Die Klinik am See 53 – Arztroman - Britta Winckler - E-Book

Die Klinik am See 53 – Arztroman E-Book

Britta Winckler

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Beschreibung

Besonders beliebt bei den Leserinnen von Arztromanen ist der Themenbereich Frauenklinik. Gerade hier zeigt sich, wie wichtig eine sensible medizinische und vor allem auch seelische Betreuung für die Patientinnen ist, worauf die Leserinnen dieses Genres großen Wert legen. Die große Arztserie Klinik am See setzt eben dieses Leserinteresse überzeugend um. Britta Winckler ist eine erfahrene Romanschriftstellerin, die in verschiedenen Genres aktiv ist und über hundert Romane veröffentlichte. Die Serie Die Klinik am See ist ihr Meisterwerk. Es gelingt der Autorin, mit dieser großen Arztserie die Idee umzusetzen, die ihr gesamtes Schriftstellerleben begleitete. Sie selbst bezeichnete ihre früheren Veröffentlichungen als Vorübungen für dieses grandiose Hauptwerk. Ein Schriftsteller, dessen besonderer erzählerischer Wunsch in Erfüllung geht, kann mit Stolz auf sein Schaffen zurückblicken. "Das war's für heute, meine Damen und Herren", beendete Dozent Dr. Ratlow seine Vorlesung über Kunst­geschichte. "Wir sehen uns in drei Tagen wieder." Verhaltener Beifall der Studenten und Studentinnen klang auf. Langsam leerte sich dann der Hörsaal. Barbara Schörner war unter den ersten, die dem Ausgang der Münch­ner Universität zustrebten. Die ver­gangene halbe Stunde war für sie eine Qual gewesen. Ihre seit einigen Wo­chen immer wiederkehrenden Rüc­kenschmerzen hatten ihr arg zuge­setzt. Sie war froh, daß die Vorlesung beendet war. Jetzt hatte sie nur den Wunsch, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen, um sich hinlegen zu können. Die Zurufe einiger männ­licher Kommilitonen ignorierte sie und beeilte sich, zu ihrem kleinen Fiat auf dem Parkplatz zu kommen. Einige der Studenten wunderten sich schon lange, daß sie so ein kleines Auto fuhr, wo sie sich doch ohne weiteres einen eleganten Flitzer hätte leisten können; arm war sie schließ­lich weiß Gott nicht. Aber Barbara hatte sich nun einmal nach bestande­nem Abitur von ihrem Vater diesen kleinen Wagen gewünscht. Es lag ihr nicht, mit etwas zu protzen. Es war überhaupt eines ihrer her­vorstechendsten Charaktermerkmale, daß sie trotz ihres Reichtums, den sie nach dem Tode ihres Vaters geerbt hatte, ein bescheidenes und an­spruchsloses Mädchen geblieben war, das sogar seine Scheu aus der Teen­agerzeit noch nicht abgelegt hatte. Nach dem Tod ihres Vaters war sie sogar noch zurückhaltender gewor­den und hatte richtig ängstlich bei Begegnungen mit anderen Menschen reagiert. Nur dem guten Freund ihres verstorbenen Vaters, dem Chefarzt der Klinik am See in Auefelden, Dr. Lindau, den sie seit ihrer Teenagerzeit Onkel Hendrik nannte, war es zu verdanken, daß sie mit der Zeit etwas selbstbewußter geworden war. Aber auch die alte Kathi – Katharina Leit­ner war ihr voller Name – hatte dabei mitgeholfen.

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Leseprobe: Jungbrunnen

Guten Tag! Da sind Sie ja wieder! Wie schön! Ich freue mich, liebe Leserin, ­geschätzter Leser, dass Sie mich erneut ins Krankenhaus St. Bernhard begleiten. Es sind ja doch noch ein paar Geschichten da zum Weitererzählen. Sie glauben bestimmt, dass ich mir das alles ausdenke, oder? Dass das alles pure Fantasie ist.

Falsch! Ich habe zehn Jahre in drei Kliniken gearbeitet. Und ich kann Ihnen, liebe Leserin, geschätzter Leser, versichern: So, wie ich es schreibe, ist es gewesen. Und es ist noch immer so. Und es wird immer so sein. Sie kennen den ersten Band noch nicht? Macht nichts. Obwohl – ich habe dort die wichtigsten Personen vorgestellt. Sehr sympathische Menschen. Auch den einen oder anderen Unsympathischen. Was sagen Sie? Die gibt es immer? Ihnen fallen jetzt bestimmt sogar Namen ein, oder? Vielleicht haben Sie ja doch Lust, dort einmal hineinzuschauen.

