gespräch nur geträumt.
Ihre Familie und Freunde reagierten sehr unterschiedlich darauf. Manche von ihnen fanden es aufregend und sehr mutig, bei den meisten stieß Lily jedoch auf Unverständnis. Sie konnten nicht begreifen, warum sie solch ein Risiko eingehen wollte und weshalb sie diese wunderbare, friedliche Welt, wo sie alles so gut kannte, mit der Ungewissheit eintauschen wollte, um Gefahren auf sich zu nehmen.
Lilys beste Freundin baute sich mit verschränkten Armen vor ihr auf. »Wie kann man nur so dumm sein! Was willst du denn dort draußen? Hier haben wir doch alles!«
Lilys kleiner Bruder schob sich neben sie und griff nach ihrer Hand. »Ich werde dich so vermissen. Mit dir ist es am allerschönsten durch die Winde zu segeln.« Eine kleine Träne glitzerte in seinem Auge.
Lily schluckte und schaute zu ihren Eltern, die mit traurigen Augen vor ihr standen. Ihre Mutter fragte zaghaft: »Musst du denn wirklich gehen?«
Es war merkwürdig. Das Herz war Lily schwer, als ihre Familie und Freunde so vor ihr standen. Doch je mehr Einwände, Ängste und Zweifel sie von den anderen zu hören bekam, umso entschlossener wurde sie. Die Stimme in ihr und das Vibrieren waren nicht mehr zu unterdrücken und das wollte sie nun auch nicht mehr. Sie hatte ihre Entscheidung gefällt und je näher der Tag rückte, desto stärker wurde die Vorfreude auf ihr Abenteuer.
II. ABSCHIED
Schon bald war der Tag des Abschieds gekommen. Alle Wolken hatten sich versammelt. Lily bedrückte der Abschied, vor allem weil ihre Familie und Freunde so traurig waren und Lily sie mit der Ungewissheit, ob sie jemals wiederkommen würde, zurücklassen musste. Es schmerzte sie sehr, dass die meisten sie nach wie vor nicht verstehen konnten und manche von ihnen sogar richtig böse mit ihr waren. Wehmütig umarmte sie ihre beste Freundin, die erst wütend gewesen war und jetzt einfach nur noch traurig.
Ihre Eltern schlangen ihre dicken, puffigen Wolkenarme um Lily und sagten: »Wir wünschen dir, dass du das findest, nachdem du suchst.«
Das machte Lily dann doch ein etwas mulmiges Gefühl. Denn sie wusste ja nicht wirklich, nach was sie suchte; allein, dass sie gehen musste. Nur kurz war das Gefühl der Unsicherheit aufgetaucht, wechselte jedoch umgehend wieder zur Vorfreude. Sie löste sich aus der Umarmung und winkte allen nochmals zu. Dann nahm sie Anlauf und ließ sich von einer starken Böe mittragen, stieg höher und höher. Dort oben gab es die schnellsten Winde, die sie in kürzester Zeit weit wegbringen würden. Sie drehte sich nicht mehr um, zu schwer wurde ihr das Herz, wenn sie an die Gesichter ihrer Lieben dachte. Flugs hatte sie die richtige Höhe erreicht und wurde blitzschnell davongetragen. Berauscht von dem Tempo fing ihr Herz an zu pochen. Der Wind strich eisig und kühl an ihr vorbei, doch sie schien trotz der Kälte zu glühen. Und da war es wieder dieses Vibrieren. Lily hatte keine Ahnung, was sie erwartete und wie alles ausgehen würde. Aber egal was passieren sollte, sie konnte dieses Gefühl nicht länger unterdrücken, es fühlte sich einfach richtig an. Nur eines wusste sie ganz sicher, wäre sie dem Ruf in ihrem Inneren nicht gefolgt, dann wäre sie sehr unglücklich gewesen.
