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Zwei Frauen. Ein Büro. Ein schreckliches Verbrechen.
Dawn Schiff ist seltsam. Darin sind sich ihre Kollegen einig. Sie sagt nie das Richtige. Sie hat keine Freunde. Aber sie ist jeden Morgen um Punkt 8:45 Uhr an ihrem Platz in der Firma, in der sie als Buchhalterin arbeitet. Bis sie eines Morgens nicht auftaucht. Dawns Kollegin Natalie Farrell wundert sich. Dann erhält sie einen anonymen Anruf und fährt zu Dawns Wohnung. Keine Spur von ihrer Kollegin. Doch Natalie bietet sich ein Bild des Grauens. Eins scheint bald klar: Jemand muss Dawn so sehr gehasst haben, dass er sie getötet hat. War es jemand aus ihrem Büro? Je mehr Natalie herausfindet, desto tiefer verstrickt sie sich selbst in ein Netz aus Lügen und Gewalt, aus dem es kein Entkommen gibt.
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Seitenzahl: 396
Veröffentlichungsjahr: 2025
Dawn Schiff ist seltsam. Darin sind sich ihre Kollegen einig. Sie sagt nie das Richtige. Sie hat keine Freunde. Aber sie ist jeden Morgen um Punkt 8:45 Uhr an ihrem Platz in der Firma, in der sie als Buchhalterin arbeitet. Bis sie eines Morgens nicht auftaucht. Dawns Kollegin Natalie Farrell wundert sich. Dann erhält sie einen anonymen Anruf und fährt zu Dawns Wohnung. Keine Spur von ihrer Kollegin. Doch Natalie bietet sich ein Bild des Grauens.Eins scheint bald klar: Jemand muss Dawn so sehr gehasst haben, dass er sie getötet hat. War es jemand aus ihrem Büro? Je mehr Natalie herausfindet, desto tiefer verstrickt sie sich selbst in ein Netz aus Lügen und Gewalt, aus dem es kein Entkommen gibt.
Mit ihrer Gabe für überraschende Twists und packende psychologische Spannung ist der US-amerikanischen Ärztin und Bestsellerautorin Freida McFadden in kürzester Zeit der internationale Durchbruch gelungen. Nach dem phänomenalen Erfolg von Wenn sie wüsste stürmte sie mit ihren darauf folgenden Thrillern gleich an die Spitze der SPIEGEL-Bestsellerliste. Ihre Bücher wurden in mehr als vierzig Sprachen übersetzt. Mit ihrer Familie und einer schwarzen Katze lebt Freida McFadden in einem jahrhundertealten Haus mit knarzenden Treppen und Blick auf das Meer.
Die Housemaid-Reihe:
Wenn sie wüsste
Sie kann dich hören
Sie wird dich finden
Weil sie dich kennt (Kurzgeschichte, E-Book)
FREIDA MCFADDEN
THRILLER
Aus dem Amerikanischen von Astrid Gravert
WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN
Die Originalausgabe The Coworker erschien erstmals 2023 bei Poisoned Pen Press, an imprint of Sourcebooks, Naperville, Illinois.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Deutsche Erstausgabe 03/2025
Copyright © 2023 by Freida McFadden
© 2025 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Redaktion: Lars Zwickies
Coverdesign: zero-media.net, München unter Verwendung von © Getty Images (Fang Xia Nua), FinePic®, München
Herstellung: Magdalena Gerblinger
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-31637-2V001
www.heyne.de
Für meine Familie
Ein Tag vorher
An: Seth Hoffman
Von: Dawn Schiff
Betreff: WICHTIG
Seth,
ich bin auf eine sensible Angelegenheit gestoßen, über die ich dringend mit dir sprechen muss, und möchte dich um ein Treffen in deinem Büro bitten, sobald es dir passt.
Mit freundlichen Grüßen
Dawn Schiff
An: Dawn Schiff
Von: Seth Hoffman
Betreff: AW: WICHTIG
Okay, klar. Komm in mein Büro.
An: Seth Hoffman
Von: Dawn Schiff
Betreff: AW: WICHTIG
Seth,
es wäre mir lieber, wenn wir einen Termin vereinbaren würden, um sicherzugehen, dass du zu dem Treffen da bist und wir genügend Zeit haben, die möglicherweise unangenehmen Dinge zu besprechen, die ich mich genötigt sehe dir mitzuteilen. Ich will kein oberflächliches Gespräch, bei dem wir durch eine früher eingegangene Verpflichtung unterbrochen werden oder, noch schlimmer, zu deinem Büro kommen und feststellen, dass du nicht da bist. Deshalb wäre mir bedeutend wohler, wenn wir einen Termin vereinbaren würden. Ich kann deinen Terminkalender prüfen, ihn mit meinem abgleichen und sechs mögliche Termine in den nächsten 48 Stunden vorschlagen, die uns beiden passen. Du kannst dann zwei davon markieren, die für dich am besten sind, und wir einigen uns anschließend auf eine endgültige Zeit.
Mit freundlichen Grüßen
Dawn Schiff
An: Dawn Schiff
Von: Seth Hoffman
Betreff: AW: WICHTIG
Wie wär’s morgen um zwei?
An: Seth Hoffman
Von: Dawn Schiff
Betreff: AW: WICHTIG
Hier die Daten unseres vereinbarten Treffens:
Ort: Seth Hoffmans Büro
Zeit: 14 Uhr
Ich habe es in meinem Kalender eingetragen.
Mit freundlichen Grüßen
Dawn Schiff
Gegenwart
Als ich heute Morgen ins Büro komme, ist Dawn nicht an ihrem Schreibtisch, was bedeutet, dass die Welt untergeht.
Ich mache Spaß. Offensichtlich geht die Welt nicht unter, aber wer Dawn kennt, versteht, was ich meine.
Dawn sitzt seit neun Monaten in der Bürozelle neben meiner bei Vixed, einer Firma für Nahrungsergänzungsmittel, für die wir beide arbeiten. Man könnte die Uhr nach ihren Gewohnheiten stellen. Um Viertel vor neun ist sie an ihrem Schreibtisch. Um Viertel nach zehn geht sie auf die Toilette. Viertel vor zwölf geht sie in den Aufenthaltsraum und isst ihren Lunch. Halb zwei geht sie wieder auf die Toilette. Und um Punkt fünf fährt sie ihren Computer herunter und macht Feierabend. Wenn aufgrund irgendeiner Katastrophe alle Uhren stillstehen würden, könnten wir alle wieder richtig in der Zeit liegen, indem wir beobachten, wann Dawn zur Toilette geht. Auf die Sekunde genau.
Ich komme für gewöhnlich irgendwann zwischen halb neun und neun zur Arbeit. Na ja, ungefähr neun. Wenn es gut läuft, schaffe ich 8:30. Aber obwohl ich schwören könnte, dass ich meine Schlüssel jeden Tag an genau denselben Platz lege, auf den Tisch direkt neben der Wohnungstür, scheinen sie sich manchmal in der Nacht selbstständig zu machen und woanders hinzugehen. Dann muss ich sie suchen.
Oder es ist viel Verkehr, und ich gerate in einen Stau. Während der Stoßzeiten geht in der Dorchester Avenue nichts mehr.
Heute Morgen hatte ich zwar keine grüne Welle, aber es war wenig Verkehr, sodass ich um zehn vor neun das Großraumbüro betrete, in dem Vixed untergebracht ist. Ich gehe die Reihe identischer Bürozellen in der Mitte des Raumes entlang, wobei meine roten Absätze auf dem Linoleumfußboden klacken und die Leuchtstofflampen über meinem Kopf flackern. Als ich auf dem Weg zu meinem Platz an Dawns vorbeigehe, die Hand schon zum Gruß erhoben, stutze ich.