Schauen wir mal, was im zweiten Teil so passiert. Da lernen wir noch jemand ganz Wichtigen kennen, der … Moment mal! Was macht Frau Dr. Rommert denn in München? Hatte sie nicht bis 20 Uhr Dienst? Schon ziemlich spät für jemanden, der anderntags früh 'raus muss!

Sepandar

Ich komme mir vor wie in einer Folge einer in schwarz-weiß gedrehten Krimi-Serie der 70er Jahre, dachte Dagmar Rommert.

Nach dem Spätdienst in der Notaufnahme des Krankenhauses St. Bernhard in Schliersee gierte sie nach etwas Abwechslung. Deswegen hatte sie beschlossen, den Abend in München zu verbringen. Dort nieselte es. Einen Schirm aufzuspannen hätte sich nicht gelohnt. Die Tropfen schienen horizontal zu fallen. Die kühle Temperatur der Abendluft kroch durch den Stoff ihres schicken Tweed-Kostüms ohne Umwege auf ihre Haut. Das rhythmische Klack-klack ihrer Absätze auf dem nass-glänzenden Pflaster des Gehwegs hallte durch die Straße.

Die Frau Doktor spürte den Hunger, den sie tagsüber verdrängt hatte. Zum Essen war mal wieder keine Zeit gewesen heute, nur das Croissant und der Kaffee am Morgen. Vielleicht etwas Sushi? Futo-Maki und Nigiri … Proteine … gesund, kaum Kalorien, gut für die Linie. Oder vielleicht einen Salat aus dem Steakhouse?

Die Klinik am See – 53 –

Plötzlich erwachte die Liebe

Sie gab Barbara die Kraft, gesund zu werden

Britta Winckler

»Das war’s für heute, meine Damen und Herren«, beendete Dozent Dr. Ratlow seine Vorlesung über Kunst­geschichte. »Wir sehen uns in drei Tagen wieder.«

Verhaltener Beifall der Studenten und Studentinnen klang auf. Langsam leerte sich dann der Hörsaal.

Barbara Schörner war unter den ersten, die dem Ausgang der Münch­ner Universität zustrebten. Die ver­gangene halbe Stunde war für sie eine Qual gewesen. Ihre seit einigen Wo­chen immer wiederkehrenden Rüc­kenschmerzen hatten ihr arg zuge­setzt. Sie war froh, daß die Vorlesung beendet war. Jetzt hatte sie nur den Wunsch, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen, um sich hinlegen zu können. Die Zurufe einiger männ­licher Kommilitonen ignorierte sie und beeilte sich, zu ihrem kleinen Fiat auf dem Parkplatz zu kommen.

Einige der Studenten wunderten sich schon lange, daß sie so ein kleines Auto fuhr, wo sie sich doch ohne weiteres einen eleganten Flitzer hätte leisten können; arm war sie schließ­lich weiß Gott nicht. Aber Barbara hatte sich nun einmal nach bestande­nem Abitur von ihrem Vater diesen kleinen Wagen gewünscht. Es lag ihr nicht, mit etwas zu protzen.

Es war überhaupt eines ihrer her­vorstechendsten Charaktermerkmale, daß sie trotz ihres Reichtums, den sie nach dem Tode ihres Vaters geerbt hatte, ein bescheidenes und an­spruchsloses Mädchen geblieben war, das sogar seine Scheu aus der Teen­agerzeit noch nicht abgelegt hatte. Nach dem Tod ihres Vaters war sie sogar noch zurückhaltender gewor­den und hatte richtig ängstlich bei Begegnungen mit anderen Menschen reagiert. Nur dem guten Freund ihres verstorbenen Vaters, dem Chefarzt der Klinik am See in Auefelden, Dr. Lindau, den sie seit ihrer Teenagerzeit Onkel Hendrik nannte, war es zu verdanken, daß sie mit der Zeit etwas selbstbewußter geworden war. Aber auch die alte Kathi – Katharina Leit­ner war ihr voller Name – hatte dabei mitgeholfen. Von ihr, die Wirtschafte­rin, Haushälterin und Köchin in einer Person vereinte, war sie schon als Baby betreut worden. So gut es möglich gewesen war, hatte Kathi ihr die früh verstorbene Mutter ersetzt.

