Die Klinik am See 52 – Arztroman - Britta Winckler - E-Book

Die Klinik am See 52 – Arztroman E-Book

Britta Winckler

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Beschreibung

Besonders beliebt bei den Leserinnen von Arztromanen ist der Themenbereich Frauenklinik. Gerade hier zeigt sich, wie wichtig eine sensible medizinische und vor allem auch seelische Betreuung für die Patientinnen ist, worauf die Leserinnen dieses Genres großen Wert legen. Die große Arztserie Klinik am See setzt eben dieses Leserinteresse überzeugend um. Britta Winckler ist eine erfahrene Romanschriftstellerin, die in verschiedenen Genres aktiv ist und über hundert Romane veröffentlichte. Die Serie Die Klinik am See ist ihr Meisterwerk. Es gelingt der Autorin, mit dieser großen Arztserie die Idee umzusetzen, die ihr gesamtes Schriftstellerleben begleitete. Sie selbst bezeichnete ihre früheren Veröffentlichungen als Vorübungen für dieses grandiose Hauptwerk. Ein Schriftsteller, dessen besonderer erzählerischer Wunsch in Erfüllung geht, kann mit Stolz auf sein Schaffen zurückblicken. Es war Sommer, die Fenster standen weit offen. Ingrid blickte in den Park, der zu ihrem Elternhaus gehörte. Sie liebte die weit ausladenden alten Bäume. Als Kind war sie oft hinaufgeklettert und hatte sich hinter den grünen Zweigen versteckt. Schon damals hatte sie sich am wohlsten gefühlt, wenn sie für sich sein und träumen konnte. Ihre Mutter oder ihre Schwestern hatten sie jedoch nach kurzer Zeit immer entdeckt. Plötzlich klopfte es kurz und herrisch gegen die Tür. Ingrid zuckte unwillkürlich zusammen. Bevor sie noch ein Wort sagen konnte, wurde die Tür geöffnet. Ihre Mutter trat zu ihr ins Zimmer. Ariadne von Thorwald trug ein anliegendes violettes Seidenkleid mit tiefem Dekolleté. Sie hatte wenige Wochen vorher ihren fünfundvierzigsten Geburtstag gefeiert. Wenn jemand sie nach ihrem Alter fragte, erklärte sie jedoch regelmäßig, sie sei vierzig. Diese Angabe wurde von niemandem angezweifelt. Ihr feinproportioniertes Gesicht mit den vollen Lippen, das tiefschwarze Haar, ihre aufrechte Haltung und ihre graziöse Art, sich zu bewegen, ließen sie tatsächlich wesentlich jünger erscheinen, als sie war. "Ingrid, du bist noch immer nicht umgezogen", fragte Ariadne von Thorwald ihre Tochter. Zwischen ihren schöngeschwungenen Augenbrauen erschien dabei eine steile Falte. "Mama, ich habe es mir überlegt. Ich mag nicht an dieser Party teilnehmen"

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Die Klinik am See – 52 –

Er nannte sie Sunny

Und sie dachte, er könnte sie nicht leiden

Britta Winckler

Es war Sommer, die Fenster standen weit offen. Ingrid blickte in den Park, der zu ihrem Elternhaus gehörte. Sie liebte die weit ausladenden alten Bäume.

Als Kind war sie oft hinaufgeklettert und hatte sich hinter den grünen Zweigen versteckt. Schon damals hatte sie sich am wohlsten gefühlt, wenn sie für sich sein und träumen konnte. Ihre Mutter oder ihre Schwestern hatten sie jedoch nach kurzer Zeit immer entdeckt.

Plötzlich klopfte es kurz und herrisch gegen die Tür. Ingrid zuckte unwillkürlich zusammen. Bevor sie noch ein Wort sagen konnte, wurde die Tür geöffnet. Ihre Mutter trat zu ihr ins Zimmer.