Ihr Platz ist leer.
So seltsam Dawns Tagesablauf ist, noch seltsamer ist es, dass sie heute davon abweicht. Ich kann nicht umhin zu denken, dass Dawns Abwesenheit nichts Gutes bedeutet. Schließlich kommt Dawn nie zu spät. Nie.
»Natalie! Hey, Nat! Stell dir vor!«
Beim Klang von Kims Stimme reiße ich den Blick von Dawns Arbeitsplatz los. Sie hüpft die Reihe Bürozellen entlang, ihr braun gebranntes Gesicht glüht.
Kim Haley ist meine beste Freundin in der Firma, was leider bedeutet, dass sie meine beste Freundin überhaupt ist, da die Arbeit immer mehr mein ganzes Leben bestimmt. Vor zwei Wochen ist sie mit der schönsten Bräune und hellen Strähnen in ihren sonst dunkelbraunen Haaren aus den Flitterwochen zurückgekehrt – sie riecht sogar noch nach Sonne und Sand. Sie sieht toll aus. Ich freue mich für sie und bin nur zu ungefähr zehn Prozent eifersüchtig. Wirklich – ich wünsche ihr alles Glück der Welt.
Mein Blick wandert über Kims schwarz-weiß gemustertes Ann-Taylor-Kleid, und ich bemerke einen verräterischen Bauch. »Du bist schwanger!«, stoße ich hervor.
Sofort verschwindet das Lächeln aus ihrem Gesicht. »Nein. Ich bin nicht schwanger. Warum sagst du das?« Sie zupft an dem Band über ihrer Taille. »Findest du, in diesem Kleid sehe ich dick aus?«
»Nein! Natürlich nicht, Kim!« Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass die Art, wie sie Stell dir vor sagte, so klang, als wollte sie eine Schwangerschaft verkünden. In letzter Zeit scheinen ständig Frauen in meinem Alter um mich herum Schwangerschaften zu verkünden – als wären es die einzig spannenden Neuigkeiten –, und sie ist schließlich gerade aus den Flitterwochen zurück. »Überhaupt nicht. Es tut mir wirklich leid, dass ich das gesagt habe. Ich dachte nur …«
Kim zupft immer noch verlegen an ihrem Kleid. »Du musst einen Grund gehabt haben, das zu sagen.«
Insgeheim ohrfeige ich mich. »Ich schwöre, ich hatte keinen. Im Übrigen nimmt jeder in den Flitterwochen ein paar Pfund zu. Es steht dir.«
Aber sie hört gar nicht zu, sondern verrenkt sich den Hals, um ihren Po anzusehen.
Ich räuspere mich. »Also was wolltest du mir erzählen?«
»Oh.« Sie bringt ein Lächeln zustande, ihre anfängliche Begeisterung ist verflogen. »Die T-Shirts sind gekommen. Ich habe sie in den Konferenzraum gebracht.«
Oh, das sind wirklich gute Neuigkeiten! Ich folge Kim in den Konferenzraum, und tatsächlich steht da ein leicht verbeulter Pappkarton in der Ecke. Ich gehe sofort hin und klappe ihn auf. »Hast du sie dir angesehen?«
»Ich habe sie durchgesehen, aber nicht alle gezählt.«
Ich durchwühle den Karton und ziehe ein T-Shirt heraus. Es ist blaugrün, alle notwendigen Informationen stehen drauf. 5-km-Spendenlauf. Zugunsten der Forschung zu zerebraler Lähmung. Das T-Shirt, das ich in der Hand halte, hat Größe M, und das dürfte hinkommen. Ich habe mir schon Sorgen gemacht, dass die T-Shirts nicht rechtzeitig hier sein würden – sie sollten eigentlich bereits letzte Woche ankommen, und es ist schon Dienstag. Der Spendenlauf, den ich organisiere, ist am Samstag.
»Sie sehen toll aus, Nat«, flüstert Kim. Sie war eine unglaubliche Unterstützung bei der Organisation dieses Laufs – ohne sie hätte ich es nicht geschafft. »Wir können sie später verteilen, wenn alle hier sind.«
Ich nicke, erleichtert, dass alles läuft wie geplant. »Weißt du übrigens«, füge ich hinzu, »ob Dawn sich krankgemeldet hat?«
Kim hält sich ein T-Shirt an und streicht es über ihrem Bauch glatt, der für mich immer noch ein bisschen nach einem Babybauch aussieht. »Nein, warum?«
»Na ja, sie ist nicht hier.«
»Na und? Sie ist spät dran.«
»Du verstehst nicht.« Ich werfe das T-Shirt zurück in den Karton. »Dawn kommt nie zu spät. Nie. Nicht ein einziges Mal, seitdem sie hier arbeitet. Sie kommt immer um Viertel vor neun.«
Kim sieht auf ihre Uhr und dann wieder mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Dann ist sie jetzt zwanzig Minuten zu spät. Na und?«
Es ist ungewöhnlich für Dawn. Außerdem ist da noch etwas anderes, das ich Kim nicht erzählt habe. Gestern Nachmittag hat Dawn mir eine merkwürdige E-Mail geschickt und gefragt, ob wir uns nach Feierabend über eine »äußerst wichtige Angelegenheit« unterhalten könnten. Aber ich war fast den ganzen Nachmittag bei einem Verkaufstermin, und als ich zurück ins Büro kam, war sie schon weg.
Eine äußerst wichtige Angelegenheit. Ich frage mich, ob es wegen …
Nein, wahrscheinlich nicht.
»Ich hoffe, es geht ihr gut.« Ich schüttele den Kopf. »Vielleicht hat sie einen Unfall gehabt.«
Kim kichert. »Oder sie wurde endlich eingewiesen.«
»Hör auf«, murmele ich. »Das ist gemein.«
»Komm schon. Sie ist eine seltsame Person, das weißt du genauso gut wie jeder andere. Du musst schließlich neben ihr sitzen.«
»Sie ist nicht so schlimm.«
»Nicht so schlimm!«, stößt Kim hervor. »Es ist, als würde man das Büro mit einem Roboter teilen. Und was ist mit ihrer Besessenheit von Schildkröten? Wer steht schon dermaßen auf Schildkröten?«
Okay, ich kann nicht abstreiten, dass Dawn ein bisschen seltsam ist. Oder sogar sehr seltsam. Manchmal machen sich Arbeitskollegen hinter ihrem Rücken über sie lustig. Und ja, sie mag Schildkröten mehr, als ein erwachsener Mensch sollte. Aber sie ist nett. Wenn alle sie ein bisschen besser kennen würden, wären sie freundlicher zu ihr.
Nicht, dass ich sie besonders gut kenne. Ich wollte sie schon immer einmal zum Abendessen einladen, aber ich bin noch nicht dazu gekommen. Als wir vor ein paar Wochen an einem Freitagabend zusammen im Fahrstuhl nach unten fuhren, fragte ich sie beiläufig, ob sie irgendetwas vorhabe, und sie schien schockiert über die Frage. Nur Abendessen zu Hause. Allein. Ich hätte sie gefragt, ob sie mit mir essen will, aber ich war mit meinem Freund verabredet, und es wäre unpassend gewesen, wenn sie mitgekommen wäre.
Ich werde sie zum Abendessen einladen. Ganz bestimmt. Sobald der Spendenlauf vorbei ist.