So schnell, wie sie sich von den anderen und von ihrer Heimat entfernte, so rasch fand sie Abstand und war mit ihren Gedanken ganz bei ihrem Abenteuer. Wie im Traum flog alles an ihr vorbei. Immer wieder überschlug sie sich und kullerte zur Seite. Noch nie war sie mit solch einer Geschwindigkeit gesegelt. Schon bald fand sie heraus, wie sie sich am besten halten konnte und die Winde sie im Handumdrehen weitertrugen. Wie berauscht war sie von all dem. Tagelang ließ sie sich von den Winden in die Ferne tragen. Nur in den Nächten tauchte sie etwas tiefer, dahin wo die Winde ruhiger waren, um zu schlafen und Kraft zu sammeln für den neuen Tag. So ließ sie sich treiben, ohne je nach unten zu schauen, sie wollte sich von nichts ablenken lassen, bis sie das Gefühl hatte, weit genug weg zu sein. Und dann war der Moment gekommen. Es war Zeit, um nach unten zu schauen und die neue Welt zu entdecken. Lily atmete tief durch und blickte nach unten. »Oh!« Lily staunte.
Tief unter ihr breitete sich eine endlose dunkelblaue Fläche aus; sie schien übersät mit funkelnden Sternen und ähnelte dem Abendhimmel. Nur war es heller Tag und die Sterne schienen zu hüpfen und zu springen. Neugierig ließ sie sich seitlich fallen und tauchte weiter hinab. So konnte sie alles besser sehen. Noch immer war es nicht nah genug, sie wollte näher zu diesem Glitzern. Sie fand eine Windspirale, die sie in langsamen Kreisen immer weiter abwärts brachte. Sie liebte diese Spiralwinde, kichernd und prustend rutschte sie tiefer und tiefer. Plötzlich war das Glitzern zum Greifen nah und Lily wechselte zu einem sanfteren Wind. Er war schön warm, fühlte sich aber auch etwas feucht an. Ein riesiger, funkelnder Teppich lag da, er hüpfte auf und ab und überschlug sich von Zeit zu Zeit. Als sie näher zu dem Glitzern kam, sah sie kleine, flinke Wesen, in allen Größen und Farben. Manche allein, manchmal ganz viele zusammen. Besonders wenn es viele waren, bewegten sie sich in einem gleichmäßigen Rhythmus. Es erinnerte Lily daran, wie sie mit ihren Freunden von den Windströmungen mitgetragen wurden und in einer großen Einheit segelten. Sie fühlte in ihrem Herzen einen kleinen Stich. Zum Glück wurde sie bald wieder abgelenkt.
Vor ihr sprang etwas in die Höhe und spritzte Lily nass. Erschrocken schüttelte sie die Tröpfchen ab. Ein freches Gackern war die Antwort. Mit eleganten Bögen tauchte es ein und aus, stieß dicht vor Lily aus dem Wasser und hüpfte rückwärts oder überschlug sich in der Luft. Das kannte Lily; sie wusste, wie viel Spaß es machte, sich zu überschlagen. Wieder tauchte es vor Lily auf, blieb dieses Mal aber direkt vor ihr im Wasser stehen und blickte sie aus freundlichen Augen neugierig an. Es hatte eine lange, schmale Schnauze, die vorne abgerundet war. »Hallo, Wolke!«
Lily war erst ganz erschrocken, da sie gedachte hatte, das Geschöpf könnte nicht mehr als gackern, hüpfen und tauchen. »Hallo, äh …« Lily stockte, sie wusste nicht wie sie es ansprechen sollte.
Es kam ein belustigtes Gackern und Lily konnte viele kleine weiße Zähne sehen. Diese alberne Kreatur machte sich über sie lustig! Sie wurde nun richtig sauer und ballte ihre Wolkenhändchen wütend zu kleinen Fäusten. Sie wollte sich schon umdrehen und wieder wegfliegen, da sagte es: »Halt, sei doch nicht gleich sauer, ich hab’s nicht böse gemeint. Ich bin ein Delfin!«
Lilys Neugierde siegte und so sagte sie schließlich zögernd: »Hallo, Delfin.«
»Du bist wohl noch nicht lange unterwegs?«, fragte der Delfin.
»Warum, wie kommst du darauf?« Lily war etwas empört. Es ärgerte sie, er hatte bemerkt, dass sie sich in seiner Welt nicht auskannte.
»So neugierig, wie du aufs Meer starrst.«
»Äh, Meer nennst du das also? Ihr habt hier hübsche Sterne im Meer.«
Der Delfin gackerte wieder. »Das sind keine Sterne, das ist die Sonne, die vom Wasser reflektiert wird.«
»Ah! Und deine kleinen Freunde, die sich da unten tummeln, sind auch Delfine?«
Entrüstet schüttelte der Delfin den Kopf. »Nein, das sind Fische!«
»Sie sind hübsch, diese Fische, und du bist auch sehr schön.« Lily wurde etwas verlegen und färbte sich leicht rosa; sie war es nicht gewohnt, Komplimente zu machen.