Ariadne von Thorwald trug ein anliegendes violettes Seidenkleid mit tiefem Dekolleté. Sie hatte wenige Wochen vorher ihren fünfundvierzigsten Geburtstag gefeiert. Wenn jemand sie nach ihrem Alter fragte, erklärte sie jedoch regelmäßig, sie sei vierzig. Diese Angabe wurde von niemandem angezweifelt. Ihr feinproportioniertes Gesicht mit den vollen Lippen, das tiefschwarze Haar, ihre aufrechte Haltung und ihre graziöse Art, sich zu bewegen, ließen sie tatsächlich wesentlich jünger erscheinen, als sie war.

»Ingrid, du bist noch immer nicht umgezogen«, fragte Ariadne von Thorwald ihre Tochter. Zwischen ihren schöngeschwungenen Augenbrauen erschien dabei eine steile Falte.

»Mama, ich habe es mir überlegt. Ich mag nicht an dieser Party teilnehmen«, erwiderte Ingrid.

»Was soll das heißen?« stieß ihre Mutter hervor.

»Du weißt doch, daß ich Rummel nicht ausstehen kann, Mama«, gab Ingrid zur Antwort.

Ariadne trat zu ihrer Tochter und legte ihr beide Hände auf die Schultern. »Jetzt hör mir mal gut zu, Ing­rid«, bat sie. »Wenn du so weitermachst und nicht aufhörst, das Mauerblümchen zu spielen, wirst du niemals einen Mann bekommen.«

In Ingrids Augen trat ein trotziger Ausdruck. »Ich will auch gar keinen Mann, Mama. Ich werde niemals heiraten«, versicherte sie ihrer Mutter.

Ariadne nahm ihre Hände weg und vollführte eine Geste, die ihre ganze Ungeduld und ihren Ärger ausdrückte. »Du sprichst wie ein Kind, Ingrid. Aber du bist mit deinen neunzehn Jahren kein kleines Mädchen mehr. Es ist wirklich an der Zeit, daß du dich wie eine erwachsene Frau benimmst«, wies sie ihre Tochter zurecht.

Ingrid senkte den Kopf. Sie wünschte sich weit, weit weg, irgendwohin, wo sie ganz allein sein konnte. Wo niemand ihr sagte, was sie zu tun und zu lassen hatte.

Ihre Mutter strich ihr mit einem tiefen Seufzer über das Haar. »Nun zieh dich endlich um, Ingrid. Die ersten Gäste können jeden Moment eintreffen«, mahnte sie.

Als Ingrid jedoch keine Anstalten machte, dieser Aufforderung nachzukommen, ging sie zum Kleiderschrank und öffnete ihn. Ihr prüfender Blick glitt langsam über die Kleider und Röcke, die ihrer Tochter gehörten.

»Hier, blau steht dir immer noch am besten. Es paßt zu deinen Augen. Zieh das an«, bestimmte sie und hängte ein kornblumenfarbenes Kleid aus duftigem Tüll an die Schranktür.

Ingrid hatte inzwischen eingesehen, daß sie mit ihrem Widerstand gegen die Party bei ihrer Mutter nicht durchkam. Gegen das Kleid sträubte sie sich jedoch.

»Das kann ich nicht anziehen, Mama. Es ist mir viel zu weit geworden«, erklärte sie.

»Probier es wenigstens einmal an«, forderte Ariadne.

»Mama…«

»Ingrid, ich habe keine Lust mehr, lange mit dir zu diskutieren. Beeile dich bitte ein bißchen«, entgegnete Ariadne. Sie wurde immer ungehaltener.

Ingrid streifte ihr weißes T-Shirt über den Kopf und zog ihre schwar­zen Jeans aus. Danach schlüpfte sie in das blaue Tüllkleid.

Ihre Mutter nahm es an der Taille zwischen zwei Finger. »Tatsächlich, es ist zu groß. Nein, nicht das Kleid ist zu groß. Du bist einfach zu dünn«, rief sie aus und betrachtete kopfschüttelnd ihre Tochter.

»Das habe ich dir doch gesagt«, meinte Ingrid.