»Egal, ich mache mich besser wieder an die Arbeit.« Kim blickt auf die Uhr. »Anders als eine bestimmte Person hier bin ich nicht die Verkäuferin des Monats.«
Ich erröte etwas. Zugegebenermaßen ist meine Verkaufsbilanz besser als die jedes anderen in der Firma, aber ich arbeite auch hart dafür. »Du hast diesen Monat geheiratet. Du hast eine Entschuldigung für die wenigen Verkäufe.«
»Ja, ja.« Kim zuckt mit der Schulter, denn im Grunde kümmert es sie nicht besonders. Ihr frischgebackener Ehemann ist steinreich. Irgendwann in naher Zukunft wird sie wirklich schwanger sein, und dann wird sie kündigen und nicht wiederkommen. »Jedenfalls viel Glück mit den T-Shirts. Bis später.«
Nachdem Kim gegangen ist, möglicherweise in Richtung ihres Arbeitsplatzes, aber wahrscheinlich eher in Richtung Aufenthaltsraum, um sich einen dritten oder vierten Becher Kaffee an diesem Morgen zu holen, klappe ich den Karton mit den T-Shirts zu und gehe zurück an meinen Platz. Als ich hinkomme, bemerke ich etwas auf meinem Schreibtisch, das ich vorher nicht gesehen habe.
Eine Schildkrötenfigur.
Sie ist klein – nicht länger als mein Zeigefinger, grün und blau, das geometrische Muster auf ihrem Panzer glänzt im Licht der Deckenlampen. Der Kopf ist angehoben, und die schwarzen Knopfaugen starren mich an.
Dawn hat mir vor einiger Zeit ganz aufgeregt eine Schildkrötenfigur für meinen Schreibtisch geschenkt. Das war so süß von ihr, und ich fühlte mich schrecklich, als die Schildkröte auf den Linoleumfußboden gefallen und in ein Dutzend Teile zerbrochen ist. Aber diese Schildkröte wurde nie ersetzt. Und sie sah anders aus als die, die jetzt auf meinem Schreibtisch steht.
Ich nehme die Figur in die Hand, drehe sie und fühle die glatte Oberfläche. Was macht diese Schildkröte hier? Wer hat sie hierhingestellt?
War es Dawn?
Das kann nicht sein. Als ich gestern zum Feierabend zurück ins Büro kam, war sie schon weg. Und sie scheint noch nicht hier zu sein. Wie könnte sie also die Schildkröte auf meinem Schreibtisch platziert haben?
Nachdem ich die Figur zurück auf meinen Tisch gestellt habe, sind meine Finger fleckig. Etwas Dunkelrotes hat auf meine Hand abgefärbt, als ich die Schildkröte anhob. Ich starre auf meine Handfläche und frage mich, was ich gerade angefasst habe. Farbe kann es nicht sein, denn die Schildkröte ist grün. Ketchup?
Nein, das kann es nicht sein. Es ist zu dunkel und nicht klebrig vor Zucker. Und es riecht nicht süß. Es riecht beinahe … metallisch.
Was ist das?
Während ich das dunkelrote Zeug untersuche, das sich in die Furchen meiner Fingerabdrücke gegraben hat, werde ich gewahr, dass ein Telefon in der Nähe klingelt. Aus der Richtung von Dawns Bürozelle.
Ich kehre dorthin zurück, bleibe kurz am Eingang stehen. Sie ist immer noch leer. Ist Dawn vielleicht heute Morgen früher gekommen und jetzt auf der Toilette oder so? Sie muss hier sein, und sie muss diejenige gewesen sein, die diese kleine Schildkröte auf meinen Schreibtisch gestellt hat, auch wenn ihre Jacke nicht über der Stuhllehne hängt. Und der Bildschirm ihres Computers ist dunkel – kein Bildschirmschoner, einfach schwarz.
Noch immer klingelt das Telefon auf ihrem Schreibtisch. Normalerweise erscheint die Nummer des Anrufers auf dem Display, aber diesmal nicht. Es handelt sich um eine unbekannte Nummer.
Ich nehme das Telefon ab. Es ist eigentlich nicht mein Job, ihre Anrufe zu beantworten, aber wenn sie heute krank ist, kann ich zumindest versuchen, mich um Probleme zu kümmern, die aufgetreten sind. Ich bin sicher, Dawn würde dasselbe für mich tun. Sie versucht immer, anderen zu helfen, fast übertrieben.
Ich frage mich, worüber sie gestern mit mir sprechen wollte. Eine äußerst wichtige Angelegenheit. Das kann bei Dawn fast alles bedeuten, von einer schmutzigen Milchtüte im Kühlschrank bis zur unheilbaren Krebserkrankung. Kein Grund zur Sorge.
»Apparat von Dawn Schiff«, sage ich.
Schweigen am anderen Ende der Leitung. Es klingt beinahe wie unregelmäßiges Atmen.
»Hallo?«, sage ich. »Ist da jemand?«
Immer noch Schweigen. Erst als ich schon auflegen will, sagt eine gequälte weibliche Stimme zwei Wörter, die mir einen kalten Schauer über den Rücken jagen.
»Hilf mir.«
Dann ist die Leitung tot.
Während ich den toten Hörer anstarre, bekomme ich ein flaues Gefühl im Magen.
Hilf mir.
Es klang stark nach Dawn, auch wenn ich nach zwei Wörtern nicht absolut sicher sein kann. Aber wer es auch war, es klang hysterisch. Panisch.
Hilf mir.
Und dann die tote Leitung, jetzt ein Freizeichen.
Ich habe die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass etwas nicht stimmt, als Dawn heute Morgen zu spät war, aber nicht wirklich geglaubt, dass es etwas Ernstes ist. Habe ich mich geirrt? Ist Dawn etwas Schreckliches passiert?
Ich hole mein Handy aus der Handtasche, suche Dawns Namen in meinen Kontakten und rufe die Nummer an. Nachdem es einige Male geklingelt hat, höre ich sie mit monotoner Stimme sagen:
Sie sind mit Dawn Schiff verbunden. Im Moment kann ich Ihren Anruf nicht persönlich entgegennehmen. Bitte hinterlassen Sie Ihren Namen, Ihre Rufnummer, eine alternative Rufnummer und den Grund Ihres Anrufs nach dem Piepton.
Ich hinterlasse keine Nachricht, sondern schreibe stattdessen eine Textnachricht:
Hey, Dawn, alles in Ordnung?
Ich blicke aufs Display und warte darauf, dass sie zurückschreibt. Aber keine Reaktion.
Ich muss etwas unternehmen. Ich muss mit Seth sprechen.
Seth Hoffman war bereits Geschäftsführer der Niederlassung von Vixed in Dorchester, bevor ich anfing, hier zu arbeiten. Seth und ich haben ein Übereinkommen – er lässt mir freie Hand, und ich sorge für super Verkäufe. Es ist angenehm, einen Chef zu haben, der sich nicht ständig wegen jedem Penny einmischt, den ich für meine Kunden ausgebe, oder bei dem ich über jede Nanosekunde meiner Zeit Rechenschaft ablegen muss. Es wäre sicher anders, wenn ich keine Ergebnisse liefern würde, aber Seth vertraut mir.
Ich klopfe an die Tür von Seths Büro, die halb offen steht. Er hat eine Sekretärin, aber sie ist irgendwie die Sekretärin für alle. Darum überwacht sie auch nicht, wer sein Büro betritt und wieder verlässt. Also gehe ich sofort hinein, als er mich dazu auffordert.