Diese beiden Menschen, Dr. Lindau und Kathi, waren die einzigen, denen Barbara vertraute, auf deren Rat sie hörte.

Ein schmerzvoller Seufzer kam über Barbaras Lippen, als sie nun in ihr Auto stieg und zur Heimfahrt nach Bad Wiessee startete. Eine Kirchturmuhr verkündete gerade die elfte Vormittagsstunde, als sie aus München hinausfuhr.

*

Lächelnd beobachtete Kathi vom Küchenfenster aus die Ankunft Barbaras. Ihr Lächeln verschwand aber sofort wieder, als sie an deren Haltung erkannte, daß Barbara wieder von ihren Rückenschmerzen geplagt wurde. Verhalten seufzte sie. Seit Barbaras Vater gestorben war und eine einzige Tochter als Vollwaise zurückgelassen hatte, achtete sie noch mehr auf alles, was mit dem Mädchen geschah. Vor allem aber galt ihr Augenmerk Barbaras Gesundheit. Daß deren immer wiederkehrende Rückenschmerzen nicht weichen wollten, bereitete ihr mehr Sorgen als das Zusammenstellen des wöchentlichen Speiseplanes. Sie litt geradezu mit Barbara, wenn diese von den Schmerzen geplagt wurde.

»Es muß etwas geschehen«, murmelte sie. »Ich kann das schon nicht mehr mit ansehen, wie sich das Kind mit diesen Schmerzen abquält.«

Kathi unterbach ihre überlegungen und verließ ihr Küchenreich, als sie Barbara das Haus betreten hörte. Im Vestibül traf sie das Mädchen. »Na, Babsie…«, so nannte sie Barbara meistens, »… wie war’s in der Uni?« Das war ihre obligatorische Frage, wenn Barbara von der Vorlesung in der Universität zurückkam.

Barbara winkte ab. »Wie immer«, erwiderte sie. »Heute aber war ich froh, daß die Vorlesung nicht so lange gedauert hat und ich nach Hause konnte.«

»Wieder Schmerzen?« Forschend sah Kathi das junge Mädchen an und schüttelte besorgt den Kopf.

»Sieht man mir das etwa an, Kathi?« fragte Barbara mit gepreßter Stimme.

Kathi nickte. »Ich auf jeden Fall, Babsie, denn ich kenne dich immerhin schon an die zwanzig Jahre.«

Barbara gab keine Antwort. Wortlos ging sie in das große Herrenzimmer und ließ sich seufzend auf die breite Ledercouch fallen.

Kathi, die gefolgt war, ergriff das Wort. »Ich mache mir Sorgen um dich«, sagte sie. »Es gefällt mir nicht, wie du deine ständigen Rückenschmerzen ignorierst.«

»Ignorierst?« wiederholte Barbara und verzog ihr hübsches Gesicht ein wenig. »Das kann ich gar nicht.«

»Und was tust du dagegen?« fuhr Kathi auf. Sie durfte sich diesen Ton erlauben. »Nichts, gar nichts, und das finde ich nicht richtig.«

»Ich weiß, Kathi«, gab Barbara ein wenig kleinlaut zurück. »Du meinst, ich sollte zum Arzt gehen.«

»Ja, das meine ich«, bestätigte der etwas wohlbeleibte gute Geist des Hauses. »Sehr bald sogar solltest du das tun! Warum wendest du dich nicht an Dr. Lindau?«

»Onkel Hendrik?« Barbara starrte zum Fenster hin. »Der hat wichtigeres zu tun, als sich um mein bißchen Rückenschmerz zu kümmern, der ja immer wieder verschwindet…«

»… aber ständig wiederkehrt«, fiel Kathi dem Mädchen ins Wort. »Dr. Lindau ist ein guter Arzt und er wird dir am besten sagen können, was es mit diesen Schmerzen auf sich hat. Wovor hast du eigentlich Angst?« fügte sie fragend hinzu.

»Ich habe keine Angst«, antwortete Barbara abwehrend. »Es ist nur so, daß ich eben nicht gern zu einen Arzt gehe, weil ich dann gleich das Gefühl habe, ich sei krank. Das kann ich einfach nicht leiden.«

»Statt dessen läßt du dich lieber von Schmerzen plagen«, tadelte Kathi ihren Schützling. »Sei vernünftig und geh’ endlich zum Arzt!«

»Ich werde es mir überlegen«, versprach Barbara. Daß sie Kathis Rat bisher noch nicht befolgt hatte, lag einfach daran, daß sie eine unbestimmte Angst vor dem Ergebnis einer Untersuchung hatte.

