Die Klinik am See Staffel 3 – Arztroman - Britta Winckler - E-Book
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Die Klinik am See Staffel 3 – Arztroman E-Book

Britta Winckler

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Beschreibung

Besonders beliebt bei den Leserinnen von Arztromanen ist der Themenbereich Frauenklinik. Gerade hier zeigt sich, wie wichtig eine sensible medizinische und vor allem auch seelische Betreuung für die Patientinnen ist, worauf die Leserinnen dieses Genres großen Wert legen. Die große Arztserie Klinik am See setzt eben dieses Leserinteresse überzeugend um. Britta Winckler ist eine erfahrene Romanschriftstellerin, die in verschiedenen Genres aktiv ist und über hundert Romane veröffentlichte. Die Serie Die Klinik am See ist ihr Meisterwerk. Es gelingt der Autorin, mit dieser großen Arztserie die Idee umzusetzen, die ihr gesamtes Schriftstellerleben begleitete. Sie selbst bezeichnete ihre früheren Veröffentlichungen als Vorübungen für dieses grandiose Hauptwerk. Ein Schriftsteller, dessen besonderer erzählerischer Wunsch in Erfüllung geht, kann mit Stolz auf sein Schaffen zurückblicken. E-Book 21: Aufbruch in ein neues Glück E-Book 22: Das Glück hat einen Riss bekommen E-Book 23: Kinderärztin in Gewissensnot E-Book 24: Jessica begegnet dem Leben E-Book 25: Ein Herz in Not E-Book 26: Das Wichtigste in meinem Leben bist du E-Book 27: Gib nicht auf, Leona! E-Book 28: Auf dem Weg zur Mutter E-Book 29: Sabine weiß nicht, wohin E-Book 30: Eine Frau kämpft mit sich selbst

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Inhalt

Aufbruch in ein neues Glück

Das Glück hat einen Riss bekommen

Kinderärztin in Gewissensnot

Jessica begegnet dem Leben

Ein Herz in Not

Das Wichtigste in meinem Leben bist du

Gib nicht auf, Leona!

Auf dem Weg zur Mutter

Sabine weiß nicht, wohin

Eine Frau kämpft mit sich selbst

Die Klinik am See – Staffel 3–

E-Book 21-30

Britta Winckler

Aufbruch in ein neues Glück

Als Christine nicht mehr leben wollte, griff ein Schutzengel ein

Roman von Winckler, Britta

Über Bad Tölz hing eine Dunstglocke, die es der aufgehenden Morgensonne etwas schwer machte, ihre wärmenden Strahlen über die Landschaft zu verteilen. Dr. Werner Bernau, Assistenzarzt in der Klinik am See bei Auefelden, verzog das Gesicht. »Ein heiterer Morgen ist das gerade nicht«, rief er seinem Freund zu, der mit seiner Frau neben der Gartentür stand. Er war einer Einladung gefolgt und hatte das Wochenende mit den beiden in deren Haus verbracht. Nun aber musste er wieder in die Klinik zurück. Um neun Uhr musste er im OP stehen und Dr. Hoff bei einer Operation assistieren.

»In einer halben Stunde ist der Dunst verschwunden, und die Sonne bleibt Sieger«, gab Helmuth Schmieding zurück.

»Von der werde ich allerdings nicht viel genießen können, denn ich werde fast den ganzen Vormittag im OP sein«, entgegnete Dr. Bernau. »Sei froh, dass du nicht Arzt geworden bist, denn …«

»Schon gut, Werner«, fiel Helmuth Schmieding, der gemeinsam mit seiner hübschen Frau Käthe in Bad Tölz ein gut gehendes Architekturbüro betrieb, dem Arzt, der sein Freund war, ins Wort, »aber wenn du glaubst, dass ich deshalb auf der faulen Haut liegen kann, dann irrst du dich.«

Dr. Bernau sah auf die Uhr. »He, jetzt muss ich aber los«, rief er dem Ehepaar zu. »Es ist schon acht vorbei. Es wird Zeit für mich.« Er stieg in seinen Wagen und startete den Motor.

»Besuch uns bald wieder, Werner«, rief Käthe Schmieding.

Dr. Bernau nickte nur und fuhr ab. Im Rückspiegel sah er die Schmiedings winken. Sekunden später war er aber bereits außer Sichtweite, fuhr aus Bad Tölz heraus und bog auf die Bundesstraße ein, die über Miesbach nach Schliersee weiter nach Bayrischzell und dann weiter nach Süden führte. Das war die kürzeste Verbindung nach Auefelden, wenn man bei Aurach abbog.

Ein Blick auf die Uhr sagte Dr. Bernau, dass er es rechtzeitig bis zum Beginn der Operation schaffen konnte – wenn nicht etwas dazwischenkam. Was aber sollte schon groß dazwischenkommen? Außerdem war um diese Zeit – es war kurz nach acht Uhr – wenig Verkehr auf dieser Strecke.

Wie bald aber etwas dazwischenkommen sollte, ahnte Dr. Bernau in diesen Augenblicken nicht, als er wenig später bei Aurach von der Bundesstraße auf die nach Auefelden führende Landstraße einbog, die sich einige wenige Kilometer weiter gabelte. Links ging es nach Auefelden und rechts hinüber zum Tegernsee, nach Rottach.

Kurz vor dieser Gabelung sah Dr. Bernau den beigefarbenen Fiat, der etwas unvorschriftsmäßig am rechten Straßenrand parkte. Als Dr. Bernau etwas schärfer dahin blickte, stutzte er. Dieses Fahrzeug war nicht geparkt, nein, es schien mit dem rechten Hinterrad abgerutscht zu sein, in den flachen Straßengraben hinein. Das Heck des Wagens war leicht nach rechts geneigt.

Schlagartig erwachte Dr. Bernaus Interesse. Der Arzt in ihm meldete sich. Hatte da etwa jemand einen Unfall? Er beantwortete sich diese Frage erst gar nicht, sondern hielt sein Fahrzeug an, sprang heraus und lief die paar Meter zu dem seitlich etwas abgerutschten Fiat hin. Hinter dem Steuer sah er eine Frau sitzen, zusammengekrümmt und mit dem Kopf halb auf dem Steuerrad liegend. Ihre Augen waren geschlossen. Erneut stutzte Dr. Bernau, als er dieses Gesicht sah. Es erinnerte ihn an eine junge Vermessungstechnikerin, die vor einiger Zeit auf dem Gelände neben dem See, an dessen Ufer die Klinik stand, Vermessungsarbeiten ausgeführt hatte. Mit Vera – so hieß jene Frau – hatte er ein paar schöne Wochen verbracht, die dann aber ziemlich abrupt beendet gewesen waren, weil Vera nach dem Norden Deutschlands übergesiedelt war. Seither hatte er nichts mehr von ihr gehört. In Bruchteilen von Sekunden gingen ihm diese Erinnerungen durch den Kopf.

Diese junge Frau hinter dem Steuer des Fiat, die aus einem ihm unbekannten Grund anscheinend das Bewusstsein verloren hatte, sah jener Vera jedenfalls ungeheuer ähnlich. Vorsichtig öffnete Dr. Bernau die Seitentür. Eine äußere Verletzung konnte er an der Unbekannten auf den ersten Blick aber nicht entdecken. Er vergaß, dass er eigentlich in Eile war, sondern reagierte als Arzt, als der er gemäß dem Hippokrateseid zur Hilfe verpflichtet war, wo und wann auch immer diese Hilfe benötigt wurde.

»Hallo, junge Frau, können Sie mich verstehen?«, fragte er.

Die Antwort war nur ein unterdrücktes leises Stöhnen.

Dr. Bernau zögerte nicht länger. Er löste den Sicherheitsgurt und hob die junge Frau aus dem Wagen. Sehr vorsichtig ging er dabei zu Werke, denn es war ja nicht auszuschließen, dass die Unbekannte doch irgendwelche, durch die Kleidung im Augenblick nicht sichtbare Verletzungen hatte. Ebenso vorsichtig legte er sie auf den Grasstreifen neben der Straße, kniete sich daneben und tastete hastig und fachmännisch die Gliedmaßen der jungen Frau ab. Ein Anzeichen für einen Bruch oder ähnliche äußere Verletzung konnte er jedoch in dieser Eile und unter diesen Umständen nicht feststellen.

»Ein Herzanfall etwa?«, murmelte Dr. Bernau fragend. Kurz entschlossen öffnete er die Bluse der Unbekannten und horchte das Herz ab. Nur wenige Sekunden dauerte das alles, in denen Dr. Bernau gar nicht merkte, was in der gleichen Zeit um ihn herum, in seiner unmittelbaren Nähe geschah. Erst als hinter ihm eine raue Stimme erklang, fuhr er herum und richtete sich auf.

»Was soll das bedeuten? Was machen Sie mit der Frau?« Der Beamte der Landpolizei, der mit seinem Kollegen von Rottach kommend auf Streifenfahrt war, musterte den ihm unbekannten Dr. Bernau finster.

Der Ton des Polizisten, der noch relativ jung war – im Gegensatz zu seinem Kollegen, der die Dreißig bestimmt schon um ein paar Jährchen überschritten hatte – gefiel Dr. Bernau nicht. »Wie Sie vielleicht gesehen haben, war ich dabei, die Frau flüchtig zu untersuchen, Herr Wachtmeister«, erwiderte er.

»Oberwachtmeister, wenn ich bitten darf«, schnarrte der Beamte. »Mir sah das aber nicht nach Untersuchung aus«, setzte er hinzu.

»Wonach denn?«, fragte Dr. Bernau scharf.