Als Kim und ich anfingen, hier zu arbeiten, haben wir darüber gekichert, wie süß unser Chef ist. Seth ist jetzt Mitte vierzig – fünfzehn Jahre älter als ich –, aber er hat ein jugendliches Aussehen. Um seine Augen sind Linien, die zu Falten werden, wenn er lächelt, und er hat ein paar graue Haare an den Schläfen, die ihm gut stehen. Er trägt immer eine Krawatte, aber sie ist immer gelockert.
»Hey, Nat«, sagt er, als er sieht, dass ich es bin. »Was gibt’s? Alles in Ordnung?«
»Nicht direkt.« Ich stehe vor Seths Schreibtisch und will meine Sorgen mit ihm teilen, ohne zu verrückt zu klingen. »Hat Dawn sich heute krankgemeldet?«
Seine dunklen Augenbrauen schnellen hoch. »Nein. Hat sie nicht. Warum? Ist sie nicht da?«
Genau wie ich scheint Seth zu wissen, dass Dawn funktioniert, als würde sie von einer Uhr gesteuert. »Ich habe sie nicht gesehen.«
»Hm.«
Verdammt. Ich hatte gehofft, sie hätte ihn angerufen. Ihm gesagt, dass ihre Großmutter krank sei und sie heute nicht kommen könne. »Ich hab sie angerufen, aber sie hat nicht abgenommen. Außerdem …«
Er runzelt die Stirn. »Außerdem was?«
»Dawns Telefon hat geklingelt. Ich hab abgenommen, und die Person am anderen Ende sagte: ›Hilf mir.‹«
Seth nickt. »Okay, wobei brauchte sie denn Hilfe? Brauchte sie Informationen über eines unserer Produkte? War es eine Kundenbeschwerde?«
»Nein, du verstehst nicht. Es klang, als wäre sie in Schwierigkeiten. Ich … ich glaube, es war Dawn.«
»Dann … hat sie vielleicht Probleme mit dem Auto oder so? Hat sie gesagt, wobei sie Hilfe braucht?«
»Nein.« Ich presse die Hände zusammen. »Sie sagte nur ›Hilf mir‹ und legte auf.«
»Oh.« Sein Gesichtsausdruck verrät einen völligen Mangel an Besorgnis. Er sieht nicht im Geringsten beunruhigt aus. »Na, ruf sie einfach an und frag sie, wobei sie Hilfe braucht.«
»Das habe ich versucht. Sie nimmt nicht ab.«
Er zuckt mit der Schulter. »Ich bin sicher, es geht ihr gut. Was soll schon passiert sein?«
»Ich weiß es nicht.« Ich beginne auf meinem Daumennagel zu kauen – eine alte schlechte Angewohnheit, wenn ich nervös bin –, beherrsche mich dann aber. Ich habe viel für diese French Manicure ausgegeben und will sie auf keinen Fall ruinieren. »Vielleicht hatte sie einen Unfall.«
»Ich rufe sie an.«
Meine Schultern entspannen sich etwas, als Seth zu seinem Handy auf dem Schreibtisch greift und die Nummern durchscrollt. Jetzt, da ich seine Hände ansehe, bemerke ich, dass der Ehering, den er immer am Ringfinger der linken Hand trägt, verschwunden ist. Erst seit Kurzem – an der Stelle ist ein deutlich sichtbarer weißer Streifen. Mein Blick wandert zu dem Foto von ihm und seiner Frau Melinda, das für gewöhnlich auf dem Schreibtisch steht, aber es ist auch weg.
Hm. Das ist interessant.
Ich würde Seth am liebsten darauf ansprechen, aber es geht mich nichts an. Schließlich ist er mein Chef. Und es gibt im Moment drängendere Probleme.
Seth tätigt den Anruf, und wir warten beide, während es vermutlich am anderen Ende klingelt. Nach ein paar Sekunden höre ich in gedämpftem Ton Dawns Stimme auf dem Anrufbeantworter. Seth trommelt mit den Fingern auf den Schreibtisch, während er ihre irritierend lange Ansage anhört.
»Hey, Dawn«, sagt Seth. »Du bist heute nicht zur Arbeit gekommen, und ich wollte fragen, was los ist. Ist alles in Ordnung? Ruf mich an, sobald du kannst.« Er beendet den Anruf und legt das Handy auf den Schreibtisch. »Nimmt nicht ab. Aber sie wird zurückrufen.«
»Oh.«
»Weißt du was?« Er schnippt mit den Fingern. »Mir fällt gerade ein – Dawn und ich sind heute für zwei Uhr verabredet. Sie hat eine große Sache daraus gemacht, dass wir einen Termin vereinbaren müssten und dass es wichtig sei.«
»Wichtig?« Ich bekomme ein mulmiges Gefühl im Bauch, als ich daran denke, dass sie mir eine ähnliche E-Mail geschrieben hat. Eine äußerst wichtige Angelegenheit. Es muss zumindest ein bisschen was von einer großen Sache haben, wenn sie ein Treffen mit dem Chef vereinbart hat. »Was war so wichtig?«
»Keine Ahnung. Wie man Dawn kennt, wahrscheinlich etwas Lächerliches.« Er lächelt, was mir angesichts der Umstände sehr unpassend erscheint. »Aber da sie eine so große Sache daraus gemacht hat, bin ich sicher, dass sie um zwei auftauchen wird.«
Ich verlagere mein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Ich trage immer Heels, heute rote Louboutins – Rot ist meine Lieblingsfarbe bei Schuhen –, aber diese drücken wie verrückt an den Zehen. Ich hätte Größe 8 nehmen sollen. »Vielleicht sollten wir die Polizei anrufen?«
»Die Polizei anrufen?« Seth blinzelt mich an. »Ist das dein Ernst? Sie kommt eine Stunde zu spät zur Arbeit, und du willst die Polizei anrufen?«
»Sie hat angerufen und um Hilfe gebeten!«, erinnere ich ihn.
Er atmet hörbar durch gespitzte Lippen aus. »Weißt du überhaupt, ob es Dawn war, die angerufen hat?«
»Es war kein Kunde.«
»Bist du sicher?«
Ich will schon Ja sagen, aber er hat mich verunsichert, und ich beginne meine Erinnerung anzuzweifeln. Ich hab den Hörer abgenommen, und die Person am anderen Ende der Leitung sagte: »Hilf mir.« Sie klang verzweifelt. Aber andererseits gibt es auch Kunden, die verzweifelt klingen, wenn sie anrufen. War es möglicherweise nicht Dawn, die angerufen hat, sondern tatsächlich einfach nur ein Kunde? Und vielleicht hat er aufgelegt, als er meine Stimme gehört hat statt Dawns?
»Ihr könnte alles Mögliche passiert sein«, sagt er. »Ich glaube nicht, dass wir die Polizei anrufen müssen. Sie würden uns auslachen.«
Das könnte sein.