Aber der Delfin schien sich zu freuen, er hüpfte nochmals rückwärts übers Wasser, verschwand darin und tauchte abermals vor Lily auf. »Du bist aber auch eine besonders hübsche Wolke, vor allem wenn du so rosa bist.« Er gackerte erneut.
Lily wurde noch etwas mehr rosa, freute sich aber.
»Wohin bist du unterwegs?«, fragte der Delfin neugierig.
Lily zuckte die Schultern. »So genau kann ich das gar nicht sagen, ich will die Welt entdecken.«
»Ja, das verstehe ich. Ich gehe auch gerne auf Entdeckungsreise. Das Meer kenne ich sehr gut. Ein bisschen auch das Land, aber nur dort, wo das Meer angrenzt, weiter komme ich leider nicht.
»Was meinst du mit Land?«
»Du kennst das Festland nicht?« Verwundert blickte der Delfin Lily an. »Dann bist du wirklich erst seit Kurzem unterwegs.«
»Hm, ja.« Lily gab es ja wirklich nur ungern zu, aber es war nun mal so.
»Was ist denn das Festland?«
»Viel weiß ich nicht«, sagte der Delfin, »aber es sieht ganz unterschiedlich aus, je nachdem, wo es ist. Und es leben dort Menschen.«
»Menschen? Sehen sie so aus wie du?«
Der Delfin schüttelte heftig seinen Kopf. »Nein, sie haben keine Flossen.« Er wedelte mit den seitlichen Flossen und seinem Schwanz, um zu zeigen, was er damit meinte. »Die Menschen haben stattdessen Beine, sie können laufen.«
»Und um sich an Land fortzubewegen, braucht man Beine?«
»Ja, oder man kann darüber fliegen, so wie du.«
Lily hob ihr Köpfchen etwas. Sie hatte und konnte etwas, was der Delfin nicht konnte, darauf war sie sehr stolz.
Die kleine Wolke war nun richtig neugierig darauf, das Festland und die Menschen kennenzulernen. Ihr Blick schweifte in die Ferne. Der Delfin schien ihre Unruhe zu bemerken. Er sagte: »Am besten schaust du dir alles selber an. Aber du musst mir versprechen, dass du irgendwann zurückkommst und mir von deiner Reise und von dem, was du gesehen und erlebt hast, erzählst. Ich helfe dir auch jederzeit gerne, wenn du nicht mehr weiterweißt oder Hilfe brauchst.«
»Aber wie kann ich dich finden?«
Er blickte um sich und sagte: »Dieses Meer heißt Indischer Ozean; schau es dir genau an, es gibt noch viele andere Meere. Hier wirst du mich wiederfinden. Und wenn du zurückkommst, suche dir wieder einen Spiralwind, durch das Pfeifen habe ich dich kommen hören.«
Lily lächelte ihn freundlich an. »Danke für alles, was du mir erzählt hast.«
Der Delfin verneigte sich leicht: »Aber gerne doch.«
»Kannst du mir nur noch sagen, wo das Festland ist?«
Der Delfin dachte nach. »Es liegt in verschiedenen Richtungen. Wunderschön ist es – zumindest unter Wasser – in diese Richtung.« Er deutete mit seiner Schnauze hinter sich. »Es liegt dort ein anderes Meer, es heißt Rotes Meer. Nie habe ich ein schöneres gesehen. Wie es an Land aussieht, weiß ich allerdings nicht. Aber das kannst du mir ja dann erzählen.«
Lily nickte eifrig und winkte dem Delfin hinterher. Er war mit einem eleganten Sprung zur Seite ins Wasser verschwunden. In der Ferne konnte sie ihn ab und zu noch mit seinen hübschen Bögen auftauchen sehen, doch schließlich war er zwischen den funkelnden Wellen ganz verschwunden. Schnell ließ sie sich von einer warmen Böe mittragen und in die Richtung treiben, in die der Delfin gedeutet hatte. Es kribbelte in ihrem Bauch. Was sie wohl dort erwarten würde und wie die Menschen wohl so waren?
