Die Klinik am See 46 – Arztroman - Britta Winckler - E-Book

Die Klinik am See 46 – Arztroman E-Book

Britta Winckler

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Beschreibung

Besonders beliebt bei den Leserinnen von Arztromanen ist der Themenbereich Frauenklinik. Gerade hier zeigt sich, wie wichtig eine sensible medizinische und vor allem auch seelische Betreuung für die Patientinnen ist, worauf die Leserinnen dieses Genres großen Wert legen. Die große Arztserie Klinik am See setzt eben dieses Leserinteresse überzeugend um. Britta Winckler ist eine erfahrene Romanschriftstellerin, die in verschiedenen Genres aktiv ist und über hundert Romane veröffentlichte. Die Serie Die Klinik am See ist ihr Meisterwerk. Es gelingt der Autorin, mit dieser großen Arztserie die Idee umzusetzen, die ihr gesamtes Schriftstellerleben begleitete. Sie selbst bezeichnete ihre früheren Veröffentlichungen als Vorübungen für dieses grandiose Hauptwerk. Ein Schriftsteller, dessen besonderer erzählerischer Wunsch in Erfüllung geht, kann mit Stolz auf sein Schaffen zurückblicken. Lisa Bruggmüller fühlte sich zwiespältig. Sie erwartete den Besuch ihres Freundes Rainer Hirsinger, und das war für sie Grund genug, sich auf den Abend zu freuen. Schon der Gedanke an ihn ließ ihr Herz schneller schlagen. Ihre Wangen röteten sich, so sehr belebte sie die Vorfreude. Andererseits wollte sie mit ihm ein ernstes Gespräch in einer wichtigen Angelegenheit führen, und das erfüllte sie mit Sorge. Rainer war in den letzten Wochen so anders geworden, irgendwie kühler. Immer war er in Gedanken versunken, nie war er geblieben, wenn sie ihn darum gebeten hatte. Er hatte es immer eilig gehabt, und Lisa kannte den Grund dafür nicht. Lisa war einundzwanzig Jahre alt und war Studentin an der Pädagogischen Hochschule München. Im Stadtteil Schwabing bewohnte sie zusammen mit zwei Kommilitoninnen eine kleine Dachwohnung. Jede der drei Studentinnen hatte ein eigenes Zimmer, gemeinsam gehörte ihnen eine geräumige Wohnküche. Dort trafen sie sich zum Tee, dort wurden auch Fachgespräche geführt und nach Möglichkeit gemeinsam gearbeitet. Heute hatte Lisa das Reich für sich, da Elke und Henny über das Wochenende heimgefahren waren zu ihren Eltern. Lisa war das nur recht. Denn was sie mit Rainer besprechen mußte, duldete keine fremden Zuhörer. Lisa gab sich viel Mühe, einen kleinen Imbiß für Rainer herzurichten. Auch eine Flasche Wein hatte sie kaltgestellt. Sie mußte lange warten, ehe es an der Tür klingelte. Sie atmete erleichtert auf, als sie Rainers Klingelzeichen – zweimal kurz, einmal lang – vernahm. "Endlich!"

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Die Klinik am See – 46–

Lass uns einen neuen Anfang wagen

Spät erkannte er, was Lisa ihm bedeutete

Britta Winckler

Lisa Bruggmüller fühlte sich zwiespältig. Sie erwartete den Besuch ihres Freundes Rainer Hirsinger, und das war für sie Grund genug, sich auf den Abend zu freuen. Schon der Gedanke an ihn ließ ihr Herz schneller schlagen. Ihre Wangen röteten sich, so sehr belebte sie die Vorfreude. Andererseits wollte sie mit ihm ein ernstes Gespräch in einer wichtigen Angelegenheit führen, und das erfüllte sie mit Sorge.

Rainer war in den letzten Wochen so anders geworden, irgendwie kühler. Immer war er in Gedanken versunken, nie war er geblieben, wenn sie ihn darum gebeten hatte. Er hatte es immer eilig gehabt, und Lisa kannte den Grund dafür nicht.