Ariadne seufzte wieder auf. »Ich verstehe dich manchmal nicht, Ing­rid. Als Kind und Jugendliche hattest du Übergewicht. Dein Vater und ich befürchteten schon, daß mit deinen Drüsen etwas nicht in Ordnung sein könnte. Wir haben dich deshalb von Herrn Dr. Lindau in der ›Klinik am See‹ untersuchen lassen. Zum Glück war bei dir organisch alles in Ordnung. Dr. Lindau verschrieb dir eine Diät. Aber statt dich daran zu halten, ißt du seitdem überhaupt nichts mehr«, beschwerte sie sich.

»Jetzt übertreibst du aber wirklich, Mama«, meinte Ingrid.

»Die Pommes soufflees hast du heute mittag nicht einmal angerührt«, erinnerte Ariadne.

»Ich war nicht hungrig«, antwortete Ingrid.

»Das sagst du immer. Es ist wirklich schlimm mit dir. Früher warst du zu dick, und jetzt siehst du aus wie eine Bohnenstange. Glaube mir, Ing­rid, die Männer können es nicht leiden, wenn bei einer Frau die Knochen hervorstehen. Die wollen etwas ganz anderes«, versicherte Ariadne ihrer Tochter.

»Ich weiß, Mama, ich weiß«, brach es aus Ingrid hervor.

In diesem Moment läutete es an der Haustür.

»Siehst du, da kommt schon jemand. Und du bist noch immer nicht angezogen, Ingrid. Ich muß jetzt gehen, um die Gäste zu begrüßen. Tu mir den Gefallen und komm gleich in den Salon. Aber nicht in diesen scheußlichen schwarzen Jeans«, erklärte Ariadne und ging mit schnellem Schritt zur Tür.

Bevor sie das Zimmer ihrer Tochter verließ, drehte sie sich noch einmal um. »Und schmink dich. Lauf nicht wieder so blaß rum. Das sieht ja schrecklich aus. Nimm etwas ­Rouge. Vergiß auch nicht deinen Lidschatten. Alles muß man dir sagen. Also, bis gleich.«

Sie schloß hinter sich die Tür.

Ingrid wandte sich dem großen Spiegel zu, der eine ganze Schranktür einnahm. Sie hatte sich selbst oft gesagt, daß sie das unattraktivste Mädchen in der ganzen Stadt sei.

Ihre Stupsnase war von Sommersprossen übersät. Ihr Kinn fand sie zu spitz, Arme und Beine zu lang, den Busen zu groß und die Hüften im Vergleich zu schmal. Nichts stimmte bei ihr, so kam es ihr vor.

Ihre beiden Schwestern, die zwei Jahre ältere Birgitta und die ein Jahr jüngere Sabine, galten dagegen als stadtbekannte Schönheiten. Niemand konnte sich ihrem Reiz entziehen. Wenn sie es nur gewollt hätten, hätten Birgitta und Sabine jeden Tag in der Woche eine Verabredung haben können.

Birgitta und Sabine waren so, wie ihre Mutter sich ihre Töchter wünschte. Schön, charmant und klug.

Ingrid war dagegen nie ein Kind zum Vorzeigen gewesen. Weder vom Aussehen noch von den Leistungen her, denn im Gegensatz zu ihren Schwestern hat sie in der Schule nie geglänzt.

Aus reinem Trotz und reiner Verzweiflung hatte Ingrid sich immer so unvorteilhaft wie möglich angezogen. Und es waren die gleichen Gründe, die sie sagen ließen, daß sie niemals heiraten werde.

Die Wahrheit war, daß Ingrid fest davon überzeugt war, auf der ganzen Welt könnte es keinen Mann geben, der sie jemals zur Frau nehmen würde. Kein Junge und kein Mann hatten sie jemals eingeladen. Keiner hat sie jemals geküßt oder auch nur den Versuch gemacht, es zu tun.