Seths Blick wird milder. »Alles in Ordnung, Nat? Du siehst erschöpft aus.«
»Danke.«
»Ich meine nur. Du hast in letzter Zeit hart gearbeitet. Deine Verkäufe sind durch die Decke gegangen, und du hast auch noch diesen Spendenlauf organisiert. Ich weiß nicht, wie du das zeitlich geschafft hast. Du solltest ein bisschen entspannen.«
Ich bekomme einen Kloß im Hals. »Ich nehme mir Zeit für wichtige Dinge.«
»Ich weiß.«
Ich schlucke den Kloß hinunter. »Du läufst doch am Sonnabend mit, oder? Ich zähle auf dich.«
»Ich werde da sein.« Er legt eine Hand auf die Brust. »Ich verspreche es. Und mach dir keine Sorgen – ich gehe jede Wette ein, dass Dawn um zwei in meinem Büro sein wird. Sie ist immer pünktlich.«
Sobald ich Seths Büro verlassen habe, gehe ich zurück in meine Bürozelle. Die Schildkrötenfigur steht immer noch auf meinem Schreibtisch und starrt mich mit ihren ausdruckslosen schwarzen Augen an. Seths Bemerkung, dass ich erschöpft aussähe, klingt mir noch in den Ohren, und ich hole mein Make-up hervor. Obwohl ich meine Wangen heute Morgen mit der teuren Gesichtscreme eingecremt habe, sieht meine Haut fahl aus. Normalerweise habe ich schöne Haut. Es ist einer der Gründe, warum ich unsere Produkte so gut verkaufe. Aber letzte Nacht habe ich schlecht geschlafen. Und meine blonden Haare sehen ungewöhnlich schlaff und leblos aus.
Ich muss immer an den Anruf denken … Ich muss immer an den verzweifelten Tonfall der Anruferin denken.
Hilf mir.
Es klang nicht wie ein Kunde, der bei irgendetwas Hilfe brauchte. Es klang wie der Hilferuf von jemandem, der ernsthaft in Schwierigkeiten war.
Aber Seth hat recht. Ich kann nicht die Polizei anrufen, nur weil meine Arbeitskollegin eine Stunde überfällig ist. Ich bin sicher, Dawn wird bald zur Arbeit kommen. Das alles ist wahrscheinlich ein großes Missverständnis.
Neun Monate früher
An: Mia Hodge
Von: Dawn Schiff
Betreff: Grüße
Liebe Mia,
heute war mein erster Tag in dem neuen Job, von dem ich dir erzählt habe.
Ich wünschte, ich könnte sagen, dass es einfach war, aber du kennst mich. Du weißt, ich bin schüchtern. Das habe ich mit Schildkröten gemeinsam – sie sind von Natur aus scheu. Ich will nicht behaupten, dass sie keine Persönlichkeit haben, sie haben bestimmt eine, aber sie bleiben am liebsten in ihrer eigenen Umgebung. Sie wollen nicht, dass mit ihnen gespielt wird. Und wenn sie mit irgendeiner Bedrohung konfrontiert sind, ist ihre erste Reaktion nicht Angriff, sondern sie ziehen sich in ihren Panzer zurück und verstecken sich. Kommt dir das bekannt vor?
Mein Leben wäre einfacher, wenn ich einen Panzer hätte wie eine Schildkröte. Weißt du noch, wie du mir geholfen hast, den Panzer aus Pappkartons zu bauen? Ich habe im Park Steine gesammelt, und wir haben sie in unserem Wohnzimmer zusammen auf die Kartons geklebt. Es sah natürlich nicht echt aus – wir waren ja erst sieben. Aber ich hatte einen Ort, um mich zu verstecken, wenn ich einen schlechten Tag hatte.
Wie lange hat der Panzer gehalten? Eine Woche? Zwei? Ich erinnere mich nur daran, dass ich eines Tages nach Hause kam und er weg war. Meine Mutter hatte ihn, während ich in der Schule war, in den Müll geworfen. Sie hat ihn in Stücke gerissen, sodass es keine Chance gab, ihn wiederherzustellen. Sie sagte zu mir: Deshalb hast du nur eine Freundin, Dawn.
Als bräuchte ich eine andere Freundin als dich. Ich wünschte nur, du würdest nicht gerade am anderen Ende des Landes leben.
Was für mich zurzeit einem Schutzpanzer am nächsten kommt, ist meine Schildpattbrille, die ich mir vor einem Jahr gekauft habe. Ich glaube, du hast sie noch nicht gesehen. Keine Sorge, sie ist nicht aus echtem Schildpatt.
Die Firma, für die ich arbeite, heißt Vixed. Sie verkaufen Nahrungsergänzungsmittel oder so etwas Ähnliches. Ich werde sicher bald mehr darüber erfahren, aber ich mache eigentlich nur die Buchhaltung, sodass es nicht nötig ist, alle Einzelheiten des Geschäfts zu kennen. Ich erhielt per Post ein sieben Zentimeter dickes Päckchen mit einem Katalog ihrer Produkte, nur leider fehlten Daten über deren Wirksamkeit. Vielleicht könnte ich vorschlagen, einige randomisierte klinische Studien dazu durchzuführen? Ich überlege, wie ich mich noch nützlicher machen könnte.
Mein neuer Chef, Seth, hat mich morgens herumgeführt und allen vorgestellt. Ich habe Seth zuvor nur einmal, bei meinem Vorstellungsgespräch, getroffen und hatte ein gutes Gefühl bei ihm. Er ist in den Vierzigern, sehr freundlich auf eine Art, wie eine Schildkröte definitiv nicht ist, und er schien überaus begeistert davon, dass ich als Buchhalterin für die Firma arbeiten würde.
Heute war Seth anders. An dem Tag, als wir uns kennenlernten, war er charmanter – lächelte die ganze Zeit und war interessiert an allem, was ich sagte. Heute schien er abgelenkt. Er hetzte mit mir durchs Büro, sodass ich keine Chance hatte, mir die Namen der Mitarbeiter zu merken oder mehr als kurz Hallo zu sagen. Er sah fünfmal auf die Uhr, während er mich herumführte, und als ich ihm Fragen stellte, wusste er auf viele keine Antwort. Es war sehr enttäuschend.
Zum Beispiel fragte ich ihn, wie oft der Kühlschrank sauber gemacht wird. Da er überrascht aussah, erklärte ich ihm, dass viele Bakterien, zum Beispiel Listerien, sich leicht bei niedrigen Temperaturen vermehren. Ich hatte viele Daten dazu, aber als ich sie Seth mitteilen wollte, schien er nicht interessiert und murmelte nur, dass er das Hauspersonal fragen würde. Dann sagte er: »Herrgott noch mal, Dawn.«
Ich bekam das Gefühl, dass ich Seth auf die Nerven ging, denn genau das sagte mein Vater immer, wenn ich etwas tat, was ihn störte oder unbequem für ihn war. Herrgott noch mal, Dawn.
Die letzte Station der Führung war mein Arbeitsplatz. In meinem letzten Job hatte ich mein eigenes Büro, und auch wenn es winzig war und kein Fenster hatte, war es immer noch besser als diese winzige Zelle. In einer Zelle kann man sich nicht verstecken. Außerdem sah der Stuhl nicht besonders bequem aus. Er hatte keine Lendenwirbelstütze. Ich werde Seth nach anderen Sitzgelegenheiten fragen müssen.
Seth stellte mich der Frau vor, die in der Bürozelle neben mir arbeitet. Darüber bin ich sehr froh, denn es fällt mir immer schwer, mich anderen vorzustellen. Ich komme mir dabei immer komisch vor, und irgendwann ist es meistens zu spät, weil ich zu lange gewartet habe. Du kannst dich nicht mehr jemandem vorstellen, wenn du schon einen Monat mit ihm gearbeitet hast. Deshalb war ich froh, dass Seth die Vorstellung übernommen hat.
Er sagte, ihr Name sei Natalie und sie sei unsere beste Verkäuferin. Wenn ich irgendetwas wissen wolle, solle ich Natalie fragen.