Lisa war einundzwanzig Jahre alt und war Studentin an der Pädagogischen Hochschule München. Im Stadtteil Schwabing bewohnte sie zusammen mit zwei Kommilitoninnen eine kleine Dachwohnung. Jede der drei Studentinnen hatte ein eigenes Zimmer, gemeinsam gehörte ihnen eine geräumige Wohnküche. Dort trafen sie sich zum Tee, dort wurden auch Fachgespräche geführt und nach Möglichkeit gemeinsam gearbeitet.

Heute hatte Lisa das Reich für sich, da Elke und Henny über das Wochenende heimgefahren waren zu ihren Eltern. Lisa war das nur recht. Denn was sie mit Rainer besprechen mußte, duldete keine fremden Zuhörer.

Lisa gab sich viel Mühe, einen kleinen Imbiß für Rainer herzurichten. Auch eine Flasche Wein hatte sie kaltgestellt. Sie mußte lange warten, ehe es an der Tür klingelte. Sie atmete erleichtert auf, als sie Rainers Klingelzeichen – zweimal kurz, einmal lang – vernahm.

»Endlich!« sagte sie und wollte ihn umarmen, als er in den Flur der kleinen Wohnung eingetreten war. Doch Rainer schob sie nur ärgerlich fort.

»Willst du mir wieder Vorwürfe machen?« fragte er ärgerlich. »Ich mag nicht, wenn du mir jede Minute Verspätung vorhältst.«

»Ich beklage mich doch nicht«, entgegnete Lisa. »Ich freue mich, daß du da bist. Darf ich das nicht?«

Rainer setzte sich in einen der Korbsessel, die rings um den Kü­chentisch standen. Nervös steckte er sich eine Zigarette an, die er kurz darauf wieder ausdrückte.

»Ich finde überhaupt, daß unser Verhältnis nicht mehr so ist wie am Anfang«, sagte er mit gerunzelter Stirn. »Ich meine, wir sollten dar­über sprechen.«

Lisa nahm all ihren Mut zusammen.

»Ganz recht«, sagte sie. »Es wird längst Zeit für eine Aussprache. Wie schön, daß du endlich einmal etwas mehr Zeit für ein Gespräch mitgebracht hast. Ich habe Wein da. Soll ich dir einschenken? Bei einem Glas Wein spricht es sich leichter.«

»Laß nur«, antwortete er mürrisch. »Es lohnt nicht, die Flasche aufzuziehen, denn so viel Zeit habe ich nun wieder nicht. Ich finde, wir sollten nicht lange herumreden. Unsere Beziehung war schön am Anfang, als wir beide sehr ineinander verliebt waren. Inzwischen ist sie doch sehr abgekühlt; sie ist alltäglich geworden. Wir sollten sie in aller Freundschaft beenden.«

Lisa war blaß geworden.

»In Freundschaft beenden?« wiederholte sie fassungslos. »Ich liebe dich noch wie am ersten Tag. Und selbst, wenn es nicht mehr so wäre: Ich kann die Beziehung nicht einfach beenden. Ich bin schwanger, Rainer. Wir werden ein Kind haben.«

»Nein!« entfuhr es Rainer. »Sag, daß es nicht wahr ist, Lisa.«

»Doch, es stimmt. Ich habe selbst einen Schwangerschaftstest durchgeführt, der positiv ausgefallen ist. Gestern war ich außerdem beim Arzt, der mir das Ergebnis bestätigt hat.«

»Ich bin ein junger Arzt ohne Stellung und ohne Aussicht, eine zu bekommen. Ich kann dich nicht heiraten, Lisa.«

»Und ich kann kein Kind bekommen, ohne mit seinem Vater verheiratet zu sein.«

»Du willst mich mit dem Kind zur Heirat zwingen?« fragte Rainer ärgerlich.