»Nun, ich möchte sagen, nach einer Art Belästigung, nach einer fast schon an unzüchtige …«

»Jetzt hören Sie aber auf, Herr Oberwachtmeister«, unterbrach Dr. Bernau den Polizisten ärgerlich. »Sie spinnen wohl?«

»Nicht in diesem Ton, Verehrter«, konterte der Beamte herrisch, »sonst könnte ich Sie wegen Beamtenbeleidigung zur Rechenschaft ziehen. Also Vorsicht, wenn ich bitten darf! Sagen Sie mir lieber, was Sie wirklich mit der Frau vorhatten! Wie ich sehe, waren Sie gerade im Begriff, die Bluse der Frau …«

»Jetzt reicht es mir«, verlor Dr. Bernau die Geduld. »Ich habe die Frau vorhin gefunden«, fuhr er energisch fort. »Sie war ohnmächtig, und ich wollte nur feststellen, ob ihr etwas Ernsthaftes zugestoßen ist. Ich bin Arzt.«

»So, Arzt sind Sie«, gab der Beamte mit finsterer Miene zurück. Er hatte es gar nicht gern, wenn man ihn unterbrach und seine Autorität in solcher Form missachtete. »Das kann jeder sagen. Zeigen Sie mir bitte einmal Ihre Papiere!«, verlangte er.

»Aber gern«, erwiderte Dr. Bernau. »Ich habe sie in meinem Wagen.«

»Dann holen wir sie«, brummte der Beamte.

»Sollten wir uns nicht besser zuerst um die Frau …?« Dr. Bernau sprach nicht weiter, als er sah, dass die Unbekannte zu sich gekommen war, und dass der zweite Polizist ihr auf die Beine half.

»Wie Sie sehen, kümmert sich mein Kollege bereits darum«, schnarrte der jüngere Gesetzeshüter. »Also – Ihre Papiere jetzt!«, befahl er.

Dr. Bernau zuckte mit den Schultern und schritt zu seinem Wagen. Der Beamte wich nicht von seiner Seite. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er nur, dass der zweite Polizist sich mit der jungen Frau beschäftigte und ihr einige Fragen stellte und sich die Antworten notierte.

Schweigend holte Dr. Bernau seine Papiere aus dem Wagen und reichte sie dem Uniformierten. »Hier, bitte …«

Der Polizist prüfte sehr genau. Er schien gar nicht in Eile zu sein. »Hm, mit dem Arzt scheint das ja zu stimmen«, meinte er nach einer Weile. »Aber deshalb würde …« Er unterbrach sich und blickte sich um, als in diesem Augenblick ein Motor aufheulte. Es war der des Fiat, in dem die junge Frau wieder Platz genommen hatte, die nun ihren Wagen mit Vollgas aus dem Straßengraben heraus wieder in Fahrtrichtung brachte und dann in Normalgeschwindigkeit davonfuhr.

»Sie lassen die Frau weiterfahren?«, stieß Dr. Bernau verwundert hervor.

»Warum denn nicht?«, fragte der zweite Polizist, der näher getreten war.

»Nun, es könnte doch sein, dass …«, Dr. Bernau sah die beiden Polizisten abwechselnd an, »… dass die Frau krank ist. Immerhin war sie ja bewusstlos, als ich sie vorhin fand.«

»Sie fühlt sich schon wieder wohl und ist meiner Meinung nach durchaus fahrtüchtig«, erklärte der ältere der beiden Polizisten ruhig.

»Sie haben es gehört, Herr Doktor«, brummte der jüngere Beamte.

»Wirklich ein Doktor?«, fragte der andere.

Sein Kollege nickte und reichte Dr. Bernau die Papiere zurück. »Was ist mit der Frau?«, wandte er sich an den Kollegen.

»Sie heißt Christine Häußler, wohnt in Schliersee und leitet in Rottach das Kinderferienheim«, kam die Antwort. »Es war kein Unfall, wie sie mir erklärte. Ihr war nicht gut, und als sie merkte, dass sie ohnmächtig zu werden drohte, fuhr sie ihren Wagen zur Seite und ist dabei eben ein wenig in den Graben gerutscht. Ich habe alles notiert.«

Dr. Bernau hatte alles mitgehört. Damit war für ihn der Fall eigentlich erledigt. »Sie brauchen mich jetzt ja wohl nicht mehr, meine Herren«, sagte er und sah auf die Uhr.

Der jüngere Beamte verzog das Gesicht. »Tja, ein Protokoll sollten wir ja aufnehmen«, meinte er. »Entweder gleich hier oder Sie kommen mit zur Station. Ordnung muss sein, und ich muss ja den Bericht …«

»Ein Protokoll? Wozu?«, begehrte Dr. Bernau auf. Ihm brannte die Zeit unter den Fingernägeln. Er wusste, dass er sich verspäten würde, wenn die beiden Gesetzeshüter ihn noch länger hier festhielten. »Es ist doch nichts passiert, wie Sie ja selbst festgestellt haben.«

»Mag sein, aber wir sind im Dienst, im Streifendienst, Herr Doktor, und müssen einen korrekten Bericht abgeben.«

»Aber ich muss in die Klinik am See«, fuhr Dr. Bernau auf. »Ich werde bei einer Operation erwartet. Sie können und dürfen mich nicht länger für nichts und wieder nichts hier festhalten.«

»Haben Sie eine Ahnung, Herr Doktor, was wir können und dürfen …«

Fast zwei Minuten dauerte dieses Wortgeplänkel noch, als endlich der ältere der beiden Polizisten – er schien jedenfalls der besonnenere zu sein – den Schlusspunkt setzte.

»Lassen wir ihn doch weiterfahren«, meinte er zu seinem jüngeren Kollegen, der anscheinend der Streifenführer war. »Seine Personalien kennst du ja.«

»Also meinetwegen«, gab sich der Angesprochene großzügig. »Fahren Sie in Gottes Namen weiter, damit Sie in Ihre Klinik kommen.«

*

Schon zum dritten Mal blickte Dr. Hoff nach der elektrischen Uhr an der Wand des Wasch- und Vorbereitungsraumes, während er seine Hände und Unterarme schrubbte. Er verstand nicht, wo Dr. Bernau blieb, der ihm bei der in wenigen Minuten angesetzten Operation assistieren sollte. »Nichts gehört und gesehen von Doktor Bernau?«, fragte er die OP-Schwester, die eben den Raum betrat, um dem Chirurgen in den sterilen OP-Kittel zu helfen.

»Nein, Herr Doktor«, kam die bedauernde Antwort. »Er ist noch nicht in der Klinik.«

Unwillig verzog Dr. Hoff das Gesicht. Dr. Bernaus Abwesenheit gefiel ihm gar nicht. »Er weiß doch, dass der Eingriff auf neun Uhr angesetzt ist«, murmelte er.

»Wir sind so weit«, meldete in diesem Augenblick Schwester Sylvia, die den anderen OP-Schwestern vorstand, durch die leicht geöffnete Flügeltür zum OP. »Herr Doktor Reichel hat die Narkose schon eingeleitet. Die Patientin ist bereit«, setzte sie hinzu und zog sich sofort wieder zurück.

Dr. Hoff brummte unwillig vor sich hin. Er überlegte, ob er nun mit dem Eingriff beginnen oder noch ein paar Minuten warten sollte, hoffend, dass Dr. Bernau doch noch in letzter Minute erschien. Ohne Assistenz konnte er den Eingriff gar nicht vornehmen.

Die Schwester, die ihm in den OP-Kittel half, schien die Überlegungen des Chirurgen zu erraten. »Sollen wir vielleicht Doktor Köhler oder Frau Doktor Westphal verständigen?«, fragte sie leise. »Die können Ihnen doch auch assistieren, wenn Doktor Bernau nicht kommt.«

»Das werden wir wohl müssen«, erwiderte Dr. Hoff und sah nach der Uhr. Sekundenlang dachte er nach und entschloss sich dann, dem Vorschlag der Schwester zu folgen. »Ja, rufen Sie …« Er sprach nicht aus, was er sagen wollte, denn in diesem Augenblick betrat der Chefarzt den Raum.

»Ich wollte nur …«, begann Dr. Lindau zu sprechen, unterbrach sich aber und sah den Chirurgen etwas verwundert an. »Nanu, eine Verzögerung«, sagte er. »Die Operation war doch für neun Uhr angesetzt, wenn ich mich nicht irre.«

»Kein Irrtum«, erwiderte Dr. Hoff. »Es gibt tatsächlich eine Verzögerung.«

»Komplikationen?«, warf Dr. Lindau fragend ein. »Mit der Narkose?«

Dr. Hoff schüttelte den Kopf. »Die Patientin liegt bereits in Narkose«, klärte er den Chefarzt auf. »Aber ohne Assistent kann ich nicht beginnen.«

»Doktor Bernau war doch dazu eingeteilt«, meinte Dr. Lindau und hob erstaunt die Augenbrauen an. »Wo ist er eigentlich?«, fragte er.

»Keine Ahnung«, gab Dr. Hoff zurück. »Jedenfalls ist er noch nicht aufgetaucht. Ich wollte eben den Kollegen Köhler rufen lassen.«

Die Stirn des Chefarztes umwölkte sich. Blitzschnell überlegte er. »Der ist beschäftigt«, stieß er hervor. »Ich komme gerade von der Station. Es würde zu lange dauern, bis er hier und einsatzbereit ist«, fuhr er fort, sah auf die Uhr und wandte sich an die im Hintergrund abwartend stehende Schwester. »Bringen Sie mir Kittel und Haube!«, befahl er, streifte seinen weißen Mantel ab und begann auch schon mit dem Schrubben seiner Hände und der Unterarme.

Wenig später begann Dr. Hoff mit der Operation, bei der ihm der Chefarzt assistierte.

Das war fast im gleichen Augenblick, als Dr. Bernau den Vorbereitungs- und Waschraum betrat. »Wo ist Doktor Hoff?«, fragte er die im Raum anwesende Schwester schwer atmend, entledigte sich seines weißen Mantels, den er sich kurz vorher noch übergestreift hatte und begann sich zu waschen.

»Herr Doktor Hoff hat vor wenigen Minuten mit dem Eingriff begonnen«, erwiderte die Schwester.