Ich prägte mir den Namen ein. Natalie, Natalie, Natalie. Sie trug Kopfhörer mit einem Mikrofon, nahm sie aber für die Vorstellung ab. Sie stand sogar auf, wobei sie in ihren auffallenden roten Heels schwankte, die zu tragen keiner von uns beiden im Traum einfallen würde. Sie ist ungefähr in unserem Alter, vielleicht dreißig, und äußerst hübsch. Am besten gefielen mir ihre Haare. Sie waren strohblond, wie Maisgrannen, und reichten ihr halb über den Rücken. Sie schienen so weich und seidig, dass ich beinahe die Hand ausstrecken und mit den Fingern hindurchfahren wollte.
Weißt du noch, wie ich die Hand ausstreckte, um Becky Doyles Haare zu berühren, und sie mich so sehr im Gesicht kratzte, dass ich monatelang eine rote Stelle hatte? Jetzt bin ich klüger.
Ich berührte stattdessen meine Haare, was nicht halb so befriedigend war. Sie haben noch dieselbe langweilige braune Farbe wie immer, und heutzutage trage ich sie kurz geschnitten. Ich muss ein Foto anfügen. Aber selbst wenn ich lange Haare hätte, wären sie nicht so weich und seidig wie Natalies, und um ehrlich zu sein, mag ich es nicht, wie sich meine Haare im Nacken anfühlen. Es macht mir richtig Gänsehaut, deshalb trage ich sie kurz.
Natalie begrüßte mich überschwänglich. Wenn sie lächelte, war sie noch hübscher. Sie sagte: »Willkommen bei Vixed!«
Sie hatte wirklich ein schönes Lächeln. Ein freundliches Lächeln. Sie hatte auch eine schöne Stimme. Sie klang, als könnte sie Sängerin oder Sprecherin sein. Natalie schien wirklich sehr liebenswürdig zu sein. Sie war heute die Erste, die in mir nicht den Wunsch auslöste, mich in meinem nicht existierenden Panzer zu verkriechen.
An der Art, wie Seth sie ansah, merkte ich, dass er sie auch sehr mochte. Sie musste hervorragend in ihrem Job sein.
Natalie schwärmte mir vor, dass es mir gefallen würde, bei Vixed zu arbeiten, und je länger sie darüber sprach, desto besser fühlte ich mich.
Ich mag Natalie sehr. Du bist der einzige Mensch in meinem Leben, mit dem ich mich auf Anhieb verstanden habe, und glaub mir, ich werde Natalie nie so nahe sein wie dir, aber es wäre schön, eine Freundin zu haben, mit der ich hin und wieder einen Kaffee trinken oder nach der Arbeit zu Abend essen könnte. Du hast immer gesagt, ich sollte mehr Freunde finden, deshalb versuche ich es. Wirklich.
Liebe Grüße
Dawn Schiff
An: Dawn Schiff
Von: Mia Hodge
Betreff: AW: Grüße
Zunächst mal Glückwunsch zum neuen Job! Ich weiß, es ist schwer, Freunde zu finden, aber diese Natalie scheint wirklich nett zu sein. Denk nur daran, du selbst zu sein, okay?
XXO
Mia
Gegenwart
»Natalie, ich muss dir sagen, ich liebe eure Produkte.«
Ich habe Carmen Salinas von Happy Healthy, einem örtlichen Wellness-Shop, am Telefon. Ihr Laden ist zwar winzig, aber sie ist eine wertvolle Kundin. Ich gebe ihr nach Möglichkeit Rabatte auf die Produkte, denn der volle Preis wäre schwierig für sie.
»Das freut mich«, sage ich.
»Collahealth ist das Beste«, fährt Carmen fort. »Ich habe es selbst die letzten zwei Wochen benutzt, und ich schwöre bei Gott, ich sehe zehn Jahre jünger aus!«
»Ich weiß!«, erwidere ich. »Es ist ein absolutes Wunder. Ich würde nicht einen Tag darauf verzichten!«
»Ich auch nicht!«
Collahealth ist unser neuestes Produkt, es handelt sich um Kapseln, die eine spezielle Formulierung von Kollagen enthalten. Ich schwöre, das Zeug ist toll. Ich muss es gar nicht verkaufen, es verkauft sich von selbst.
Eigentlich stimmt das nicht ganz. Ich muss trotzdem ziemlich hart arbeiten.
»Dann willst du noch ein Paket haben?«, frage ich.
»Sagen wir, zwei!«
Ich notiere die Auftragsdaten und veranlasse, dass ein weiteres Paket zu Carmens Laden geschickt wird. Währenddessen starrt mich die kleine Schildkrötenfigur an. Ich habe noch etwas mehr von dem dunkelroten Zeug abgerieben, das daran haftete. Wenn es wirklich ein Geschenk von Dawn ist, erstaunt es mich, dass sie es nicht gesäubert hat. Schließlich hat sie einen Sauberkeitsfimmel. Ich bin versucht, die Figur in den Müll zu werfen, aber falls es ein Geschenk von Dawn ist, will ich nicht, dass sie verletzt ist und denkt, dass es mir nicht gefällt.
Aber es gefällt mir tatsächlich nicht. Es ist mir unheimlich. Und was zum Teufel ist das rote Zeug an meinen Fingern? Es sieht fast aus wie …
Wie Blut.
Igitt, ich darf nicht zulassen, dass meine Fantasie mit mir durchgeht. Auf meinem Schreibtisch steht keine blutbefleckte Schildkrötenfigur. Wahrscheinlich ist es nur … ich weiß nicht, Farbe, die von einer anderen Figur abgefärbt hat, die mit eingepackt war. Das ergibt bedeutend mehr Sinn als Blut.
Trotzdem, die Schildkröte macht mir Angst.
Schließlich stupse ich sie in die Ecke meines Schreibtisches und drehe sie um, sodass sie von mir weg, zur Wand meiner Bürozelle guckt. So – das ist besser.
Es ist schon fast Mittag, und Dawn ist immer noch nicht zur Arbeit erschienen. Ich habe zwei weitere Male versucht, sie anzurufen. Noch eine Textnachricht geschickt. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Sie erwähnte, dass ihre Mutter draußen in Beverly lebt, aber ich weiß nicht, wie ich sie kontaktieren soll. Steve in der Personalabteilung hat wahrscheinlich die Nummer. Ich weiß nicht, ob er sie herausgeben darf, aber ich bin sicher, ich könnte ihn dazu bringen, sie mir zu geben. Oder überreagiere ich? Dawn ist nur ein paar Stunden überfällig. Aber da war diese dringende E-Mail von ihr gestern – sie war über etwas so beunruhigt, dass sie sowohl mich als auch ihren Chef wegen einer »äußerst wichtigen Angelegenheit« kontaktiert hat. Und dann der merkwürdige Anruf …
Hilf mir.
In dem Moment fand ich, dass sie erregt klang, aber jetzt, einige Stunden später, bin ich nicht mehr so sicher. Vielleicht geht es Dawn gut. Vielleicht war es nur ein Kunde. Und schließlich hat sie den Termin um zwei mit Seth, ich bin sicher, da wird sie auftauchen.
Egal, ich kann mir jetzt keine Gedanken darüber machen, denn ich habe in fünfzehn Minuten ein Podcast-Interview, auf das ich mich die ganze Woche vorbereitet habe.
Nachdem ich das Gespräch mit Carmen beendet habe, schnappe ich mir meinen privaten Laptop, den ich heute Morgen von zu Hause mitgebracht habe, und mache mich auf den Weg zum Konferenzraum. Gerade als ich meine Bürozelle verlasse, stoße ich mit Caleb McCullough zusammen, der mich sprechen will.