*

Fast zwei Stunden hatte Dr. Lindau zusammen mit Dr. Hoff und Dr. Bernau am OP-Tisch gestanden. Eine schwere Nierenoperation lag hinter ihm. Aber trotz der anstrengenden zwei Stunden war ein zufriedenes Leuchten in seinen Augen. Das war immer dann, wenn er nach einem Eingriff sagen konnte, daß ärtzliche Umsicht und fachliches Können wieder einmal über Krankheit und drohenden Tod gesiegt hatte. In diesem Fall war es so gewesen. Natürlich war sich Dr. Lindau auch bewußt, daß solche Siege im OP nicht allein sein Verdienst waren, sondern nur in der hervorragenden Zusammenarbeit mit den Kollegen erreichbar waren. An anerkennenden Worten gegenüber diesen Kollegen ließ er es nach einem gelungenen Eingriff auch nicht fehlen.

»Ja, einen Augenblick bitte – er kommt gerade«, hörte Dr. Lindau seine Sekretärin Marga Stäuber in den Telefonhörer rufen, als er nun das Vorzimmer zu seinem Büro durchschritt und in sein Allerheiligstes wollte.

Ruckartig blieb er an der schon geöffneten Tür stehen und blickte die Sekretärin an. »Für mich?« fragte er.

»Ja, Herr Doktor. Soll ich durchstellen?« kam es zurück.

»Wer ist es?« wollte Dr. Lindau wissen, der sich jetzt gern zunächst ein paar Minuten Ruhe gewünscht hätte. »Eine Patientin?«

Marga Stäuber zuckte mit den Schultern. »Hat sie nicht gesagt«, antwortete sie. »Ich wollte sie gerade danach fragen, aber da kamen Sie herein. Eine Frau Kathi aus der Schörner-Villa in Bad Wiessee ist am Apparat – Augenblick noch«, rief sie hastig in die Sprechmuschel, verdeckte diese mit der Hand und sah den Chefarzt fragend an.

»Schörner-Villa in Wiessee? Kathi?« Dr. Lindau nickte der Sekretärin auffordernd zu. »Stellen Sie durch, Frau Stäuber!« sagte er nur und verschwand in seinem Büro, das auch als Sprechzimmer für ambulante Patienten diente. Sekunden darauf drückte er den Hörer ans Ohr und meldete sich. Natürlich wußte er, wer diese von Marga Stäuber genannte Kathi war. Seine Miene wurde nachdenklich. Wenn Kathi ihn hier in der Klinik anrief, mußte es sich um etwas Besonderes handeln.

»Was gibt es denn, Kathi?« fragte

»Ich wollte mit Ihnen wegen Barbara sprechen, Herr Doktor«, klang es durch die Leitung. »Es muß etwas geschehen. Ich kann das nicht mehr länger mit ansehen.«

»Was denn?« fragte Dr. Lindau und vergaß seinen Wunsch nach einigen Minuten Ruhe. In seine Augen trat ein wacher und interessierter Ausdruck. Er hatte nicht vergessen, was er dem vor Jahren verstorbenen Vater Barbaras, mit dem er freundschaftlich verbunden gewesen war, versprochen hatte. Sein Versprechen von damals hatte er bis zum jetzigen Zeitpunkt eingehalten. Er hatte sich tatsächlich um Barbara gekümmert, wenn es nötig war, und hatte ihr dabei geholfen, wenn irgendwelche Probleme von ihr nicht gelöst werden konnten. Im Grunde genommen hatte es sich nicht um weltbewegende Dinge gehandelt, sondern eben um Probleme – man hätte auch Problemchen sagen können – wie sie bei jungen Mädchen, die zur Frau heranreifen, nicht selten waren. Anscheinend gab es nun wieder etwas, bei dem Barbara nicht weiter wußte und seinen Rat brauchte. Es wunderte Dr. Lindau nur ein wenig, daß Barbara sich nicht wie sonst direkt an ihn wandte, sondern daß plötzlich eine solche Initiative von der treuen Kathi kam.

Im Zeitraffertempo, in Sekundenschnelle, waren diese Gedanken Dr. Lindau jetzt durch den Kopf gegangen, als auch schon wieder Kathis Stimme an sein Ohr klang. Mit hastigen Worten wurde er über die immer wiederkehrenden Rückenschmerzen Barbaras informiert.