»Nein. Aber ich dachte, es wäre selbstverständlich, daß ein Vater sich zu seinem Kind bekennt, daß er die Mutter seines Kindes in solch einer Situation nicht allein läßt.«

»Du übertreibst, meine Liebe. Heutzutage werden viele Kinder von ledigen Müttern geboren, ohne daß Mütter oder Kinder daran zerbrechen. Es wird mehr und mehr zu einem ganz normalen Ereignis. Warum solltest du nicht schaffen, was tausend andere junge Frauen in dieser Situation schaffen?«

»Du kennst meinen Vater nicht, Rainer. Ich bin sein einziges Kind und die Hoferbin. Ich soll einmal einen tüchtigen Bauernsohn heiraten, so wünscht es sich mein Vater. Es würde ihm schon nicht gefallen, wenn ich mit einem jungen Stadtmenschen daherkäme. Aber mit einem unehelichen Kind ohne Vater… das geht nicht.«

»Du sagst sehr richtig, daß ich deinen Vater nicht kenne, Lisa. Aber du kanntest ihn. Als du dich mit mir einließest, hättest du die Reaktion deines Vaters vorhersehen müssen.«

Lisa wurde blaß. Tränen standen in ihren Augen. Sie biß sich auf die Lippen, um Rainer nicht mit einer unüberlegten Entgegnung aus dem Haus zu treiben. Sie mußte jetzt kämpfen um den Freund, durfte sich nicht stolz und verletzt zeigen. Es ging darum, ihrem Kind eine Familie zu sichern.

»Ich verstehe ja«, sagte sie mühsam beherrscht, »daß diese Neuigkeit dich zunächst erschreckt hat, Rainer. Denk ein wenig über alles nach, ein paar Tage oder ein paar Wochen. So eilig ist es ja nicht. Wenn wir beide ruhiger geworden sind, sprechen wir uns gründlich aus.«

»Das ist verlorene Zeit«, murrte Rainer. »Es ist vor allem eine vergebliche Hoffnung, die du dir machst, Lisa. Es ist besser, den Dingen, die unausweichlich sind, ins Auge zu sehen. Ich werde mich in der nächsten Woche verloben.«

»Nein!« sagte jetzt Lisa.

»Doch, Beate ist eine reiche Erbin. Sie ist zwar zwei Jahre älter als ich, also schon neunundzwanzig. Aber gerade dieser Umstand läßt ihren Vater großzügig handeln. Er wird unseren Unterhalt bestreiten und mir auch eine Praxis einrichten. Ich will nicht jahrelang als stellungsloser Arzt herumlaufen.«

»Das brauchst du ja auch nicht. Auf dem Lande und im Gebirge sind viele Arztpraxen unbesetzt. Du findest nur deshalb nichts, weil du unbedingt in München bleiben willst.«

»Das ist meine Sache«, sagte er unwirsch. »Jedenfalls werde ich mich mit Beate verloben und schon in wenigen Wochen heiraten. Das ist unabänderlich. Ich würde dir raten, das Kind abtreiben zu lasen. Man wird dir sicher eine soziale Indika­tion zubilligen. Ich könnte mich mal nach einen Arzt umhören, der dir eine solche Bescheinigung ausstellt…«

»Ich habe dich geliebt, Rainer«, schluchzte Lisa. »Aber jetzt… jetzt verachte ich dich. Geh… Geh! Ich will dich nie wieder sehen.«

Lisa erhob sich und öffnete die Küchentür. Ungläubig stand auch Rainer auf und wandte sich zum Gehen. Lisa wies ihm die Tür? Seine sanfte, zärtliche Lisa wollte nichts mehr von ihm wissen?

»Du wirst schon selbst herausfinden, daß mein Vorschlag der einzig richtige ist«, versuchte er eine Rechtfertigung. »Du kannst kein Kind aufziehen während deines Studiums, und ich will meine Ehe nicht gleich mit einem außerehelichen Kind belasten. Dazu kommt der Ärger mit deinem Vater, den du mit einer Abtreibung leicht vermeiden könntest. Er würde von deinem Fehltritt gar nichts erfahren. Also, sei vernünftig, mein Schatz!«

Lisa hielt sich die Ohren zu. Deinen Fehltritt hatte Rainer gesagt, so, als sei er gänzlich unbeteiligt an der jetzigen Lage.

»Laß mich endlich allein!« sagte sie aufgebracht. »Und spar dir alle schönen Worte. Ich bin nicht dein Schatz, daß du’s nur weißt. Ich bedaure, daß ich dir jemals begegnet bin. Aber wie konnte ich ahnen, daß du solch ein Lump bist!«

Krachend fiel die Wohnungstür hinter Rainer Hirsinger zu. Lisa brach weinend zusammen.