»Wie bitte?« Dr. Bernau fuhr herum. »Ohne Assistenz?«

»Der Chefarzt assistiert, weil Sie nicht da waren …«

»Verdammt, auch das noch«, stieß Dr. Bernau ärgerlich hervor. Er wusste, dass er für seine Verspätung einen Rüffel von Dr. Lindau bekommen würde. Es blieb ihm nur zu hoffen, dass der den Grund seiner Verspätung akzeptierte. Erneut wallte Ärger auf die beiden Polizisten auf, die ihn zu dieser Verspätung gezwungen hatten. Merkwürdigerweise jedoch bezog sich sein Unwillen nicht auf die junge Frau, deretwegen er überhaupt angehalten hatte. An sie dachte er nicht mit Unwillen.

»Wollen Sie auch in den OP, Herr Doktor?«, fragte die Schwester und riss Dr. Bernau aus seinen Gedanken.

»Was dachten Sie?«, gab Dr. Bernau unwillig zurück. »Ich kann doch den Chef nicht für mich assistieren lassen. Rasch, schließen Sie mir den Kittel!«

In Sekundenschnelle war das getan, und Dr. Bernau beeilte sich, in den OP zu kommen, in dem Dr. Hoff und Dr. Lindau schon den ersten Teil des Eingriffs hinter sich hatten.

»Da sind Sie ja endlich.« Dr. Hoff bedachte den Kollegen Bernau nur mit einem kurzen Blick und konzentrierte sich sofort wieder auf den Operationsbereich.

Dr. Lindau sah den Assistenzarzt nur kurz an. »Ich hoffe, dass Sie einen triftigen Grund für Ihre Verspätung haben«, kam es hinter seinem Mundschutz hervor.

»Tut mir leid, aber ich wurde …«

»Später, nach der Operation bei mir unten«, fiel Dr. Lindau dem Zuspätgekommenen scharf ins Wort. »Kommen Sie und übernehmen Sie!«, setzte er hinzu.

Dr. Bernau zuckte unmerklich zusammen. Schweigend nahm er den Platz des Chefarztes ein, der vom OP-Tisch zurücktrat, sich aber beobachtend danebenstellte.

*

Die Kinderärztin Dr. Astrid Mertens sah ihren Vater, den Chefarzt der Klinik am See, erwartungsvoll an. Sie hatte ihm eben ihren Wunsch mitgeteilt, der Einstellung einer ärztlichen Mitarbeiterin für die Kinderstation zuzustimmen. »Wie stehst du dazu, Paps?«, fragte sie.

Dr. Lindau blickte seine Tochter prüfend an. »Grundsätzlich ist dagegen nichts zu sagen«, erwiderte er. »Auf deiner Station könnte gut und gern noch eine Ärztin Arbeit finden. Ich denke dabei daran, dass du ja nur an den Vormittagen in der Klinik sein kannst und dass dein Mann dadurch ziemlich belastet wird.«

»Nun«, wandte Astrid ein, »ich könnte natürlich meine Dienststunden auch etwas verlängern, wenn es erforderlich ist.«

»Nichts da.« Dr. Lindau winkte ab. »Du hast Mutterpflichten«, erklärte er energisch. »Mein Enkel …, hm …, dein Sohn ist in einem Alter, in dem er die Mutter so oft wie nur möglich um sich haben muss.« Er lächelte verhalten. »Oder habe ich als Großvater etwa nichts dazu zu sagen?«, fragte er.

Astrid gab ein Lächeln zurück. »Aber selbstverständlich, Paps«, erwiderte sie. »Also kann ich Renate einen positiven Bescheid zukommen lassen«, wurde sie wieder sachlich.

Dr. Lindau nickte zustimmend. »Du hast zusammen mit dieser Dame studiert?«, fragte er.

»Ja«, bestätigte Astrid. »Wir haben uns gut verstanden, und ich kann dir versichern, dass sie gut ist.«

»Fachgebiet?«

»Ebenso wie ich – Kinderärztin«, antwortete Astrid. »Sie ist im gleichen Alter wie ich«, fuhr sie erklärend fort. »In Nürnberg hatte sie eine eigene kleine Praxis.«

»Hatte?« Fragend sah der Chefarzt seine Tochter an.

»Ja, aber die hat sie jetzt verkauft und möchte gern in unserer Klinik arbeiten«, berichtete Astrid.

»Warum?«

»Weil ihre vor gut einem Jahr geschlossene Ehe in die Brüche gegangen ist und weil sie Abstand gewinnen will«, erklärte Astrid dem Vater. »Da wir fast so etwas wie Freundinnen waren und auch noch irgendwie sind, glaubte sie, dass sie hier in meiner Nähe leichter über alles hinwegkommen kann.«

»Verstehe«, murmelte Dr. Lindau und machte sich ein paar kurze Notizen. »Hat deine Studienfreundin Kinder?«, wollte er wissen.

»Nein …«

»Ihr Name?«

»Renate Bertram«, erwiderte As­trid. »Doktor Renate Bertram.«

Dr. Lindau notierte den Namen. »Gut«, sagte er, »ich werde nachher gleich mit Sandtner, unserem Verwaltungs-Chef, darüber reden.«

»Mit Sandtner?«, fragte Astrid leicht verwundert. »Brauchst du denn seine Genehmigung? Das ist doch deine Klinik.«

»Das ist zwar richtig«, bestätigte Dr. Lindau, »aber unser Budget verwaltet Sandtner. Schließlich muss eine neue Mitarbeiterin ja auch für ihre Dienste entlohnt werden.«

»Da hast du natürlich recht, Paps«, gab Astrid zurück.

»Tja, dann werden wir also in Kürze zwei neue Gesichter bei uns sehen«, kam Dr. Lindau zum Schluss des Gespräches.

»Zwei?« Erstaunt blickte Astrid ihren Vater an. »Wer kommt denn noch?«

»Der Sohn von Professor Göttler aus Rosenheim«, klärte Dr. Lindau seine Tochter auf. »Der Professor, ein sehr bekannter Hämatologe, ist wiederum ein Studienkollege von mir. Er möchte, dass sein Sohn den Facharzt für Frauenleiden in meiner Klinik macht und hier praktiziert. Ich konnte es ihm nicht abschlagen. Außerdem«, fuhr er fort, »trifft sich das gut, denn ich brauche ja einen Ersatz für den Kollegen Bernau, der demnächst für kurze Zeit in die Universitätsklinik München überwechselt, um seine chirurgischen Kenntnisse zu vervollständigen.«

»Doktor Bernau als Chirurg? Nicht schlecht«, meinte Astrid. »Aber er kommt doch wieder hierher zurück?«, fügte sie fragend hinzu.

»Ja«, bestätigte Dr. Lindau. »Als Frauenarzt und Chirurg.« Nachdenklich sah er seine Tochter an. »Mir fällt eben etwas anderes ein«, stieß er hervor. »Nämlich die Unterbringung der beiden neuen Mitarbeiter. Hm, den Göttler können wir in der Klinik einquartieren. Meines Wissens ist da oben noch ein kleines Appartement frei. Aber was machen wir mit deiner …?«

»Da habe ich bereits etwas unternommen«, fiel Astrid dem Vater lächelnd ins Wort. »Bei Frau Lindhofer in Auefelden. Eine Anderthalb-Zimmer-Wohnung. Vorläufig jedenfalls.«

»Sieh an«, meinte Dr. Lindau. »Warst du dir denn so sicher, dass ich eine zusätzliche ärztliche Kraft für deine Station akzeptieren würde?«, fragte er. In seinen Augen blitzte es belustigt auf.

Etwas verlegen senkte Astrid sekundenlang den Blick, sah dann aber ihren Vater offen an und erwiderte: »Ehrlich gesagt – ja.«

»Es ist ja auch etwas schwer, dir etwas abzuschlagen, Astrid«, gab er zurück und lächelte. »Ich kenne doch meine Tochter und …« Er unterbrach sich, blickte nach der Tür und rief: »Ja, bitte …«, weil es geklopft hatte.

»Ja, dann sind wir uns also einig«, meinte Astrid und stand auf. Freundlich nickte sie dem eintretenden Dr. Bernau zu. »Ich gebe also Renate heute noch Bescheid.« Sie sah ihren Vater an. »Wann kann Renate beginnen?«, fragte sie.

»Wann kann sie?«, antwortete Dr. Lindau mit einer Gegenfrage.

»Ich denke, in acht bis zehn Tagen«, erwiderte Astrid. »Vielleicht auch schon ein paar Tage früher.«

»Mir soll’s recht sein …«

Astrid verabschiedete sich mit einem kurzen Gruß vom Vater, rief Dr. Bernau ein kurzes, aber freundliches »Tschüss, Herr Kollege« zu und verschwand aus dem Büro des Chefarztes.

Der aber sprach sofort Dr. Bernau an. Das freundliche Lächeln – seiner Tochter geltend – machte einem ernsten Gesichtsausdruck Platz. »Ich hoffe für Sie, dass Sie eine plausible Erklärung für Ihre Verspätung parat haben, Herr Bernau.«

»Die habe ich«, erwiderte der Assistenzarzt, und ohne eine weitere Aufforderung des Chefarztes abzuwarten, berichtete er von dem Zwischenfall auf der Herfahrt von Bad Tölz nach Auefelden. »Ich bedaure das selbstverständlich, aber die beiden Beamten waren so stur, dass ich …«

Dr. Lindau winkte ab. »Schon gut, Herr Kollege«, fiel er seinem Mitarbeiter ins Wort. Seine Stimme hatte den vorherigen strengen Klang verloren. »Ich glaube Ihnen. Gegen die Staatsgewalt ist man oft machtlos. Also vergessen wir’s.«

»Danke«, murmelte Dr. Bernau.

»Sie haben keinen Grund, sich bei mir zu bedanken«, gab der Chefarzt einlenkend zurück. »Ja, das war’s dann wohl.« Ostentativ griff er nach einer auf dem Schreibtisch liegenden Krankenakte und gab damit Dr. Bernau zu verstehen, dass er die kurze Unterredung als beendet betrachtete.