»Ich mache mir große Sorgen, Herr Doktor«, beendete Kathi ihren Bericht, der bereits wie ein Hilferuf klang.

Dr. Lindaus Miene wurde mit jedem Wort der Anruferin ernster. »Seit wann hat sie das schon?« fragte er.

»Schon seit etlichen Wochen.«

»Weshalb geht sie denn nicht zum Arzt und läßt sich untersuchen?« wollte Dr. Lindau wissen. »Barbara sollte doch wissen, daß auch ich ihr jederzeit zur Verfügung stehe.«

»Herr Doktor, ich habe ihr schon etliche Male zugeredet«, gab Kathi zurück, »aber sie hat es bisher abgelehnt beziehungsweise immer wieder hinausgeschoben.«

»Warum das?« fragte Dr. Lindau interessiert.

»Ich weiß es nicht«, gab Kathi klagend zurück. »Vielleicht hat sie Angst«, meinte sie.

»Wovor?«

»Keine Ahnung, Herr Doktor«, erwiderte Kathi. »Ich habe das Gefühl, daß sie sich vor etwas fürchtet, von dem sie nicht weiß, was es sein könnte. Ich will damit sagen, daß sich Barbara vor dem Ergebnis einer solchen Untersuchung fürchtet. Scheu und irgendwie ängstlich war sie ja schon immer ein wenig. Das wissen Sie doch.«

Dr. Lindau hatte verstanden. Hinter seiner Stirn arbeitete es. »Gut, Kathi, ich rede mit Barbara«, sagte er. »Ist sie jetzt zu Hause? Geben Sie sie mir mal an den Apparat!«

»Zu Hause ist sie wohl, aber sie schläft jetzt«, entgegnete Kathi. »Können Sie nicht etwas später, vielleicht in einer Stunde hier anrufen?« bat sie. »Ich möchte nicht gern, daß Barbara weiß, daß ich mit Ihnen über ihre Rückenschmerzen und eine Untersuchung gesprochen habe. Bitte verstehen Sie das!«

»Ich verstehe Sie sehr gut, Kathi«, antwortete Dr. Lindau. Er warf einen raschen Blick auf die Uhr und fuhr dann fort: »In Ordnung – ich rufe nach ein Uhr zurück, und bis dahin wird mir schon etwas einfallen, womit ich Barbara zu mir in die Klinik…«, ein Lächeln huschte um seine Lippen, »… locken kann.«

»Vielen Dank, Herr Doktor.«

»Schon gut, Kathi«, beendete Dr. Lindau das Gespräch, drückte auf eine Taste des Sprechapparates und wies seine Sekretärin an, um dreizehn Uhr dreißig eine telefonische Verbindung mit der Schörner Villa in Wiessee herzustellen.

*

Ein schwacher Seufzer kam über Barbaras Lippen, als sie die Augen aufschlug und eine sitzende Stellung einnahm. Versonnen blickte sie zum Fenster hin, durch das man das zwischen Bäumen hervorlugende Dach des Nachbarhauses erkennen konnte. Von eben diesem Nachbarhaus hatte sie geträumt. Doch nicht das Nachbarhaus hatte im Mittelpunkt ihres Traumes gestanden, sondern ein großer schlaksig wirkender junger Mann, ein Student, der vier Jahre älter als sie war, hatte in ihrem Traum die erste Rolle gespielt. Gert Döbel war sein Name. Er war ihre erste und bisher einzige große Liebe gewesen.

Barbara erhob sich von der Couch, auf der sie gelegen und geschlafen hatte, und trat an das Fenster. Ihr Blick flog zu der großen Standuhr in der Ecke hin. »Hab’ ich wirklich so lange geschlafen?« fragte sie sich flüsternd. »Es ist ja schon eins vorbei.« Unwillkürlich streckte sie ihre Gestalt ein wenig und stellte zu ihrer Freude fest, daß ihre Rückenschmerzen, derentwegen sie sich überhaupt niedergelegt hatte, so gut wie weg waren. Der Schlaf hatte ihr also gutgetan.

Sinnend stand sie nun am Fenster, blickte zum Nachbargrundstück hinüber und ließ den Erinnerungen freien Lauf. Zeit und Raum schienen plötzlich nicht mehr vorhanden zu sein. Nur die Gedanken an die jüngste Vergangenheit – sofern man die verflossenen vier Jahre so bezeichnen konnte – gingen Barbara durch den Sinn.