»Ich bin ja so unglücklich«, sagte Ingrid ganz verzweifelt zu ihrem Spiegelbild. »Ich möchte lieber tot sein als so, wie ich jetzt bin.«

*

Als Ingrid in den Salon der elterlichen Villa trat, hörte sie, wie ein junger Mann mit sehr kurzem Lockenhaar zu ihrer Mutter sagte: »Liebe Frau von Thorwald, kein Mensch versteht es so charmant wie Sie, Feste zu feiern.«

»Es gibt aber auch nur wenige Männer, die so hübsche Komplimente machen wie Sie, lieber Gilbert«, erwiderte Ariadne. Sie lächelte, aber ihr Lächeln erstarb, als sie ihre Tochter Ingrid bemerkte.

Ingrid trug eine weit geschnittene Bluse und einen Schlabberrock. An ihren bloßen Füßen steckten Stoffschuhe, die alles andere als elegant waren. Ihr hellblondes Haar hatte sie streng zurückgekämmt.

Nach dem ersten Erschrecken faßte sich Ariadne gleich wieder. »Meine Tochter Ingrid kennen Sie sicherlich, nicht wahr, Gilbert?« fragte sie den jungen Mann.

»Gewiß doch«, antwortete der und reichte Ingrid seine rechte Hand, an deren kleinem Finger ein kostbarer Siegelring steckte. »Wir sind uns auf einer Gemäldeausstellung begegnet, wenn ich mich nicht irre. Ich weiß nur leider nicht mehr, wo und wann. Irgendein verrückter Maler zeigte Bilder, auf denen nichts anderes als buntes Gekritzel zu sehen war.«

»Hubert Breitbrunn. Und wissen Sie auch, was dieses Gekritzel heutzutage kostet, Frau von Thorwald? Unter hunderttausend bekommen Sie nichts mehr. Nicht deutsche Mark, sondern Dollar. Hunderttausend Dollar. Haben möchte ich so etwas trotzdem nicht. Ich lege mein Geld lieber in Aktien an«, verkündete der junge Mann.

»Da haben Sie ganz recht, lieber Gilbert. Es ist wirklich amüsant, mit Ihnen zu plaudern. Sie müssen uns unbedingt einmal besuchen, wenn wir mehr Zeit füreinander haben«, erwiderte Ariadne.

»Mit dem allergrößten Vergnügen«, entgegnete der junge Mann. Er deutete eine Verbeugung an und steuerte dann auf Ingrids ältere Schwester Birgitta zu, die er am Büfett entdeckt hat.

Ariadne wandte sich an ihre Tochter. »Ingrid, wie siehst du nur wieder aus? Man muß sich ja mit dir schämen. Hast du denn nichts Anständiges zum Anziehen gefunden?« stieß sie so leise hervor, daß niemand außer Ingrid sie verstehen konnte. Ihre schmalen Nasenflügel zitterten dabei vor unterdrücktem Zorn.

»In diesem Rock und der Bluse fühle ich mich wohl. Außerdem ist es bequem«, erwiderte Ingrid.

»Das glaube ich dir allerdings. Scheußlicher hättest du dich wirklich kaum zurecht machen können. Und geschminkt bist du auch nicht«, warf Ariadne ihr vor.

Sie hatte noch sehr viel auf dem Herzen, was sie Ingrid sagen wollte. Ein älterer Herr mit milchweißem Haar, Leiter einer Rundfunkanstalt, hinderte sie jedoch daran.

»Gnädige Frau, liebste Frau Thorwald«, begann er und küßte Ariadne die Hand.

Nachdem er wieder hochgekommen war, fuhr er fort: »Sie sehen wie immer ganz bezaubernd aus. Man könnte Sie für die Schwester Ihrer Töchter halten. Das ist doch eines Ihrer Kinder, nicht wahr?« erkundigte er sich und warf einen Blick auf Ingrid.

»Ja, die mittlere Tochter, Ingrid«, erwiderte Ariadne.

»Natürlich, Ingrid. Wie doch die Zeit vergeht«, rief der alte Herr. Zu Ingrid gewandt fügte er hinzu: »Als ich Sie das letzte Mal sah, waren Sie noch ein rundes Pummelchen mit lauter Babyspeck. Und jetzt sind Sie schlank und rank wie eine Tanne.«

Ingrid lächelte gequält. »Entschuldigen Sie mich bitte. Ich würde gern etwas frische Luft schnappen«, gestand sie und ging quer durch den Salon auf die Terrasse.