»Hey, Nat. Lunch?«
Caleb sieht wie immer leicht zerknittert, aber unglaublich süß aus. Er trägt nie eine Krawatte, und ich glaube nicht, dass das weiße Anzughemd jemals ein Bügeleisen gesehen hat, aber er ist nicht im Verkauf und hat nicht mit Leuten zu tun. Seth hat Caleb vor ein paar Monaten eingestellt, um unsere Website zu aktualisieren und kundenfreundlich einzurichten, um die Online-Umsätze zu steigern. Er kommt ein paar Tage die Woche ins Büro und arbeitet in einer freien Bürozelle.
Außerdem sind wir seit fast zwei Monaten zusammen.
»Ich habe gerade keine Zeit.« Ich lächle entschuldigend. »In fünfzehn Minuten habe ich das Podcast-Interview.«
»Oh, stimmt.« Caleb nickt. »Viel Glück. Du wirst großartig sein.«
Er lächelt mich an, als er mir Glück wünscht. Caleb sieht nur leicht überdurchschnittlich gut aus – groß und schlaksig, mit Tränensäcken –, aber wenn er lächelt, ist er wie verwandelt. Wenn er lächelt, kann er es mit einem Filmstar aufnehmen. Ich war hin und weg, als er mich das erste Mal angelächelt hat.
In den letzten zwei Monaten habe ich außer seinem betörenden Lächeln noch viele andere Eigenschaften an Caleb entdeckt, die ich liebe. Er ist fleißig, ein Computergenie, verdammt lustig und vor allem ein guter Kerl. Man kann viel vortäuschen, aber es ist schwierig, so zu tun, als wäre man wirklich ein freundlicher Mensch. Außerdem ist es außerordentlich selten.
Aber am meisten gefällt mir an Caleb, wie er mich ansieht. Als könnte er sein Glück kaum fassen.
Ich war schon mit vielen Männern zusammen. Wahrscheinlich zu vielen. Und meine letzte Beziehung war ein vollkommenes Desaster, ich war ernsthaft um meine eigene Sicherheit besorgt. Aber zum ersten Mal in dreißig Jahren habe ich das Gefühl, dem Einen begegnet zu sein. Wir sind erst seit Kurzem zusammen, aber manchmal braucht man nicht lange, um es zu wissen. Meine Großeltern sind nur einen Monat miteinander ausgegangen, bevor sie sich verlobt haben. Und sie waren sechzig Jahre verheiratet.
Nicht, dass Caleb und ich uns in nächster Zeit verloben werden – wir haben noch nicht mal miteinander geschlafen –, aber ich könnte es mir vorstellen. Ich könnte mir vorstellen, mein Leben mit diesem Mann zu verbringen. Und ich bin bereit, mich fest zu binden. Caleb auch. Sein Vater starb, als er klein war, deshalb will er unbedingt eine Familie gründen. Er sagte, er warte nur auf die richtige Frau – dezenter Hinweis.
Ich lasse zu, dass Caleb mich enger an sich zieht und unter der flackernden Deckenbeleuchtung seine Lippen auf meine presst. Es ist nur ein Bürokuss, aber ich spüre ein Kribbeln bis in die Zehen. Manchmal sind die flüchtigsten Küsse die erregendsten.
»Ich fand’s schön gestern Abend«, murmele ich.
Er strahlt mich an. »Ich auch. Du hast keine Ahnung, wie sehr.«
Caleb war gestern Abend zum Essen bei mir. Ich habe etwas beim Chinesen bestellt, und anschließend haben wir ziemlich wild herumgeknutscht. Aber er hat sich wie ein Gentleman benommen und mich nicht zu mehr gedrängt oder es darauf angelegt, die Nacht bei mir zu verbringen. Das war ziemlich anständig, wenn man bedenkt, dass ich sofort Ja gesagt hätte, wenn er es getan hätte. Caleb ist respektvoll. Das ist eine weitere seltene Eigenschaft.
Auch wenn ich ein bisschen traurig war, als er schon um halb zehn nach Hause ging.
»Hey«, sage ich zu ihm. »Du hast Dawn heute noch nicht gesehen, oder?«
»Wen?«
»Die Frau in der Bürozelle neben meiner.« Da er mich immer noch verständnislos ansieht, füge ich hinzu: »Die mit den ganz kurzen Haaren – wie ein Militärhaarschnitt? Die total auf Schildkröten steht?«
»Oh.« Er schnippt mit den Fingern – jeder weiß von Dawns Schildkrötenspleen. »Stimmt. Nein, hab ich nicht. Warum?«
Ich überlege, ihm zu erzählen, dass Dawn heute noch nicht zur Arbeit erschienen ist, und von dem seltsamen Anruf. Aber an diesem Punkt unserer Beziehung versuche ich, mich ihm gegenüber von meiner besten Seite zu zeigen, und will nicht, dass er denkt, ich sei eine Schwarzseherin. Außerdem komme ich dann zu spät zu meinem Podcast-Interview.
»Nichts«, erwidere ich. »Vergiss es.«
Er greift nach meiner Hand, schiebt seine Finger zwischen meine und drückt sie dann. »Zeig’s ihnen, Nat.«
Ich werde mein Bestes tun. Bevor ich es vergesse, greife ich in den Karton mit den T-Shirts und hole ein extragroßes für ihn heraus, das ich für ihn vorgesehen habe. »Hier ist übrigens dein T-Shirt für Sonnabend.«
Ich halte es ihm an die Brust, um sicherzugehen, dass es die richtige Größe hat. Caleb ist groß, aber es sieht nicht so aus, als wäre ihm das T-Shirt zu kurz. Es sieht perfekt aus.
»Danke«, sagt er. »Ich kann es nicht abwarten, dich abzuhängen.«
Ich klopfe ihm scherzhaft auf die Schulter. »Das hättest du wohl gerne. Ich habe trainiert.«
»Und ich bin von Natur aus ein guter Läufer.«
Ich lache, und er zwinkert mir zu, als er mir das T-Shirt aus den Händen nimmt und an seinen Arbeitsplatz zurückkehrt. Ich wünschte wirklich, ich könnte heute mit ihm zum Lunch gehen. Ich fühle mich seit dem seltsamen Anruf den ganzen Morgen erschöpft, und es wäre schön, ein bisschen rauszugehen und meine Probleme zu vergessen. Aber ich muss zu diesem Interview. Es ist wichtig.
Im Konferenzraum hole ich meine Puderdose aus der Handtasche und mustere mich noch einmal kurz, bevor ich mit dem Interview beginne. Mir ist bewusst, dass es albern ist, sich für ein Podcast-Interview Gedanken über das eigene Aussehen zu machen, aber ich bin immer selbstsicherer, wenn ich weiß, dass ich gut aussehe. Der Lippenstift ist noch in Ordnung, die Mascara ist in den Augenwinkeln nicht eingetrocknet, und meine Haut sieht rosiger und gesünder aus als heute Morgen.
Ich richte die Puderdose auf meine Haare, um kurz einen Blick darauf zu werfen – man sieht allmählich die Ansätze. Während meiner gesamten Kindheit hatte ich schöne goldblonde Haare, aber irgendwann mit Anfang zwanzig wurde daraus dieses verwaschene schmutzige Blond. Aber nichts, was sich durch einen Besuch beim Friseur nicht ändern ließe – Magda vollbringt Wunder. Ich hoffe, ich finde vor dem Lauf noch die Zeit hinzugehen.