*

Mit nachdenklichem Gesichtsausdruck versah Christine Häußler ihren gewohnten Dienst. Ihre drei ihr unterstellten Mitarbeiterinnen in dem Kinderferienheim in Rottach machten sich ihre eigenen Gedanken über das veränderte Wesen der Heimleiterin. Neugierige Fragen wagten sie aber nicht zu stellen.

Christine, die Kinder sehr gernhatte, war geradezu froh, dass das Heim in diesem Monat nicht voll belegt war. Die laute Lebendigkeit der Kinder, die übersprudelnde Heiterkeit beim Spielen oder bei anderen Aktivitäten hätten sie diesmal doch gestört. Hatte sie sich bisher sehr intensiv um die Betreuung ihrer Schutzbefohlenen gekümmert und mit ihnen gescherzt und bei den Spielen mitgemacht, so hielt sie sich jetzt aber zurück. Die meiste Zeit des Tages verbrachte sie in ihrem Büro und überließ es ihren Mitarbeiterinnen, sich der Jungen und Mädchen anzunehmen, die für zwei Wochen in dem von ihr geleiteten Heim untergebracht waren.

Die verschiedensten Gedanken gingen ihr durch den Kopf, seit diesem Schwächeanfall am Morgen. Darüber machte sie sich Sorgen.

Es war das erste Mal gewesen, dass sich ihre schon seit einigen Wochen bestehende merkwürdige Müdigkeit in einem leichten Ohnmachtsanfall ausgewirkt hatte. Das beunruhigte sie. Bisher hatte sie diese seltsame Müdigkeit, die auch mit einem ständigen Fieber, zumindest mit erhöhter Temperatur verbunden war, als vorübergehende Unpässlichkeit betrachtet. Deswegen einen Arzt zu konsultieren, war ihr nicht in den Sinn gekommen, weil sie der Meinung war, dass diese Zustände sich von allein wieder verflüchtigen würden. Nun aber spielte sie ernsthaft mit dem Gedanken, zumindest ihren Hausarzt Dr. Pröll aufzusuchen. Sehr bald sogar wollte sie das tun, denn ihre Müdigkeit und die damit verbundene ständige erhöhte Temperatur zeigte auch bedenkliche Auswirkungen in ihrem privaten Leben – im Zusammenhang mit Hans-Günther Hornegg nämlich. Seit etwa zwei Wochen war ihre Beziehung zu dem 28-jährigen Inhaber eines Sportartikelgeschäftes in Rottach irgendwie gespannt. Zumindest von seiner Seite aus. Hans-Günther Hornegg – sie nannte ihn schlicht Hannes – hatte vor einem knappen halben Jahr ihr Herz erobert. Er war ihre erste große Liebe. Sie mochte ihn sehr, fühlte sich bei ihm geborgen und hatte sich auch schon mit dem Gedanken vertraut gemacht, über kurz oder lang auch seine angetraute Ehefrau zu werden. Er war der Typ des Urbayern, vor Kraft, Energie und Gesundheit strotzend – ein Mann, der außerdem gut aussah und den sich so manches Mädchen als Partner fürs Leben gewünscht hätte.

Christine sah es auch als Glück an, dass Hannes ausgerechnet sie zur Frau haben wollte, dass er sie liebte. Dass seine Liebe zu ihr manchmal ziemlich anstrengend für sie war, weil sie forderte und sich oft geradezu besitzergreifend zeigte, hatte sie bisher keineswegs stark gestört. Jedenfalls nicht bis vor wenigen Wochen, als ihre seltsame Müdigkeitszustände begonnen hatten. Sie war schließlich eine Frau, die es als wohltuend erregend fand, von dem Mann, den sie selbst auch sehr lieb hatte, begehrt zu werden. Seit aber vor Kurzem diese sonderbare Müdigkeit über sie gekommen war, schien eine Wandlung in ihr vorgegangen zu sein. Nach wie vor galt ihre Zuneigung Hannes, doch in den vergangenen zwei bis drei Wochen waren ihr Hannes’ Zärtlichkeiten und sein Verlangen nach Liebe doch etwas zu viel geworden. Sie war wegen ihrer Müdigkeit und ihrer schwachen Fieberanfälle nicht in der Lage gewesen, auf seine Wünsche einzugehen. Hatte er früher öfters zumindest die Wochenenden gemeinsam mit ihr verbracht, ob nun in ihrer kleinen gemütlichen Wohnung oder aber während eines Wochenendausfluges in irgendeiner Pension im Oberbayerischen oder sonst wo, so war ihr seit Kurzem nicht danach zumute. Natürlich tat es ihr irgendwie leid, immer wieder abweisend zu sein und zu sagen: »Hannes, bitte, warte noch, nicht heute, hab etwas Geduld, ich fühle mich nicht wohl …«

Es war Hannelore, die älteste der drei Mitarbeiterinnen, die Christine erschrocken anstarrte, als sie zu ihr wegen irgendeiner Entscheidung ins Büro kam. »Um Himmels willen, Frau Häußler, sind Sie krank?«, rief sie fragend aus. »Sie haben ja Fieber. Das sieht man Ihnen an.«

In Christine wehrte sich etwas dagegen, sich als Kranke vor einer ihrer Untergebenen zu betrachten. Ein gequältes Lächeln huschte um ihre Mundwinkel. »Ich fühle mich halt nicht richtig wohl, Hannelore«, stieß sie mit heiserer Stimme hervor. »Wahrscheinlich hat mich eine kleine Grippe gepackt. Oder ein Virus, von dem ja die unterschiedlichsten Gattungen in der Luft sind. Aber das wird schon wieder vergehen.«

»Sie fühlen sich nicht wohl?«, gab Hannelore zurück. »Das scheint mir doch stark untertrieben zu sein. Sie fiebern ja hochgradig und gehören ins Bett.«

»Ich kann doch nicht ins Bett gehen, wenn es hier genug zu tun gibt«, widersprach Christine mit gepresst klingender Stimme. »Wir haben immerhin zweiundzwanzig Kinder zu beaufsichtigen und zu betreuen.«

»Das schaffen wir drei auch allein, Frau Häußler«, gab Hannelore, ein 19-jähriges vollbusiges und sehr resolutes Mädchen energisch zurück. »Sie aber sollten jetzt nach Hause fahren, sich ins Bett begeben und auch den Arzt kommen lassen.«

»Den Arzt hatte ich mir ohnehin für morgen vorgenommen«, entgegnete Christine leise.

»Nun gut, tun Sie das!«, wurde Hannelore energisch. »Jetzt aber fahren Sie bitte nach Hause, bevor Sie hier zusammenklappen! Viel fehlt dazu nicht, wenn ich Sie so ansehe. Wir kommen hier schon klar. Sie können sich auf uns verlassen«, fügte sie mit Betonung hinzu.

Christine überlegte sekundenlang. Ihr war wirklich sterbenselend zumute. Sie sah auf die Uhr. »Vielleicht haben Sie recht, Hannelore«, ergriff sie dann wieder das Wort. »Zwei Stunden noch bis Feierabend«, stieß sie hervor. »Ich bin wirklich so ziemlich fix und fertig«, fuhr sie fort. »Es ist tatsächlich besser, wenn ich …«

*

Zum wiederholten Male blickte Alma Wiese aus dem Fenster ihrer in der ersten Etage gelegenen Wohnung auf die Straße hinunter. Ihr Interesse galt dem Wagen ihrer Wohnungsnachbarin, und sie wunderte sich, dass das Auto noch immer vor dem Haus stand. Sie kannte Christine Häußler und wusste, dass diese immer fast auf die Sekunde genau das Haus verließ, um zum Dienst nach Rottach zu fahren. Alma Wiese konnte sich in den zwei Jahren, die Christine nun schon neben ihr wohnte, nicht erinnern, dass die junge Frau auch ein einziges Mal verspätet zur Arbeit gefahren wäre. Ausgenommen davon waren Christines freie Tage, die sie in regelmäßigen Abständen hatte. Von diesen freien Tagen aber erfuhr Alma Wiese immer am Abend vorher – von Christine selbst.

»Morgen habe ich frei und werde etwas länger schlafen, Frau Wiese.« So ähnlich jedenfalls hatte Christine stets ihren freien Tag angekündigt, weil sie am folgenden Morgen nicht durch das Klingeln der Türglocke geweckt werden wollte.

Das aber tat Alma Wiese täglich, wenn sie vom nahegelegenen Bäcker die frischen Brötchen geholt hatte – für sich und auch für Christine. Deren Brötchen legte sie dann immer vor Christines Wohnungstür ab und läutete dreimal.

Das hatte sie auch an diesem Morgen getan und sich wieder in ihre eigene Wohnung zurückgezogen, hatte gefrühstückt und sich dann ans Fenster gesetzt und wie üblich auf Christines Abfahrt gewartet. Beiden war es im Laufe der Zeit zu einer lieben Gewohnheit geworden, sich bei der Abfahrt noch einmal zuzuwinken.

Es war daher nicht unverständlich, dass Alma Wiese zumindest nachdenklich wurde, als der seit Langem gewohnte Tagesablauf plötzlich eine Störung erhielt. Diese Nachdenklichkeit wurde aber auch sehr schnell zur Besorgnis.

»Ob sie etwa krank ist?«, murmelte Alma Wiese fragend.

Minutenlang dachte sie darüber nach. »Das will ich jetzt aber wissen«, fuhr sie resolut in ihrem leisen Selbstgespräch fort. »Vielleicht braucht sie Hilfe.« Ihr Blick fiel auf den Telefonapparat. Doch dann schüttelte sie den Kopf, straffte sich und verließ mit energischen Schritten ihre Wohnung. Vor Christines Wohnungstür blieb sie kurz überlegend stehen und drückte dann aber auf die Türklingel. Einmal, zweimal und ein drittes Mal. Gespannt lauschte sie, konnte aber nichts hören. Ihre Sorge nahm zu. Sie läutete Sturm. Fast zehn Sekunden lang nahm sie den Finger nicht von der Klingel.