Dort waren mehrere Gäste beim Essen. Sie standen vor der Brüstung und hielten Teller mit Salaten, Wildspezialitäten, Meeresfrüchten und anderen Köstlichkeiten in der Hand.

Ein junges Mädchen mit weißer Schürze, die Ingrids Mutter bei einem Partyservice angefordert hatte, bot von silbernen Tabletts Champagner und Wein an.

»Möchten Sie nicht auch etwas trinken?« fragte sie Ingrid.

»Nein, vielen Dank«, erwiderte Ingrid.

Um nicht allein herumzustehen, gesellte sie sich zu ihren Schwestern. Birgitta und Sabine hatten einen Kreis junger Leute um sich versammelt, zu dem auch Gilbert gehörte.

Ingrids Schwestern hatten das tiefschwarze Haar von ihrer Mutter geerbt, und auch sonst waren sie ganz ihr Ebenbild. Sie hatten Ariadnes feines Gesicht mit den großen dunklen Augen, gerundete Arme und Beine und einen vollen Mund. Ihr Wesen war freundlich und lebhaft.

Das Gespräch drehte sich um Schauspieler, Filme, Konzerte und den neuesten Klatsch. Gilbert brachte das Thema schließlich auf Reisen.

»In der Karibik soll es noch immer kilometerlange Strände geben, wo man keinen Menschen trifft«, erklärte er.

»Das wäre mir zu langweilig«, meinte Birgitta und lachte, wobei sie ihre herrlichen weißen Zähne zeigte.

»Auch wenn ich bei dir bin?« wollte Gilbert wissen und sah sie vielversprechend an.

»Ich dachte, du willst allein am Strand spazieren«, entgegnete Birgitta kokett.

»Habe ich das wirklich gesagt?« rief Gilbert.

»Hast du.«

»Dann bin ich ein Esel. Ich fahre doch nicht ohne dich in die Karibik«, versicherte Gilbert.

Ein anderer junger Mann legte einen Arm um Ingrids jüngere Schwester Sabine. »Nehmt ihr uns auch mit?«

»Das überlegen wir uns noch. Nicht wahr, Gilbert?« erkundigte sich Birgitta.

»Machen wir. Kinder, es gibt Musik«, rief Gilbert, als die Kapelle zu spielen begann.

Die jungen Leute liefen über die Terrasse in den Salon. Nur Ingrid blieb zurück. Sie lehnte sich gegen die steinerne Terrassenbrüstung und stützte ihre Hände auf.

Im Saal hatten die Paare inzwischen zu tanzen begonnen. Vor dem Blumenbeet stand noch immer Ing­rids Vater mit Geschäftsfreunden. »Mein Sohn hat sich gerade eine neue Hi-Fi-Anlage gekauft«, hörte Ingrid einen der Gäste sagen.

»Wieviel kostet denn heutzutage so etwas?« wollte ein anderer wissen.

»Fünftausend müssen Sie schon rechnen. Aber mindestens«, war die Antwort.

Warum müssen die Leute nur immer von Geld sprechen? dachte Ingrid.

Gleich darauf kam ein junger Mann auf die Terrasse. Es war Peter Stein. Er hat mit Ingrids Schwester Birgitta zusammen Abitur gemacht, und Ingrid wußte, daß er in Birgitta verliebt war. Jetzt sah er jedoch sehr unglücklich aus.

»Ingrid, kennst du diesen Menschen, mit dem Birgitta tanzt?« erkundigte er sich.

»Er heißt Gilbert. Sonst weiß ich nur noch von ihm, daß er sich nichts aus moderner Malerei macht«, berichtete Ingrid.

»Aber aus Birgitta scheint er sich etwas zu machen«, erwiderte der junge Mann mit düsterer Miene.

»Du auch, nicht wahr?« fragte Ing­rid mit leiser Stimme.