Sie war gerade sechzehn Jahre alt gewesen, als sie Gert Döbel zum ersten Mal gesehen und mit ihm gesprochen hatte. Diese erste Begegnung mit dem Sohn des schon längst verstorbenen Immobilienhändlers Döbel war ihr zu einer Art Schicksal geworden. Mit anderen Worten – sie hatte sich in den damals erst Neunzehn- ­oder Zwanzigjährigen Gert unsterblich verliebt und jede Gelegenheit ergriffen, um nicht nur in seine Nähe zu kommen, sondern auch mit ihm zu sprechen und ihm zu zeigen, was sie für ihn empfand. Ein volles Jahr war das so gegangen, ohne daß sich ihre geheimsten Wünsche erfüllt hatten. Es war ein schönes Jahr gewesen, aber auch ein sogenanntes bittersüßes. Das letztere deshalb weil Gert zwar ihr Anhimmeln zur Kenntnis genommen hatte, jedoch zu keinerlei Reaktionen, wie Barbara sich gewünscht hatte, zu bringen gewesen war. Ja, er hatte es zwar sichtbar genossen, von einem jungen hübschen Mädchen angehimmelt zu werden, war aber distanziert geblieben. Anscheinend war ihm eine Sechzehnjährige, die noch das Gymnasium besuchte, zu jung für eine festere Beziehung gewesen. Es war zwischen ihnen beiden nicht einmal zu irgendwelchen Zärtlichkeiten gekommen. Kein Kuß, nicht einmal auf die Wange, und kein liebevolles Streicheln hatte es gegeben zwischen ihnen, so sehr sich Barbara auch danach gesehnt hatte.

Und dann war plötzlich alles vorbei gewesen. So abrupt, daß Barbara in ein seelisches Tief geraten war, das sie nur mit großer Mühe und nach langer Zeit erst hatte überwinden können. Gerts Vater war gestorben, und er selbst hatte sich dank der nicht gerade geringen Erbschaft in München niedergelassen. Von diesem Zeitpunkt an hatte Barbara von ihm nichts mehr gehört und ihn schon gar nicht mehr zu Gesicht bekommen. Ihre Enttäuschung war grenzenlos gewesen. Sie hätte sie auch schwer verkraften können, wenn nicht ihr Vater und nicht zuletzt auch ihr »Onkel Hendrik«, der Chefarzt der Klinik am See also, über diese Krise hinweggeholfen hätten. Es war ihr dadurch tatsächlich gelungen, ihre Liebe, wie sie ihre Gefühle für Gert bezeichnete, zu verdrängen. Das danach erfolgte Ableben ihres Vaters, und die damit verbundene neue Situation hatten sie zwangsläufig auf andere Gedanken gebracht. Sie mußte nach dem Tod des Vaters allein mit dem Leben fertig werden. Das war nicht immer einfach, wenn man bedachte, daß sie nur ein reiches Mädchen war, das so manchen jungen Mann fast magnetisch anzog. Bisher jedoch war keiner dabei gewesen, für den sie sich hätte begeistern können. Doch – zwei hatte es gegeben, die nicht unsympathisch gewesen waren. Allerdings hatte ihr Dr. Lindau, ihr »Onkel Hendrik«, dem sie sich anvertraut hatte, sehr schnell die Augen geöffnet über diese beiden und sie über deren wahre Absichten aufgeklärt. Nicht sie, die inzwischen zu einer hübschen jungen Frau herangewachsene Barbara, war es, für die man sich interessierte, sondern ihr geerbter Reichtum war die Triebfeder bei dieser und jener Bewerbung um ihre Gunst.

Die sich daraus ergebenden Enttäuschungen hatte Barbara jedoch leichter und schneller überwunden, als damals jene mit Gert – einfach deshalb, weil im Falle von Gert ihr Herz weitaus stärker beteiligt gewesen war als in den beiden anderen Fällen. Das Studium der Kunstgeschichte, das sie begonnen hatte, kam ihr dabei sehr zustatten, weil sie sich darauf voll konzentrierte und ihr dadurch für ganz persönliche, ihr Herz und ihre Seele berührende Überlegungen wenig Raum blieb.

Seufzend wandte sich Barbara vom Fenster ab. Sie blickte auf die Uhr. »Halb zwei«, murmelte sie und spürte plötzlich ein leichtes Hungergefühl. »Also dann will ich mal sehen, was Kathi…« Sie sprach nicht weiter, weil in diesem Augenblick nach einem kurzen Klopfen die Tür aufging und Kathi eintrat.

»Na, Babsie, ausgeschlafen?«