Plötzlich glaubte sie etwas zu hören. Wie ein leises Poltern klang es. So, als ob ein Stuhl umgefallen wäre. »Christine, was ist denn?«, rief Alma Wiese. »Hören Sie mich? Ist Ihnen nicht gut? Machen Sie doch auf?«

Gespannt lauschte sie und – sie hörte jetzt tatsächlich Christines Stimme. Leise und unverständlich. Sie vernahm auch schleppende Schritte, die sich der Wohnungstür näherten, und dann ein leises Schnappen des Türschlosses.

Langsam ging die Wohnungstür nach innen auf. Alma Wiese drückte sie vorsichtig weiter auf und trat in den dahinterliegenden kleinen Flur. Erschrocken starrte sie Christine an, die im Nachthemd vor ihr stand und sich an der Türklinke festhielt. »Um Himmels willen, wie sehen Sie denn aus?«, entfuhr es Alma Wiese. »Sie sind ja krank.« Diese Feststellung war durchaus begründet, denn Christine Häußler sah auch wirklich erbarmungswürdig aus. Ihr Gesicht war farblos, und unter ihren Augen lagen dunkle Ringe.

»Mir ist so elend«, flüsterte Christine. »Ich …, ich kann mich kaum auf den Füßen halten, und …«

Wie zur Bestätigung ihrer Worte knickten ihr plötzlich die Beine ein, und wenn Alma Wiese die junge Frau nicht sofort gestützt hätte, wäre sie zu Boden gefallen.

»So, marsch zurück ins Bett!«, wurde Alma Wiese energisch und brachte Christine ins Schlafzimmer. Schweigend half sie ihr ins Bett und deckte sie zu.

»Danke, Frau Wiese«, flüsterte Christine.

Alma Wiese winkte ab. »Was ist denn geschehen?«, fragte sie. Prüfend sah sie die junge Frau an. Ein Gedanke bemächtigte sich ihrer plötzlich. Sie formte ihn auch sofort in Worte um. »Sind Sie etwa schwanger?«, fragte sie.

Christine schüttelte den Kopf. »Nein, nein«, erwiderte sie mit schwacher Stimme. »Ich bin …, bin nur müde, so unendlich müde und kraftlos und fühle mich so elend.«

Alma Wiese überlegte nicht länger. »Ich werde den Arzt rufen«, sagte sie entschlossen, wartete erst keine Erwiderung ab, sondern ging zum Telefon im Wohnzimmer. »Wen haben Sie denn?«, fragte sie. »Doktor Pröll etwa?«

»Ja«, kam es kraftlos über Christines Lippen.

Alma Wiese betätigte auch sofort die Wählscheibe. Die Anschlussnummer von Dr. Pröll hatte sie im Kopf, denn der war auch ihr Hausarzt. Sie hatte Glück und erreichte ihn persönlich. Mit wenigen Worten schilderte sie Christines Zustand. »Kommen Sie bitte sofort her!«, bat sie.

»Ist gut, Frau Wiese«, kam die Antwort. »Ich bin in ein paar Minuten zur Stelle.«

Alma Wiese legte grußlos auf und begab sich zurück zu Christine. »Er kommt sofort«, redete sie beruhigend auf die junge Frau ein. »Seine Praxis ist ja ganz in der Nähe. Kann ich in der Zwischenzeit etwas für Sie tun?«, fügte sie fragend hinzu.

»Trinken bitte …«

Alma Wiese ging in die kleine Küche. Sekunden später kam sie mit einem Glas Apfelsaft zurück. Sie musste Christines Nacken stützen, weil sie tatsächlich keine Kraft hatte, sich allein aufzurichten, um zu trinken.

»Danke …« Christine ließ sich wieder auf das Kissen zurücksinken.

In diesem Augenblick läutete es.

»Das ist sicher Doktor Pröll«, sagte Alma Wiese und eilte hinaus, um zu öffnen.

Es war Dr. Pröll, ein schon etwas älterer Arzt – jedenfalls hatte er die Fünfzig schon überschritten. »Wo haben wir die Patientin?«, fragte er.

»Im Schlafzimmer – dort.«

»Na, dann wollen wir mal.« Dr. Pröll betrat das Schlafzimmer. Er schüttelte den Kopf, als Alma Wiese ihm folgen wollte. »Ich möchte mit der Patientin allein sein, Frau Wiese«, gab er der hilfsbereiten Nachbarin unmissverständlich zu verstehen.

»Ach so …« Alma Wiese gefiel das zwar nicht sehr, aber sie respektierte Dr. Prölls Wunsch ohne Widerrede. »Ich warte im Wohnzimmer«, rief sie Christine zu und zog sich dorthin zurück.

Dr. Pröll schloss die Tür und widmete sich nun Christine Häußler. Während er sie untersuchte, Lunge und Herz kontrollierte, stellte er seine gezielten Fragen.

Christine bemühte sich um präzise Antworten. Ihre Stimme war schwach. Sie berichtete von ihrer sonderbaren Müdigkeit und von ihrer ständig erhöhten Temperatur. »Was kann das …, das … nur sein?«, fragte sie stockend. Leise Angst war aus ihrer Frage herauszuhören.

Dr. Pröll zuckte mit den Schulter. »Etwas Krankhaftes kann ich im Augenblick leider …, hm …, ich möchte sagen, glücklicherweise, nicht feststellen«, erklärte er der jungen Frau. »Spezielle Untersuchungen wie EKG und Ähnliches halte ich für nötig.« Er dachte kurz nach und griff dann nach seiner Bereitschaftstasche. »Auf jeden Fall entnehme ich Ihnen jetzt gleich eine Blutprobe und lasse sie in meinem Labor untersuchen«, sagte er. »Dann werden wir mehr wissen.«

»Sie … Sie sprachen von Spezialuntersuchung, Herr Doktor«, kam es etwas bange über Christines Lippen. »Etwa in einer Klinik?«, fügte sie fragend hinzu.

Dr. Pröll nickte. »Ich denke dabei an die Klinik am See«, erwiderte er. »Die ist doch in unserer Nähe und modern ausgestattet.«

»Wann soll ich …?«

»Warten wir erst einmal die Blutuntersuchung ab«, fiel Dr. Pröll der Patientin ins Wort. »Ich lasse Ihnen morgen Bescheid zukommen, und ich hoffe, das heißt, ich wünsche Ihnen, dass er beruhigend für Sie ist.« Aufmunternd sah er Christine an. »Ja, dann wollen wir also …«, sagte er und begann mit der Blutabnahme.

Ohne einen Laut von sich zu geben ließ Christine diese nur einige Sekunden dauernde Prozedur über sich ergehen.

»Das war’s dann«, erklärte Dr. Pröll, verstaute Stethoskop, Spritze und das mit Christines Blut gefüllte Röhrchen in seiner Bereitschaftstasche. »Vorläufig bleiben Sie im Bett!«, wies er Christine an. »Ich schreibe jetzt noch schnell ein Rezept für Antibiotika aus, das Ihnen Frau Wiese sicher aus der Apotheke holen wird.«

Das war schnell geschehen. Dr. Pröll rief nach Frau Wiese und reichte ihr das Rezept. »Holen Sie das bitte gleich!«, sagte er und wandte sich wieder an Christine. »Wie gesagt – morgen erhalten Sie Bescheid und, wenn erforderlich, auch gleich einen Einweisungsschein für die Klinik«, versprach er, verabschiedete sich mit einem warmen Händedruck und ging.

»Ja, dann werde ich mich auch auf den Weg machen und die Medizin holen«, ergriff Alma Wiese das Wort, kaum hatte der Arzt die Wohnung verlassen.

»Danke, Frau Wiese«, flüsterte Christine. »Ach …, nehmen Sie doch bitte den zweiten Wohnungsschlüssel mit, der draußen im Flur neben dem Spiegel hängt«, fügte sie hinzu. »Dann brauchen Sie nicht zu läuten.«

»In Ordnung, Christine.« Alma Wiese wandte sich zum Gehen. »Bis nachher also«, rief sie Christine zu und verschwand.

Mit einem Seufzer drehte Christine sich zur Seite, als sie wieder allein war. Mit einiger Verwunderung stellte sie etwas später fest, dass sich ihre körperliche Schwäche etwas verminderte. Sie versuchte sich aufzurichten, aus dem Bett zu kommen und zum Fenster zu gehen.

Und siehe da – es gelang ihr sogar. Sie fühlte sich mit einem Mal gar nicht mehr so kraftlos. Ein Seufzer der Erleichterung kam aus ihrem Mund. Sollte das alles nur ein kurzer vorübergehender Schwächeanfall gewesen sein – aus welchem Grund auch immer?

Christines noch vor zwanzig Minuten stumpf blickende Augen bekamen wieder Leben.

»Da kann ich ja vielleicht morgen Nachmittag oder spätestens übermorgen schon wieder ins Heim«, flüsterte sie vor sich hin. Als gehorsame Patientin jedoch befolgte sie zunächst einmal den Rat des Arztes und begab sich wieder ins Bett. Sie sah ein, dass ein oder zwei Tage Ruhe ihr bestimmt guttun würden.

*

Wie Dr. Pröll es versprochen hatte, erhielt Christine am folgenden Tag tatsächlich einen schriftlichen Bescheid von ihm. Es war ein kurzgehaltenes Schreiben, in dem der Arzt lediglich mitteilte, dass das Ergebnis der Blutuntersuchung eine nochmalige Spezialuntersuchung in der Klinik erforderlich mache. Weiter hieß es in der Mitteilung des Arztes, dass ein Einweisungsschein für die Klinik am See bereits nach dorthin unterwegs sei und dass sie, Christine Häußler, sich innerhalb der folgenden drei Tage dort beim Chefarzt Dr. Lindau melden möge.

Was Christine in diesem Schreiben jedoch vermisste und was sie ein wenig irritierte, waren Angaben über das Resultat der von Dr. Pröll vorgenommenen Blutanalyse. Aber gerade das interessierte Christine sehr. Ihr erster Gedanke war, bei Dr. Pröll anzurufen und Auskunft darüber zu erbitten. Doch dann überlegte sie es sich und redete sich ein, dass es besser wäre, wenn sie persönlich in die Praxis ging und mit dem Arzt redete.