*

Auf dem Bruckenhof führte der Bauer Alois Bruggmüller ein strenges Regiment. Er war ein kräftiger, hochgewachsener Mann, der es an Ausdauer und Leistung mit jedem Jüngeren aufnahm. Alois Bruggmüller war 45 Jahre alt. Sein einziger Kummer war, daß er keinen Sohn und Erben hatte. Aus seiner kurzen Ehe war nur seine Tochter Lisa hervorgegangen. Lisas Mutter, die zierliche Johanna, war bei der Geburt der kleinen Tochter gestorben. Lisa war so schmal und zart gebaut wie ihre Mutter und hatte auch deren hübsches Gesicht geerbt. Nur das blonde Haar und die blauen Augen hatte sie vom Vater.

Als die junge Bruggmüller-Bäuerin starb, war ihr Mann gerade 24 Jahre alt. Jedermann im Dorfe hatte erwartet, daß sich der Bauer bald wieder verheiraten würde. Aber nichts dergleichen geschah. Jahr um Jahr zog ins Land, und auf dem Bruckenhof fehlte noch immer eine junge Frau. Alle Welt wunderte sich darüber, denn der Bruckenhof galt als das größte und beste Anwesen weit und breit. Auch Alois selbst war darüber erstaunt, hatte er doch geglaubt, daß sich die Töchter von den großen Höfen der Umgebung um ihn reißen würden. Aber da er immer für drei arbeitete und sich keine Ruhe gönnte, merkte er nicht einmal, daß die Zeit verging, ohne daß es zu einer Hochzeit gekommen wäre.

Der Grund, weshalb die möglichen Heiratskandidatinnen einen weiten Bogen um den Bruckenhof schlugen, lag in der Person des Bauern selbst. Er galt als hart und unbeugsam. Gewiß, er selbst schonte sich nicht, aber er erwartete den gleichen Einsatz auch von seinen Mitarbeitern. Obwohl er als reich galt, war er ziemlich sparsam, um nicht zu sagen, geizig.

Seit dem Tod seiner Frau versorgte Josefa Bruggmüller, die Mutter des Bauern, Haushalt und Hof. Vor allem aber zog sie die zarte, kleine Lisa auf. Es herrschte ein enges Vertrauensverhältnis zwischen Großmutter und Enkelin. Der Bauer sah das nicht gern. Er fürchtete, Lisa könnte verzärtelt werden. Sie sollte einmal den Hof erben, darum sollte sie früh an harte Arbeit gewöhnt werden. Natürlich hoffte Alois Bruggmüller auf einen Bauernsohn, den sie einmal heiraten sollte. Es gab ja viele Höfe in der Umgebung, auf denen mehr als ein Sohn aufwuchs. Solch ein nachgeborener Sohn würde froh sein, auf einen Hof, wie es der Bruckenhof war, einzuheiraten.

Natürlich war Alois Bruggmüller auch stolz auf seine hübsche Tochter, der schon früh die Burschen nachschauten. Wenn sie nur ein wenig kräftiger gewesen wäre!

Seine Pläne mit Lisa gerieten ein wenig ins Wanken, als sie darauf bestand, in der Kreisstadt das Abitur zu machen. Vater Alois fand das Zeit- und Geldverschwendung. Eine Bäuerin sollte tüchtig im Haus, Garten und Stall sein, das genügte. Der ganze Schnickschnack, den sie in der Schule lernen konnte, würde Lisa nur den Kopf verdrehen und sie von ihrer eigentlichen Aufgabe ablenken. Doch dann verteidigte seine Mutter die Pläne der Enkelin.

»Ich habe es immer bedauert, Alois, daß ich nicht mehr gelernt habe«, sagte Josefa Bruggmüller zu ihrem Sohn. »Lisa ist klug genug für die höhere Schule, und du kannst es dir leisten, deiner Einzigen eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Danach kann sie Landwirtschaft studieren, oder doch wenigstens eine Landfrauenschule besuchen.«

»Du kannst es dir leisten«, hatte die Mutter gesagt und damit einen empfindlichen Punkt bei ihrem Sohn berührt. Natürlich hatte Alois Bruggmüller Geld genug, wie er allen Leuten beweisen konnte. Pah, Geld! Alle Welt sollte sehen, daß er reich genug war, seiner Tochter eine Ausbildung zu bezahlen. Daß Lisa gescheit genug war, die Schule erfolgreich zu durchlaufen, setzte er natürlich voraus.