»Ich kann dir nicht sagen, wieviel Birgitta mir bedeutet. Ich kann sie gar nicht genug bewundern. Sie ist so schön, wie du, und sie hat einfach alles, was ich an einer Frau liebe. Ich habe noch nie ein Mädchen mit einem so schönen Gesicht und einem solchen Körper gesehen. Und natürlich gefällt mir auch ihr Haar. Entschuldige, daß ich das alles so sage, Ingrid. Aber wenn ich daran denke, daß sie jetzt schon zum dritten Mal mit diesem Gilbert tanzt, könnte ich verzweifeln«, erklärte Peter Stein.

In diesem Moment war der Tanz zu Ende. »Jetzt hole ich sie mir«, stieß Peter Stein hervor und stürzte in den Salon.

Ingrid stellte sich auf die andere Seite der Terrasse. Fünf Minuten später ging sie in den Salon. Am liebsten hätte sie sich in die hinterste Ecke verkrochen. Sie setzte sich jedoch auf einen der Stühle zu einer alten Dame, die mit dem größten Genuß ihr drittes Glas Chamapagner trank.

Ihr blieb gar nichts anderes übrig als zu warten, bis einer der Gäste sie zum Tanzen aufforderte.

Die Kapelle spielt eine Melodie nach der anderen. Ingrid unterhielt sich angestrengt mit der alten Dame. Dabei bemerkte sie, wie einige junge Männer von Zeit zu Zeit zu ihr hin­überschauten. Es kam jedoch keiner, sie um einen Tanz zu bitten.

*

Am Sonntag, der auf die Party folgte, hatte Ariadne Gilbert, den Bewunderer ihrer Tochter Birgitta, zum Mittagessen eingeladen. Sie hatte die Speisefolge selbst zusammengestellt. Ein junges Mädchen, Schülerin einer Frauenfachschule, die im Haushalt der Thorwalds ihr praktisches Jahr absolvierte, hatte ihr beim Zubereiten der Gerichte geholfen.

Als Vorspeise gab es pikante Anchovis und Dilldressing. Das Hauptgericht waren Kalbsschnitzel in Marsala mit selbstgemachten Eiernudeln. Die Nachspeise bildeten verschiedene Arten von Gefrorenem.

Die einzelnen Gänge waren von allen als ganz vorzüglich gepriesen worden. Nur Ingrid hatte kaum einen Bissen angerührt.

Im Beisein des jungen Gilbert wollte Ariadne ihre Tochter deshalb nicht zurechtweisen. Die Blicke, die sie Ingrid über den Tisch hinweg zuwarf, sprachen jedoch Bände.

Nach dem Essen verließ Birgitta mit ihrem Freund die elterliche Villa. Kurz darauf wurde Sabine von zwei Freundinnen abgeholt. Ingrid ging auf ihr Zimmer.

Zuerst versuchte sie, etwas zu lesen. Ihre Sehnsucht nach etwas, für das sie keinen Namen wußte, war jedoch so grenzenlos, daß es sie bald nicht mehr in ihren vier Wänden hielt.

Sie holte ihr Fahrrad aus dem Gartenhäuschen und fuhr in Richtung Tegernsee. Auf der Uferpromenade herrschte reger Betrieb. Sie stieg ab und schob ihr Fahrrad. Junge Leute, manche davon engumschlungen, kamen ihr entgegen. Andere küßten sich selbstvergessen am Ufer des Sees. Alle schienen so glücklich zu sein, so verliebt, und keiner war allein. Nur sie hatte niemanden, der zärtlich zu ihr war.

Ingrid überkam ein Gefühl tiefster Einsamkeit. Nicht einmal zu Hause in ihrem Zimmer hatte sie sich so einsam gefühlt wie unter den vielen glücklichen Menschen. Sie beschloß, wieder nach Hause zu fahren und sich mit einem Buch in den Garten zu legen.

Als sie mit ihrem Fahrrad die Autostraße hinter der Uferpromenade überquerte, merkte sie plötzlich, daß ihr schwindlig wurde. Die Kronen der Bäume rechts und links der Straße begannen sich zu drehen. Auch die weiße Möwe, die zwischen den Bäumen flog, wurde in einen Strudel gerissen.