Ja, sagte sie sich, das werde ich tun – gleich morgen früh, bevor ich wieder ins Heim nach Rottach fahre. Dazu hatte sie sich nämlich entschlossen, denn sie fühlte sich wieder so weit in Form, um ihren Dienst versehen zu können. Zumindest hatte sich ihr Zustand gebessert, war wieder so, wie in den vergangenen drei Wochen. Diese seltsame Müdigkeit war zwar noch nicht vollständig verschwunden, aber sie fühlte sich wenigstens nicht mehr so elend wie noch am Tag vorher. Auch ihre Kräfte hatten sich wieder einigermaßen normalisiert. Anscheinend hatten die von Dr. Pröll verschriebenen Antibiotika-Tabletten doch ein wenig Wirkung gezeigt. Christine gab sich daher auch der stillen Hoffnung hin, bald von dieser Müdigkeitsphase erlöst zu werden.

Sehr rasch aber beschäftigten sie andere Überlegungen. Ernsthaft fragte sie sich, ob und weshalb denn überhaupt noch klinische Untersuchungen nötig seien, wenn sie andererseits Grund zu der Hoffnung oder Annahme hatte, ihre augenblickliche Krankheitsphase – sofern der Begriff Krankheit überhaupt anwendbar war – in absehbarer Zeit hinter sich bringen zu können.

*

Ein grauer Himmel wölbte sich über der Landschaft, als Christine am nächsten Morgen das Haus verließ. Es fröstelte sie ein wenig, und hastig be­stieg sie ihr Auto und fuhr los. Zwei Minuten später hielt sie vor dem Haus, in dem sich die Praxis von Dr. Pröll befand. Eine eigenartige Unruhe war in ihr, als sie das Wartezimmer betrat, in dem schon zwei Patienten saßen. Irgendwo schlug eine Uhr achtmal.

Christine hielt sich erst gar nicht im Wartezimmer auf, sondern betrat sofort die Anmeldung, in der eine ältere Sekretärin saß.

»Ja, bitte?«

»Ich möchte gern Herrn Doktor Pröll sprechen«, brachte Christine ihren Wunsch vor. »Mein Name ist Häußler, Christine Häußler.«

»Häußler? Ach ja, ich erinnere mich«, gab die Sekretärin zurück. »Auf Ihren Namen lautete ja die Einweisung in die Klinik am See. Die habe ich aber gestern Abend bereits abgeschickt. Direkt an die Klinik.«

»Das ist nicht der Grund für mein Kommen«, erklärte Christine. »Ich wollte lediglich Doktor Pröll etwas fragen.«

»Tut mir leid, aber der Herr Doktor ist nicht hier«, entgegnete die Sekretärin. »Er musste vor zwanzig Minuten zu einem dringenden Hausbesuch, und ich kann Ihnen nicht sagen, wann er wieder zurück sein wird. Wenn Sie bitte im Wartezimmer …«

»Ich habe wenig Zeit«, fiel Christine der Sekretärin ins Wort. »Können Sie mir vielleicht etwas über die Blutanalyse sagen, die Doktor Pröll vorgestern gemacht hat?«, fügte sie fragend hinzu.

»Das fällt leider nicht in meine Kompetenz«, belehrte die Sekretärin die frühe Besucherin. »Ich bin hier nur Sekretärin. Aber vielleicht kann Frau Hellberg, das ist die Assistentin von Doktor Pröll …« Sie unterbrach sich und rief laut den Namen der von ihr eben Genannten.

Sekunden darauf öffnete sich die Tür zum Sprechzimmer, und eine junge Frau im weißen Kittel erschien. »Ja? Was gibt es?«, fragte sie die Sekretärin.

Die deutete auf Christine. »Frau Häußler möchte den Chef sprechen«, sagte sie. »Es ist wegen der Blutuntersuchung. Vielleicht können Sie …«

»Ja, ich erinnere mich.« Die Assistentin wandte sich an Christine. »Ich habe die Analyse selbst …, also, mit Herrn Doktor Pröll zusammen vorgenommen«, erklärte sie. »Haben Sie denn keinen Bescheid erhalten?«

»Doch, das habe ich«, erwiderte Christine. »Ich bin nur nicht schlau daraus geworden. Deshalb wollte ich von Doktor Pröll wissen, was mir fehlt. Aus dem Schreiben geht das nicht hervor.«

Die Assistentin überhörte die unausgesprochene Frage. »Sie wissen doch, dass Doktor Pröll Sie in die Klinik eingewiesen hat«, entgegnete sie ausweichend. »Dort wird man Ihnen dann erklären …«

»Ich hätte es aber gern schon jetzt gewusst«, fuhr Christine auf. »Sie als die Assistentin von Doktor Pröll müssten mir doch auch darüber Auskunft geben können. Oder?«

Die Assistentin wand sich ein wenig. Sicher, sie hätte der jungen Frau das Ergebnis der Blutanalyse sagen können, aber etwas in ihr hemmte sie. Sie brachte es einfach nicht fertig, der sympathischen jungen Frau die schockierende Wahrheit zu sagen. »Das ist Sache des Arztes, Frau Häußler«, erklärte sie der Besucherin. »Ich bin dazu nicht befugt. Das müssen Sie verstehen.«

Christine bekam einen leichten Schrecken. Die Worte der Assistentin lösten ein banges Gefühl in ihr aus, das ihr sagte, dass mit ihr etwas los sein musste, was nicht auf die leichte Schulter zu nehmen war. Sie dachte an die Einweisung in die Klinik, und ihr wurde klar, dass ein Klinikaufenthalt ein zumindest ernst zu nehmendes Leiden voraussetzte. Was aber war das für ein Leiden, das Dr. Pröll veranlasste, sie zur klinischen Behandlung zu schicken?

»Sie können natürlich gern auf Doktor Pröll warten, Frau Häußler«, unterbrach die Assistentin die blitzartigen Gedanken Christines. »Ich kann Ihnen aber nicht sagen, wann er kommt.«

»Schon gut, ich habe verstanden«, stieß Christine erregt hervor. »Sie wollen mir nichts sagen und …«

»Ich kann nicht«, unterbrach die Assistentin die junge Frau, die ihr leidtat. In ihren Augen war ein Ausdruck des Bedauerns, ja fast des Mitleids.

Christine erkannte, dass sie jetzt nichts erreichte. »Ich werde morgen wiederkommen«, sagte sie, und es klang resigniert. Grußlos verließ sie Sekunden später die Praxis von Dr. Pröll, setzte sich in ihr Auto und startete zur Fahrt nach Rottach. Schwere Gedanken beschäftigten sie und verstärkten noch ihre innere Unruhe, die sie schon beim Betreten der Praxis befallen hatte. Sie hatte das Gefühl – nein, sie wusste es – dass die Assistentin ihr etwas vorenthalten hatte. Etwas, was sehr ernst sein musste. Was aber war das?

Diese Frage rumorte von nun an in Christines Kopf herum – während der Fahrt nach Rottach und auch noch den ganzen Vormittag im Heim. Es kostete sie große Mühe, sich einigermaßen auf die verschiedenen Belange des Heims zu konzentrieren und mit ihren Mitarbeiterinnen die einzelnen Phasen des Heimbetriebes zu besprechen. Erst als die Mittagszeit begann, fand sie etwas Ruhe in ihrem Büro. Die Gedanken an eine ihr noch nicht bekannte Krankheit, die anscheinend in ihr steckte, blieben jedoch.

Ein Klopfen schreckte Christine aus ihren Überlegungen hoch. Es war ihre Mitarbeiterin Hannelore, die das Büro betrat.

»Ein Doktor Bernau möchte zu Ihnen«, sagte sie. »Haben Sie Zeit?«

»Bernau? Kenne ich nicht«, entgegnete Christine mit schwacher Stimme. »Was will er? Ist er der Vater eines unserer Schutzbefohlenen?«, fragte sie.

Hannelore zuckte mit den Schultern. »Er sagte nur, dass er Sie sprechen möchte, sofern Sie ein paar Minuten Zeit für ihn hätten.«

Christine überlegte kurz. Große Lust hatte sie nicht, sich jetzt in ihrer deprimierten Stimmung mit einem fremden Mann zu unterhalten. »Also meinetwegen«, entschloss sie sich dann aber, »bitten Sie ihn herein!«

Hannelore nickte nur, öffnete die Tür, bat den Besucher einzutreten und entfernte sich wieder.

Christine sah den Besucher irritiert an. Etwas an ihm kam ihr so bekannt vor. »Sie wollten mich sprechen, Herr …?«, kam es zögernd über ihre Lippen.

»Bernau ist mein Name – Doktor Werner Bernau«, kam die Erwiderung. »Da ich zufällig in der Nähe war, dachte ich mir, dass es nicht schaden könnte, mich einmal nach Ihrem Befinden zu erkundigen.« Natürlich stimmte es nicht, dass Dr. Bernau nur zufällig in Rottach war. Es hatte ihn einfach danach gedrängt, diese junge Frau, die eine so ungeheure Ähnlichkeit mit Vera hatte, wiederzusehen.

»Mein Befinden?«, wiederholte Christine fragend und überlegte blitzschnell, woher ihr dieser gut aussehende Mann so bekannt vorkam. »Wie kommen Sie darauf, Herr Doktor?« Etwas verwirrt sah sie den unerwarteten Besucher an.

»Nun, am Montag, da hatten Sie doch auf der Landstraße …« Weiter kam er nicht. Er wurde von Christine unterbrochen.