Lisa durfte aufs Gymnasium gehen und machte mit Glanz ihr Abitur. Doch weigerte sie sich entschieden, Landwirtschaft zu studieren.

»Ich möchte mit Kindern arbeiten, Vater. Ich möchte Volksschullehrerin werden. Vor allem Grundschulkinder möchte ich unterrichten.«

»Du bist die Hoferbin, Lisa. Es wird Zeit, daß du auch einmal dran denkst«, grollte der Vater. Lehrerin! Zu was sollte das nütze sein, wenn man einen stattlichen Hof zu bewirtschaften hatte?

Auch in dieser Frage stand Josefa Bruggmüller der Enkelin zur Seite.

»Du bist noch viel zu jung, als daß du jetzt schon an deine Nachfolgerin denken solltest, Alois«, sagte die Mutter zu ihrem Sohn. »Laß doch Lisa studieren. Sie möchte sowieso an einer Dorfschule arbeiten. Warum nicht hier in unserem Dorf? Und wenn es soweit ist, daß sie die Erbschaft antreten soll, dann wird sie das bestimmt auch tun. Aber jetzt ist es noch zu früh dafür. Willst du etwa schon mit fünfundvierzig aufs Altenteil gehen? Oder soll Lisa noch dreißig Jahre lang hier die Großmagd sein? Sei doch froh, daß Lisa so vernünftig ist, einen Beruf zu erlernen.«

Ein wenig brummend hatte Alois nachgegeben. Lisa war also nach dem Abitur nach München gegangen und hatte ihr Studium an der Pädagogischen Hochschule aufgenommen.

Sie hatte ihren Vater nicht enttäuscht. Sie absolvierte alle Zwischenprüfungen und Klausuren mit bestem Erfolg. Doch in letzter Zeit waren ihre Besuche daheim seltener geworden und ihre Briefe kürzer. Sie war blasser geworden und noch schmaler, als sie schon früher gewesen war.

Der aufmerksamen Großmutter waren alle diese Veränderungen nicht entgangen. Sie fragte Lisa danach, doch diese schob sie auf ihre viele Arbeit fürs Studium. Josefa Bruggmüller hoffte auf die bevorstehenden Semesterferien, die Lisa immer zu Hause verbrachte, um bei der Ernte zu helfen. Dann würde sie das ›Kind‹, wie sie Lisa bei sich noch immer nannte, schon herausfüttern. Alle Leibspeisen wollte sie ihr kochen und auch für genügend Schlaf sorgen.

Josefa freute sich auf Lisas Ferien, denn die Enkelin nahm ihr viel Arbeit ab, zumal sie einen Führerschein hatte und daher alle Besorgungen mit dem Auto übernehmen konnte. Die Großmutter fühlte sich in der letzten Zeit ein wenig anfällig. Sie ermüdete rasch, fühlte sich schlapp und schwindelig. Ihr Sohn schaute sie nur verständnislos an, wenn sie gelegentlich klagte.

»Ach, geh, Mutter«, sagte er. »Es wird der Wetterwechsel sein, der dir zu schaffen macht. Bei Föhn leiden viele Leute in dieser Gegend. Du bist kerngesund, du hast doch nie etwas gehabt…«

»Einmal ist immer das erste Mal«, widersprach sie, denn gerade jetzt verspürte sie einen heftigen Schmerz im Unterleib.