Gerade als ich die Puderdose zurück in meine Handtasche schiebe, geht der Anruf auf meinem Laptop ein. Die Nummer von Sherri Bell erscheint auf dem Bildschirm. Ich stelle die Verbindung her und setze ein Lächeln auf, obwohl Sherri mich nicht sehen kann. Noch mal, es spielt keine Rolle. Aber man erkennt an der Stimme, wenn jemand lächelt. Deshalb lächle ich immer bei meinen Verkaufsgesprächen – lächle, bevor du die Nummer wählst.
»Natalie!« Sherri klingt, als würde sie ebenfalls lächeln. Sie hat eine tolle Stimme. Munter wie das Mädchen von nebenan. »Bist du bereit?«
»Absolut«, antworte ich.
Da ich schon mehrere Podcast-Interviews gegeben habe, habe ich einige Erfahrung damit. Für gewöhnlich suche ich mir dafür einen ruhigen Platz wie den Konferenzraum, außerdem habe ich in ein gutes Mikrofon investiert, damit die Zuhörer mich wirklich verstehen. Dies ist das fünfte Podcast-Interview, das ich gebe, um für meinen Spendenlauf zu werben, ich sollte also nicht mehr aufgeregt sein.
Aber irgendwie bin ich heute schon den ganzen Tag nervös und gereizt.
»Heute haben wir Natalie Farrell bei uns«, ist Sherries Stimme aus den Lautsprechern zu hören. »Natalie hat für Samstag einen 5-km-Spendenlauf zugunsten einer Stiftung zur Forschung an Zerebralparese organisiert.«
»Das ist richtig, Sherri.«
»Wie ich gehört habe, Natalie, nehmen ziemlich viele Leute an diesem Spendenlauf teil?«
Ich räuspere mich. Das Wichtigste bei Podcasts ist, dass man nicht zu lange redet. Es soll ein Gespräch, kein Monolog sein. »Ja, das stimmt. Ich arbeite für eine wunderbare Firma, Vixed, die Nahrungsergänzungsmittel verkauft, und fast alle meine Arbeitskollegen werden mitlaufen, sowie viele Menschen aus dem Viertel. Wir haben schon viel Geld gesammelt und bitten weiterhin um Spenden.«
»Es ist nicht das erste Mal, dass du das gemacht hast, stimmt’s?«
»Es ist das fünfte Mal. Und dieses Jahr nehmen mehr Menschen teil als in den vergangenen Jahren.«
»Toll.« Sherri hält kurz inne. »Erzähl ein bisschen über die Stiftung. Wie ich höre, liegt sie dir sehr am Herzen.«
Ich habe mitbekommen, dass Sherri mir eine Frage gestellt hat, und weiß, dass ich sie beantworten muss, aber etwas hat mich abgelenkt. Vor Beginn des Podcasts habe ich mein Handy neben meinen Laptop auf den Konferenztisch gelegt. Jetzt vibriert es, weil jemand anruft. Als ich aufs Display blicke, sehe ich, dass es wieder eine unbekannte Nummer ist.
Wie heute Morgen.
Hilf mir.
»Natalie?« Sherris Stimme reißt mich aus diesen Gedanken. »Alles in Ordnung?«
»Ja, ja.« Zum Glück kann sie es vor der Sendung herausschneiden. Ich will den Anruf unbedingt entgegennehmen, aber mir ist klar, wie unglaublich unhöflich es wäre, und lasse ihn auf die Mailbox gehen. »Tut mir leid. Was war deine Frage?«
»Ich habe mich gerade gefragt, warum dir diese Stiftung so am Herzen liegt.«
»Nun …« Ich schließe die Augen und hole tief Luft. An dieser Stelle bin ich immer zu Tränen gerührt, aber es lenkt mich zumindest von dem mysteriösen Anruf ab. »Meine beste Freundin in der Kindheit hatte Zerebralparese. Sie hat sehr darunter gelitten. Leider ist sie nicht mehr unter uns. Also mache ich das im Gedenken an Amelia.«
»O mein Gott. Ich merke, wie sehr du sie vermisst. Ich bin sicher, deine Freundin blickt auf uns herunter und ist dankbar dafür, dass du ihr so eine gute Freundin warst und immer noch bist.«
»Ja. Das … hoffe ich.«
Ich hole noch einmal tief Luft und ringe um Fassung. Es fällt mir schwer, über Amelia zu sprechen, aber sie ist der Grund, warum ich das hier mache. Das muss immer erwähnt werden.
Die nächsten fünfzehn Minuten sprechen wir mehr über die Stiftung selbst und die Einzelheiten des Spendenlaufs. Dieser Sonnabend verspricht ein schöner Tag zu werden, und wir werden eine großartige Vorstellung in der Florian Hall, dem Start- und Zielpunkt des Laufs, geben.
Ich rechne mit einer reibungslosen Veranstaltung.
Mir gefällt an meinem Job, dass ich nicht den ganzen Tag im Büro verbringe. Ich würde verrückt werden, wenn ich von neun bis fünf in der Zelle sitzen müsste. Montag bis Freitag. Aber zum Glück erlaubt mir Seth, Vitamin- und Naturkostläden im Großraum Boston aufzusuchen, denn er weiß, dass persönlicher Kundenkontakt gut für den Umsatz ist.
Nachdem ich im Büro schnell ein Sandwich gegessen habe, fahre ich zu einem Verkaufsgespräch bei einem Laden für Nahrungsergänzungsmittel in Quincy. Quincy ist ein Vorort an der Red Line der U- bzw. Stadtbahn, und die Bewohner sind eine bunte Mischung von Menschen, die nahe der Stadt wohnen wollen, sich die hohen Immobilienpreise in Boston aber nicht leisten können. Und es gibt dort ein erstaunliches Chinatown, wo ich allen Ernstes jeden Tag zu Abend essen könnte.
Es gibt außerdem eine Menge Vitaminläden, und inzwischen habe ich fast jedem davon Produkte von uns verkauft. Mir gefällt die Vorstellung, die offizielle Vixed-Vertreterin in Quincy zu sein. Heute habe ich einen der Läden aufgesucht, denen ich bisher noch nichts verkauft habe. Ich verließ ihn mit einer Bestellung für drei Pakete unserer Produkte, und der Inhaber sagte, wenn sie sich gut verkauften, würde er noch mehr ordern.
Als ich mit den Papieren für die neuen Bestellungen wieder ins Auto steige und mein Handy checke, erwartet mich eine Textnachricht von meiner Mutter:
Kommst du Sonntag zum Abendessen?
Meine Mutter lädt mich fast jedes Wochenende weit im Voraus zum Abendessen ein. Es ist so etwas wie eine Tradition in unserer Familie. Einmal sagte sie zu mir, dass sie (nicht so) insgeheim hoffe, dass ich eines Tages mit einem ernst zu nehmenden Freund auftauchen würde. Leider war ich bisher noch mit keinem Mann zusammen, der des sonntäglichen Abendessens würdig gewesen wäre. Denn wen immer ich mitbringe, man wird ihn gründlich unter die Lupe nehmen.
Jetzt überlege ich zum ersten Mal, diesen Sonntag einen Gast mitzubringen: Caleb. Ich habe wirklich das Gefühl, er könnte der Mann sein. Zumindest könnte er die pausenlosen Fragen meiner Mutter ertragen. Und er würde Ja sagen, wenn ich ihn einlade.
Ich tippe ins Handy:
Ich bringe …
Bevor ich den Rest des Satzes tippe, denke ich noch einmal darüber nach. Was Caleb und ich haben, ist toll, aber es ist noch sehr früh. Ich weiß nicht, ob ich ihn meiner Mutter aussetzen will. Und wenn es nicht funktioniert, erspare ich mir den Rest.