Der war es schon bei den ersten Worten des Besuchers wie Schuppen von den Augen gefallen. Natürlich, das war doch der hilfsbereite Autofahrer. »Ja, jetzt erinnere ich mich an Sie«, fiel sie Dr. Bernau aufgeregt ins Wort. Sie brachte sogar ein verhaltenes Lächeln zustande. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie nicht gleich wiedererkannt habe.«

Dr. Bernau winkte lächelnd ab. »Sie haben keinen Grund, sich zu entschuldigen, Frau Häußler«, erwiderte er. »Es ging ja alles ein bisschen drunter und drüber an jenem Morgen.«

»Das ist wahr«, gab Christine zurück. »So drunter und drüber, dass ich nicht einmal dazu kam, mich bei Ihnen für Ihre Hilfeleistung zu bedanken, was ich jetzt, da Sie hier sind, aber nachholen möchte – ich bedanke mich, Herr Doktor.«

»Ich werd’s ausrichten«, entgegnete Dr. Bernau burschikos und feixte jungenhaft. Sofort wurde er aber wieder ernst. »Was war eigentlich los mit Ihnen?«, wollte er wissen. »Von dem Polizisten hörte ich nur, dass Sie einen Schwächeanfall hatten.«

»Das ist richtig«, bestätigte die Heimleiterin.

»Und? Geht es Ihnen wieder besser?«, fragte Dr. Bernau, prüfend sah er die junge Frau an. Das leichte Flackern in ihren Augen entging ihm nicht.

»Es geht schon wieder«, antwortete Christine, aber es klang nicht sehr überzeugend, weil sie in diesem Augenblick wieder an ihr Problem denken musste. »Darf ich Sie etwas fragen?«, wechselte sie das Thema.

»Bitte …«

»Sie sind Doktor – Arzt oder Jurist, oder …?«

Dr. Bernau lächelte. »Das Erstere«, antwortete er, verlor aber kein Wort darüber, dass er in der Klinik am See tätig sei.

»Soso, Arzt also«, kam es leise über Christines Lippen, und in ihrem Kopf meldete sich ein Gedanke. Ob sie diesen Dr. Bernau nun wegen ihres Problems befragen konnte? Im nächsten Augenblick aber schob sie diesen Gedanken wieder beiseite. Was hätte sie auch fragen können? Der schriftliche Bescheid Dr. Prölls enthielt ja auch keinerlei Hinweise auf das Ergebnis der Blutuntersuchung. Hätte sie eine exakte Diagnose gewusst, dann wäre es eher möglich gewesen, diesen Mediziner jetzt nach Einzelheiten zu befragen.

»Ja, das bin ich«, bestätigte Dr. Bernau, »und als solcher erlaube ich mir, Ihnen zu raten, bald einmal einen Arzt Ihres Vertrauens zu konsultieren.«

Christine zuckte unmerklich zusammen. »Weshalb das?«, stieß sie fragend hervor. Merkt man mir eine Krankheit bereits äußerlich an, fragte sie sich in der gleichen Sekunde.

»Weil ich der Meinung bin, dass Schwächeanfälle, wie Sie ihn am Montag erlebt haben, nicht leicht genommen werden sollten«, erklärte Dr. Bernau in ernstem Ton. »Lassen Sie sich untersuchen!«

Hinter Christines Stirn arbeitete es. Es lag ihr auf der Zunge, zu sagen, dass das bereits geschehen war und dass sie sogar in eine Klinik sollte, aber sie schluckte es hinunter. »Haben Sie denn eine Praxis in der Umgebung?«, fragte sie stattdessen.

»Nein«, erwiderte Dr. Bernau. »Ich bin Arzt in der Klinik am See in Auefelden.«

»In der Klinik am See?«, entfuhr es Christine verwundert.

Dr. Bernau lächelte. »Was ist daran so verwunderlich?«, wollte er wissen. »Was erstaunt Sie dabei so?«

Dahin soll ich doch, ging es Christine durch den Sinn, sie behielt es aber wieder für sich. »Weil …, weil …, ich weiß, dass …, dass diese Klinik einen sehr guten Ruf haben soll«, kam es ein wenig stockend über ihre Lippen. Etwas anderes war ihr nicht eingefallen.

»Soll?«, fragte Dr. Bernau und fügte hinzu: »Unsere Klinik hat einen guten Ruf und unser Chefarzt Doktor Lindau ebenfalls.«

»Das färbt sicher auch auf die in dieser Klinik tätigen Ärzte ab«, meinte Christine lächelnd. »Das heißt also, dass auch Sie ein guter Arzt sein müssen, Herr Doktor.«

»Ich bemühe mich jedenfalls, es zu werden«, bekannte Dr. Bernau.

Christine wurde wieder ernst. »Könnten Sie, wenn Sie mich ansehen, vom Äußeren her, eine Krankheit in mir vermuten?«, fragte sie.

Dr. Bernau horchte auf. »Fühlen Sie sich krank?«, antwortete er mit einer Gegenfrage und trat einen Schritt näher an die junge Frau heran. Eine Antwort wartete, er nicht ab. »Natürlich gibt es äußerliche Symptome, nach denen ein Arzt diese oder jene Krankheit erkennen oder vermuten kann. Manches merkt man auch an den Augen, und wenn ich offen sein darf, dann muss ich Ihnen sagen, dass ich Sie nicht für vollkommen gesund halte.« Er trat noch einen Schritt näher an Christine heran, die neben ihrem Schreibtisch stand. »Erlauben Sie?« Sanft griff er nach dem linken Oberarm der Heimleiterin. »Sehen Sie mal zum Fenster hin, direkt ins Tageslicht!«, sagte er.

Christine tat es, und der etwas größere Dr. Bernau neigte sich etwas vor, um in die Augen der jungen Frau sehen zu können.

Beide – Dr. Bernau und Christine Häußler – überhörten das kurze Klopfen und das danach erfolgende Öffnen der Tür.

»So ist das also«, klang es in diesem Augenblick durch den Raum, herrisch und grollend. »Das hab ich mir doch gleich gedacht – von wegen krank …«

Christine fuhr erschrocken herum und starrte Hannes Hornegg verdutzt an. Dr. Bernau trat zwei Schritte zurück, war aber keineswegs verlegen.

»Hannes, was soll das?«, fuhr Christine den breitbeinig im Raum stehenden jungen Mann an, in dessen Augen es wütend funkelte. Sie wusste, was das bedeutete – Hannes hatte wieder einmal einen seiner Eifersuchtsanfälle.

»Was das soll? Das fragst du noch?« Wie das Knurren eines gereizten Raubtieres kamen die Worte über die Lippen des kraftstrotzenden Mannes. »Gestern, als ich hier vorbeikam, hieß es, du seiest krank. Dass ich nicht lache. Was ich eben gesehen habe, das war schon ziemlich deutlich.«

»Was hast du denn gesehen?«, fragte Christine scharf. »Herr Doktor Bernau von der Klinik am See hat in meinen Augen eventuelle Krankheitssymptome …«

»Aha«, fiel Hannes Hornegg der Heimleiterin bissig ins Wort. »Einen Doktor hast du dir also angelacht. Ich bin dir wohl nicht mehr gut genug, wie? Jetzt geht mir ein Licht auf, und mir wird klar, weshalb du dich in den vergangenen Wochen so abweisend verhalten hast.«

»Jetzt hör aber auf!«, fuhr Christine den jungen Mann an.

»Erlauben Sie bitte, dass ich …« Dr. Bernau wollte die von dem jungen Mann völlig verkannte Situation klären, kam aber nicht zum Weitersprechen.

»Sie halten jetzt den Mund!«, fauchte Hans-Günther Hornegg den unbekannten vermutlichen Rivalen an. »Wir reden noch ein Wörtchen miteinander.« Mit zwei wuchtigen Schritten trat er vor Dr. Bernau hin und nahm eine drohende Haltung ein.

Dr. Bernau bemühte sich, beherrscht zu bleiben. So ganz wohl war ihm in diesen Augenblicken nicht in seiner Haut. Dieser Mann, der ihn anscheinend als eine Art Nebenbuhler ansah, machte nicht den Eindruck, als würde er sich mit ruhigen, vernünftigen Worten zur Räson bringen lassen. Eifersüchtige rasteten in der Regel sehr leicht aus. Dr. Bernau, der an sich ein Gegner von Gewalttätigkeiten war, hatte nicht das geringste Verlangen danach, dass dieser Klotz von Mann »ein Wörtchen mit ihm redete« – was immer der auch darunter verstehen mochte. Er konnte es sich aber gut vorstellen, denn man befand sich ja in Bayern.

Jedenfalls stand jetzt alles auf des Messers Schneide. Ein unbedachtes Wort nur, und der von Eifersucht und Zorn erfasste junge Mann würde explodieren.

Es war Christine, die reaktionsschnell eingriff und die Situation rettete. Blitzschnell stellte sie sich zwischen die beiden Männer. »Gehen Sie jetzt, Herr Doktor!«, bat sie dem Arzt. »Tut mir leid«, fügte sie flüsternd hinzu. »Und du, Hannes …« Unwillig funkelte sie ihren Freund an, »… werde wieder vernünftig! Du hast gar keinen Grund, den Eifersüchtigen zu spielen.«

Dr. Bernau wartete die weitere Entwicklung gar nicht ab, sondern kam der Aufforderung der jungen Frau sofort nach. Grußlos verließ er eilig das Zimmer und Sekunden später das Heim.

Zu spät wurde Hans-Günther Hornegg bewusst, dass der vermeintliche Rivale nicht mehr im Raum war. »Kruzitürken, jetzt ist er weg«, knurrte er erbost.

Durch das Fenster hindurch sahen Christine und ihr Hannes in diesem Augenblick den Arzt in seinem metallicbraunen Wagen davonfahren.

Christine trat hinter ihren Schreibtisch. »Du kannst jetzt auch gehen, Hannes«, sagte sie in energischem Ton. »Ich habe noch zu arbeiten.«

»So, du schickst mich also fort?« Funkelnd sah der junge Mann die Heimleiterin an.