»Du solltest einen Enzian trinken, Mutter«, schlug ihr der Alois vor. »Enzian hilft bei Magenverstimmungen.«

»Ich weiß nicht recht«, entgegnete Josefa. »Mir wäre ein Pfefferminztee lieber.«

»Nimm beides, Mutter«, meinte Alois. »Eins davon wird schon helfen. Ich muß jetzt in den Stall. Bei der gescheckten Kuh ist es soweit. Aber das Kalb kommt nicht recht voran.«

»Solltest du nicht den Tierarzt rufen, Alois? Die Gescheckte ist unsere beste Kuh. Sie darf nicht verkalben.«

Frau Josefa hatte gerade noch ihren Sohn darum bitten wollen, den Arzt zu rufen, weil ihre Schmerzen unerträglich wurden. Doch angesichts der Kuh vergaß sie ihre eigenen Nöte. Sie wußte auch, daß der Sohn jetzt nur an das kommende Kalb dachte. Ihre eigenen Wehwehchen hatten Zeit.

*

Lisa Bruggmüller hatte eine schlimme Nacht verbracht. Immer wieder rief sie sich die Worte ins Gedächtnis zurück, die sie mit Rainer gewechselt hatte. Was hatte sie falsch gemacht? Warum war es ihr nicht gelungen, den Freund zum Nachdenken zu bringen? Warum erreichte sie sein Herz nicht mehr?

Und wie war es möglich gewesen, daß sie sich in diesen Rainer verliebt hatte? Sie hatte fast das Gefühl, daß es sich um zwei verschiedene Menschen handeln mußte. Da war Rainer, der liebevolle und zärtliche Freund, mit dem sie einen zauberhaften Frühling verlebt hatte, eine Zeit, in der sie die große Liebe erfuhr. Das war nicht wie die harmlosen Schülerfreundschaften, die sie daheim am Gymnasium erlebt hatte. Diese Beziehung war ernster und ging tiefer. Rainer war der erste Mann ihres Lebens, sie hatte ihn aufrichtig geliebt und ihm genauso aufrichtig vertraut. Sie hatten so viele gemeinsame Pläne gemacht, Pläne, die weit in die Zukunft hineinreichten.

Und nun stand Lisa vor den Trümmern ihrer Liebe. Auch ihres Lebens? Dieser Gedanke rief Lisa in die Wirklichkeit zurück. So zart sie war, in ihr steckte viel Energie, die sie von ihrem Vater geerbt hatte. Sie würde nicht aufgeben. Ihr Kind sollte leben. Seinetwegen würde sie sogar den Kampf mit dem Vater aufnehmen. Was konnte er ihr tun? Er konnte sie enterben, oder sie vom Hof weisen. Nun, an dem Hof lag ihr nicht viel. Es galt nur, die nächsten schwierigen Monate zu überstehen. Es half ihr nicht viel, über Rainer und seine Treulosigkeit zu jammern. Sie mußte selbst ihr Schicksal und das ihres Kindes in die Hand nehmen.

Zunächst einmal wollte sie heimfahren zum Bruckenhof. Es waren noch acht Tage bis zum Beginn der Semesterferien. Lisa meldete sich krank, um schon vorzeitig abreisen zu können. Sie fürchtete, in München unabsichtlich mit Rainer zusammenzutreffen, das wollte sie vermeiden. Auch wollte sie den neugierigen Fragen ihrer Kameradinnen ausweichen. Bei einem Blick in den Spiegel sah sie ja selbst, wie elend sie aussah. Darauf wollte sie nicht immer wieder angesprochen werden.

Mit Dankbarkeit dachte Lisa an ihre Großmutter. Mochte der Vater auch toben und schelten, Josefa Bruggmüller würde ihrer Enkelin zur Seite stehen. Sie würde ihr auch bei der Betreuung und Erziehung des Kindes helfen. Das Studium machte Lisa die wenigsten Sorgen. Jetzt, Mitte Juli, standen sowieso die Semesterferien vor der Tür. Das Kind sollte Ende Februar des kommenden Jahre geboren werden. Lisa rechnete sich aus, daß sie dann noch das Wintersemester belegen konnte. Anschließend würde sie ein Semester aussetzen, die Zeit aber gut zur Vorbereitung auf die Prüfung nutzen.

Lisa plante und hoffte und verdrängte dabei völlig den Gedanken an das Schwierigste, was ihr noch bevorstand: Die Unterredung mit ihrem Vater. Von ihm allein hing es ab, ob sich ihre Zukunft so gestalten konnte, wie sie es wünschte.