III. LILY UND DAS JUDENTUM
Lily ließ sich immer weiter von den warmen Winden in Richtung Rotes Meer tragen. Die funkelnde Fläche unter ihr schien kein Ende zu nehmen. Wie lange es wohl dauerte, bis sie Land sehen würde? Und war das Rote Meer wirklich rot? Ihr fielen nun so viele neue Fragen ein, die sie dem Delfin außerdem gerne gestellt hätte. Aber das musste sie wohl jetzt alles selbst herausfinden. Sie segelte noch eine ganze Weile. Und endlich veränderte sich die Landschaft. In der Ferne entdeckte sie etwas. Aufgeregt zog sie ihre Augen zusammen und versuchte genauer zu erkennen, was dort lag, doch es war noch zu weit weg. Sie ließ sich ein Stück weitertragen und schon bald tauchte eine weite, hellbraune Fläche auf. Ihr Herz hüpfte. Endlich, das Festland! Der Übergang vom Meer war flach. Er veränderte sich aber schon nach kurzer Zeit, und wurde rau und zerklüftet. Lange Risse zogen sich durch die braune Fläche. Dahinter erhoben sich hellgraue Hügel, die ähnlich zerklüftet waren. Lily segelte so lange über diese karge Landschaft, bis sie wieder zu einem Meer kam. Dieses Meer unterschied sich, soweit sie erkennen konnte, nicht vom Indischen Ozean. Aber der Delfin hatte ja auch von einer besonderen Schönheit unter Wasser gesprochen. Rot war es auf jeden Fall nicht, aber vielleicht hatte es ja seinen Namen von den roten Bergen, die auf der anderen Seite lagen. Egal, sie spürte, dass dies das richtige Meer war. Schade, dass sie nicht tauchen konnte, gerne hätte sie gesehen, was sich unter dem Wasser verbarg. So wollte sie sich auf das Land konzentrieren. Sie flog weiter entlang des Meeres, das sich als langer schmaler Streifen hinzog, bis sie kleine graue Vierecke entdeckte und dann …
»Oh!« Fasziniert starrte sie auf das, was vor ihr lag. Über den Vierecken schwebte, halb eingetaucht, strahlend eine Art Sonne. Hätte Lily die Sonne nicht oben am Himmel gesehen, so hätte sie gedacht, dass sie sich hier direkt vor ihr befand. Lily spürte wieder das Vibrieren und wusste genau: Hier wollte sie landen. Sie tauchte tiefer und ließ sich langsam zu der halben Sonne hintreiben. Ihr Herz hüpfte. Dort unten bewegte sich was. Das mussten die Menschen sein! Zumindest passten sie auf die Beschreibung des Delfins. Lily war dem glänzenden Objekt nun ganz nahe und konnte Geräusche hören. Ein Murmeln stieg zu ihr hoch. Auf einem großen Platz standen viele Menschen verstreut. Manche befanden sich dicht vor einer hohen Mauer. Sie sahen sehr unterschiedlich aus. Einige von ihnen waren schwarz angezogen. Sie trugen eine spezielle Kopfbedeckung, die merkwürdig verbeult war und unten mit einem breiten Rand abschloss. Andere wiederum waren ganz in Weiß. Lange Tücher bedeckten ihren Körper und hinten auf ihren Köpfen saßen kleine Kreise. Mitten unter ihnen stand ein etwas kleinerer Mensch, auch er war weiß gekleidet. Er beugte sich nach vorne und murmelte leise vor sich hin. Fasziniert beobachtete Lily ihn.
Der Junge sah hübsch aus. Auf seinem Kopf hatte er viele glänzende Kräusel, die sich wie klitzekleine, schwarze Wölkchen auf seinem Kopf tummelten. Mitten drauf lag ein flacher Kreis. Um seinen Arm und seine Finger war ein schmales, langes Band gewickelt. Leicht gebeugt stand er vor an der Mauer. Jetzt nahm er einen kleinen Zettel und schob ihn zwischen eine der Ritzen in die Mauer. Er sah irgendwie traurig aus. Ein funkelnder Tropfen floss über seine Wange. Lily blickte nach oben, regnete es etwa? Nein, er weinte! Sie sah, wie ein weiterer Tropfen über sein Gesicht rollte.
»Hallo. Hallo du! Bist du traurig?« Lily hatte ihn, ohne zu überlegen, angesprochen.
Er ging langsam weiter. Nicht einmal nach oben hatte er geschaut. Na, das war ja nicht gerade freundlich! Wenigstens Hallo könnte er sagen. Sie schwebte langsam neben ihm her.