»Ja, für jetzt jedenfalls, Hannes«, erwiderte Christine mit wieder etwas weicher klingender Stimme einlenkend. »Versteh mich doch bitte!«

»O ja, ich habe sehr gut verstanden«, brummte der Mann und schritt zur Tür. »Sehr gut sogar«, wiederholte er. »Aber wie du willst …« Ohne Gruß ging er und knallte die Tür hinter sich zu.

Christine ließ sich auf den Stuhl fallen. Ein trockenes Schluchzen kam über ihre Lippen. Am liebsten hätte sie jetzt geweint. Teilnahmslos saß sie fast eine halbe Stunde hinter ihrem Schreibtisch. Sie kam sich so unendlich verloren vor. Nur langsam begann ihr Denkvermögen wieder normal zu werden. Nebelhaft zogen die letzten Geschehnisse vor ihrem geistigen Auge vorbei. Es tat ihr jetzt wirklich leid, dass der Besuch dieses sympathischen Arztes so unschön verlaufen war.

Doch plötzlich brachte sie die Erinnerung an diesen Dr. Bernau auf einen Gedanken. Ganz schwach nur, aber mit jeder Minute, die verging, stärker werdend. Ernsthaft begann sie sich zu fragen, ob Dr. Bernau ihr geholfen hätte, herauszubekommen, was ihr fehlte, was die Blutanalyse bei Dr. Pröll ergeben hatte. Daran war sie nun in erster Linie interessiert, und sie würde nicht eher Ruhe finden, bevor sie das wusste. Aber wie sollte sie das erfahren? Sollte sie erst warten, bis man ihr das in der Klinik sagte? In ihrem Innern wehrte sich etwas dagegen, in eine Klinik zu gehen, sich dort einlegen zu lassen, ohne zu wissen, was es dafür für Gründe gab.

»Ich muss es wissen«, flüsterte sie. »Ich will es wissen.«

Mit leichtem Zorn dachte sie an Dr. Prölls Assistentin. Weshalb hatte die ihr keine Auskunft gegeben? Diese Frage beschäftigte Christine noch eine ganze Weile. Mit einem Mal aber fiel ihr etwas ein. Sie wollte nicht bis zum nächsten Tag warten und dann erneut bei Dr. Pröll vorsprechen. Sinnend starrte sie den Telefonapparat auf ihrem Schreibtisch an. »Ich werde anrufen«, murmelte sie. »Nicht als Christine Häußler, sondern als …, als ….« Sie wusste nicht weiter. Doch ganz plötzlich kam ihr ein Gedanke. Sie erinnerte sich wieder an ihren Besuch, an Dr. Bernau von der Klinik am See. Ja, dachte sie, das ist es. Ein Anruf von der Klinik am See zu Dr. Pröll zwecks Nachfrage wegen des dort bereits eingetroffenen Einweisungsscheines war doch eigentlich unverfänglich. Der Klinik gegenüber würde Dr. Pröll oder seine Assistentin bestimmt nicht so zurückhaltend sein.

Es war verrückt, was sich in den folgenden Minuten hinter Christines Stirn abspielte. Sie wusste es, aber sie konnte sich nicht dagegen wehren. Der Drang, zu erfahren, was ihr wirklich fehlte, war viel zu stark. Die Angst, von einer schlimmen Krankheit heimgesucht zu sein, einer Krankheit, die sie noch gar nicht einmal kannte, aber unbedingt wissen wollte, ließ ihre Eingebung zu einer fixen Idee werden. In sich versunken und schwere Gedanken wälzend, saß Christine noch eine ganze Weile schweigend hinter ihrem Schreibtisch. Immer wieder starrte sie den Telefonapparat an und kämpfte mit sich. Zögernd streckte sie die Hand aus und – entschlossen hob sie dann ab. Sie hatte sich endgültig durchgerungen. Ihre Hand zitterte leicht, als sie die Anschlussnummer von Dr. Pröll wählte. Was sollte sie aber sagen oder fragen, wenn sich Dr. Pröll meldete? Diese Frage geisterte plötzlich durch ihren Kopf. Sie wünschte sich in diesem Augenblick, dass der Arzt nicht erreichbar wäre.

»Praxis Doktor Pröll …«

Christine zuckte zusammen, als sie die Stimme einer Frau vernahm. Vielleicht war es die Sekretärin? Oder auch die Assistentin? Christine gab sich einen Ruck. »Hier ist die Klinik am See«, meldete sie sich. Ihre Stimme brauchte sie gar nicht erst zu verstellen. Sie klang von selbst etwas heiser und gepresst. »Ich möchte gern mit Herrn Doktor Pröll sprechen.«

»Der ist leider jetzt außer Haus«, kam die Erwiderung. »Worum bitte geht es?«

Christine schluckte. »Um eine Ihrer Patientinnen, von der wir heute einen Einweisungsschein erhalten haben«, antwortete sie.

»Ich verstehe«, gab die Stimme zurück. »Es handelt sich wahrscheinlich um Frau Häußler. Sie ist die Einzige, die Doktor Pröll in die Klinik am See überwiesen hat.«

»Das ist richtig«, fiel Christine der Frau, die, wie sie richtig vermutete, die Sekretärin des Arztes war, ins Wort.

»Mein Anruf ist nur eine kurze Rückfrage …, wegen …, wegen …, einiger Ergänzungen in unserer Kartei.«

»Da sprechen Sie am besten mit Frau Hellberg, das ist die Assistentin von Doktor Pröll«, erklärte die Sekretärin. »Sie weiß Bescheid. Augenblick, ich verbinde Sie. Hm, wen darf ich melden?«, wollte sie noch wissen.

Den Bruchteil einer Sekunde zögerte Christine, stieß dann aber hervor: »Doktor Bernau …«

»Moment, Frau Doktor …« In der Leitung knackte es, und eine Sekunde später erklang eine andere weibliche Stimme: »Hellberg, Assistentin bei Doktor Pröll – womit kann ich Ihnen helfen, Frau Doktor?«

Christine riss sich zusammen. Sie konnte jetzt nicht mehr ausweichen. Mit ein wenig rau klingender Stimme brachte sie in kurzen Worten ihr Anliegen vor. Sie sagte etwas von Eintragungen in die Eingangskartei und auf den Aufnahmeschein. »Die Diagnosestellung von Herrn Doktor Pröll auf der Einweisung von Frau Häußler habe ich doch richtig gelesen und …«

»Ja, Frau Doktor«, wurde Christine von der Assistentin lebhaft unterbrochen, »es handelt sich um eine akute myeloische Leukämie, wie die von mir selbst vorgenommene Blutanalyse ergeben hat.« Die Stimme der Assistentin bekam einen bedauernden Klang. »Arme Frau, sie wird es nicht mehr lange machen.«

Christine war wie versteinert. Ihr Gesicht war kalkweiß nach dieser Mitteilung geworden. Sie brachte es gerade noch fertig, sich bei der Assistentin zu bedanken, und dann fiel ihr der Hörer aus der Hand. Zitternd legte sie ihn auf die Gabel.

»Leukämie«, flüsterte sie fassungslos. Wenn sie auch nicht genau wusste, was myeloische Leukämie genau war und wie sie sich auswirkte, so war ihr aber dennoch klar, dass es sich um eine ungeheuer ernste und lebensbedrohende Krankheit handelte. Die letzten Worte von Dr. Prölls Assistentin »… sie wird es nicht mehr lange machen …«, schockierten Christine, lösten Angst und Verzweiflung in ihr aus. Sie konnte nicht mehr klar denken. Ein trockenes Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. Viel hätte nicht gefehlt, und sie wäre in Tränen ausgebrochen. Sie hielt es nicht länger in ihrem Büro aus. Ihr gesamtes Inneres befand sich in Aufruhr. Ihre Glieder kamen ihr bleischwer vor, als sie sich erhob und aus dem Büro ging. Mit Mühe nur hielt sie sich aufrecht, und es kostete sie eine gewaltige Anstrengung, der im Hintergrund des Flures gerade auftauchenden Hannelore zuzurufen, dass sie sich nicht wohlfühlte und deshalb jetzt schon nach Hause fahren wollte.

»Tun Sie das, Frau Häußler«, rief die junge Mitarbeiterin zurück, »und bleiben Sie ein paar Tage im Bett, damit Sie …«

Das Weitere hörte Christine schon nicht mehr. Sie war schon bei ihrem Auto, stieg ein und fuhr davon. Noch nie war ihr der Weg bis nach Hause so lang vorgekommen wie an diesem Nachmittag. Mehr als einmal verschwamm das Band der Landstraße vor ihren Augen, die sich jetzt mit Tränen füllten. Christine war sich später gar nicht richtig bewusst, wie sie unbeschadet ohne irgendeine Karambolage oder gar einen Unfall nach Hause gekommen war – welcher gütige Schutzengel sie auf dieser Heimfahrt begleitet hatte.

Ohne von ihrer hilfsbereiten Nachbarin bemerkt worden zu sein – Frau Wiese befand sich um diese Zeit wahrscheinlich auf einem ihrer gewohnten Spaziergänge – war sie in ihre kleine Wohnung gelangt.

Gehetzt blickte sie sich um und trat dann an das Bücherregal. Sie brauchte nicht lange zu suchen, um das zu finden, was sie jetzt haben wollte – nämlich eines der medizinischen Fachbücher, die sie noch aus ihrer Ausbildungszeit als Krankenschwester hatte. Hastig blätterte sie in dem Werk und fand sehr rasch die Seiten, die von Leukämie handelten, von denen es die unterschiedlichsten Arten gab.

»Akute myeloische Leukämie«, las sie flüsternd und überflog das dazu Gedruckte. Es war fast eine halbe Seite. Ein Zittern überlief ihren Körper, als sie fast am Ende der Abhandlung las: »Überlebenszeit nach Diagnosestellung drei bis vier Monate.«

Für Christine war dieser Satz gleichbedeutend mit einem Todesurteil. Das war zu viel für sie. Das Lehrbuch entglitt ihren kraftlos gewordenen Händen. Ein Schwindelgefühl ergriff sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie schaffte es gerade noch bis zum Bett, ließ sich darauffallen und weinte hemmungslos.